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1 Zur Konstruktion des „Endless House“ Anlässlich der Ausstellung ‚From Chicken Wire to Wire Frame’ der Friedrich und Lillian Kiesler-Privatstiftung in Wien, Juni 2010 Friedrich Kieslers ‚Endless House’ gilt, wohl gerade aus dem Umstand heraus, dass es nie realisiert wurde, als eines der radikalsten Konzepte der Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Obwohl schon Walter Gropius meinte, dass es ganz wesentlich wäre, Kieslers Architektur in die Realität zu übersetzen 1 , blieb es bislang bei den bekannten Zeichnungen, Plänen und Modellen. Es stellt sich jedoch immer wieder (und wie bei vielen anderen Projekten) die Frage, ob die Verwirklichung des ‚Endless House’ der Vision mehr geschadet als Gutes getan hätte. Hätte man, frei nach Robert Musil, in der Umsetzung zwar den streng wissenschaftlichen Nachweis gewonnen, dafür aber den Traum verloren und somit den poetischen Mythos ruiniert? Ist es überhaupt legitim, sich mit den heute zur Verfügung stehenden technischen Möglichkeiten über die Architekturgeschichte her zu machen, um die visionären Ansätze dahingehend zu legalisieren indem man sie der ‚Baubarkeit’ nahe bringt? Vor einigen Jahren hat sich ein Verein um den Berliner Galeristen Rudolf Springer der tatsächlichen Realisierung Vladimir Tatlins ‚Monument der III. Internationalen’ auf dem Gelände des 2008 eingestellten Flughafens Tempelhof verschrieben. Die Unternehmung war durchaus ernsthaft geführt worden (Vorstatik, Kostenschätzung etc.) und hätte, wie Springer meinte, unter günstigeren, politischen und wirtschaftlichen Vorzeichen tatsächliche Realisierungschancen gehabt 2 . Was aber wäre es letztlich geworden, wenn …? Nachdem Rudolf Springer 2009 100-jährig verstarb, eine zumindest für den Moment müßige, jedoch gleichsam reizvolle Vorstellung: Tatlin am Tempelhof! Vergleichsweise stelle man sich vor, Friedrich Kiesler hätte den Nachweis seiner räumlichen Theorien im Maßstab 1:1 tatsächlich erfüllen können beziehungsweise müssen (1958, im Garten des MoMA). Man darf beruhigt davon ausgehen, dass die Rezeption des Projekts heute wesentlich eindimensionaler und somit lapidarer geführt werden würde. Better let the sleeping Beauties sleep?! Und so bleibt das ‚Endless House’ vorerst ein signifikantes Glied in der langen und sich stets verlängernden Kette von Projekten, die durch ihre Nicht-Realisierung zum manifesten Dasein verdammt und durch einen mythischen Nimbus der Unbaubarkeit gekennzeichnet sind. Doch das 1 In: Friedrich Kiesler Architekt, Hg.: Peter Weirmair, Allerheiligen Presse Innsbruck, 1975, S. 85. 2 Rudolf Springer im Gespräch mit Florian Medicus, Berlin, Juni 2008.

Friedrich Kiesler Endless House Fm

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Zur Konstruktion des „Endless House“

Anlässlich der Ausstellung ‚From Chicken Wire to Wire Frame’ der

Friedrich und Lillian Kiesler-Privatstiftung in Wien, Juni 2010

Friedrich Kieslers ‚Endless House’ gilt, wohl gerade aus dem Umstand heraus, dass es nie realisiert

wurde, als eines der radikalsten Konzepte der Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Obwohl

schon Walter Gropius meinte, dass es ganz wesentlich wäre, Kieslers Architektur in die Realität zu

übersetzen1, blieb es bislang bei den bekannten Zeichnungen, Plänen und Modellen. Es stellt sich

jedoch immer wieder (und wie bei vielen anderen Projekten) die Frage, ob die Verwirklichung des

‚Endless House’ der Vision mehr geschadet als Gutes getan hätte. Hätte man, frei nach Robert

Musil, in der Umsetzung zwar den streng wissenschaftlichen Nachweis gewonnen, dafür aber den

Traum verloren und somit den poetischen Mythos ruiniert? Ist es überhaupt legitim, sich mit den

heute zur Verfügung stehenden technischen Möglichkeiten über die Architekturgeschichte her zu

machen, um die visionären Ansätze dahingehend zu legalisieren indem man sie der ‚Baubarkeit’ nahe

bringt?

Vor einigen Jahren hat sich ein Verein um den Berliner Galeristen Rudolf Springer der tatsächlichen

Realisierung Vladimir Tatlins ‚Monument der III. Internationalen’ auf dem Gelände des 2008

eingestellten Flughafens Tempelhof verschrieben. Die Unternehmung war durchaus ernsthaft

geführt worden (Vorstatik, Kostenschätzung etc.) und hätte, wie Springer meinte, unter günstigeren,

politischen und wirtschaftlichen Vorzeichen tatsächliche Realisierungschancen gehabt2. Was aber

wäre es letztlich geworden, wenn …? Nachdem Rudolf Springer 2009 100-jährig verstarb, eine

zumindest für den Moment müßige, jedoch gleichsam reizvolle Vorstellung: Tatlin am Tempelhof!

Vergleichsweise stelle man sich vor, Friedrich Kiesler hätte den Nachweis seiner räumlichen

Theorien im Maßstab 1:1 tatsächlich erfüllen können beziehungsweise müssen (1958, im Garten des

MoMA). Man darf beruhigt davon ausgehen, dass die Rezeption des Projekts heute wesentlich

eindimensionaler und somit lapidarer geführt werden würde. Better let the sleeping Beauties sleep?!

Und so bleibt das ‚Endless House’ vorerst ein signifikantes Glied in der langen und sich stets

verlängernden Kette von Projekten, die durch ihre Nicht-Realisierung zum manifesten Dasein

verdammt und durch einen mythischen Nimbus der Unbaubarkeit gekennzeichnet sind. Doch das

1 In: Friedrich Kiesler Architekt, Hg.: Peter Weirmair, Allerheiligen Presse Innsbruck, 1975, S. 85. 2 Rudolf Springer im Gespräch mit Florian Medicus, Berlin, Juni 2008.

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ideenreiche „Prinzip Hoffnung“, im Sinne utopischen Träumens ist der Menschheitsgeschichte

immanent und erfährt seine jeweilige und unmittelbare Ausprägung bekanntlich durch die aktuell

vorherrschende Kultur- und Wirtschaftsform. Und so stellen vielleicht die ungebauten Beiträge der

Geschichte im Sinne hoffnungsvoller Gegenmodelle die authentischeren Bilder einer Epoche dar, als

die tatsächlich Realisierten. Was wäre die russische Avantgarde ohne ihren kollektiven Anspruch,

einer neuen Gesellschaftsform auch neue Lebens- und somit Bauformen beizustellen? Die wenigen

wichtigen Bauten aus dieser Zeit zerbröseln unter tragischen Umständen, während zur gleichen Zeit

die phantastischen Entwürfe Tatlins, Melnikovs, Leonidovs, Wesnins, Rodtchenkos und der vielen

anderen weltweit die Ausstellungshäuser füllen.

Abb. 1) Friedrich Kiesler mit dem Modell des ‚Endless House’, 1959

Es ist tatsächlich bemerkenswert, dass sich Friedrich Kiesler mit seinem ‚Endless House’ einem für

visionäre Strukturen eher bescheidenen Maßstab zuwendet. Das ist umso überraschender, als seine

persönliche Nähe zur Avantgarde in der jungen Sowjetunion und später zu De Stijl eher groß-

maßstäbliche Interventionen nahe gelegt hätte. Aber ebenso wie etwas früher bei Buckminster Fuller,

wird von Kiesler das Einfamilienhaus als radikalste Zelle, als viel versprechender Baustein der

Zukunft definiert. Dieter Bogner hat in seinem Essay „Inside the Endless House“ bereits auf diesen

Umstand hingewiesen3. [auch in letzter Zeit wurde immer wieder der verhältnismäßig kleine Maßstab

für die Verdichtung experimenteller Tendenzen herangezogen, man denke nur an Coop Himmelblaus

‚Open House’, Lebbeus Woods’ ‚Solo House’, Greg Lynn’s ‚Embyological House’ oder NOX’ Son-O-House

und die diversen Pavillon-Architekturen!] Und so konnte Kiesler auch einige seiner bereits 1925

3 Dieter Bogner, Inside the Endless House, In: F. Kiesler, Endless Space, (MAK) Hatje Cantz, Ostfildern, 2001. (Kat. MAK)

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formulierten Thesen in eine „neue Architektur“ übersetzen, die ursprünglich bei seiner ‚City in

Space’ (1925) Anwendung gefunden hatten:

[...] wir wollen:

1. Umwandlung des sphärischen Raumes in Städte

2. Uns von der Erde loslösen, Aufgabe der statischen Achse

3. Keine Mauern, keine Fundamente

4. Ein System von Spannungen (Tension) im freien Raume

5. Schaffung neuer Lebensmöglichkeiten und durch sie Bedürfnisse, die die Gesellschaft umbilden [...] 4

Hier findet sich auch eine mögliche Erklärung, warum Kiesler die organische Großform des Hauses

auf Stützen, eher sogar massiven Kernen auflagert: Kiesler konnte oder wollte sich dem

bodenflüchtigen „Schwebesyndrom“ der Moderne (nach Adolf Max Vogt) nicht entziehen,

wenngleich dieser Umstand auch entscheidende funktionale Einschränkungen für die flexible

Konzeption mit sich brachte. Heute wie damals, als der Internationale Stil mit seiner kühlen,

konstruktiven Logik des Schopenhauer’schen ‚Tragens und Lastens’ die Bauwirtschaft antrieb, bleibt

Bodenbesetzung und Bodenflüchtigkeit ein streitbarer Topos, bedenkt man die letzten Kommentare

zu Herzog & de Meuron’s ‚Vitra Design Museums’ oder Steven Holl’s ‚horizontalem

Wolkenkratzer’ (sic!!) in Shenzen („Give a building legs and something magical happens.“)5 - was aber

an dieser Stelle nicht weiter ausgebreitet werden soll.

Abb. 2) F. Kiesler, Erste Version des ‚Endless House’ ca. 1950

4 Friedrich Kiesler, Vitalbau - Raumstadt - Funktionelle Architektur, Typoskript, Kiesler Stiftung Wien. 5 Femke Bijlsma in MARK Magazine 26, Juni/Juli 2010; S.108

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Die erste Darstellung des ‚Endless House’ (1950) – dem ‚Universal Theater’ und dem ‚Space House’

formal noch nahe stehend – beschreibt eine sphärische Schalenkonstruktion, die über die folgenden

Jahre kontinuierlich zu einer biomorphen Großform verändert und vor allem hinsichtlich der

zunehmenden Bedeutung des Innenraumes präzisiert wurde. Die Form sollte (nach Außen) weder

ästhetischen noch symbolischen Vermittlungsmerkmalen unterliegen. Durch den Einsatz neuer

Materialien und (Verarbeitungs-)Techniken – Plastik, Glas und vorgespanntem Beton – versucht

Kiesler einen einheitlichen, monumentalen Raum ohne (!) Fundierungen zu schaffen. Begrenzende

Elemente wie Boden, Wand und Decke schaffen zumindest optisch kontinuierliche Übergänge, die

den Forderungen nach höchster Flexibilität des Innenraums Rechnung tragen sollen.6

Es ist hierbei zu bemerken, dass sowohl dem Projekt an sich wie auch seiner zu Grunde liegenden

Gedankenwelt wenig profunde Kritik (höchstens hinter vorgehaltener Hand und abseits der gut

beleuchteten Tische), dafür bis heute aber umso mehr Bewunderung entgegengebracht wird. Denn

für den programmatischen Ernstfall, nämlich den der tatsächlichen Umsetzung, hätten sich recht

handfeste Schwierigkeiten ergeben und empfindliche Adaptierungen der Planung von 1958 kaum

vermeiden lassen.

Nachdem Kiesler über seine vielfältigen Tätigkeiten und Netzwerke recht gut informiert gewesen

sein dürfte, darf und sollte man auch davon ausgehen, dass er die leichten Schalentragwerke von

Eduardo Torroja in Spanien (z.B.: Hipódromo de la Zarzuela, 1941) ebenso kannte wie die Bauten

von Felix Candela in Mexiko. Letzterer hatte 1950 die auf die Herstellung dünner Betonschalen

spezialisierte ‚Cubiertas Ala’ gegründet, deren Bauten auch Kiesler’s und Bartos’ ‚Shrine of the Book’

nachhaltig geprägt haben dürften (z.B.: Basílica de Nuestra Señora de Guadalupe von 1959). Und

natürlich hatte Pier Luigi Nervi ab etwa 1930 in Italien gezeigt, welche Möglichkeiten Beton bei

entsprechender Verwendung eröffnet (inkl. der Bauten für die Olympischen Sommerspiele in Rom,

1960). Lebbeus Woods hat bereits auf diese „Ingenieur-Spuren“ hingewiesen7, wenngleich er in

seinen Schilderungen eine generelle Architektur-Entwicklung der 1950er Jahre ausspart: Le

Corbusier wurde in diesen Jahren nahezu organisch (Philips, Brüssel 1958), Niemeyer entwarf seine

wunderbaren Raumkurven, endlose Kurven auch bei Luciano Baldessari in Mailand (1952),

Saarinen baute quasi vor Kieslers Haustüre (mit L. Woods als Projektarchitekt!) den ‚Trans World

Airline Terminal’ (1956-62) und Giovanni Michelucci bastelte ab 1960 an seiner ‚Chiesa

6 Siehe dazu auch: Dieter Bogner, Inside the Endless House, In: F. Kiesler, Endless Space, Hatje Cantz, Ostfildern, 2001. (Kat. MAK) 7 Lebbeus Woods: F.K. Out of time, In: F. Kiesler, Endless Space; Hatje Cantz, Ostfildern, 2001. (Kat. MAK)

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dell'Autostrada del Sole’. [In dem schönen Buch von Ulrich Conrads und Hans G. Sperlich

‚Phantastische Architektur’, Hatje, 1960 findet man die organische Fülle, den optimistischen

Überschwang dieser Zeitspanne sehr gut dokumentiert. Interessant am Rande: in der deutschen

Erstausgabe kommt Kieslers ‚Endless House’ noch nicht vor; dafür umso prominenter im französischen

Nachdruck aus dem gleichen Jahr (Delpire éditeur)!]

Abb. 3) Pier Luigi Nervi, Flugzeughalle, Orvieto 1936 und Abb. 4) Felix Candela, Restaurant Los Manantiales, Mexico City 1958

Es ist also ganz offensichtlich, dass dem Baustoff Beton nicht nur eine gänzlich neue Rolle

zugedacht, sondern mit ihm im Sinne organischer Formgebung auch umgesetzt wurde. Bisweilen

erscheint es müßig darüber nachzudenken wer, wann, von wem und in welchem Ausmaß beeinflusst

wurde. [man könnte im Zusammenhang mit dem ‚Endless House’ natürlich auch spekulieren, Kiesler

hätte 1923 in Berlin mit der Geisteswelt von Finsterlin und Mendelsohn nachhaltige Bekanntschaft

machen können, diese Einflüsse aber erst Jahre später verarbeitet!] Aber dass zu diesem Zeitpunkt der

Geschichte ein Projekt wie das ‚Endless House’ nicht nur prinzipiell angedacht, sondern auch über

Jahre und durch viele Entwicklungsstadien konkret bearbeitet wurde, ist vor dem Spiegel der Zeit

und seinen vielen schillernden Protagonisten fast nahe liegend und weit weniger von dieser

exklusiven Virtuosität gezeichnet, die man umseits so gerne transportiert.

Abb. 5) Johannes Spalt, Blasenhäuser, 1951 und Abb. 6) Luciano Baldessari, Breda-Pavillon, Mailand, 1952

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[Sogar der Österreicher Johannes Spalt hatte zu Beginn der 1950er-Jahre mit Blasenhäusern

experimentiert!] Mythenbildung im Sinne der Alleinvermittlung der Avantgarde war schon ein

Kennzeichen Vladimir Tatlins, derer sich Kiesler auch im Bezug auf seine Wiener Wurzeln gern

bediente. Denn wie auch schon in seinen früheren, zweifellos beeindruckenden Projekten orientierte

sich Friedrich Kiesler auch im Falle des ‚Endless House’ sehr feinfühlig an einer durchaus modischen

Gegenströmung, formulierte in ihrem Rahmen sehr geschickt eine eigenständige, unanfechtbare

Position, die ihm bis heute Aufmerksamkeit und Bewunderung zuteil werden lässt.

Kiesler schrieb in Zusammenhang mit der Materialisierung des ‚Endless House’ von vorgespanntem

Beton als neuem Baumaterial, von Plastik und Glas (s. oben). Beton ist als Baustoff wegen seiner

freien Formbarkeit, der Fugenlosigkeit (Monolithizität) und seiner Verbundwirkung mit Faser-

stoffen oder Bewehrungen bis heute beliebt (abgesehen von den pragmatischen Faktoren wie hohe

Beständigkeit gegenüber allerlei Einwirkungen oder der allgemeinen Wirtschaftlichkeit). Gerade die

beiden ersten Eigenschaften (freie Formbarkeit und Fugenlosigkeit) kämen dem Konzept Kieslers

wohl sehr entgegen; weniger bis gar nicht eignet sich Beton jedoch für Flexibilitäten aller Art; schon

verhältnismäßig kleine Eingriffe ziehen in den meisten Fällen grobe Maßnahmen nach sich, was in

Bezug auf das ‚Endless House’ und seine ‚weiche Programmierbarkeit’ auch für eine alternative

Materialwahl sprechen sollte. [auch die Idee Kieslers, man könnte mit Vorspannung künftig

Erleichterungen im Freiformbereich erzielen, klingt erst mal gut, bleibt dann aber wenig überzeugend:

eine derart unregelmäßige und in sich weitestgehend geschlossene Oberfläche lässt die bekannte Analogie

mit einem Speichenrad eher unwahrscheinlich wirken!] Ganz nebenbei hätte ja auch noch irgend-

jemand eine Schalung bauen müssen …

Verständlicher ist Kieslers Hinweis auf ‚Kunststoff’ zu Beginn des amerikanischen ‚Plastic Age’.

[Immerhin hatte ja auch El Lissitzky im Zusammenhang mit seinem ‚Wolkenbügel’ von 1925

Materialien beschrieben, die noch nicht erfunden waren, heute jedoch zum weltweiten Baustandard

gehören.] Diese teils aberwitzige Gedankenwelt des inflationären ‚Home of Tomorrow’ wird

beispielsweise durch die zeitgenössischen Cartoons von Tex Avery (MGM 1942-1955) bis in die

wunderbarsten Details parodiert; und doch haben sich gewisse technokratische Facetten in den

heutigen Planungs- und Produktionsumständen nicht nur etabliert, sondern geben vielerorts Anlass

zu immer kühneren Materialisierungskonzepten. Bezogen auf das ‚Endless House’ wäre es durchaus

vorstellbar, eine Kleinserie davon in einer der riesigen Fräs- und Werkshallen internationaler

Werften anfertigen zu lassen; quasi aus einem Guss!

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Eine etwas banalere, aber gleichsam reizvolle Variante könnte eine Primärkonstruktion aus Stahl

sein, die auf Stahlbeton kernen auflagert. Eine zwangsläufig irreguläre Struktur ließe auch gewisse

Freiheiten der Gestaltung und möglicher (weiterführender) Ab- und Anschlüsse offen, die den

spärlichen Aussagen Kieslers zu ‚Fenstern und Türen’ oder ‚Erschließung’ sehr entgegen kommen

sollte. Formale Architekturanalogien wie das Kunsthaus Graz (Cook/Fournier) oder die Stationen

der Innsbrucker Hungerburgbahn (Zaha Hadid) zeigen wie sehr aktuelle Planungs- und Fertigungs-

techniken der Realisierung derartiger Projekte Vorschub leisten, ihren räumlichen Nachweis

förmlich einfordern. Und so wäre es uns heute, abseits aller eingangs erwähnten inhaltlichen

Bedenken durchaus möglich, das ‚Endless House’ zu bauen, wenngleich fraglich bleiben muss, ob

das im Sinne Friedrich Kieslers und seines so gut gepflegten Mythos überhaupt jemals geschehen

sollte.

Florian Medicus, Mai/Juni 2010

F.M. unterrichtet Tragkonstruktionen am Institut für Architektur (Prof. Klaus Bollinger)

an der Universität für angewandte Kunst in Wien und Architekturtheorie am

Institut von Prof. Bart Lootsma an der Leopold-Franzens-Universität in Innsbruck.

Der hier vorliegende Text erschien in einer früheren Fassung in ‚From Chicken Wire to Wire Frame’ - Kiesler’s Endless House (07-2010)

anlässlich der Ausstellung mit demselben Titel in der Friedrich und Lillian Kielser-Privatstiftung in Wien

Zum Seminar „Friedrich Kiesler’s Endless House“ am Institut für Architektur – Tragkonstruktionen

der Universität für angewandte Kunst in Wien, Studienjahr 2009/10

Seit einigen Jahren beschäftigt sich das Seminar aus „Tragkonstruktionen 3“ mit signifikanten,

ungebauten Projekten der verschiedenen Avantgardebewegungen in der Architektur des 20.

Jahrhunderts. Angefangen mit Vladimir Tatlin’s ‚Monument der III. Internationalen’ (1919)

wurden über die vergangenen Studienjahre El Lissitzky’s ‚Wolkenbügel’ (1925), Konstantin

Melnikov’s Entwurf für die ‚Leningradskaja Prawda’ (1924) und Mies van der Rohes ‚Glashochhaus’

in Berlin (1922) eingehend untersucht und konstruktiv bearbeitet. Die Analyse der prinzipiellen

Baubarkeit zum Zeitpunkt der eigentlichen Projektierung und der heutigen Möglichkeiten ergeben

stets spannende Diskurse hinsichtlich der Problemstellungen von Tragstruktur und Materialisierung.

Vor allem sollen konstruktive Lösungen erarbeitet werden, die der Intention des Urhebers und

seinem räumlichen Verständnis Rechnung tragen.

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Abb. 7,8) digitale Rekonstruktion ‚Endless House’, WS 2009/10

Im Zusammenhang mit Kieslers ‚Endless House’, das der Entwurfsauffassung des Instituts für

Architektur der Universität für Angewandte Kunst ohnehin sehr nahe steht, konnte ein neues, an

unserem Institut entwickeltes Werkzeug zum Einsatz gebracht werden, das (vereinfacht dargestellt)

in der Lage ist, räumliche Stabwerke algorithmisch zu generieren und zu optimieren und somit in

weiterer Folge effizientere und wirtschaftlichere Tragstrukturen ermöglicht.

Abb. 9,10) triangulierte (reguläre) und optimierte Stabstruktur, SS 2010

Neben der (nahezu trivial erscheinenden) Tragwerks- und Materialvariante aus Stahl war auch

Kieslers Vorstellung einer Konstruktion aus Kunststoff von Interesse. Daher wurde der Idee der

StudentInnen, dass Gelatine oder ein gelatine-ähnlicher Baustoff in diesem Maßstab Verwendung

finden könnte, im Zuge des Seminars besondere Aufmerksamkeit gewidmet.

Abb. 11,12) Modellversuche mit Gelatine, SS 2010

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Studentinnen und Studenten:

Anna Kokowka, Katarina Barunica, Sille Pihlak, Oliver Lösser, Christoph Pehnelt, Martin

Kleindienst, Thomas Milly, Gregor Schindler, Florian Fend, Markus Willeke, Kourosh Asgar-Irani,

Josip Bajcer, Jan Gronkiewicz, Julian Fors, Mi-Chen Lu, Dana Saffarian, Matthew Tan, Daniela

Kröhner, Martina Lesjak, Galo Moncayo und Anutorn Polphong

Betreut von:

Klaus Bollinger, Wilfried Braumüller, Florian Medicus, Arne Hofmann und Clemens Preisinger

Verwendete und weiterführende Literatur:

Bogner, Dieter und Noever, Peter (Hg.), Frederick J. Kiesler – Endless Space,

Hatje Cantz, Ostfildern-Ruit, 2001 (Katalog MAK)

Bogner, Dieter (Hg.), Friedrich Kiesler – inside the endless house

Böhlau, Wien, Köln, Weimar, 1997 (Katalog Historisches Museum der Stadt Wien)

Weirmair, Peter (Hg.), Frederick Kiesler Architekt

Allerheiligen Presse, Innsbruck, 1975 (Katalog Galerie nächst St. Stephan)

Conrads, Ulrich und Sperlich, Hans, Phantastische Architektur

Verlag Gerd Hatje, Stuttgart, 1960 (auch architecturefantastique bei Delpire éditeur, 1960)

Mayor, Maté, Pier Luigi Nervi

Henschelverlag, Berlin, 1970

Merkel, Jayne, Eero Saarinen

Phaidon Press Ltd., London, 2005

Marti, Peter (Hg.) Ingenieur-Betonbau

vdf (ETH), Zürich, 2005

Spalt, Johannes

Böhlau, Wien, Köln, Weimar, 1993

Feuerstein, Günther, Biomorphic Architecture

Edition Axel Menges, Stuttgart/London, 2002

Bildnachweise:

Abb. 1) in Bogner/Noever (Hg.), F.K. Endless Space; Hatje Cantz, Ostfildern-Ruit, 2001 (Kat. MAK); S. 10

Abb. 2) in Bogner, inside the endless house; Böhlau, Wien, Köln, Weimar, 1997 (Kat. Hist. Museum); S. 131

Abb. 3) in Maté Mayor, Pier Luigi Nervi; Henschelverlag, Berlin 1970; S. 32

Abb. 4) in Peter Marti (Hg.), Ingenieur-Betonbau; vdf (ETH), Zürich, 2005; S. 104

Abb. 5) in Johannes Spalt, Böhlau, Wien, Köln, Weimar, 1993; S. 19

Abb. 6) in Conrads/Sperlich, Phantstische Architektur; Gerd Hatje, Stuttgart, 1960; S. 71

Abb. 7-12) StudentInnen des Seminars ‚Kieslers Endless House’, Tragkonstruktionen 3, WS09/10 und SS10