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Zwar bleiben Adornos sthetische Theorie undseine musikphilosophischen Schriften ber dieJahre hinweg ein lebendiges Zentrum der weitver-zweigten Debatten ber Anspruch und Aktualittsge-halt moderner Kunst; kaum eine andere Theorie hatwohl die zeitgenssische sthetik so nachhaltig beein-flusst wie diejenige, die in den einschlgigen SchriftenAdornos angelegt ist. Aber innerhalb der anderen Ge-biete, auf denen Adorno bis zuletzt intellektuell ttigwar, kann von einer vergleichbaren Wirkungsgeschich-te kaum die Rede sein; im Gegenteil, mit Ausnahme desPoststrukturalismus verlor sich in den Hauptstrmun-gen der Philosophie die Spur seines Werkes schon in
Bald nach dem Tode Adornos se tz te in te rna-t iona l e ine in te l lek tue l le Entwick lung e in ,d ie der Hinte r lassenschaf t se ines theore t i -schen Werkes n icht eben f rder l i ch war.Unte r dem wachsenden Druck der ange l -schs ischen Ph i losoph ie , aber auch ange-s ichts e ine r s ich zunehmend vom marx i s t i -schen Erbe lsenden Gese l l schaf ts theor ie ,ge r ie t d ie Rezept ion se iner Schr i f ten in e i -ne immer s t rke re I so la t ion . In der jngs tenZe i t mehren s ich nun d ie Ze ichen, d ie inRichtung e ine r Wiederbe lebung des In te res -ses am Werk Adornos we isen a l s se i dasHeranrcken se ines 100. Gebur ts tags e inewissenschaf t l iche Herausforderung, der s ichauch d ie her rschenden St rmungen in derPh i losoph ie und den Soz ia lw issenschaf tenn icht gnz l ich ve rsch l ieen dr f ten .
Kapriolen der WirkungsgeschichteTendenzen einer Reaktualisierung Adornos
von Axel Honneth
den spten 1980er Jahren beinahe vollstndig, whrendinnerhalb der Sozialwissenschaften das Interesse an sei-nen soziologischen Schriften in dem Augenblick rapidenachlie, in dem mit den Theorien von Foucault, Bour-dieu und Giddens ganz neue Formen der Analyse desgegenwrtigen Kapitalismus auf den Plan getretenwaren. Die Zirkel, in denen die Theorie Adornos mitdem Mut zur intellektuellen Opposition gleichwohlnoch rezipiert wurde, befanden sich daher in der letztenDekade des alten Jahrhunderts in einer Art von selbst-gewhlter Isolation.
In der Philosophie und den Sozialwissenschaftenscheint jedoch gegenwrtig die Bereitschaft anzuwach-
Als Direktor des Instituts fr Sozialforschung und Professor frSozialphilosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universitthat Theodor W. Adorno entscheidende Jahre in Frankfurt ver-bracht. Adorno war einer der bedeutendsten Philosophen undGesellschaftstheoretiker des 20. Jahrhunderts. Doch wie aktu-ell sind Kritische Theorie und Adornos Denken heute?
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terpretiert wird: Wie die entsprechenden Passagen ausder Dialektik der Aufklrung deutlich machen, istAdorno einerseits mit Hegel der berzeugung, dass derFormalismus der Pflichtethik Kants sogar bis zu einerRechtfertigung menschenverachtender, erniedrigenderHandlungen hin ausgedeutet werden kann; daher hatAdorno auch nie gezgert, im Rigorismus dieser Ethikeine der Ursachen fr die Steigerung der instrumentel-len Vernunft zu sehen, deren Totalisierung er kulturge-schichtlich dafr verantwortlich macht, dass sich einefugenlose Herrschaftsordnung etablieren konnte.
Andererseits ist aber Adorno nie soweit gegangen,den Kern der Kantischen Achtungsmoral vollstndigpreiszugeben; vielmehr hat er gerade in seinen jngstverffentlichten Vorlesungen zur Moralphilosophieimmer wieder zeigen wollen, dass die Vermeidung vonErniedrigung den eigentlichen Impuls von Kants Begriffdes Respekts ausmacht, der daher unter Einbezie-hung auch von nichtmenschlichen Wesen unbedingtbewahrt werden sollte. In dieser positiven Schicht derMoralvorstellungen Adornos finden sich zudem Ele-mente einer geradezu existentialistischen Ethik, in derdie Widerstndigkeit der intellektuellen Lebensform alsAusweis einer moralischen Antwort auf die verwalteteWelt gewertet wird. Hier berhren sich fr AdornoFragen des persnlichen Lebensstils so eng mit den For-derungen einer Respektmoral, wie das von kaum einerzeitgenssischen Ethik heute noch vertreten wird. Es istwahrscheinlich diese Engfhrung von existentialisti-scher Ethik und Achtungsmoral, die in jngster Zeit dasInteresse an den moralphilosophischen Betrachtungen
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sen, sich wieder mit Adornos Schriften auseinanderzu-setzen. Ob dieser Dammbruch mit soziokulturellenWandlungen zusammenhngt, wie sie sich etwa auseinem neu erwachten Bewusstsein fr die zerstreri-schen Effekte eines globalisierten Kapitalismus ergebenhaben mgen, oder auf innertheoretische Entwicklun-gen zurckzufhren ist, lsst sich aufgrund des Mangelsan historischer Distanz nur schwer ausmachen.
Innerhalb der Philosophie hat sicherlich die pragma-tische und hermeneutische Wende der analytischenTradition zum Abbau der Barrieren beigetragen, dieeiner Rezeption des Werkes von Adorno entgegenstan-den. In den Sozialwissenschaften hingegen scheint diegewachsene Sensibilitt fr kulturelle Pathologien einesolche Wiederannherung bewirkt zu haben. Auf jedenFall sind heute, nur zehn Jahre nachdem das Interesse anseiner Theorie einen Tiefpunkt erreicht hatte, berra-schende, aber deutliche Signale einer Wiederbelebungder Rezeption zu vernehmen. Ich will fnf theoretischeBrennpunkte von Adornos Werk benennen, die im Au-genblick auf dem Grenzgebiet zwischen Philosophie undSoziologie erneut groe Aufmerksamkeit auf sich ziehen;fr alle diese Themenfelder kann gelten, dass sie eher ander Peripherie als im Zentrum seiner Schriften liegen:
Eine Mikrosoziologie des Sozialen Adornos Minima Moralia
Die Gesellschaftstheorie von Adorno besitzt immerdann eine gewisse Neigung zu einem recht starren Dog-matismus, wenn es in ihr um die Bestimmung allgemei-ner Tendenzen der gesellschaftlichen Entwicklung geht;an solchen Stellen wird deshalb hufig von MarxschenTotalittsbegriffen Gebrauch gemacht, um etwa voneiner wachsenden Tendenz der Subsumption lebens-weltlicher Verhltnisse unter den Imperativ der Kapital-verwertung sprechen zu knnen. Dieser Hang zu einerblo deduktiven Gesellschaftsanalyse wird bei Adornoallerdings immer dort aufgebrochen, wo er sich derphnomenologisch inspirierten Feinanalyse sozialer Le-benswelten zuwendet: Hier treten Risse und Brche imallgemeinen Verblendungszusammenhang in denBlick, die in Form von Gesten, Handhabungen und mo-ralischen Reaktionen eine Spur von mimetischem Wi-derstand dokumentieren.
Die Minima Moralia, die mit Recht zumeist alsaphoristischer Entwurf einer Lehre widerspenstiger Tu-genden interpretiert werden, lassen sich unter einer sol-chen Perspektive auch als Versuch einer Mikrosoziolo-gie verstehen, in der an den Prozessen eines wachsen-den Interaktionsverlusts die Gegentendenzen einer Be-harrung auf den Eigenwert von Dingen und Personenaufgesprt werden: In Analysen, die in ihrer phnome-nologischen Genauigkeit an Simmel oder Kracauer er-innern, wird aufgezeigt, inwiefern bestimmte Umgangs-formen oder Konventionen des Takts dazu angetansind, der diagnostizierten Verarmung zwischenmensch-licher Kontakte zu widerstehen. Wo immer die Kulturdes Kapitalismus heute unter einer solchen Perspektiveerschlossen wird, gewinnt die soziologische Phnome-nologie Adornos wieder an Prominenz. Dabei spielt einezentrale Rolle wohl die Tatsache, dass bei aller Auf-merksamkeit fr den kulturellen Wandel menschlicherPraktiken nicht geleugnet wird, dass sie mit soziokono-mischen Strukturbedingungen zusammenhngen.
Ethik nach Auschwitz Adornos Konzeption der Moral
Adorno hat bekanntlich keine Ethik im klassischenSinne verfasst; aber alle Schriften, die er nach der Erfah-rung der Katastrophe des Nationalsozialismus geschrie-ben hat, sind implizit von ethischen berlegungendurchzogen, die um die Voraussetzungen kreisen, eineWiederkehr der Barbarei zu verhindern. Was dieseSchicht seines Werkes anbelangt, so besteht sie weitge-hend aus einer ununterbrochenen Auseinandersetzungmit der Kantischen Moralphilosophie, die auf eine kom-plizierte, vielleicht dialektisch zu nennende Weise in-
Minima Moralia Reflexionen aus dembeschdigten Leben: 1951 zum erstenMal verffentlicht, begrndeten die Mi-nima Moralia Adornos Ruhm als litera-rischer Philosoph. In den Aphorismenund Kurzessays verbindet sich stilisti-sche Prgnanz mit philosophischer Tiefesowie die Erfahrung einer barbarischenGeschichte mit dem Blick auf die Ge-sellschaft der Nachkriegszeit.
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Adornos wiederbelebt hat. Wie andere Strmungen derzeitgenssischen Ethik wirken auch sie der Tendenzentgegen, Fragen der Moral in allzu groer Distanz zuindividuellen Problemen des guten Lebens zu behan-deln.
Kulturindustrie und neue Medien die Aktualitt der Kultursoziologie Adornos
In der Dialektik der Aufklrung hatten Adorno undHorkheimer die Vorstellung entwickelt, dass auf derBasis eines monopolistisch organisierten Wirtschaftssys-tems die neuartigen Reproduktionstechniken des Films,des Radios und des Fernsehens mit der sich rasch aus-breitenden Vergngungsindustrie zu einem kulturindu-striellen Komplex zusammenwachsen, dessen manipu-lativ eingesetzte Produkte das individuelle Bewusstseinbis in die kleinsten Regungen hinein zu kontrollieren
vermgen. Diese berhmte These von der Kulturindu-strie hat Adorno in seinen spteren Studien ohne Z-gern auf das kulturelle Szenarium der Nachkriegszeitbertragen, wobei er freilich in einigen Studien der wi-derspenstigen Indifferenz des Publikums einen grerenStellenwert einrumt. Im Ganzen aber herrscht die Vor-stellung vor, dass die von den technischen Reprodukti-onsmedien ausgestrahlten Botschaften ohne Wider-stand die ich-geschwchten Individuen in ihren Regun-gen und Absichten manipulieren knnen.
Mit der nchsten, digitalen Revolutionierung dertechnischen Kommunikationsmedien, wie sie in derEntwicklung des Internets, des Mobilphones und derneuen Videotechniken zum Ausdruck gelangt, stellt sichnun die Frage, wie der manipulationstheoretische Ge-halt der Kulturindustrie-These heute zu beurteilen ist:Dem Eindruck, dass durch diese Entwicklungen dieChancen einer unreglementierten, kommunikativenVerwendung der technischen Medien erhht werden,steht die Wahrnehmung gegenber, dass die Gestal-tungsmacht der Kommunikationsmedien inzwischenbis in die innere Empfindungswelt der Individuen hi-neinreicht, die am Ende nicht mehr zwischen Fiktionund Wirklichkeit, zwischen Probehandeln und ver-pflichtender Interaktion unterscheiden knnen.
Whrend die erste Position sich auf die spekulativeKonzeption von Walter Benjamin berufen kann, der indem neuen Medium des Films stets auch das Potenzialeiner Demokratisierung des Massenpublikums gesehenhat, sttzt sich die zweite, ungleich pessimistischere Po-sition bis heute vornehmlich auf die dsteren Beschrei-bungen Adornos. Daher ist es nicht berraschend, dassin den jngsten Auseinandersetzungen ber die kultu-relle Bedeutung der neuen Medien auch die einschlgi-gen Abhandlungen Adornos wieder zur Geltung gelangtsind: Mit ihrer Hilfe kann der Blick fr soziale Patholo-gien geschrft werden, die neue Kommunikationsmedienstets dadurch auslsen knnen, dass sie einem Publi-kum nichtbeabsichtigt hchst deformative Rezeptions-haltungen aufzwingen.
Interaktionszerfall und menschen-wrdige Beziehungen die Moral-psychologie Adornos
Einen bedeutsamen, wenn auch hufig unterschtztenStrang des Werkes von Adorno bilden moralpsychologi-sche berlegungen, in denen im Stile von Nietzschenach den psychischen Quellen von moralischen Einstel-lungen und Haltungen gefragt wird. Hat Nietzsche frei-lich in seiner Genealogie der Moral solche Erkundun-gen vor allem mit dem dekonstruktiven Interesse ange-stellt, die Herkunft unserer Pflichtmoral in Gefhlen desRessentiments und der Unterlegenheit nachzuweisen,so nimmt Adorno in konstruktiver Absicht durchausauch die psychischen Wurzeln von moralischen Einstel-lungen der Achtung und des kontextsensiblen Umgangsin den Blick. Unter diesem Gesichtspunkt stellen nichtnur die Minima Moralia, sondern auch seine sozial-psychologischen Arbeiten eine wahre Fundgrube anmoralpsychologischen Einsichten sowohl der ersten alsauch der zweiten Kategorie dar: Whrend Adorno dieFhigkeit zur moralischen Sensibilitt und Aufmerk-samkeit immer wieder auf frhkindliche Erfahrungenliebender Sorge zurckfhrt, so dass die brgerliche Fa-
Das Schlsselwerkder KritischenTheorie in seinerErstausgabe: Inden 1940er Jahrenerwuchs aus derintensiven Diskus-sion zwischenHorkheimer undAdorno im ameri-kanischen Exil diegemeinsameSchrift ber dieDialektik der Auf-klrung. In einerTheorie der moder-nen Massenkulturwird die Aufkl-rung ber sichselbst aufgeklrt.Das Buch erschien1947 bei Queridoin Amsterdam.
Eine Sonderausga-be von Dialektikder Aufklrung PhilosophischeFragmente bringtder S. Fischer Ver-lag zum 100. Ge-burtstag von Ador-no heraus.
Stilleben mit The Authoritarian Personality diese 1950 erschienene Verffentli-chung beschftigte sich mit den Vorurteilen autoritrer Charaktere. Das Foto ent-stammt Horkheimers privatem Fotoalbum. In den 1940er Jahren wurden unter derLeitung von Horkheimer mit finanzieller Untersttzung des American Jewish Com-mittee in den USA umfangreiche Studien zum vorurteilsvollen Verhalten erarbeitet.Die grundlegende Untersuchung zum autorittsgebundenem Charakter entstand imZusammenwirken Adornos mit amerikanischen Psychologen und wurde 1950 beiHarper in New York verffentlicht.
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milie paradoxerweise als Keimzelle des kompromilo-sen Willens, einer vernnftigen Ich-Strke, erscheint,bringt er die wachsenden Tendenzen der blo strategi-schen Einstellung und der habituellen Klte mit denAuflsungserscheinungen jenes Familientyps in Zusam-menhang.
Wird dieser Strang des Werkes weiter verfolgt, sozeigt sich, dass Adorno ber ein komplexes Netz vonmoralpsychologischen Erklrungen verfgt, in dem zwi-schen bestimmten Weisen des zwischenmenschlichenUmgangs und psychischen Reaktionsmustern kausaleVerbindungen hergestellt werden. Heute trgt eine Be-schftigung mit diesem Thema Adornos nicht nur dazubei, unseren herkmmlichen Moralbegriff phnomeno-logisch zu przisieren; vielmehr leisten seine Betrach-tungen auch einen Beitrag zu der philosophisch hoch-aktuellen Fragestellung, welche Sozialisationsbedingun-gen wir unterstellen mssen, wenn wir von Subjektendie Orientierung an moralischen Prinzipien erwarten.
Vermarktlichung und Interaktions-zerfall Adornos Soziologie des Kapitalismus
In vielen seiner soziologischen Schriften, nicht zuletztaber auch in der Minima Moralia, hat Adorno einenengen Zusammenhang hergestellt zwischen den Prozes-sen einer wachsenden Vermarktlichung und Tendenzeneines Zerfalls zwischenmenschlicher Interaktion; ja,vielleicht lsst sich von heute aus sogar der mikro-sozio-logisch gefhrte Nachweis als der eigentliche Kern sei-ner Gesellschaftstheorie bezeichnen, dass die Auswei-tungen des kapitalistischen Marktes in die bislang un-berhrten Sphren des Privatlebens hinein den Subjek-ten Verhaltensweisen aufzwingt, die gegenber den spe-zifischen Eigenschaften des Gegenbers indifferent ma-chen und daher stets eine Tendenz zur Missachtung desAnderen aufweisen.
ber die letzten dreiig Jahre hinweg galt diesesHerzstck der soziologischen Theorie Adornos eher alsein Relikt seiner marxistischen Orthodoxie; und in vie-len Passagen seiner zeitdiagnostischen Beobachtungenklingen die entsprechenden Stze tatschlich so, alswrde Adorno die Marxsche These einer reellen Sub-sumption aller Lebensverhltnisse unter das Kapital
blo auf die Gegenwart anwenden. Angesichts derjngsten Entwicklungen aber, in der unter dem Diktatder konomischen Flexibilisierung tatschlich vielezuvor sozialstaatlich eingehegte Sphren dem Steue-rungsprinzip des privatkapitalistischen Marktes unter-worfen waren, scheint dieser Zeitdiagnose Adornos eineneue Aktualitt zuzukommen. Vor allem besticht an sei-nen Analysen heute, mit welcher geradezu phnome-nologischen Akribie es ihm gelingt, an Alltagsinteraktio-nen die schleichende Verwandlung von zweckfreienKommunikationen in blo noch strategische Begegnun-gen aufzuzeigen. Vielleicht ist dieser Teil der SchriftenAdornos sogar derjenige, der in Zukunft die grte Auf-merksamkeit auf sich ziehen wird; denn noch sind ge-sellschaftstheoretische Anstze nur sprlich vertreten, indenen auf vergleichbarem Niveau der kausale Zusam-menhang zwischen Vermarktlichung und Interaktions-zerfall analysiert wird.
Prof. Dr. Axel Honneth,54, hat 1996 die Nachfol-ge des 1994 emeritiertenJrgen Habermas am Insti-tut fr Philosophie der Jo-hann Wolfgang Goethe-Universitt angetreten.Honneth, der 1992 bis1996 politische Philoso-phie an der Freien Univer-sitt Berlin lehrte, war zu-vor in den 1980er Jahren
Hochschulassistent bei Habermas an der Universitt Frank-furt, wo er sich mit einer Studie mit dem Titel Kampf undAnerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflik-te habilitierte. Im Anschluss an diese Frankfurter Zeit warHonneth, der Philosophie, Soziologie und Germanistik in
Bonn, Bochum und Berlin studiert hatte, Fellow am Berli-ner Wissenschaftskolleg. Er lehrte in der Folgezeit in Kon-stanz, in Berlin und an der New School for Social Researchin New York. Nach seiner Berufung an die Universitt Frank-furt hatte er im Sommersemester 1999 den Spinoza-Lehr-stuhl am Department of Philosphy der Amsterdamer Univer-sitt inne. Im April 2001 bernahm Honneth zustzlich dieLeitung des Instituts fr Sozialforschung und lste damitLudwig von Friedeburg als geschftsfhrenden Direktor ab.Von Honneth sind in den vergangenen Jahren folgendeBcher erschienen: Die zerrissene Welt des Sozialen (erwei-terte Neuausgabe 1999), Das Andere der Gerechtigkeit(2000), Leiden an Unbestimmtheit. Eine Reaktualisierungder Hegelschen Rechtsphilosophie (2001), Unsichtbarkeit.Stationen einer Theorie der Intersubjektivitt (2003), Um-verteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophischeKontroverse (zusammen mit Nancy Fraser) (2003).
Der Autor
Adorno als Postwertzeichen: Diese Briefmarke, gestaltet von dem Offenbacher Grafi-ker Gerhard Lienemeyer, erscheint pnktlich zum 100.Geburtstag des FrankfurterPhilosophen. Lienemeyers Marke zeigt einen Ausschnitt aus einer Manuskriptseiteaus dem Theodor W. Adorno Archiv (Ts 17750) mit dem Foto von Ilse Mayer Gehr-ken. Dazu die Jury des Kunstbeirats, der sich mit 9 :3 Stimmen fr diesen Entwurfentschied: Der Siegerentwurf zeigt ein Foto Adornos manuskriptlesend bei der Ar-beit. Im Hintergrund wird ein korrigiertes Manuskript gezeigt, was die Arbeitsatmos-phre hervorhebt. Durch die Korrekturen wird die permanente Selbstreflektion desTheoretikers deutlich.
Das theoretische Werk Theodor W.Adornos zieht weiterhin interna-tional reges Interesse auf sich; inden verschiedensten Lndern fin-den regelmig Veranstaltungenzu seinen sthetischen und philo-sophischen Schriften statt, die De-batte um den franzsischen Post-strukturalismus hat noch einmalein neues Licht auf die vernunft-kritischen Elemente seiner Theoriegeworfen, und aus der musikphilo-sophischen Diskussion ist sein Na-me nicht mehr wegzudenken.Aber in der Rezeption des Werkeshat sich in den letzten Jahrzehnteneine Kluft aufgetan, die der pro-duktiven Aneignung und Fortset-zung seiner Intentionen heute imWege steht: Gelesen und debattiertwerden die Schriften Adornos inwachsendem Mae vornehmlichin den theoretischen Zirkeln, dievon ihrer Bedeutung ohnehinberzeugt sind, whrend sich dieheute vorherrschenden Strmun-gen in der Soziologie, Ethik oderErkenntnistheorie von dem Anre-gungspotenzial seiner Theorie nurwenig beeindruckt zeigen inner-halb der neueren Forschungslitera-tur in diesen Bereichen ist der Na-me Adornos selten zu finden. DieInternationale Adorno-Konferenz,die das Institut fr Sozialforschungim Rahmen der Veranstaltungender Stadt Frankfurt aus Anlass des100. Geburtstags von Theodor W.Adorno vom 25. bis 27. Septemberausrichten wird, soll unter dem Ti-tel Dialektik der Freiheit der da-mit umrissenen Tendenz entgegen-wirken. Im Vordergrund der breit-gefcherten Vortrge und Diskus-sionen wird der Versuch stehen,den kritischen Gehalt seiner Schrif-ten fr die aktuellen Diskussionenin der Philosophie, Soziologie undsthetik fruchtbar zu machen.
Die Konferenz wird am Nach-mittag des 25. September von demSozialphilosophen Prof. Dr. JrgenHabermas zum Thema Ich selbstbin ja ein Stck Natur Adornober die Naturverflochtenheit derVernunft. berlegungen zum Ver-hltnis von Freiheit und Unverfg-barkeit erffnet. Am Abend folgtein Vortrag von Prof. Dr. Jan-Phi-lipp Reemtsma ber Adorno unddie Literatur. Am zweiten Abendder Konferenz wird zudem in Ko-operation mit dem HessischenRundfunk eine Sonderveranstal-tung stattfinden, auf der unter Ein-beziehung von Originaldokumen-ten aus Rundfunk und Fernsehenber Adorno und die Mediendiskutiert wird. Diesem prominen-ten ersten Teil der InternationalenTheodor W. Adorno-Konferenz2003 schliet sich vom 28. Sep-tember (Sonntag) bis 30. Septem-ber (Dienstag) ein zweiter Teil un-ter dem Thema MusikalischeAnalyse und Kritische Theorie an.(weitere Informationen zu diesemTeil vergleiche Seite 37).
Diese Ausrichtung der Konfe-renz macht es ntig, auch die orga-nisatorische Struktur ein wenig an-ders anzulegen, als es vor zwanzigJahren bei der letzten groenAdorno-Tagung an der UniversittFrankfurt der Fall gewesen ist:Whrend damals im Wesentlichendie zentralen Komplexe der Theo-rie Adornos in Podiumsveranstal-tungen mit mehreren Spezialistendiskutiert wurden, sollen diesmalKernelemente seines vielschichti-gen Werkes in der Konfrontationzwischen zwei international re-nommierten Theoretikern oderTheoretikerinnen errtert und pro-duktiv weitergedacht werden; dashat es ntig gemacht, weniger dieeigentlichen Kenner des Werkes
als vielmehr theoretisch avancierteVertreter der jeweiligen Spezialdis-ziplinen zur Teilnahme zu gewin-nen. Um der Komplexitt derSchriften Adornos gerecht zu wer-den, sind berdies in zeitlicher Ver-setzung zu den Plenarveranstal-tungen eine Reihe von Workshopsgeplant, in denen im kleinerenKreis nach einem einleitendenVortrag ber die Aktualitt einzel-ner, auch randstndiger Schriftendiskutiert wird.
Die Kombination dieser beidenVeranstaltungsformen soll sicher-stellen, dass auf der Konferenz dieganze Breite des Werks Adornoszur Sprache kommt. Dabei wid-men sich die sechs Plenarveranstal-tungen, die jeweils von zwei Vor-tragenden bestritten werden, den-jenigen Themen, die heute wohlals bleibendes Erbe seiner philoso-phischen, soziologischen undsthetischen Schriften gelten kn-nen: Auf die Frage hin, inwiefernseine Einsichten heute in die aktu-elle Forschung einflieen knnenund mssen, sollen hier der Reihenach seine Beitrge zur Moralphi-losophie, zur sthetik, zur Er-kenntnistheorie, zur Moralpsycho-logie, zur Phnomenologie der All-tagskultur und zur Gesellschafts-theorie diskutiert werden. In Er-gnzung zu diesen Plenarveran-staltungen werden in den Work-shops diejenigen Bcher Adornosauf ihren Aktualittsgehalt hin ge-prft, die in der breiteren ffent-lichkeit die grten Spuren hinter-lassen haben; zustzlich wurden indiesen Teil der Veranstaltung auchdie verstreuten Aufstze aufge-nommen, die Adorno im Laufe sei-nes Lebens der Psychoanalyse ge-widmet hat.Nhere Informationen unter:www.ifs.uni-frankfurt.de
Dialektik der Freiheit Internationale Theodor W. Adorno-Konferenz
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Chancen eines Jubilums
Mit diesen fnf Themen sind nur die intellektuellen Fel-der umrissen, in denen sich heute am deutlichsten Indi-katoren fr eine Wiederbelebung des Interesses anAdorno erkennen lassen. Vergleichbare Entwicklungenmag es gegenwrtig aber auch innerhalb der Kernberei-che der Philosophie geben, weil hier neuere Strmun-gen in Richtung eines moderaten Naturalismus weisen,wie ihn auch Adorno in seinem Freiheits- und Subjekti-vittskonzept vertreten hat; und schlielich zeichnensich selbst innerhalb der Erkenntnistheorie heute Ten-
denzen ab, die insofern den epistemologischen Erw-gungen Adornos nicht sehr fern stehen drften, als sieauf eine Form des rationalistischen Realismus zulau-fen.
Der 100.Geburtstag Adornos sollte daher zum Anlassgenommen werden, sein Werk wieder verstrkt in denMainstream der Philosophie und Sozialwissenschafteneinflieen zu lassen; der Auftrieb, den die Rezeption sei-ner Schriften in der jngsten Zeit erhalten hat, knntegenutzt werden, um auf undogmatische Weise den Ak-tualittsgehalt seiner Theorie erneut unter Beweis zustellen.
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Theodor W. Adorno war Ph i losoph, Soz io lo -ge , L i te ra tu rk r i t i ke r, Mus ik theore t ike r,Komponis t . A l le se ine Tt igke i t sbere icheaber durchdr ingen s ich in se inem Werk so ,dass es kaum mgl ich i s t , e ine r so lchenAufzh lung e ine ve rb ind l iche Re ihenfo lgezu geben, und manch andere Zuschre ibungmag h inzut re ten . E inem akademischen Be-t r ieb , de r s ich in Resso r t s und Zustnd ig -ke i ten , in e ine funkt ion ie rende Arbe i t s te i -lung aufg l iedern l i ee , entspr icht AdornosWerk n icht . Se ine Transd isz ip l ina r i t t e r -schwer t b is heute se ine Aneignung und lss timmer w ieder wesent l iche Erkenntn isse undImpulse se ines beraus mot i v re ichen Den-kens entg le i ten . Der Ste l lenwer t de r Mus ikim Werk Adornos jedoch e twa d ie H l f teder Gesammel ten Schr i f ten bet r i f f t d ieKunst , davon vo r a l lem d ie Mus ik leg t d ieVermutung nahe, dass d ie Mus ik den gehe i -men F luchtpunkt se ines Denkens b i lde t .
Adorno am Klavier, 1967: Adorno ist zeitlebens ein leidenschaftlicher Musiker ge-blieben. Seine pianistische Ausbildung erhlt er in Wien bei Eduard Steuermann. Eswird berichtet, dass er sogar Lieder, sich selbst am Klavier begleitend, vortrug. SeinFlgel begleitet ihn in das amerikanische Exil wie ein Stck seiner europischen Hei-mat und steht nach seiner Rckkehr in seiner Wohnung im Kettenhofweg, in unmit-telbarer Nhe zur Universitt.
Adorno und die Musik: In der Brchigkeit erscheint das Bild von Vershnung
von Markus Fahlbusch
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Bereits in den 1920er Jahren entfaltet Adorno einberaus reiches Schrifttum zur Musik, schreibtKritiken, Rezensionen, Aufstze, offenbar langebevor er mit seiner Habilitationsschrift von 1932 Kier-kegaard, Konstruktion des sthetischen und seinerAntrittsvorlesung philosophisch hervortritt. Die Musikist die exemplarische Kunst seiner Philosophie dessthetischen bis hin zur spten, posthum erschienenenund unvollendet gebliebenen sthetischen Theorie.Musikalische und philosophische Schriften befruchtensich in Adornos Werk gegenseitig. Zur Musik kehrtAdorno in allen Phasen seines Lebens immer wiederzurck. Mit ihr verbindet ihn ein emphatisches Verhlt-nis, zu ihr verfasst er magebliche und wirkungsmch-tige Schriften.
Verheit alle Musik mit ihremersten Ton, was anders wre ...
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Intime Erinnerung als geschichtliche Erfahrung
Hartmut Scheible lsst seine intellektuelle BiografieAdornos mit der 1933 geschriebenen Skizze Vierhn-dig, noch einmal /1/ beginnen, in der Adorno davonberichtet, wie seine Mutter und Tante sich beim husli-chen Musizieren die symphonische Literatur des 19. Jahr-hunderts auf dem Klavier aneignen whrend das desLesens noch nicht mchtige Kind die Seiten umblttert.Das Vierhndigspielen wird Adorno in spteren Jahrenzu einer Geste der Erinnerung /2/ dies aber nicht nurim persnlich-biografischen Sinne, sondern im Sinneder Erinnerung der Moderne an das Vergangene, dessenVerlust ebenso sehr schmerzt, wie das Neue mit ihm be-wusst bricht. Adorno deutet hier eine private, fast inti-me Erinnerung als eine geschichtliche Erfahrung, als in-trospektiv gefundenes Zeichen fr objektive geistigeVorgnge.
Die Erfahrungen der Kindheit sind auch spter nochQuelle fr sein vorrangiges Interesse an der Musik des18. und 19. Jahrhunderts. Sie bilden den Hintergrundfr die geschichtsphilosophische Reflexion des 20. Jahr-
hunderts und Ausgangspunkt fr seinen Kunstbegriff.Das musikalische Bildungsbrgertum, das Adorno in dieWiege gelegt ist und seine kulturelle Sozialisation mit-bestimmt, schliet neben dem huslich geborgenen Kla-vierspiel freilich auch Konzertwesen, Oper, Kunstlied,Kammermusik sowie die Werke ein, die er bei seinemViolin- und Klavierunterricht studiert.
Die frhen musikalischen Eindrcke fhren beiAdorno nicht nur zu einem Primat der Musik, sie sindauch verbunden mit einem Primat der Kindheit, wennes um das philosophische Motiv von Glcksverspre-chen, Erlsung und Wahrheit geht: So heit es von sei-nem zeitlebens verehrten Kompositionslehrer AlbanBerg, dem er 1968 seine letzte grere musiktheoreti-sche Arbeit widmet: Unter den Exponenten der neuenMusik hat er die sthetische Kindheit, das goldene Buchder Musik, am wenigsten verdrngt. /3/ Noch in derNegativen Dialektik werden im SchlussabschnittMeditationen zur Metaphysik die Namen von Dr-fern im Odenwald (siehe Beitrag Ein Sohn aus gutemHause Seite 44) zu Chiffren transzendenten Glcksver-sprechens und zu Belegen fr die Mglichkeit meta-physischer Erfahrung. Nicht zuletzt diese Kindheitser-lebnisse sind Hintergrund fr Adornos Vorstellung, dassin jedem Kunstwerk eine promesse du bonheur ver-krpert sei.
Adorno begegnet in den 1920er Jahren der neuenMusik, vermittelt unter anderem von Hermann Scher-chen, der ab 1922 Leiter der Frankfurter Museumskon-zerte ist und das Frankfurter Musikleben fortschrittli-chen Tendenzen ffnet. 1924 wohnt Adorno der Auf-fhrung von Teilen der Oper Wozzeck Alban Bergsbei und lernt den Komponisten bei dieser Gelegenheitauch persnlich kennen. Die neue Musik ist nach demErsten Weltkrieg bereits in ihre zweite Entwicklungs-phase eingetreten. Besonders an ihr entfalten sich seinemusikkritischen und musikphilosophischen Interessen.Sein Denken geht immer von der knstlerischen Ge-genwart aus und sucht so den Begriff der Kunst zu ent-wickeln. Bis in die spte sthetische Theorie hineinlsst sich Adorno von dem erkenntnistheoretischen undmethodischen Prinzip leiten, dass nur von den jngstenPhnomenen her Licht auf das Frhere falle.
Die neue Musik und die Tendenz des Materials
Das bedeutendste Zeugnis fr seine geschichtsphiloso-phisch orientierte Betrachtung der Musik ist die 1949erschienene Philosophie der neuen Musik. Sie ist ge-dacht als Exkurs zur Dialektik der Aufklrung, die ih-rerseits zum zentralen Text der spteren KritischenTheorie geworden ist. Die von Marx und Hegel beein-flusste Philosophie der neuen Musik weist ArnoldSchnberg und seine Schule dem musikalischen Fort-schritt, Igor Strawinsky der musikalischen Restaurationzu. Durch die eigentmliche Konzeption einer Ten-denz des Materials sucht Adorno diese Zuordnung zubegrnden. Er baut dabei auf Schnbergs Formel vonder Emanzipation der Dissonanz auf, die die Spreng-kraft der modernen Harmonik bezeichnen und legiti-mieren sollte. Unter dem Material versteht Adornoden Inbegriff der historisch berlieferten Mittel undFormen, denen ein Komponist objektiv gegenberstehtund denen er sich daher nicht entziehen kann. Alle spe-
Adorno mit Mutter und Tante, um 1918vor dem Gartenpavillon des HotelsPost in Amorbach: Die beiden musika-lisch prgenden Frauengestalten seinerJugend nannte Adorno einmal seinezwei Mtter: Maria Wiesengrund (links),seine Mutter, und Agathe Calvelli-Adorno, seine Tante. In dieser von Musikgeprgten Welt spielte Adornos Vater,der Weinhndler Oscar Alexander Wie-sengrund, offensichtlich keine Rolle. Diefrsorgliche Geborgenheit seines Eltern-hauses frdert die kritische Haltung deshochbegabten Schlers gegenber allenKollektiven der Auenwelt, fhrt aberauch zu einem unerschtterlichenSelbstbewusstsein und zu uersten An-sprchen an sich selbst.
Der Dirigent Hermann Scherchen (1891 1966) wirkt in Frankfurt am Main von1922 bis 1924 als Leiter der Sinfonie-konzerte der Museums-Gesellschaft, ergrndet den A-capella-Chor 1923 undleitet im selben Jahr die FrankfurterKammermusikwoche Neue Musik. Be-sonders setzt er sich fr die musikalischeAvantgarde ein: Er fhrt unter anderemHindemith, Strawinsky, Schnberg, Bergund Krenek auf und tritt auch publizis-tisch in der von ihm begrndeten Halb-monatsschrift Melos, den Musikblt-tern des Anbruch und im FrankfurterSender hervor. Als Dirigent des Musik-kollegiums Winterthur, ab 1923, zeich-net er fr zahlreiche Urauffhrungenverantwortlich und wirkt an den Musik-festen der Internationalen Gesellschaftfr Neue Musik in Donaueschingen mit.Beim 54. Tonknstlerfest des Allgemei-nen Deutschen Musikvereins 1924 inFrankfurt leitet er die Auffhrung derDrei Bruchstcke aus Wozzeck von Al-ban Berg, der auch Adorno beiwohnt.
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zifischen Zge des Materials sind Male des geschichtli-chen Prozesses/4/. Daher setzt sich der Komponist zu-gleich immer auch mit der Gesellschaft auseinander:Desselben Ursprungs wie der gesellschaftliche Prozessund stets wieder von dessen Spuren durchsetzt, ver-luft, was bloe Selbstbewegung des Materials dnkt,im gleichen Sinne wie die reale Gesellschaft, noch wobeide nichts mehr voneinander wissen und sich gegen-seitig befehden. Daher ist die Auseinandersetzung desKomponisten mit dem Material die mit der Gesellschaft,gerade soweit diese ins Werk eingewandert ist und nichtals blo uerliches, Heteronomes, als Konsument oderOpponent der Produktion gegenbersteht. /5/
Der Begriff des Materials ist zu einem zentralen Be-griff in der Musikgeschichtsschreibung des 20. Jahrhun-derts geworden. Er kann seine gleichsam materialisti-sche Funktion nur dadurch einnehmen, dass Adornoihn gegen Ontologie einerseits und gegen eine subjek-tiv-instrumentelle Auffassung knstlerischer Technikandererseits abgrenzt. Das Ideal kompositorischer Sub-jektivitt ist es zu verwirklichen, was das Material vonsich aus will, dem Triebleben der Klnge nachzu-spren, statt verfgend ber sie disponieren zu wollen.Der Komponist verwirklicht nur auf diese Weise eineFreiheit zum Objekt, die die Rationalitt von Naturherr-schung abgelegt hat.
Rtselcharakter und Entfremdung
Zugleich aber bezeichnet Adorno die Entfremdung, indie die Werke des 20. Jahrhunderts geraten. Ihr Gehaltist verschlsselt. Sie enthalten eine Botschaft, die ihreeigene Zeit niemals ganz entschleiern kann, fr die dieWerke vielmehr einen unaufhebbaren Rtselcharak-ter behalten. Adorno weist der neuen Musik dabeieine unverhohlen religise Mission zu. Die Schocksdes Unverstndlichen, welche die knstlerische Technikim Zeitalter ihrer Unverstndlichkeit austeilt, schlagenum. Sie erhellen die sinnlose Welt. Dem opfert sich dieneue Musik. Alle Dunkelheit und Schuld der Welt hatsie auf sich genommen./6/ Diese Musik scheut es nicht,unverstanden zu bleiben; sie scheut es nicht, ihrem ei-gentlichen Gehalt nach eine ungehrte Musik zusein. Sie wendet sich insgeheim nicht mehr an die eige-ne Zeit, sondern an eine unbestimmte, ferne Zukunft.Sie ist die wahre Flaschenpost. /6/ Letzten Sinnes istihre Entfremdung, ihre Entstelltheit und Bedrftig-keit nur von einem Standpunkt aus zu verstehen, derder geschichtlichen Zeit enthoben ist: dem Standpunktder Erlsung, von dem auch der berhmte Schluss-aphorismus der Minima moralia spricht. /7/
Die Beschftigung mit Musik nimmt nicht nur inAdornos frhem Werk den breitesten Raum ein. Siedurchzieht sein gesamtes Werk: die grundlegendenBeitrge fr die Zeitschrift fr Sozialforschung, die Zu-sammenarbeit mit Hanns Eisler ber Filmmusik, sein be-
Faksimile einer Partiturseite aus den sechs kurzen Orchester-stcken, opus 4: Die zwischen 1925 und 1929 entstandenenOrchesterstcke opus 4 stehen in der Tradition der luziden undexakten Instrumentation der Wiener Schule. Wie sehr Adornoauch sehr frhen eigenen Konzeptionen vertraut, beweist dieTatsache, dass der erste Entwurf des sechsten Stckes sogarauf das Jahr 1920 datiert. Die Stcke stellen eine Brcke darzwischen Frankfurt, wo Adorno bei Bernhard Sekles studiert,und der Wiener Zeit bei Alban Berg.
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Adorno (rechts) nimmt von 1950 bis 1966 insgesamt acht Malan den Darmstdter Ferienkursen fr Neue Musik teil, die nachdem Krieg sehr rasch zu einem Zentrum der europischenAvantgarde in der Musik werden. 1946 von Wolfgang Steinecke(links) inauguriert, bieten sie den exponiertesten Komponistenund Interpreten aus aller Welt ein Forum. Sie sind verbundenmit Namen wie Boulez, Stockhausen, Varse, Messiaen, Leibo-witz, Cage und vielen anderen. Ebenso wie Rudolf Kolisch(Mitte), der als Primus des Kolisch-Quartetts mageblich frdie Auffhrungsideale der Wiener Schule eintritt und zahlrei-che Werke Schnbergs, Bergs und Weberns zur Urauffhrungbringt, ist Adorno ein wichtiger Mittler zwischen der WienerModerne und der neuen Musik nach dem Krieg. Die Philoso-phie der neuen Musik wurde auch von Musikern stark rezi-piert. Adorno nimmt zu den Entwicklungen der 1950er und1960er Jahre teils kritisch Stellung, teils veranlassen sie ihnzu philosophischen Aufstzen, die sich unter neuen Bedingun-gen der Aufgabe einer orientation sthetique stellen.
ratender Einfluss auf Thomas Manns Doktor Faustus,seine kritischen und strittigen Stellungnahmen, etwa zuHindemith oder dem Jazz, die Teilnahme an den Darm-stdter Ferienkursen fr neue Musik und die darausentstandenen Arbeiten, insbesondere die vielbeachteteIdee einer musique informelle, die Auseinanderset-zung mit der Wiener Moderne und der Schule ArnoldSchnbergs, die Monographien ber Wagner, Mahlerund Berg und das Fragment gebliebene Beethoven-Buch, die Vorlesungen zur Musiksoziologie, die zahlrei-chen Sammlungen, die unter musikalischen Titeln wieDissonanzen, Moments musicaux, Impromtus,Der getreue Korrepetitor erscheinen.
Musik ist Philosophie
Bereits im ersten Heft der Zeitschrift fr Sozialforschungschreibt Adorno den richtungsweisenden Aufsatz Zurgesellschaftlichen Lage der Musik /8/, durch den er zuHorkheimers Progamm einer umfassenden Erkenntnis
des gegenwrtigen Zeitalters beitrgt. Er enthlt das ent-scheidende Motiv von Adornos zugleich soziologischer,philosophischer und musikologischer Betrachtung vonMusik: Musik ist nicht blo immanent, kompositions-technisch zu behandeln und so der historischen Musik-wissenschaft und Musiktheorie zu berlassen, sondernin der musikalischen Struktur selbst sind gesellschaftli-che und philosophische Fragen aufzunehmen. Musik,wie jede andere Kunst, ist selbst Philosophie, eine Philo-sophie, die mit theoretischen Mitteln zu Bewusstseingebracht werden will. Jedes Kunstwerk ist eine ge-schichtsphilosophische Sonnenuhr /9/ und Ausdruckeines geschichtlich sich verndernden philosophischenSelbstbewusstseins. Kunstwerke sind die bewusstloseGeschichtsschreibung des geschichtlichen Wesens undUnwesens. Ihre Sprache verstehen und sie als solcheGeschichtsschreibung lesen, ist das Gleiche. Der Wegdazu aber ist vorgezeichnet von der knstlerischenTechnik, der Logik des Gebildes, seinem Gelingen oderseiner Brchigkeit. /10/ In allen seinen Schriften zur
Thomas Manns Widmung in Adornos Doktor Faustus: DemWirklichen Geheimen Rat in dankbarer Verbundenheit. Mitdieser Titulierung bedankt sich Thomas Mann bei Adorno frseine Mitarbeit an dem Musikerroman. Mann, der bekennt,dass ihm im Bereich der musikalischen Technik die notwendigeStudiertheit abgehe, bittet Adorno um charakterisierende,realisierende Exaktheiten, die dem Leser ein plausibles, jaberzeugendes Bild geben. Die Detailkenntnisse der musikali-schen Geheimwissenschaft, die ihm Adorno reichhaltig liefert,werden in den poetischen Kontext bertragen und verwandelt.
Adorno ist beratender Mitarbeiter Tho-mas Manns bei der Abfassung seinesKnstlerromans Doktor Faustus. DieBeethoven-Vortrge Wendell Kretschmars,die Entwrfe fr Leverkhns Sptwerkund anderes, die Mann seinem Romaninkorporierte, gehen aus den Gesprchenmit Adorno hervor, der hierbei die glei-chen Erwgungen anstellt, die er alsKomponist angestellt htte. In derberhmten Teufelsszene ist eine der Ver-wandlungen als Portrt Adornos lesbar,den Thomas Mann in seiner intellektuel-len Schrfe, seinem kulturellen Pessi-mismus, seinen Visionen zu einer poeti-schen Figur transformiert.
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Auch mit Igor Strawinsky (1882 1971) hier 1931 als Dirigent des Orchestersder Berliner Funkstunde befasst sichAdorno in einem speziellen Teil seinerPhilosophie der neuen Musik. Er insis-tiert darauf, dass dieser ebenso sorgfl-tig gelesen werde wie der ber Schn-berg. Die Analyse der Musik Strawinskysist ein wichtiges Zeugnis der RezeptionSigmund Freuds, dessen Theorien Ador-no bis hin zu einer Psychose in derKunst fruchtbar zu machen sucht. Vonseiner Kritik nimmt er unter anderem dieHistoire du soldat aus, ein Werk, mitdem sich Adorno bereits in den 1920erJahren beschftigt.
Thomas Mann und Adorno nehmen in der Ent-stehungsphase des Musikerromans Doktor Faustuseinen intensiven Briefwechsel auf. Mann hatte Ador-nos Abhandlung Schnberg und der Fortschritt imManuskript gelesen und wendet sich im Dezember1945 an den in Kalifornien in unmittelbarer Nhe le-benden Adorno mit der Bitte, ihn in Fragen der musi-kalisch-technischen Details zu beraten. Das Span-nungsfeld von Moderne und Tradition, in dem Ador-nos Musikphilosophie steht, kommt Manns Intentio-nen entgegen. Er nimmt von Adorno den Begriff vonmodernster Musik auf, dessen er fr die Darstellungder Situation der Kunst bedarf. Er stellt ihm seineArbeitsweise der Montage vor, die es ihm erlaubt,Adornos schriftliche Entwrfe und gesprchsweiseMitgeteiltes ihrer Substanz nach fast unverndert zubernehmen.Der Briefwechsel, der bis zu Manns Tod 1955 reicht, istgeprgt von Anteilnahme und Interesse an den Arbei-ten des jeweils anderen und von groem persnlichenRespekt. Beide berichten von dem Fortgang der eige-nen Arbeiten, ihren Plnen, treten in die Diskussionvon Fragen der Kunst und der politischen Entwicklun-gen ein bis hin zur Frage der Rckkehr aus der Emi-gration. Auch die persnlichen Verhltnisse kommenimmer wieder vertrauensvoll zur Sprache.
Die Ausgabe ist informativ annotiert sowie mit einemNachwort der Herausgeber und einem Register verse-hen. Christoph Gdde vom Theodor W Adorno-Archivin Frankfurt edierte zusammen mit Henri Lonitz dieBriefe Walter Benjamins, den Briefwechsel Adornosmit Horkheimerund mit AlfredSohn-Rethel underhlt zusammenmit Henri Lonitzfr seine archiva-rische Arbeit2003 den KarlJaspers Frder-preis der StiftungNiedersachsen.Thomas Sprecherist Mitarbeiteram ThomasMann-Archiv inZrich unddurch Heraus-geberttigkeit zuThomas Mannund Karl Schmidhervorgetreten.
Briefwechsel rund um Doktor Faustus
Arnold Schnberg (1874 1951) ist einer der wichtigsten Ex-ponenten der musikalischen Moderne vor dem Ersten Welt-krieg. Vom Expressionismus dieser Zeit bleibt er auch sptergeprgt. Anfang der 1920er Jahre entwickelt er die Komposi-tion mit zwlf nur aufeinander bezogenen Tnen, die die Mu-sik des zwanzigsten Jahrhunderts nachhaltig beeinflusst.Adorno begegnet in ihm der fhrenden charismatischen Per-snlichkeit der Wiener Schule, zu der er mit seiner bersied-lung nach Wien 1925 hinzustt. Schnberg wacht misstrau-isch ber die Originalitt seiner Ideen, kompositorisch beson-ders gegenber Webern, in der Deutungshoheit unter anderemgegenber Adorno. Von seinem Berliner Lehrstuhl vertrieben,emigriert Schnberg 1933 ber Paris, wo er ein Bekenntniszum Judentum ablegt, in die USA, um als Sechzigjhriger einneues Leben zu beginnen. Nach Deutschland wird er bis zuseinem Tode 1951 nicht mehr zurckkehren.
Der Komponist Alban Berg (1885 1935), um 1930 (oben): Adorno studier-te, nach dem Abschluss seiner Disserta-tion, ab 1925 bei Berg Komposition. Erbleibt ihm kompositorisch stark ver-pflichtet. Bereits 1937, zwei Jahre nachBergs Tod, beteiligt er sich mit Werkana-lysen an der Berg-Monographie WilliReichs. Von der Kritik an der Zwlfton-technik und ihren technischen Aporiennimmt er Berg bis zu einem gewissenGrade aus, als habe er Scheu, den Leh-rer einem zu scharfen intellektuellen Zu-griff auszusetzen.
Theodor W. Adorno / Thomas Mann,Briefwechsel1943 1955, her-ausgegeben vonChristoph Gddeund Thomas Spre-cher, Fischer Taschenbuch Ver-lag, Frankfurt,2003, ISBN 3-596-15839-7,192 Seiten, 9,90 Euro.
Kunst, zu einzelnen Werken, Werkgruppen und demuvre einzelner Komponisten hat Adorno diesen An-satz in konkreten Deutungen zu verwirklichen gesucht.
Gerade in einem Bereich, in dem man meinen knn-te, das Kunstwerk fr sich selbst zu betrachten: derTechnik, in den Begriffen seiner fachwissenschaftlichgefassten Analyse, gewahrt Adorno seine konstitutivenBeziehungen zu dem, was nicht mehr seinerseits Kunst
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In Zusammenarbeit mit dem Insti-tut fr Sozialforschung, der StadtFrankfurt am Main und der Brger-stiftung Frankfurt veranstaltet dasMusikwissenschaftliche Institutzum 100. Geburtstag Theodor W.Adornos vom 28. bis 30. Septemberim Frankfurter Holzhausen-Schlss-chen eine Konferenz, zu der nam-hafte Wissenschaftler aus dem In-und Ausland gewonnen werdenkonnten. Sie trgt den Titel Musi-kalische Analyse und KritischeTheorie. Mit der Frage nach demStellenwert der musikalischen Ana-lyse in der Musiksthetik Adornosist ein zentraler Aspekt ihrer Inter-pretation in den Mittelpunkt derdreitgigen Konferenz gestellt. Dadie enge Beziehung von musikali-scher Erfahrung und philosophi-schem sowie soziologischem Den-ken bei Adorno etablierte Fach-grenzen in Frage stellt, ist das Sym-posion interdisziplinr angelegt undbezieht Philosophie, Soziologie undMusikwissenschaft mit ein.Aufgabe der Konferenz soll eine
mglichst breit angelegte Vergegen-wrtigung der Mittel sein, die Ador-no anwendet, um die Phnomena-litt von Kunstwerken methodischeinsichtig zu erschlieen, stheti-sche Kategorien aus technischenhervorgehen zu lassen, philosophi-sche und soziologische Perspekti-ven und Motive in der Sache selbstzu verankern. Vorgesehen sind da-her zwei sich ergnzende Herange-hensweisen: Zum einen die Fragedes Verhltnisses von musikalischerAnalyse und philosophischem Be-griff, zum anderen Genese und Ge-schichte von Adornos analytischenVerfahren, die sein musikstheti-sches Werk durchziehen.
Die Konferenz wird in Zusam-menarbeit mit der Stadt Frankfurtergnzt durch ein Rahmenpro-gramm Der Komponist Adornomit Konzerten am 26., 28. und29. September, jeweils 20 Uhr, imFrankfurter Goethe-Museum,Groer Hirschgraben 2325. Weitere Informationen:www.uni-frankfurt.de/fb09/muwi/
Musikalische Analyse und Kritische Theorie Beitrag des Musikwissenschaftlichen Institutszur Internationalen Adorno-Konferenz
ist. Hier sucht er ihrem Weltgehalt auf die Spur zu kom-men; das heit den Momenten von gesellschaftlicherRealitt, der die Kunstwerke den Spiegel vorhalten.Hier sucht er aber auch ihres Wahrheitsgehalts inne zuwerden: die Kunstwerke im Lichte von Erlsung zu be-trachten, indem er sie als Spiegelschrift ihres Gegen-teils /7/ liest.
Dechiffrierung nur im Dialog der Disziplinen
Fr die Musikwissenschaft stellen diese Anstze bisheute eine Herausforderung und teilweise auch eineberforderung dar. Die Rezeption Adornos wurde nichtnur durch seinen essayistischen und aphoristischen Stilund die auerordentliche Sprachkunst seiner Texte er-schwert sowie durch die Schwierigkeit, einen bndig re-ferierbaren Lehrgehalt aufzunehmen, sondern auchdurch die Einbeziehung von Soziologie und philosophi-scher Logik, die die Musikwissenschaft gern den ent-sprechenden Nachbardisziplinen berlassen htte. Diebersetzungsleistung, die Dechiffrierung, die einePhilosophie der Musik konkret erbringen soll, kannaber nur gelingen, wenn es zu den Bereichen, die jen-seits der Werke liegen und auf die sie sich beziehen,einen zweiten, theoretischen Zugang gibt und die dahervon Anbeginn auf soziologische und philosophischePerspektiven nicht verzichten kann.
In seinem Ansatz einer Musikphilosophie, die ihregeschichtlichen und metaphysischen Deutungen ausder kompositorischen Technik gewinnen will, gehtAdorno von dem musikgeschichtlich erreichten Standder autonomen Musik aus, die sich von funktionalenZwecken in Kirche und Gesellschaft und von der Vokal-musik, deren Texte die Bedeutungsstruktur ihrer Verto-nung entscheidend bestimmen, gelst hat. Die so ge-nannte absolute Musik des 19. Jahrhunderts, ihreSymphonik und Kammermusik, bildete das Paradigmavon Adornos Verstndnis musikalischer Struktur. Ergreift daher die musikalische Formenlehre und Form-theorie kritisch auf, die bereits das 19. Jahrhundert ent-wickelte und in der es mit der Vorstellung vom Kunst-werk als einer in sich abgeschlossenen und keinesueren bedrftigen Welt werkanalytisch ernst machte,und transformiert gerade diesen Formalismus zueinem Auskunftsmittel fr das, was ber die Werke undber das, was in ihnen der Fall ist, hinausweist. Die-ser Ansatz wirkt auch in den Typus der Materialanalysehinein, den insbesondere die Philosophie der neuenMusik reprsentiert, und in Adornos Wahrnehmungund Deutung von Phnomenen des musikalischen Aus-drucks, wie er sie unter anderem in der MonographieMahler Eine musikalische Physiognomik entfaltet.
Der Formbegriff ist es insbesondere, durch den Ador-no den Bogen vom musikalischen Denken zum philoso-phischen Denken schlgt. Er vergleicht das autonomeWerk seiner formalen Struktur nach mit dem philosophi-schen System. Die Parallelisierung von Beethoven undHegel, die sich bei Adorno an vielen Stellen findet, istvon diesem Gedanken geleitet. Adorno fragt daher auchin der Musik nach der Grenze der Immanenz des Den-kens, nach Mglichkeit und Scheitern eines in sich ge-schlossenen Denkzusammenhangs, nach dem Charakteridentifizierenden Denkens. Indem Adorno in der Kunstein Bild des Nichtseienden erblickt und sucht, die Zei-
Die Philosophieder neuen Musikist zu einem klas-sischen Text derMusiksthetik undMusikgeschichts-schreibung deszwanzigsten Jahr-hunderts gewor-den. Sie erscheint1949 in Tbingenund erreicht bis zuAdornos Tod zweiweitere Auflagen.Neben dem Buchber Mahler von1960, das in diemusikwissen-schaftliche Wrdi-gung Mahlersstark eingreift unddie Wiederauf-fhrungen seinerSinfonien mit her-vorruft, zhlt es zuden bedeutends-ten Texten Ador-nos zur Musik.
ihrem Leid und ihrer Brchigkeit das Bild von Versh-nung festzuhalten.
Die Frage nach Adornos Verhltnis zur Musik, kann,wie es hier fragmentarisch versucht wird, nicht errtertwerden, ohne sich auf grundlegende kunsttheoretischeMotive zu beziehen. Dem Denken Adornos wird nichtgerecht, wer seine musikalischen Schriften blo einzel-wissenschaftlich liest und ihn nur als Musikwissen-schaftler rezipiert, obgleich ihm gerade auch auf diesemFeld wesentliche Einsichten zu verdanken sind. Ador-nos Schriften zeugen davon, wie auerordentlich inten-siv er sich lesend und musizierend mit Partituren aus-einandersetzt. Diese Intensitt lsst ihn auch ganz un-scheinbare Einzelheiten und Momente entdecken, andenen sich die Deutung entzndet.
Seine Monographie ber Alban Berg beispielsweiseenthlt ein Konzept, um nicht zu sagen eine Vision vonmusikalischer Analyse, hinter deren Anspruch ihre zahl-reichen Einzelanalysen zwar, wie Adorno selbst gesteht,teilweise zurckbleiben, die aber gerade darum einenwertvollen Ansto darstellt. Durch seine zahlreichenArbeiten zur zeitgenssischen Musik begrndet Adornodas Interesse der Musikwissenschaft an der Moderneentscheidend mit, whrend die traditionelle Disziplinsich rein historisch, vergangenheitswissenschaftlich ver-standen hatte. Er trgt zur Orientierung an der Kompo-sitionsgeschichte als einer Geschichte musikalischerStrukturen bei und bietet ein Vorbild fr die Verbindungvon sthetik und Analyse. Die Kategorien einer mate-rialen Formenlehre in seinem Buch ber Mahler, wieDurchbruch, Suspension, Erfllung, durch dieAdorno die Defizite einer an starren Modellen orientier-ten musikalischen Formenlehre zu berwinden sucht,sind noch immer nicht ausgeschpft. Seine Wagnerkri-tik bildet ein bleibendes Paradigma der Verbindung mi-krologischer Partituranalyse mit Perspektiven einer his-torischen Gesellschaftstheorie. Zu wnschen ist seinemberaus umfangreichen Schrifttum zur Musik, dass esin interdisziplinrer Zusammenarbeit in seinen Vernet-zungen erneut zum Gegenstand gemacht wird unddabei weder seine musikologische Subtilitt, noch seinephilosophische und soziologische Theoriebildung ge-scheut werden.
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chen ihrer Zerrttung, ihr Scheitern, ihre Wunde freilegt,wird ihm die Kunst zum Anwalt des Nichtidentischen.Dadurch dass die Kunst ihrer eigenen Identitt mit sichfolgt, macht sie dem Nichtidentischen sich gleich: das istdie gegenwrtige Stufe ihres mimetischen Wesens. /11/
Die Ausdrucksqualitten von Kunst und gerade auchder Musik gehen einerseits hervor aus der Abbildungeiner als schmerzlich und unvershnt erfahrenen gesell-schaftlichen Realitt, sie sind Bewusstsein von Nten.Gleichzeitig aber liegt in der Kunst die Sehnsucht nachder Aufhebung dieser Nte, die in der Kunst nur zumAusdruck gebracht, nicht aber beseitigt werden knnen.Selbst gesellschaftlich ohnmchtig, drckt Kunst daherauch die Sehnsucht nach der Aufhebung von Kunstaus: die Sehnsucht danach, nicht mehr ntig zu sein.Kunstwerke bescheiden sich nicht in bloer Wiederga-be, als htten sie darin ihren Frieden, sondern suchen in
/1/ HartmutScheible: TheodorW. Adorno. MitSelbstzeugnissenund Bilddokumen-ten. Reinbek beiHamburg, 1989,S. 8. Vgl. Gesam-melte Schriften 17, S. 303 ff.
/2/ GesammelteSchriften 17, S. 305.
/3/ GesammelteSchriften 13, S.334.
/4/ GesammelteSchriften 12, S. 38.
/5/ GesammelteSchriften 12, S.39 f.
/6/ GesammelteSchriften 12, S. 126.
/7/ GesammelteSchriften 4, S. 283.
/8/ GesammelteSchriften 18, S. 729 ff.
/9/ GesammelteSchriften 11, S. 60.
/10/ GesammelteSchriften 13, S.506.
/11/ GesammelteSchriften 7, S. 202.
Anmerkungen
/1/ HartmutScheible: TheodorW. Adorno. MitSelbstzeugnissenund Bilddokumen-ten. Reinbek beiHamburg, 1989,S. 8. Vgl. Gesam-melte Schriften 17, S. 303 ff.
/2/ GesammelteSchriften 17, S.
Dr. Markus Fahlbusch, 39, ist seit2002 wissenschaftlicher Assis-tent am MusikwissenschaftlichenInstitut der Universitt Frankfurt.Er erhielt eine praktisch-musikali-sche Ausbildung an der Hoch-schule fr Musik und DarstellendeKunst Frankfurt und studierte von1988 bis1994 Philosophie, Sozio-logie und Musikwissenschaft inFrankfurt. Seine Magisterarbeit
beschftigte sich mit der sthetischen Theorie Adornos,seine Dissertation galt dem II. Streichquartett ArnoldSchnbergs sowie dem Konzept des musikalischen Gedan-kens und seiner Darstellung. Seine Forschungsttigkeit be-trifft die Wiener Moderne, Musiksthetik und Musikge-schichte des 20. Jahrhunderts, den Zusammenhang vonsthetik und Analyse, die Geschichte musikalischer Struk-turen, das systematische Verhltnis von Musik und Sprache.Er arbeitet interdisziplinr und sucht das Aufeinander-verwiesensein von Musik und Philosophie, fr die das WerkAdornos in besonderem Mae einsteht, weiterzuverfolgen.
Der Autor
Adorno in seinem Musikzimmer in derYale Street, Santa Monica, im Frhjahr1949: Die Jahre in Kalifornien sind imLeben Adornos besonders fruchtbar.Hier entstehen die Dialektik der Auf-klrung (zusammen mit Max Horkhei-mer), die Philosophie der neuen Mu-sik und die Minima moralia, Werke,die nach Adornos Rckkehr aus dem Exilsein Ansehen begrnden. Es schrft sichdie Vorstellung von knstlerischer Praxisals Widerstand gegen Kulturindustrie.Immer mehr gewinnt der Begriff der Mi-mesis an Bedeutung, dessen Erfah-rungsquellen bei Adorno in der Kunstund im Musizieren liegen.
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1930 war dies das Annachen, dasmehr als zwanzig Jahre fr die Fa-milie arbeitete und mit dem Adornober Jahrzehnte in Verbindungblieb.
Geboren wurde Theodor LudwigWiesengrund am 11.September1903, morgens um halb sechs, imHaus Schne Aussicht Nr. 9 amMain. Von dem stattlichen Gebudesteht heute kein Stein mehr 1944wurde es bei einem Luftangriff demErdboden gleich gemacht. Als Ador-no sich 1949, aus der Emigrationzurckgekehrt, im Viertel um dieAussicht, dem Quartier meinerKindheit, umsah, fand er [a]n-stelle von Nummer 9 das absoluteNichts vor. /1/ Der standesamtli-chen Eintragung vom 14.September1903 /2/ ist zu entnehmen, dassAdornos Vater Oscar Wiesengrundisraelitischer Religion war, alsokeineswegs bei der Geburt desSohnes bereits zum Christentumbergetreten. /3/ Adorno wurde am4.Oktober 1903 durch DomkaplanFranz Perabo katholisch getauft.Taufpaten sind im Taufbuch /4/ nichteingetragen, die beiden Vornamenverweisen jedoch auf den Grova-ter vterlicherseits und den Onkelmtterlicherseits, Theodor Wiesen-grund und Louis Calvelli-Adorno.Fr die krzlich erneut kolportierte
Legende, Adornos Mutter MariaCalvelli-Adorno habe darauf be-standen, dass ihr Sohn unter demNamen Wiesengrund-Adornoregistriert wurde /5/, gibt es kei-nen Beleg.
Beneidet um seinherrliches ueres Dasein
Sein Vater Oscar Wiesengrund(1870 1946), ein gebrtiger Frank-furter schon dessen Eltern lebtenin der Stadt am Main /6/, hatte esals Inhaber einer Weingrohand-lung mit Sitz an der Schnen Aus-sicht Nr. 7 zu einigem Wohlstandgebracht und konnte der Familieein materiell sorgenfreies Leben bie-ten. Um sein herrliches ueres Da-sein /7/ wurde Teddie nicht nurvon dem mit ihm seit der Gymnasial-zeit befreundeten Journalisten undFilmtheoretiker Siegfried Kracauer(1889 1966) beneidet. AdornosMutter Maria Calvelli-Adorno(1864 1952) kam im heutigenFrankfurter Stadtteil Bockenheimzur Welt und war, wie ihre Schwes-ter Agathe (1868 1935), eine aus-gebildete Sngerin. In der zweitenHlfte der 1880er Jahre hatte sieEngagements am Hof-Operntheaterin Wien, wo sie unter anderem denHirtenknaben in Richard WagnersTannhuser sang, und an den
Ein Sohn aus gutem HauseTheodor W. Adornos Kindheit in Frankfurt
Teddie mit seiner Mutter Maria Wie-sengrund (links) und seiner Tante Aga-the Calvelli-Adorno, um 1915/16. Ador-nos zwei Mtter, Tchter eines mittel-losen Fechtlehrers, waren keineswegsEnkelin[nen] alten italienischen Adels(Max Horkheimer) ihre Groeltern v-terlicherseits lebten vielmehr als einfa-che Bauern und Analphabeten auf Korsi-ka. Die Frage, ob in seinen Adern nichtvielleicht doch blaues Blut fliee, be-schftigte Adorno sein Leben lang.
Adorno als Schler, um 1910.
Theodor Wiesengrund-Adornowar ein Nesthocker. Noch mitEnde Zwanzig, nach seiner Habilita-tion, zu der ihm der Vater einenneuen Bechstein-Flgel schenkte,wohnte Teddie wie er seit seinerfrhen Kindheit genannt wurde bei seinen Eltern. Unter einem Dachmit ihm, Maria und Oscar Wiesen-grund lebten auerdem: AgatheCalvelli-Adorno, eine unverheirate-te Schwester der Mutter, derenHund und ein Dienstmdchen bis
Tochter von Adornos Cousin Franz,die Auguste Adorno noch persn-lich kannte, in ihren unverffent-lichten Lebenserinnerungen. In derTat: die Verwandtschaft Maria Wie-sengrunds und ihrer SchwesterAgathe mit dem Genueser Adelsge-schlecht Adorno, auf die sie beidesich so viel einbildeten und Ted-die nicht minder , ist allem An-schein nach frei erfunden.
ber Adornos frhe Kindheit ander Schnen Aussicht, derenGeruschkulisse zeitweise das S-gen, Bohren und Hmmern derMbelfabrik Schneider & Hanau imHinterhaus der Nr. 9 bildete, ist bis-her nur wenig bekannt. Zu seinenSpielgefhrten gehrten dieKmpfbuben, Shne einesSchreinermeisters und Kistenbauersaus der benachbarten Mainstrae,die dem Muttershnchen Mama-
kindchen, wie man auf hessischsagt /12/ so manchen Streich spiel-ten. /13/
Schwerer tat Teddie sichmit der Mathematik
Von der Schnen Aussicht austrat Teddie am Morgen des4. April 1910 seinen ersten Schul-weg an, der ihn in ein paar Minutenvom Elternhaus ber die heutigeIgnatz-Bubis-Brcke auf die andere
Stadt-Theatern in Kln und Riga.Agathe Calvelli-Adorno hingegenblieb eine Karriere als Opernsnge-rin wegen ihrer Kleinwchsigkeitversagt.
Maria Wiesengrund und AgatheCalvelli-Adorno machten Teddievon Kindesbeinen an nicht nur mitklassischer Musik vertraut, sondernauch mit vielen heute vergessenenpopulren Liedern, die er beispiels-weise in seinen Minima Moralia(1951) zitiert oder auf die er darinanspielt: so etwa Das Kanapee(Die Seele schwinget sich wohl indie Hh juchhe, /der Leib, der blei-bet auf dem Kanapee /8/), Immerlangsam voran /9/ oder der schn-ste Platz, den ich auf Erden hab, dasist die Rasenbank am Eltern-grab. /10/ Mit seinen zwei Mt-tern spielte er als Kind sehr gerneKarten, vor allem das Komponis-ten-Quartettspiel, das er beson-ders liebte/11/, und besuchte schonfrh Klavierabende und Opernauf-fhrungen.
Wenn er mit der Ddd wie erseine ber alles geliebte Tante Agathe
nannte ins Konzert ging, konntees passieren, dass sich ihre Wege mitdenen einer Dame gleichen Nach-namens kreuzten: Auguste Adorno,Opern- und Konzertsngerin undLeiterin einer Frankfurter Gesang-schule. Auguste Adorno soll sichschon in jungen Jahren ber Ver-wechslungen mit den anderenAdornos gergert haben dasseien keine richtigen Adornos, sagtesie, so Elisabeth Reinhuber, eine
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Die Deutschherren-Mittelschule am Mainufer, die Adorno von 1910 bis 1913 besuchte.
Teddie um 1910, vermutlichfr eine (private?) Theaterauf-fhrung kostmiert. AdornosLust am Verkleiden und Schau-spielern wird auch von demNachbarsjungen Wilhelm Reut-linger (19071991) bezeugt,der im Haus Schne Aus-sicht Nr. 12 wohnte. Er konn-te sich erinnern, dass ihm ein-mal an Fastnacht unter denvielen maskierten Kindern aufder Strae [] ein besondersinteressanter Bub mit einemsehr fremdartigen Kostmauffiel. Auf die Frage, wasdiese Kleidung denn zu bedeu-ten habe, antwortete er sehrtheatralisch: Ich bin ein Spa-nier aus dem Mittelalter! Die-ser Bub war niemand andersals der spter unter dem Na-men Adorno berhmt geworde-ne Theodor Wiesengrund!
Der Fluss kenne seinen Weg, jeder Tropfen finde ins Meer, heites in dem unverffentlichten Theaterstck Kimiko. SiebenBilder fr die Bhne (1922) des knapp 19-jhrigen TheodorWiesengrund-Adorno (Manuskript im Theodor W. Adorno ArchivFrankfurt a.M.; es handelt sich um die Dramatisierung einerNovelle von Lafcadio Hearn). Blick auf den Frankfurter Domund die Schne Aussicht (rechte Bildhlfte) am Main, um1903. An dieser Uferpromenade, im Haus Nr. 9, verbrachteAdorno die ersten elf Jahre seines Lebens, im Haus Nr. 7 hattedie Weingrohandlung seines Vaters ihren Sitz. Neben der Fir-ma Wiesengrund gab es an der Schnen Aussicht bis ins ers-te Drittel des 20. Jahrhunderts noch andere Weinhandlungen,die in ihren riesigen Kellern lange Reihen von Fssern lagerten.
Die Handschriftdes Sechzehn-jhrigen: Aus-schnitt aus einembislang unbekann-ten Brief Adornosan seinen CousinFranz Calvelli-Adorno vom 28.April 1920 mit derErwhnung einesgemeinsam mitdem Vater unter-nommenen Spa-ziergangs durchdie FrankfurterAltstadt (Erstver-ffentlichung).Adorno-Briefe ausden Jahren vor1921 sind auer-ordentlich selten.
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Seite des Mains zur Deutschherren-Mittelschule fhrte, heute Bergius-Berufsschule, Deutschherrnufer Nr.17. An der Mittelschule, einerPflanzsttte brgerlicher Tchtig-keit, vaterlndischer Gesinnungund wahrhafter Religiositt /14/
verbrachte Adorno drei Jahre, bis erOstern 1913 an das KniglicheSachsenhuser Gymnasium i(n)E(ntstehung), ab 1917 Kaiser Wil-helms-Gymnasium, berwechselte.Das K.W.G., heute Freiherr-vom-Stein-Gymnasium, dessen Original-
gebude nicht mehr existiert, warein Reformgymnasium mit Franz-sisch als erster Fremdsprache, andem Adorno vor allem in denFchern Deutsch, Musik und Erd-kunde glnzte. Schwerer tat er sichmit der Mathematik und soll, wie erJahrzehnte spter in einer Vorle-sung erzhlte, einmal seinen Leh-rer im Geometrieunterricht durcheine philosophische Bemerkungin maloses Entsetzen [] ge-bracht haben; der Studienrat habeihn als ganz tricht und mathema-tikfremd angeschaut. Dass amK.W.G. ein Klima der Toleranz und
Die Schimpansin Basso, eine derHauptattraktionen des Frankfurter Zoos,um 1914. Adorno in seiner sthetischenTheorie (1970, postum): [] nichts soausdrucksvoll wie die Augen von []Menschenaffen [], die objektiv darberzu trauern scheinen, da sie keine Men-schen sind. Im beraus turbulenten Jahr1969 gab es jeden Samstag eine Stunde,in der nicht einmal befreundete Professo-ren-Kollegen Adorno zu stren wagten:dann schauten seine Frau Gretel und ersich regelmig Ivan Tors Daktari an,eine vom ZDF ausgestrahlte Serie mit dergezhmten Schimpansin Judy und demschielenden Lwen Clarence. Fr dres-sierte Affen interessierte sich Teddiebereits als Kind, als er mit seinen Elternsonntags in den Zoo ging und der Schim-pansin Basso bei ihren Kunststck-chen zuschaute. Sie fhrt Rad in einerWeise, die einem Kunstradfahrer Konkur-renz machen knnte, geht mit ausge-spanntem Schirm ber ein Seil, kurz siegehorcht jedem leisesten Wink, den ihrder Wrter gibt. (Zoologischer Beobach-ter, 1913). Zur Erheiterung ihrer Familieerlaubte sich Adornos Mutter gelegent-lich den Spa, de Aff zu machen, ei-nen Menschenaffen im Zoo mit allenBewegungen von Hnden und Fen zuimitieren (Franz Calvelli-Adorno).
Das Kaiser Wil-helms-Gymnasiumin Frankfurt-Sach-senhausen, dasAdorno von 1913bis 1921 besuch-te.
Adornos ElternMaria und OscarWiesengrund vorihrer Vertreibungdurch die Nazis.1939 emigriertensie ber Kuba indie USA.
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Liberalitt herrschte und die (an-geblich) relativ vielen jdischenMitschler [] ganz selbstverstnd-lich wie alle anderen behandeltwurden /15/ wie Adornos dreiJahre jngerer Mitschler KarlHolzamer, spter NS-Rundfunk-kommentator und ZDF-Grndungs-intendant, behauptet , darf bezwei-felt werden. Adorno figurierte inseiner Klasse trotz [s]einer Teil-nahme am protestantischen Religi-onsunterricht [] als der Judeund hat von zwei Jungen berichtet,die sich antisemitisch verhielten,der eine offen, der andereversteckt /16/.
Noch als Hoch-schullehrer Dauer-gast im Hotel Ma-ma: GedruckterBriefkopf Adornos,1933 (Ausschnittaus einem bislangunbekanntenSchreiben an sei-nen Cousin FranzCalvelli-Adorno).
/1/ Theodor W.Adorno: Briefe andie Eltern 1939-1951. Im Auftragdes Theodor W.Adorno Archivsherausgegeben vonChristoph Gddeund Henri Lonitz.Frankfurt a. M.2003, S. 532 f.(Brief aus Frank-furt a.M. an dieMutter in NewYork vom 24. De-zember 1949).
/2/ Institut frStadtgeschichteFrankfurt a.M., Sig-natur: S 2/969, I, S.111, Nr. 4895.
/3/ FrankfurterAdorno BltterVIII. Im Auftrag desTheodor W. Ador-no Archivs heraus-gegeben von RolfTiedemann. Mn-chen 2003, S. 174.
/4/ Taufbuch derFrankfurterDompfarrei 1903,
Anmerkungen
S. 99, Nr. 739(briefliche Aus-kunft des Domar-chivars Herbert Na-tale vom 11. No-vember 2002).
/5/ Vgl. Roger Beh-rens: Adorno-ABC.Leipzig 2003, S.232; im brigen hatAdorno als Kindauch nie im Frank-furter Westend ge-wohnt (S. 123).
/6/ Gedenksteinefr Adornos 1894und 1920 verstor-bene Groeltern Li-na und TheodorWiesengrund aufdem JdischenFriedhof an derRat-Beil-Strae ,Feld 45, Epitaphe591A und 591B.
/7/ Siegfried Kra-cauer an LeoLwenthal, 4. De-zember 1921. Zit.nach: Peter-ErwinJansen und Christi-an Schmidt (Hrsg.):
/10/ Vgl. MinimaMoralia, Aphoris-mus 2: Rasen-bank (wie Anm.8, S. 22f.). Text hierzit. nach TheodorW. Adorno/WalterBenjamin: Brief-wechsel 1928-1940. Herausgege-ben von Henri Lo-nitz. Frankfurt a.M.1994, S. 372.
/11/ Theodor W.Adorno: Gesam-melte Schriften(wie Anm. 8). Bd.16, S. 282.
/12/ Das Wort, daser vermutlich fterzu hren bekam,verwendet Adornoin seinem 1932/33entstandenenStck Der Schatzdes Indianer-Joe(Singspiel nachMark Twain. He-rausgegeben undmit einem Nach-wort versehen vonRolf Tiedemann.
In steter Freund-schaft. Leo Lwen-thal Siegfried Kra-cauer. Briefwechsel1921 1966. Sprin-ge 2003, S. 32.
/8/ Vgl. MinimaMoralia, Aphoris-mus 151: Thesengegen den Okkul-tismus. TheodorW. Adorno: Gesam-melte Schriften.Herausgegeben vonRolf Tiedemann.Frankfurt a.M.2003. Bd. 4, S. 27.
/9/ Vgl. MinimaMoralia, Aphoris-mus 102: Immerlangsam voran(wie Anm. 8, S.184f.). Adorno zi-tiert den Anfangdes Liedes Immerlangsam voran, im-mer langsam vo-ran, dass der Krh-winkler Landsturmnachkommenkann!.
Frankfurt a.M.1979, S. 53).
/13/ Vgl. TheodorW. Adorno: Briefean die Eltern (wieAnm. 1), S. 457f.
/14/ So HeinrichHerber, Rektor derDeutschherren-Mit-telschule und Duz-freund von Ador-nos Eltern. Vgl.Theodor W. Ador-no: Kindheit inAmorbach. Bilderund Erinnerungen.Mit einer biographi-schen Rechercheherausgegeben vonReinhard Pabst.Frankfurt a.M. undLeipzig 2003, S. 88,153 und 156f.
/15/ Karl Holzamer:Der gestopfteSweater, in: Kind-heit im Kaiserreich.Erinnerungen anvergangene Zeiten.Hrsg. von RudolfPrtner. Mnchen1989, S. 269.
/16/ FrankfurterAdorno Bltter VIII(wie Anm. 2), S.85.Vgl. dazu auchReinhard Pabst,Adorno Kindheitin Amorbach,Frankfurt a. M.2003 (siehe Anm.14), S. 112116.
/17/ Theodor W.Adorno ArchivFrankfurt a.M., Ts51732.
/18/ TagebuchnotizAdornos vom 10.November 1949.Zit. nach TheodorW. Adorno Archiv(Hrsg.): Adorno. Ei-ne Bildmonogra-phie. Frankfurta.M. 2003, S. 213.
Mitte September 1914, knapp eineWoche nach Teddies elftem Ge-burtstag, zog Adornos Familie vonder Schnen Aussicht in denFrankfurter Stadtteil Oberrad, See-heimer Strae 19, um, wo sie einVierteljahrhundert lang, bis zur Ver-treibung durch die Nazis, wohnte.Teddies Zimmer und das des An-nachens lagen im zweiten Oberge-schoss, im ersten Stock waren dasElternschlafzimmer, ein Bad, ein be-gehbarer Schrank sowie das mit Bie-dermeiermbeln behaglich einge-richtete Erkerzimmer Agathe Calvel-li-Adornos. Im Erdgeschoss, in demsich auch die Kche befand, fhrte
eine Treppe von einem der beidenWohnrume in den Ziergarten, indem ein Springbrunnen pltscherte.
Von seinem Oberrder Eltern-haus hat Adorno, wie er 1948 in ei-nem unverffentlichten Traumpro-tokoll /17/ festhielt, im Exil immerwieder getrumt, es wurde fr ihngeradezu zum Symbol des verlore-nen europischen Lebens. Als er1949 in seine Vaterstadt zurck-kehrte und vor den Trmmern deshalbzerstrten Gebudes in der See-heimer Strae 19 stand, musste erfeststellen, dass die Welt seinerKindheit unwiederbringlich unter-gegangen war /18/.
Der Autor
Reinhard Pabststudierte Musik-wissenschaft, Ger-manistik und Phi-losophie an derJohann WolfgangGoethe-Univer-sitt. Er lebt alsfreier Autor in BadCamberg. Der vonihm herausgege-bene Band Theo-dor W. Adorno:Kindheit in Amor-bach. Bilder undErinnerungen istsoeben im InselVerlag erschienen.
Theodor W. Adorno zhlte zu denbedeutendsten Gelehrten derBundesrepublik. Er ist einer derGrnder der Frankfurter Schule.Sein wissenschaftlicher Werdegangist eng mit der Universitt Frankfurtverknpft: Adorno studierte, pro-movierte und habilitierte sich inFrankfurt. Anfang der 1950er Jahrekehrte er nach seiner Emigration andas wiedererffnete Institut fr So-zialforschung zurck und erhielt ander Johann Wolfgang Goethe-Uni-versitt die Professur fr Philoso-phie und Soziologie.
Adornos Einfluss erstreckte sichvon der Musik- bis zur Gesellschafts-kritik. Zusammen mit Max Horkhei-mer schrieb er den wichtigsten Textder Kritischen Theorie, die Dialek-tik der Aufklrung (1944, DruckAmsterdam 1947). Das Buch gilt alseines der klassischen Werke der Phi-losophie des 20. Jahrhunderts.
Am 18. April 1921 immatrikulier-te sich der gebrtige FrankfurterTheodor Ludwig Wiesengrund ander Universitt Frankfurt am Main.Er whlte ein Studium an der Philo-sophischen Fakultt und besuchteVeranstaltungen in Philosophie, Mu-sikwissenschaft, Psychologie und So-ziologie. Sein Studium, so erin-nerte sich Max Horkheimer, fiel indie gute Zeit der Frankfurter Univer-sitt nach der Niederlage im Ersten
Weltkrieg, als in den philosophischenDisziplinen, in Psychologie und So-ziologie, eine intellektuelle Avant-garde sich zusammenfand. /1/
Promotion in Rekordzeit Zeitmangel und Examens-zwang
Mit einer Doktorarbeit beim Neu-kantianer Hans Cornelius schlossAdorno sein Studium in Frankfurtab. Innerhalb weniger Wochen fer-tigte er seine Dissertation an. Ador-no schreibt ber diese Zeit an seinenFreund Leo Lwenthal:Mein lieberLeo! Verzeih mir, dass ich Dir heuterst schreibe und auch diesmal nurkurz; es ist nicht die Unfhigkeit zumSchreiben wre ich frei genug, Dirzu schreiben, was ich Dir zu schrei-ben habe sondern blo purer Zeit-
mangel und Examenszwang, dermich jetzt noch stillegt. Ich will Dirdie ueren Daten des Halbjahresberichten. Die zweite Aprilhlfte warich in Ammerbach, in einem Trubelvon Menschen und arbeitete Hus-serl. Mitte Mai [1924] disponierteich meine Dissertation und trug am26. den Gedankengang Corneliusvor, der die Arbeit annahm. Am6. Juni war die Arbeit fertig, am 11.diktiert, am 14. abgegeben. /2/
Die Philosophische Fakultt pro-movierte den Kandidaten wenigeTage nach Abgabe der Dissertationund urteilte ber den Verlauf derPrfung kurz und bndig: vorzg-lich. Adorno bemerkte zu demPromotionsverfahren: Corneliushat meine Arbeit anstandslos undohne die nderung eines Wortes zuverlangen angenommen und derKorreferent Schumann hat sich sei-nem Referat angeschlossen. /3/
Nach der Erlangung des hchstenakademischen Grades setzte Adornofr zwei Jahre seine philosophi-schen und musikalischen Studien inWien fort. Er studierte bei AlbanBerg Komposition und EduardSteuermann Klavier. Zugleich warer als Schriftleiter der Wiener Mu-sikzeitschrift Anbruch ttig.
Mit der Habilitation hatte esAdorno nicht so eilig wie mit seinerPromotion. Seinen ersten Habilitati-onsversuch brach er ab, weil seineZulassungsschrift Der Begriff desUnbewuten in der transzendenta-len Seelenlehre /4/ von seinem aka-demischen Lehrer Cornelius abge-lehnt wurde. Hans Cornelius hattesich am 8. Januar 1928 gegenberder Fakultt negativ ber AdornosHabilitationsschrift geuert: Ich
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Eine Brcke ber die SenckenberganlageAdorno und die Universitt Frankfurt
Als Theodor W. Adorno aus der Emigration nach Frankfurt zurckkam und eine Pro-fessur an seiner alten Universitt bernahm, die ihn 1933 vertrieben hatte, wurdenseine Vorlesungen zu Massen-Ereignissen. Adornit zu sein, gehrte zum intellektu-ellen guten Ton.
Theodor Wiesen-grund, hoch be-gabter Sohn ausdem FrankfurterBrgertum, kaman der jungen Uni-versitt seinerHeimatstadt mitder intellektuellenAvantgarde inKontakt, die seinspteres Denkenentscheidend pr-gen sollte.
muss also beantragen, dass HerrnWiesengrund der Rat erteilt werde,sein Gesuch zurckzuziehen, da sei-ne Arbeit in der vorliegenden Formwenigstens den zu stellenden An-forderungen nicht entspricht. /5/
Der zweite Anlauf frdie Habilitation
Dreieinhalb Jahre spter unternahmAdorno einen zweiten Anlauf, sichin Frankfurt zu habilitieren. SeineSchrift Kierkegaard. Konstruktiondes sthetischen (Druck: Tbingen1933) nahmen die Professoren derPhilosophischen Fakultt positiv
auf. Am 6. Februar 1931 tagte dieHabilitationskommission, bestehendaus Paul Tillich, Franz Schultz, MaxHorkheimer und Karl Reinhardt.Zehn Tage spter fiel der Beschluss,Adorno zur Habilitation zuzulas-sen/6/. Nach seinem Probevortragber Kants Kritik der rationalenPsychologie und anschlieendemKolloquium erteilte ihm die Philo-sophische Fakultt die venia legendifr das Fach Philosophie /7/.
Im September 1933 wurde Ador-no, der katholisch getauft, aber imGymnasium am protestantischenReligionsunterricht teilnahm und
dort den ersten massiven antisemiti-schen Attacken ausgesetzt war, we-gen seiner nichtarischen Abstam-mung die Lehrbefugnis von denNationalsozialisten entzogen. Erverlie Deutschland und ging nachOxford, wo er seine wissenschaftli-che Arbeit am Marton College fort-setzte. Ende der 1930er Jahre wech-selte Adorno mit seiner Frau dannnach Amerika. Er arbeitete an demvon Frankfurt nach New York ver-legten Institut fr Sozialforschungund als musikalischer Direktor desPrinceton Radio Research Projekts.In Amerika wurde die Zusammen-
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Die Eingangshalle des alten Instituts fr Sozialforschung, vom Erdgescho bis zumersten Obergeschoss durchgehend. In dem Institut waren auch Rume der Wirt-schafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultt untergebracht. Das Gebude spiegel-te im Inneren die sachliche Zweckmigkeit wider, die an seiner Auenfassade zumAusdruck kommt.
Theodor Wiesengrund immatrikuliertesich am 18. April 1921 an der Univer-sitt Frankfurt fr das Fach Philosophie.
Das alte Institut fr Sozialforschung vonder Bockenheimer Landstrae aus gese-hen. Den Ansto zur Grndung des Insti-tuts gab 1922 Kurt Albert Gerlach, Pro-fessor der Staatswissenschaften an derWirtschafts- und Sozialwissenschaftli-chen Fakultt. Das Institut konnte am22.Juni 1924 erffnet werden. Der Ar-chitekt des Gebudes war Franz Rckle(1879 1953), der auch die Westend-synagoge in den Jahren 1908 bis 1910bauen lie.
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arbeit und Freundschaft mit MaxHorkheimer, den er aus Frankfurtkannte, enger.
Aus Theodor Wiesengrundwurde Theodore Adorno
Theodor Wiesengrund erwarb dieamerikanische Staatsangehrigkeitund nderte seinen Namen in Ador-no um: Sehr verehrtes gndigesFrulein, unter Besttigung unseresTelephonats mchte ich Ihnen mit-teilen, dass ich bei meiner amerika-nischen Naturalisation im Jahre1943 meinen Namen in Adorno(den Mdchennamen meiner Mut-ter) gendert habe und bitte, michin amtlichen Dokumenten lediglichals Adorno zu fhren, kommen-tierte er seine Namensnderung ge-
genber der Universitt Frank-furt /8/ .
Nach dem Ende des DrittenReichs, im Mrz 1947, fasste diePhilosophische Fakultt den Be-schluss, Horkheimer und Adornonach Frankfurt zurckzuholen unddamit zu rehabilitieren/9/. Der De-kan der Philosophischen Fakultt,Otto Vossler, unterbreitete Adornodann das Angebot der Universitt,in seine Geburtsstadt zurckzukom-men. Adorno beriet sich mit Hork-heimer. Beide fassten den Ent-schluss, nach Deutschland zu reim-migrieren, um an der Erziehung ei-ner neuen Generation mitzuwirkenund entgegen dem Zug der ver-walteten Welt, wie Adorno sie tauf-te, den autonomen Gedanken in
unseren Studenten zu entfalten,unbekmmert um das statistischeAusma seiner Mglichkeiten, wieHorkheimer es formulierte /10/. Be-reits im Wintersemester 1949/50lehrte Adorno wieder an der Jo-hann Wolfgang Goethe-Universitt.Er vertrat die Professur fr Sozial-philosophie, nach der RckkehrHorkheimers aus dem Exil ber-nahm Adorno zunchst kommissa-risch die Philosophie-Professur, biser schlielich 1953 zum Professorfr Philosophie und Soziologie er-nannt wurde.
Gemeinsam mit Horkheimerkmmerte sich Adorno um die Wie-dererffnung des Instituts fr Sozial-forschung in Frankfurt. Da das alteGebude des Instituts im Krieg zer-strt worden war, begannen im No-vember 1950 die Bauarbeiten zu ei-nem Neubau in der Senckenbergan-lage 26. Nach einer Bauzeit von nureinem Jahr konnte das neue Ge-bude des Instituts fr Sozialfor-schung bezogen werden.
StraenberquerungStudenten, unmittelbarmit dem Tod bedroht...
Im Frankfurter Universittsarchivhat sich ein Vorgang erhalten, derdokumentiert, dass Adorno um dasWohl seiner Studenten besorgt war.Am 12. Mai 1958 schrieb er an denRektor der Universitt: Der Ver-kehr auf der Senckenberganlagemacht es den zahlreichen Angehri-gen der Universitt, die gezwungensind, diese berbelastete Strae zuberqueren, gerade in nchsterUniversittsnhe [] auerordent-lich schwer. Oftmals berqueren siedie Senckenbergstrae im Lauf-schritt [] Dieser Zustand ist be-denklich. Wenn ein Student, wie esdoch schlielich sein Recht seinsollte, in Gedanken ber die Straegeht, ist er der unmittelbarsten Le-bensgefahr ausgesetzt./11/ Der Poli-zeiprsident schaltete sich ein undversprach Hilfe: Er lie einenFugngerweg auf der Strae mar-kieren. Allerdings bewhrte sichdieser Zebrastreifen aus SichtAdornos nicht. Er forderte deshalb,eine Brcke von der Universitthinber zum Institut fr Sozialfor-schung zu bauen. Am 29. Novem-ber 1961 wandte er sich nochmalsan die Universittsleitung: Studen-ten, die, was doch wohl legitim w-re, in Gedanken sind, werden dafrunmittelbar mit dem Tod bedroht.
Adorno nahm 1943die amerikanischeStaatsbrgerschaftan. Aus TheodorWiesengrund wur-de TheodoreAdorno. Nach sei-ner Rckkehr ausAmerika an daswiedergegrndeteFrankfurter Institutfr Sozialfor-schung machte erdie Naturalisa-tion wieder rck-gngig. Den Na-men Adorno fhrteer aber weiterhin.
ber ein Drittelder Dozenten derUniversitt wurdeaufgrund des Ge-setzes zur Wieder-herstellung desBerufsbeamten-tums vom 7. April1933 von den Na-tionalsozialistendie Lehrbefugnisentzogen. Auszugaus dem Personal-verzeichnis derUniversitt Frank-furt, Wintersemes-ter 1933/34, mithandschriftlichenVermerken desUniversittssekre-tariats: Lehrbe-fugnis entzogen.
Barba non facitphilosophum. EinBart macht zwarnoch lange keinenPhilosophen, aberselbst mit dieserVerkleidung zu Fa-sching htte Ador-no einen vorderenRang im Adorno-hnlichkeitswett-bewerb belegt.Zumindest diebeiden Studentin-nen neben ihmscheinen davonfest berzeugt.
Die Ausstellung der Stadt- und Universi-ttsbibliothek zum 100. Geburtstag Theo-dor W. Adornos konzentriert sich aufAdornos Beziehungen zu seiner Geburts-stadt, die neben einem seinen musikali-schen Studien dienenden Aufenthalt inWien und der durch die Nationalsoziali-sten erzwungenen Emigration nach Eng-land und Amerika Zentrum seiner Biogra-fie und seines wissenschaftlichen Wirkenswar. Vom 4. September bis zum 13. Okto-ber (Ende der Buchmesse) ist diese Aus-stellung im Bibliotheksbereich der B-Ebe-ne der U-Bahnstation Bockenheimer War-te zu sehen.
Ein groer Schatz an Quellen, Doku-menten, Erinnerungsstcken und Berich-ten ist heute in verschiedenen FrankfurterEinrichtungen verstreut. Das Archivzen-trum der Stadt- und Universittsbibliothekmit den Nachlssen Max Horkheimers,Friedrich Pollocks, Leo Lwenthals, Her-bert Marcuses und anderer fand Freunde
und Partner fr diese Ausstellung im Ador-no-Archiv, im Universittsarchiv der Jo-hann Wolfgang Goethe-Universitt, im In-stitut fr Stadtgeschichte, im HistorischenMuseum der Stadt, in der Hochschule frMusik und bei vielen Privatpersonen. DieAusstellung unternimmt den Versuch, dieLeihgaben zu einer sinnvollen Schau zu-sammenzufhren und so die Verflechtungeiner Biografie mit der Stadt zu zeigen.
In die Stadt und ihrer nheren Umge-bung erlebte Adorno seine geborgene undglckliche Kindheit, im Kaiser Wilhelm-Gymnasium konnte der begabte Schlervorzeitig die Abiturprfungen ablegen, da-nach studierte er an der Universitt Frank-furt und wurde mit einer Arbeit bei HansCornelius promoviert. Daneben nahm erKompositionsunterricht bei Bernhard Se-kles am Dr. Hochschen Konservatorium.An mehreren Zeitschriften arbeitete er alsMusikkritiker. Nachdem er sich 1931 habi-litiert hatte, wirkte er als Privatdozent an
der Universitt bis zum Entzug der Lehrer-laubnis aufgrund der nationalsozialisti-schen Rassengesetze 1933. In diese Zeitfllt auch seine erste Mitarbeit im Institutfr Sozialforschung.
Nach der Zerschlagung des Dritten Rei-ches setzte er seine Krfte voll ein, um denWiederaufbau des Instituts fr Sozialfor-schung voranzutreiben, gleichzeitig eta-blierte er sich wieder im wissenschaftli-chen Leben an der Universitt und in derStadt. Den turbulenten Nebenerscheinun-gen der Studentenbewegung stand er zumTeil ratlos gegenber. Freundschaft undkollegiale Verbundenheit verknpfte seineBiografie mit dem Kreis von Wissenschaft-lern, die dem Institut fr Sozialforschung,zunchst in Frankfurt, dann in Genf, da-rauf in New York und schlielich wiederin Frankfurt verbunden waren.
Jochen Stollberg ist Leiter des Archivzentrums derStadt- und Universittsbibliothek und hat dieseAusstellung organisiert.
Theodor W. Adorno in Frankfurt Ausstellung der Stadt- und Universittsbibliothek
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[] Helfen knnte nur entwedereine Brcke fr Fugnger ber dieSenckenberganlage oder eine Um-leitung des gesamten Verkehrs. /12/
In einem Leserbrief an die F.A.Z.machte Adorno am 18. Juli 1962sein Anliegen auch einer breiterenffentlichkeit bekannt. Allerdingsbaute die Stadt Frankfurt weder dieBrcke, noch leitete sie den Verkehrum. Der Polizeiprsident lie abereine Ampelanlage installieren, dieheute noch Studierenden das siche-re berqueren der Senckenbergan-lage ermglicht.
Die Kunst war fr Adorno auf-grund ihrer Autonomie in der Lage,Kritik an gesellschaftlicher Herr-schaft zu ben. Diese Kritik erfolgeohne Anwendung von Gewalt. Einesolche Position stand im Gegensatzzur Bereitschaft vieler Studenten inden spten 1960er Jahren, denMuff von tausend Jahren kmp-
Adorno verhandeltim Juni 1969, nurzwei Monate vorseinem Tod, mitStudenten, ob erseine nachStrungen wo-chenlang ausge-setzte VorlesungEinfhrung indialektisches Den-ken wiederauf-nehmen kann al-lerdings auch andiesem Tag ohneErfolg.
/1/ Max Horkhei-mer, Jenseits derFachwissenschaft.Adorno zum Ge-burtstag. Frankfur-ter Rundschau vom11.September 1963.
/2/ Brief von Ador-no an Leo Lwen-thal,16. Juli 1924,in: Leo Lwenthal,
Anmerkungen
Mitmachen wollteich nie. Ein auto-biographisches Ge-sprch mit HelmutDubiel. Frankfurt1980, S. 247.
/3/ Ebenda, S. 249.
/4/ Adorno, Gesam-melte Schriften I,S. 79322.
/5/ Vgl. Univer-sittsarchiv Frank-furt, Abteilung 4,Nr. 2.
/6/ Vgl. Univer-sittsarchiv Frank-furt, Protokollbuchder Philosophi-schen Fakultt II, S.128, Sitzung vom16. Februar 1931.
/7/ Vgl. Univer-sittsarchiv Frank-furt, Protokollbuchder Philosophi-schen Fakultt II,S.129, Sitzung vom23. Februar 1931.
/8/ Brief von Ador-no an das Kuratori-umssekretariat,28.3.1950, Univer-
sittsarchiv Frank-furt, Abteilung 14,Nr. 20, Blatt 19.
/9/ Vgl. Univer-sittsarchiv Frank-furt, Protokollbuchder Philosophi-schen Fakultt III,S. 146, Sitzungvom 21. Mrz1947.
/10/ Horkheimer,Jenseits (wie An-merkung 1).
/11/ Vgl. Univer-sittsarchiv Frank-furt, 630 50 alt,Blatt 86.
/12/ Ebenda,Blatt 66.
ferisch aus den Talaren der Professo-ren zu treiben. Adorno, dessen Wer-ke von den Mitgliedern der Studen-tenbewegung eifrig gelesen wurden,ging auf Distanz zu der Generation1968. Seine Vorlesungen und Semi-nare wurden gestrt, Adorno littpersnlich sehr unter der neuen Si-
Der Autor
Dr. MichaelMaaser, Historiker,leitet das Univer-sittsarchiv der Johann WolfgangGoethe-Universitt.
tuation. Ob er allerdings schlielichan den Folgen eines Busen-Atten-tats zweier Studentinnen in seinerVorlesung starb, wie der Schriftstel-ler Robert Gernhardt in seinemgleichnamigen Gedicht nahe legt,gilt als nicht erwiesen.
stellte. In zahlreichen Arbeitsgn-gen wurden diese Typoskripte korri-giert und immer wieder berarbei-tet, bis schlielich eine endgltigeDruckvorlage entstand.
Auch Aufstze ausder Schulzeit
Adornos Nachlass umfasst zirka70 000 Blatt Manuskripte und Typo-skripte sowie 45 erhaltene philoso-phische Notizhefte. Acht weitereHefte enthalten frhe Reisetage-bcher und Aufstze aus seinerSchulzeit. Zum Bestand gehrenferner Drucke, handschriftlich kor-rigierte Druckfahnen und Umbruch-exemplare, die in Sammelbndenund Zeitschriften erschienenen Auf-stze Adornos sowie eine Samm-lung seiner in Zeitungen erschienenArtikel. Darber hinaus befinden
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F o r s c h u n g a k t u e l lF o r s c h u n g a k t u e l l
Im Jahr 1985 wurde das TheodorW. Adorno Archiv von der Ham-burger Stiftung zur Frderung vonWissenschaft und Kultur, die Inha-berin der urheberrechtlichen Nut-zungsrechte und Eigentmerin derNachlsse von Theodor W. Adornound Walter Benjamin ist, in Ador-nos Geburtsstadt Frankfurt am Maingegrndet. Vor ihrem Tod, sie starbam 16. Juli 1993, hatte Gretel Ador-no den gesamten Nachlass ihresMannes, den sie als Alleinerbin be-sa, der Hamburger Stiftung ber-gebe