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8 Forschung intensiv Forschung Frankfurt 2/2004 Shanghai boomt – wieder einmal: Denn be- reits Mitte des 19.Jahrhunderts stieg die Hafenstadt zum kulturellen, politischen und ökonomischen Zentrum Chinas auf. Von die- ser Stadt gingen so entscheidende Impulse für künstlerische, politische und ökonomi- sche Innovationen aus, dass sie zuweilen sogar von der mentalen chinesischen Land- karte gestrichen wurde. Shanghai ist nicht China. Ein Blick auf die Geschichte lohnt sich, um die Entwicklung dieser heute als Metropole der Superlative und Inbegriff der Modernität gepriesenen Stadt verstehen zu können. Auch damals lebte Shanghai von dem unverwechselbaren Zusammenspiel von Chinesen und Ausländern, was ihren kosmo- politischen Charme ausmachte. Wie ver- mischten sich westliche und chinesische Einflüsse im kulturellen Leben? Was bedeu- tete dies für die Welt des Theaters, wo tra- ditionelle und moderne, westliche und chi- nesische Kunstformen aufeinandertrafen? Lassen sich hier die Anfänge einer chinesi- schen »Moderne« ausmachen? Mythos Shanghai Gesichter einer Stadt im Spiegel ihrer Geschichte Der »Bund« ist nach wie vor der wichtigste Touristenspot in Shanghai für alle auswärtigen Besucher. Dieser Skyline der Stadt, in der heute über zwölf Millionen Menschen leben, wird aktuell aber schon wieder Konkurrenz gemacht von dem völlig neu erschlossenen Sonderwirtschaftsgebiet Pudong direkt ge- genüber des Bunds, wo sich noch mehr Wolkenkratzer türmen und in dem inzwischen die meisten ausländischen Firmen und Unternehmer ansässig sind. Wo sich heute Shanghais Markenzeichen, der »Bund«, entlang des Huangpu Flusses streckt, war vor der Ankunft der Auslän- der noch weites Ödland gelegen. Die seit Ende des 19.Jahr- hunderts dort entstehenden imperialen europäischen Gebäude (Bild unten) waren einerseits Signal ihrer Machtstellung, ande- rerseits auch unter der chinesischen Bevölkerung schnell ein beliebter Ausflugsort. von Natascha Gentz

Forschung intensiv Mythos Shanghai · len Hongkong die wirtschaftliche und kulturelle Füh-rungsposition abspenstig gemacht. Schon deshalb lohn- ... [siehe »Chinabilder im Wechselspiel

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Shanghai boomt – wieder e inmal : Denn be-re i ts Mi t te des 19. Jahrhunder ts s t ieg d ieHafenstadt zum kul ture l len, po l i t i schen undökonomischen Zent rum Chinas auf . Von d ie -ser Stadt g ingen so entscheidende Impulsefür künst le r i sche, po l i t i sche und ökonomi-sche Innovat ionen aus, dass s ie zuwei lensogar von der menta len chines ischen Land-kar te gest r ichen wurde. Shanghai i s t n ichtChina. E in Bl ick auf d ie Geschichte lohnts ich, um die Entwick lung d ieser heute a lsMetropole der Super la t i ve und Inbegr i f f derModern i tä t gepr iesenen Stadt vers tehen zukönnen. Auch damals lebte Shanghai vondem unverwechse lbaren Zusammenspie l vonChinesen und Aus ländern, was ihren kosmo-pol i t i schen Charme ausmachte. Wie ver -mischten s ich west l iche und chines ischeEinf lüsse im kul ture l len Leben? Was bedeu-tete d ies für d ie Wel t des Theaters , wo t ra -d i t ione l le und moderne, west l iche und chi -nes ische Kunst fo rmen aufe inander t ra fen?Lassen s ich h ie r d ie Anfänge e iner ch ines i -schen »Moderne« ausmachen?

Mythos ShanghaiGesichter einer Stadt im Spiegel ihrer Geschichte

Der »Bund« ist nach wie vor der wichtigste Touristenspot inShanghai für alle auswärtigen Besucher. Dieser Skyline derStadt, in der heute über zwölf Millionen Menschen leben, wirdaktuell aber schon wieder Konkurrenz gemacht von dem völligneu erschlossenen Sonderwirtschaftsgebiet Pudong direkt ge-genüber des Bunds, wo sich noch mehr Wolkenkratzer türmenund in dem inzwischen die meisten ausländischen Firmen undUnternehmer ansässig sind.

Wo sich heute Shanghais Markenzeichen, der »Bund«, entlangdes Huangpu Flusses streckt, war vor der Ankunft der Auslän-der noch weites Ödland gelegen. Die seit Ende des 19.Jahr-hunderts dort entstehenden imperialen europäischen Gebäude(Bild unten) waren einerseits Signal ihrer Machtstellung, ande-rerseits auch unter der chinesischen Bevölkerung schnell einbeliebter Ausflugsort.

vonNataschaGentz

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C h i n a b i l d e r i m Wa n d e l

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Der Mythos Shanghai als »Paris des Ostens«, einSymbol globaler Urbanität verbunden mit Gla-mour und Dekadenz, Ausschweifung und Aus-

beutung gleichermaßen, hat nicht nur überdauert, erwird gerade jetzt wieder tatkräftig und strategisch neubelebt. Shanghai war bis in die 1940er Jahre eine zwei-geteilte Stadt, deren chinesische Altstadt umgeben warvon ausländischen Konzessionsgebieten mit eigenerStadtverwaltung und Jurisdiktion. Seit Mitte des 19.Jahr-hunderts war diese Metropole daher auch zum Inbegriffder halbkolonialen Herrschaft imperialistischer Mächte

und zum symbolischen Ort der nationalen Ausbeu-tung wie auch des politischen Widerstands geworden.Shanghai war die Wiege nationalistischer Boykottbewe-gungen in den ersten Jahren des20.Jahrhunderts, später Gründungs-stätte der kommunistischen Parteiund Zentrum ihrer Untergrundakti-vitäten und nicht zuletzt auch Hoch-burg der Kulturrevolution in den1960er Jahren.

Gleichzeitig war diese Millionen-stadt bis zur Gründung der Volksre-publik China 1949 das Finanzzen-trum Chinas und Zentrum einesbourgeoisen, kosmopolitischen kul-turellen Lebens. Der eher kurzfristi-ge Versuch der Mao-Ära, diesemMythos Shanghai ein Ende zu berei-ten, wurde durch Deng Xiaopings le-gendäre und imperial anmutende»Reise in den Süden« 1992 revidiertund löste für den neuen »Drachen-kopf der ökonomischen Entwick-lung« einen Boom städtebaulicherund ökonomischer Aktivitäten aus,der in seiner Dynamik unvergleich-lich ist.

Dies blieb auch für wissenschaftli-che Forschungsaktivitäten sowohl inChina als auch – mit kurzer Verzöge-rung – in der westlichen Sinologienicht ohne Folgen: Denn seit Shang-hai auf der politischen Landkarte rehabilitiert wurde,fließen nationale Gelder in die Shanghaier Akademieder Sozialwissenschaften, um die Stadtgeschichte zu er-forschen. Verbunden damit ist auch, dass die Rolle derbisher vornehmlich als Imperialisten wahrgenommenenAusländer im Entwicklungsprozess der Metropole ideo-logisch neu bewertet wird. Es ist nun wieder möglich,das vorherrschende marxistische Paradigma einer impe-rialistischen Kanonenbootpolitik leise zu relativieren.

Mit seinem erneuten Aufstieg zum neuen kulturel-len, politischen, aber vor allem ökonomischen ZentrumChinas scheint Shanghai heute seine Entwicklung ausdem 19. Jahrhundert geradezu zu wiederholen; damalshatte es schon nach wenigen Jahrzehnten dem kolonia-len Hongkong die wirtschaftliche und kulturelle Füh-rungsposition abspenstig gemacht. Schon deshalb lohn-te sich ein Blick auf die Geschichte der heute als »Inbe-griff der Modernität« verstandenen Metropole der Su-perlative. Die allgegenwärtige Nostalgie für das »laoshanghai«, das alte Shanghai, bürgt dafür, dass diesererneute Aufbruch bewusst wahrgenommen und insze-niert wird.

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Das alte Shanghai und die Welt:Wissenswertes neues Wissen

Das alte Shanghai war vor dem Eintreffen der EuropäerMitte des 19. Jahrhundert ein kleines Fischerdorf. Be-völkerungsexplosion und zahlreiche Flüchtlingsbewe-gungen aus dem Hinterland ließen Shanghai und Hong-kong schnell zu den Metropolen des Qing-Reichs an-wachsen. Zerstörungen durch Aufstände der Schwert-Gesellschaft oder die Taiping-Rebellion in Shanghai undseinem Hinterland erforderten, dass kulturelle Institu-tionen und Bildungseinrichtungen völlig neu ausgebautwerden mussten. Ausländische Unternehmer, Diploma-ten und Regierungsangestellte sowie zunehmend prote-

stantische Missionare etablierten in den durch den Opi-umkrieg geöffneten Vertragshäfen eine westlich gepräg-te kulturelle Enklave, die bald mehrheitlich von Chine-sen bewohnt war. Die besonderen kulturellen und juri-stischen Bedingungen sorgten dafür, dass sich ein Um-feld herausbildete, das für hybride kulturelle Experi-mente prädestiniert war. In dieser Atmosphäre entstan-den die ersten modernen Massenmedien, zuerst Tages-zeitungen, dann Journale und später Film und Hörfunk.Dort gründeten sich die ersten modernen Schulen undBildungsinstitutionen sowie Verlage, die die Überset-zung und Verbreitung westlicher, vor allem wissen-schaftlicher Werke vorantrieben.

Missionare sowie einige Unternehmer hegten oft-mals eine tiefe Bewunderung und einen erheblichenRespekt vor den Errungenschaften der alten chinesi-schen Kultur, was sie sich in ihren Publikationen eben-so wie in ersten sinologischen Untersuchungen nieder-schlug. Und da die Missionare meinten, dass die christ-lich theologischen Inhalte von den Chinesen nur ange-nommen werden konnten, wenn ihnen das westlicheWissen allgemein als Grundlage bekannt war, waren sie

Alter Stadtplan: Shanghai wurde mit der Niederlage im Opiumkrieg 1842 für die Ausländer vertraglichgeöffnet. Die ersten Niederlassungen der Briten im Zentrum wurden bald durch Konzessionsgebiete vonFranzosen, Amerikanern und Japanern erweitert. Schon um 1900 war die Stadt zu einer Millionenstadtangewachsen und galt aufgrund ihrer städtischen Infrastruktur, Schulen, Museen, Bibliotheken, Kranken-häuser, Luxushotels, Zeitungshäuser, Theater und Filmstudios als die modernste Stadt Chinas. Im Jahre1943 wurden die Konzessionsgebiete aufgelöst, die dort entstandene Architektur prägt bis heute dashybride Stadtbild der Metropole.

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auch verantwortlich für die ersten akademischen Jour-nale und Übersetzungen wissenschaftlicher Werke insChinesische. Überdies wurde das europäische Chinabildim 19.Jahrhundert wesentlich von den zahlreichen Be-richten der Missionare geformt. Bis heute zählen Über-setzungen von chinesischen Klassikern, die die Missio-nare vornahmen, zu den »Klassikern« der Sinologie.[siehe »Chinabilder im Wechselspiel der Kulturen«,Seite 12]

Viele der fortschrittlichsten chinesischen Beamtenhielten schon früh Kontakt zu Missionaren, Unterneh-mern und Journalisten verschiedenster Nationalitäten,und manche dieser Ausländer konnten auch im politi-schen Zentrum einflussreiche Rollen spielen. Dieseneuen sozialen Akteure bildeten zudem enge personelleund national gemischte Netzwerke: Journalisten in denTageszeitungen arbeiteten gleichzeitig als Übersetzer inden Regierungsschulen oder begleiteten Auslandsdele-gationen nach Europa. Wissenschaftler kooperierten mitden Missionsverlagen und gründeten schon Mitte der1870er Jahre das erste öffentliche Museum zusammenmit einer Ausstellungshalle für Messen, die nach demModell des Crystall Palace der Londoner Weltausstel-lung gebaut werden sollte.

So entwickelte sich in den KonzessionsgebietenShanghais rasch ein kulturell hybrides Leben, das offen-bar in seiner transnationalen Struktur nicht so durch-gängig negativ wahrgenommen wurde, wie es die spä-tere Geschichtsschreibung unter dem Stichwort der»kolonialen Unterdrückung« glauben machen will. Zu-mindest zeugen private Briefwechsel und öffentlicheKommentare von einem durchaus freundschaftlichenund respektvollen Umgang zwischen Missionaren undihren chinesischen Mitarbeitern. Chinesische Literatenschwärmten auch von den Vorzügen der von den Britenorganisierten Stadtverwaltung und forderten zuweilen

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Richard Wilhelm (1873-1930) ist einer der bedeutendstenfrühen Sinologen und Übersetzer chinesischer Klassiker imdeutschen Raum. Auch die Gründung der Sinologie an derUniversität Frankfurt geht auf ihn zurück. Richard Wilhelmstudierte in Tübingen evangelische Theologie und ging 1899als Missionar der Ostasienmission in das damalige deutschePachtgebiet Qingdao (Tsingtao) in der chinesischen ProvinzShandong. Von 1922 bis 1924 arbeitete Wilhelm als wissen-schaftlicher Mitarbeiter der deutschen Gesandtschaft in Chinaund lehrte an der Peking-Universität als Professor für westli-che Philosophie. Richard Wilhelm teilte mit vielen seiner mis-sionarischen Kollegen eine tiefe Bewunderung und Zuneigungfür China und setzte sich für einen interkulturellen Austauschauch mit dem zeitgenössischen China ein. Das Verständnis fürChina zu stärken, war Ziel seiner vielfältigen Übersetzungstä-tigkeit und auch Hintergrund der Gründung des »China-Insti-tuts«, das wenige Jahre nach seiner Berufung als Honorarpro-fessor 1924 an die Universität Frankfurt angegliedert wurde.

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Werbeplakate für Zigaretten der 1920er und 1930er Jahreerfreuen sich gerade in diesen Tagen wieder großer Beliebtheitund sind in vielen Neuauflagen als Poster, Postkarten oderStoffdesign in China erhältlich. Während die Damen der Ziga-rettenwerbung früher als Huren des imperialistischen Kapita-lismus und als Zeichen der Ausbeutung verpönt waren, koket-tiert man heute im Zeichen von Kommerz mit ihrer Freizügig-keit und Frivolität.

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für Stabilität in den Truppen sorgte. Die Theaterliebha-berin und Kaiserinwitwe Cixi begann jedoch, ab den1880er Jahren einzelne Schauspieler in ihren Hof einzu-laden und damit ein System in Gang zu bringen, das be-stimmte Stars in den Ensembles privilegierte. Hinzukam, dass die Theaterhäuser in Shanghai in ihrer Auf-bauphase auf auswärtige Schauspieler angewiesenwaren und mit Vorliebe Pekinger Schauspieler einlu-den. Lukrative Angebote lockten die Stars aus Peking in

Der Untertext erzählt folgende Geschichte: Ein Besucher aus der Provinz erblicktedes Nachts in Hongkong durch ein Fenster voll Schrecken – und Neugier – chinesi-sche Männer, die westlichen Frauen an den Kleidern herumzupften. Am nächstenTage berichtete er empört seinem Freund, wie sie die Frauen an Rock und Ärmel ge-fasst hätten. Lachend nahm ihn der Freund bei der Hand und zeigte ihm, was er tat-sächlich beobachtet hatte: eine Schneiderei, in der auch nachts gearbeitet wurde.

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auch schon 50 Jahre vor der chinesischen RevolutionMitbestimmung in den ausländischen und damit demo-kratischen städtischen Parlamenten.

Kulturelle Unterschiede zwischen Westlern und Chi-nesen, aber auch Neuerungen im urbanen Leben, wiedie Nachtarbeit, wurden in den neuen Medien – beson-ders den mit der neuen Lithographietechnik hergestell-ten Bildzeitungen – immer wieder thematisiert und mitviel Humor behandelt, wie die Geschichte über Ver-dächtigungen in einer Schneiderei illustrieren mag.Solche Episoden, die kulturelle Missverständnisse auf-greifen, dokumentieren die Bandbreite an gegenseitigenUrteilen und Vorurteilen, an alternativen Interpretatio-nen des Alltags und inzwischen verschütteten Antwor-ten auf die Herausforderung durch die Modernisierung.

Zwischen Teehaus und Theater:Shanghai by Night

Das kulturell neue Shanghai übernahm nicht allein diewestlichen Kulturtechniken, es entstand vielmehr eineganz eigentümliche Mischung aus indigenen Transfor-mationen und fremden Importen. Dies zeigt ein Blickauf eine der fundamentalsten Transformationen imShanghaier Leben: das Nachtleben und damit der Auf-stieg der Stadt zum internationalen Wahrzeichen dermodernen Unterhaltungsindustrie. Diese Umwälzungenfanden vor allem in der Teehaus- und Theaterkulturstatt. Doch nicht London und Paris gaben die wichtig-sten Impulse, sondern das Theaterzentrum Peking.Denn dort wandelten sich schon im frühen 19. Jahr-hundert die Finanzierung und Verwaltung der Truppen,ihre Aufführungspraxis und die Grundstruktur derTruppenzusammensetzungen. Das »Pekinger System«zeichnete sich zunächst dadurch aus, dass feste Ensem-ble zwischen neun großen Bühnen rotierten und dies

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Die heutige Frankfurter Sinologie verstehtsich als moderne Kulturwissenschaft. Dieneue perspektivische Ausrichtung ermög-lichte die Besetzung der Sinologie-Profes-sur mit Dorothea Wippermann im Oktober2001 und der Juniorprofessur mit Nata-scha Gentz im Dezember 2002. Der Umzugin die Räume des Juridicums und die Beru-fungsmittel erlaubten, Grundausstattungund Infrastruktur deutlich zu verbessern.Damit sind die Grundlagen für eine pro-funde Ausbildung in der modernen chine-sischen Sprache und Literatur vorhanden.Das Selbstverständnis der Sinologie als mo-derne Kulturwissenschaft bedeutet, dassdie traditionellen Methoden der Philologieund Textkritik erweitert werden um die derzeitgenössischen Sprach- und Literaturwis-senschaften, Medienkulturwissenschaftenund der Kulturanthropologie. In diesemZusammenhang kommen in der Ausbil-dung auch geschichtswissenschaftliche,politik- und sozialwissenschaftliche An-sätze zum Tragen. Um den Praxisbezug zustärken, wurde unter anderem die Vor-

tragsreihe »Sinologie und Beruf« einge-richtet, in der Sinologen in Unternehmenwie der Deutschen Bank, der Gesellschaftfür Technische Zusammenarbeit (GTZ),Verlagen oder der ARD die Studierendeninformieren und beraten. Ein Alumni-Netzwerk soll diese Kontakte weiter för-dern.

Dass die Neuausrichtung auf eine mo-derne, praxisbezogene Sinologie auf Ak-zeptanz stößt, belegen rasant zunehmendeStudierendenzahlen, die trotz neuer Räu-me und Personalzuwachs kaum mehr zubewältigen sind. Im Wintersemester 2001wählten 174 Studierende das Fach Sinolo-gie, im Wintersemester 2003/ 2004 sindbereits 307 in diesem Fach eingeschrieben,das entspricht einer Steigerung von über70 Prozent.

Die Fachvertreter etablieren neue inter-nationale Forschungskontakte, sei es durchKooperationsprogramme mit der renom-mierten Peking Universität (ECCS), Aus-richtung internationaler Konferenzen oderindividuelle Forschungsprojekte und Vor-

tragsreisen. Die Sinologie kooperiert mitden anderen Disziplinen der (Süd-)Ost-asienwissenschaften und darüber hinausmit China-Schwerpunkten innerhalb derRechtswissenschaft und des Instituts fürSozialforschung oder dem Sigmund Freud-Institut. Dass die Sinologie in Frankfurt in-terdisziplinär ausgerichtet ist und praxisbe-zogen arbeitet, zeigt sich auch an der inKooperation mit der Rechtswissenschaftbeantragten Einrichtung eines interdiszipli-nären Ostasienzentrums. Dieses soll einForum bilden, in dem China-bezogeneneAktivitäten gebündelt, präsentiert und Ko-operationen erleichtert werden können.Das Zentrum wird Aufgaben bei der ge-meinsamen Außendarstellung der Ost-asien-Aktivitäten übernehmen und An-sprechpartner als Vermittler von Ostasien-Kompetenz für Institutionen in Frankfurtund Hessen sein. Für die Mitwirkung imBeirat des Zentrums sollen zudem Persön-lichkeiten aus Wirtschaft, Verwaltungund Kultur der Stadt Frankfurt gewonnenwerden.

Die neue Frankfurter Sinologie

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die großen Vertragshäfen, so wurde das »Peking-Sys-tem« langsam durch ein nationales Tournee-System ab-gelöst. Auch der neue stetig wachsende Pressemarktläutete eine Transformation des Starwesens ein: Kultu-relle Aktivitäten in Teehäusern und Theatern verbreite-ten sich nun über Anzeigen oder Theaterkritiker bespra-chen die Aufführungen, lithographische Bilder, späterFotografien, machten Schauspieler und Kurtisanen fürden Leser in seinem Privatraum zugänglich, sie wurdenals Produkt kommerzialisiert.

Gleichzeitig wurden die Theaterhäuser nach westli-chem Vorbild umgebaut: Auf der Bühne richtete mandas Geschehen auf die Zentralperspektive aus, und dasTheater war strikt in einen Bühnenraum und einen ver-dunkelten Zuschauerraum aufgeteilt. Das warf die her-kömmliche Zuschauerkultur völlig um, denn bisher warder Theater- und Teehausraum vornehmlich das Zen-trum sozialer Aktivitäten gewesen: Dort wurde geredet,getrunken und gelacht Auch die Möglichkeit dertechnisch-apparativen Medien, die einmaligen Auffüh-rungen reproduzierbar zu machen, wurde von den Un-terhaltungskünstlern schnell genutzt. So ist es kein Zu-fall, dass der erste chinesische Film von 1905 eine Kampf-szene aus einem Theaterstück des damaligen Peking-opern-Stars Tan Xinpei darstellt, aufgenommen im Frei-en auf dem Tiananmen Platz in Peking. Dennoch warendie Strategien der Vermarktung und Kommerzialisie-rung nicht immer erfolgreich, und Kulturschaffendeentwickelten auch eigene Abwehrmechanismen, umdem Trend der Kommerzialisierung widerständig zu be-gegnen. Diese Tendenz setzte sich fort und bekam einenneuen Impuls durch die ideologische Radikalisierungvieler Kulturschaffenden zu Anfang des 20. Jahrhun-derts.

Als nun ein Großteil der Intellektuellen die Monar-chie ablehnte, das mandschurische Kaiserhaus alsFremdherrscher verdammte, nahm auch die Ausländer-feindlichkeit zu, die im Boxerkrieg 1900 ihren Höhe-punkt fand. Damit verbunden war auch die Neubewer-tung der eigenen kulturellen Tradition, eine Hierarchi-sierung der fremden westlichen Kulturen in zivilisierte,präzivilisierte und unzivilisierte und die Suche nachdem rechten Platz in dieser »familiy of nations«.

Traditionalismus und Ideologie:Kulturdebatten zur Geburt der Tragödie in China

Japan spielte innerhalb dieser Debatten eine besondereRolle, da es nach den Meiji-Reformen seine Öffnungzum Westen hin sehr viel schneller und erfolgreichervollzogen hatte. Viele Impulse gingen von den nach

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Das Symposium »Chinaforschung– Chinabilder – Chinabezüge«, dasam 8. und 9.Juli 2004 im Rahmender 90-Jahr-Feier der UniversitätFrankfurt unter Beteiligung vonForschern aus China, Hongkong,Kanada und anderen Ländernstattfindet, beschäftigt sich mit Chi-nabildern, die von Missionarenund später Wissenschaftlern ge-prägt wurden, und deren wechsel-seitigen Einflüssen in China undim Westen seit dem frühen20. Jahrhundert bis heute.

Im Mittelpunkt steht eine dereinflussreichsten Figuren der deut-schen Sinologie, der ehemaligeTheologe und Missionar RichardWilhelm (1873–1930), der ab 1924an der Frankfurter Universität Chi-nakunde lehrte und 1925 mit Hilfeeiner privaten Stiftung das »China-Institut« gründete, das später alsSeminar für Chinaforschung in dieUniversität integriert wurde. Aus-

gehend von Wilhelms Tätigkeiten,Kontakten und intellektuellenNetzwerken werden China-Bezügeanderer Wissenschaftler der Univer-sität Frankfurt thematisiert: Dazugehören der Theologe Martin Bu-ber, der Sozialhistoriker Ernst Au-gust Wittvogel und der Sozialphilo-soph Jürgen Habermas. Das Sym-posium in Frankfurt wird großzügiggefördert von der Fraport AG.

Fortgesetzt wird es am 10. und11. Juli in der Evangelischen Aka-demie Bad Boll, dem Umfeld, indem Richard Wilhelm sein Berufs-leben begann, wo er begraben liegtund wo schon 2002 eine RichardWilhelm-Konferenz veranstaltetwurde. Begleitend zeigt das Frank-furter Museum für AngewandteKunst Bücher und Objekte aus denBeständen der sinologischen Bi-bliothek der Universität Frankfurtund des China-Instituts (Ausstel-lungseröffnung: 7.Juli).

Chinabilder im Wechselspiel der Kulturen

Die Lithographie des Teehauses zeigt eine Szene aus ei-nem alten Theater: Eine ganze Reihe der Zuschauer war vonvöllig anderen Dingen absorbiert als von der Vorführung selbst;dass einige Balken die Sicht behinderten, schien nicht zu stö-ren. Im klassischen chinesischen Theater ist der Bühnenraumrund um die Bühne klar aufgeteilt, wobei die Sitzplätze nachsozialen Hierarchien und persönlicher Nähe zu bestimmtenSchauspielern verteilt wurden. Das änderte sich in den erstenJahren des 20.Jahrhunderts in Shanghai. Der Bühnenraumdes traditionellen Theaters wurde so verändert, dass er demeuropäischen zentralperspektivisch ausgerichteten Raum ent-sprach, und die Sitzplätze wurden nunmehr nur nach Eintritts-preisen verteilt.

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China heimgekehrten Auslandsstudenten aus, die inJapan die westliche Kultur, Literatur und Wissenschaftüber die japanische Vermittlung (und in japanischerÜbersetzung) rezipiert hatten. Auch hier blieb es nichtbei einer einseitigen Rezeption, sondern diese Prozessedurchliefen verschiedenste sprachliche, kulturelle undpolitische Filterungen und Destillierungen sowohl inJapan als auch in den Metropolen Chinas. So erhielt dasmoderne Sprechtheater in China sicherlich wesentlicheImpulse von der 1904 in Tokyo gegründeten, erstenmodernen chinesischen Theatergesellschaft »Frühlings-weide« (»Chunliushe«) , grundlegende Schritte in derReform und Internationalisierung des chinesischenTheaters sind aber eigentlich in Shanghai, allerdingsvon weniger bekannten Theatermachern und in Zu-sammenarbeit mit ausländischen Missionaren, unter-nommen worden. Dass diese Aktivitäten nicht in die of-fizielle Theatergeschichtsschreibung eingegangen sind,liegt vor allem daran, dass sie aus der Sicht der chinesi-schen Geschichtsschreiber politisch nicht korrekt waren.Erst im Zuge dieser Reformen wurde das chinesischeTheater erstmals wissenschaftlich behandelt und durchKategorien und Genres inhaltlich zu definieren ver-sucht. [siehe »Diskurse über eine chinesische Moder-ne«]

Sogar der Name der angeblich jahrhundertealten tra-ditionellen »Pekingoper« (jingju) ist in diesem Zusam-menhang zum Beispiel erst in den 1920er Jahren unddann auch noch in Shanghai entstanden, während er inPeking selbst gar nicht verwendet wurde. Diese Katego-risierungen wurden in den Debatten teilweise so weitüberspitzt, dass das traditionelle Theater insgesamt alsfeudal abgewertet und verworfen wurde. Selbstzerflei-schende Debatten drehten sich schließlich sogar um dieFrage, ob China überhaupt jemals ein Theater gehabthabe. Dies zeigte sich besonders deutlich in den Kontro-versen um eine chinesische Tragödie, die zu Anfang des20. Jahrhunderts entstanden und im Zuge einer einset-zenden grundlegenden Kulturreflexion für nationalisti-sche (kulturalistische) Zwecke funktionalisiert wurden.Auf den ursprünglich europäischen Tragödienbegriffkonnte man dabei eigentlich nicht zurückgreifen. Dennin der europäischen Theatergeschichte zeigt schon dieRezeption der griechischen Tragödie in der klassischenModerne Europas Brechungen, die zu verschiedenenFormen der Anti-Tragödie, Meta-Tragödie, des Tragö-dien-Kommentars geführt haben. Gerade im späten 19.und frühen 20. Jahrhundert entstand eine neue Phasedes »literary recycling« der attischen Tragödie mit derklassischen Moderne, die von kulturkritischen oder pes-simistischen Strömungen beeinflusst war. Die chinesi-sche Diskussion um eine indigene Tragödie war somitkeine Nachahmung einer europäischen Debatte, son-dern reflektiert eine grundlegendere kulturelle Ausein-

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Wie vielfältig der kulturelle Aus-tausch mit dem Westen im 19. undfrühen 20.Jahrhundert war, istzum großen Teil unbekannt undunerforscht. Dies liegt im Wesentli-chen daran, dass eine exklusive chi-nesische Historiographie der kultu-rellen Erneuerungsbewegung des4.Mai um 1920 diese vorläufigenDiskurse um eine chinesische Mo-derne als »feudal« oder rückständigabgewertet hat, um ihre eigenenErrungenschaften als »neu« zu eta-blieren und kulturelle Hegemoniezu erlangen. Und diese Geschichts-schreibung blieb auch im westli-chen akademischen Diskurs bis indie letzten Jahrzehnte wirkungs-mächtig. Im Bereich der Literaturwurde die Entdeckung dieses Phä-nomens kürzlich unter dem Stich-wort »Burden of May Fourth« un-ter der Führung von Prof. Dr. Mile-na Dolezelova beschrieben undanalysiert. Die »archäologische«

Ausgrabung der verschütteten lite-rarischen und kulturellen Aktivitä-ten im 19.Jahrhundert und ihreEinbettung in transnationale kultu-relle Netzwerke sind zentrales The-ma der im Rahmen der Juniorpro-fessur etablierten Nachwuchsgrup-pe »Transnationale Dimensionenkultureller Produktion in China«.An der von der Deutschen For-schungsgemeinschaft geförderteninternationalen Konferenz »Cultu-ral Migrations in LateQing and EarlyRepublican China«, die vom 22. bis24.August ebenfalls in Frankfurtveranstaltet wird, nehmen führen-de Wissenschaftlerinnen und Wis-senschaftler aus Europa, den USAund China teil. Prof. Dr. DusanAndrs aus Prag, Schüler und Nach-folger von Milena Dolezelova, wirdzudem im kommenden Winterse-mester als Hertie-Gastprofessor dieArbeit der Nachwuchsgruppe un-terstützen und bereichern.

Diskurse über eine chinesische Moderne

Der Frühlingsweiden-Gesellschaft wird der Verdienst zuge-sprochen, das moderne Sprechtheater in China verbreitet zuhaben. Ihre politische Orientierung hatte große Auswirkungenauf die inhaltliche Ausrichtung des Sprechtheaters in China.Gegründet wurde sie 1905 von Auslandsstudenten in Tokyo,wo auch die ersten Aufführungen stattfanden. Das Bild zeigteinen der Mitbegründer in westlichem Alltagsanzug und in ei-ner japanischen Frauenrolle. Auch in Japan entstanden Endedes 19.Jahrhunderts verschiedene Gruppierungen, um dasklassische Theater zu reformieren; sie hatten entscheidendenEinfluss auf die Theatergesellschaft.

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andersetzung mit Phänomenen einer globalen Moder-ne, die offenbar in China wie Europa ein Bedürfnisnach »Erschütterung« wiedererweckt hat.

Bis heute finden sich demnach widersprüchlicheAussagen darüber, ob das chinesische Theater die Tragö-die überhaupt kannte oder ob nicht die Tragödie der Ur-sprung des chinesischen Theaters schlechthin sei, wobei

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alle Diskussionsteilnehmer auf die Gründerväter derDebatte zu Anfang des Jahrhunderts zurückgreifen, seies auf den prominenten 4.Mai-Literaten Hu Shi, umdas Fehlen der Tragödie als kulturellen Mangel zu kon-statieren, oder den frühesten modernen TheaterforscherWang Guowei.

Unbestritten ist trotz aller Debatten, dass gerade inden ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts tragische

Natascha Gentz, 37, studierte Sinologie, Japanologie undPolitische Wissenschaften in Erlangen und Heidelberg undwährend ihrer Auslandsaufenthalte in Shanghai, Peking,Hongkong und Tokyo. Ihre Magisterarbeit schrieb sie überdas zeitgenössische chinesische historische Drama (1994).1998 promovierte sie in Heidelberg über die Entstehungsge-schichte des chinesischen Journalismus und den Wandel so-zialer Kommunikation im 19.Jahrhundert als wissenschaftli-che Mitarbeiterin im Schwerpunktprogramm der DeutschenForschungsgemeinschaft »Transformation der europäischenExpansion«. Von 1999 bis 2000 arbeitete sie in Göttingenals wissenschaftliche Mitarbeiterin in einem VolkswagenStif-tung-Projekt zu transnationalem Wissenstransfer und der da-mit verbundenen Entstehung einer modernen chinesischenTerminologie. Bevor sie im Dezember 2002 als Juniorprofes-sorin der Sinologie an die Universität Frankfurt kam, war sie

auf einer von ihr selbst eingeworbenenForschungsstelle der Deutschen For-schungsgemeinschaft in einem Projektzur »Geburt der Tragödie in China« inGöttingen tätig und untersuchte dieVeränderungen des chinesischen Thea-ters zu Beginn des 20.Jahrhunderts imBereich der entstehenden Theaterwis-

senschaft, Bühnenpraxis und Texte. Entsprechend dieser In-teressensgebiete richtete sie eine Nachwuchsgruppe »Trans-nationale Dimensionen kultureller Produktion in China(1860–1949)« ein, in der die Bedingungen der Entstehungeiner modernen chinesischen Literatur- und Theaterwissen-schaft im transnationalen Kontext untersucht und die inter-nationalen Reiserouten literarischer Konzepte und Genresverfolgt werden.

Die Autorin

Formen die chinesischen Bühnen dominierten undauch im Filmmedium tragische Rollen Stars wie die»chinesische Greta Garbo« Ruan Lingyu berühmtmachten. Und es lässt sich auch zeigen, dass man sichals Theatermacher gar nicht so kategorisch für ein mo-dernes europäisches oder traditionelles indigenes, einfortschrittliches oder rückständiges, ein neues oder altesTheater entschieden hatte, wie es die Geschichtsschrei-ber glauben machen wollen. Kultur- und Theatermachermischten gleichzeitig in den verschiedensten Produktio-nen und Genres mit, wofür Wang Youyou mit seinenInszenierungen an der Neuen Bühne aus den erstenJahren des neuen Jahrhunderts als einer der aktivstenund wenigsten bekannten Theaterreformer beispielhaftdienen kann: Auf dieser ersten westlichen, 1907 ausJapan importierten Bühne ließ er traditionelle chinesi-sche Theaterstücke mit französischen Texteinlagen be-gleitet von amerikanischen Schlagern auf dem Piano inantikisierenden chinesischen Kostümen spielen, wobeials Zwischenspiele Kurzfilme aus Europa präsentiertwurden. Einem solchen synkretistischen Zusammen-spiel der Kulturen war jedoch nur eine kurze Lebenszeitbeschert, da es zu stark den neuen ideologischen Prinzi-pien des revolutionären Realismus zuwiderlief.

Wie überall bringt auch in Shanghai die Modernisie-rung Risse, Abrisse und eine nostalgische Sehnsuchtnach der Vergangenheit mit sich. Im neuen Shanghaides 21.Jahrhunderts wird eine Wiederbelebung auf ver-schiedene Weise versucht. Wie mir der bekanntesteShanghaier Bühnenautor Sha Yexin letzten März ineinem Interview berichtete, war sein Versuch, ein altesShanghaier Teehaus einzurichten, in dem bei Tee undWein Lesungen vergessener Werke im alten Stile statt-fanden, schnell gescheitert. Dieses Unternehmen konn-te sich in der kommerziell orientierten Stadt finanziellnicht lange über Wasser halten. Aber auch die Stadtre-gierung versucht, die nostalgischen Wünsche der Bevöl-kerung zu bedienen und das alte Shanghai durch einbesonderes Stadtviertel ins kulturelle Gedächtnis zu-rückzurufen: im Xintiandi, dem nach alten Vorbildernrekonstruierten Straßenzug »Neue Welt«. Doch was dashier nachgespielte Shanghaier Nachtleben der alten Zeitfür die neuen Schönen und Reichen zu bieten hat, ist –wie zu erwarten – vor allem viel Sentimentalität undPlastik. ◆

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Die »chinesische Greta Garbo«: Ruan Lingyu ist die bekannteste Darstellerin deschinesischen Stummfilms der frühen 1930er Jahre, in dem »gefallene Frauen« intragischen Verkettungen ein ständig wiederkehrendes Thema sind. »Die Göttin«, inder sie die Hauptrolle spielt, wird in der internationalen Filmgeschichte als ein Werkvon universaler Bedeutung gepriesen. Ruan Lingyu symbolisiert die Tragik Chinas imUmbruch von Tradition und Moderne auch in ganz realer Weise: Weil sie nicht ertra-gen konnte, wie ihr wechselhaftes Privatleben von der Presse öffentlich verurteiltwurde, verübte sie schon nach wenigen Jahren öffentlichen Erfolgs im Jahre 1934Selbstmord.

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