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HANS-GEORG GAD AMER Hermeneutik aIs praktische PhiIosophie Hermeneutik ist an sich eine alte Sache. Aber seit etwa 15]ahren hat sie eine neue Aktualitat gewonnen. Wenn wir diese Aktualitat wiirdi- gen und uns die Bedeutung der Hermeneutik und ihrer Beziehung zu den zentralen Problemen der Philosophie und Theologie klarmachen wollen, miissen wir den geschicht1ichen Hintergrund ausarbeiten, vor dem sich das hermeneutische Problem zu seiner neuen Aktualitat er- hob, und das heiBt, wir miissen verfolgen, wie sich die Hermeneutik von einem speziellen und okkasionellen Anwendungsgebiet in das weite Feld philosophischer Fragestellungen hinein geweitet hat. Man versteht unter Hermeneutik die Theorie oder die Kunst der Auslegung, der Interpretation. Der daftir iibliche deutsche Ausdruck des 18. ]ahrhunderts, »Kunst1ehre«, ist eigent1ich eine Obersetzung des griechischen » Techne« und riickt die Hermeneutik mit solchen »Artes« wie Grammatik, Rhetorik und Dialektik zusammen. Doch verweist der Ausdruck »Kunst1ehre« in Wahrheit noch auf eine andere aIs diese spatantike Bildungstradition, namlich auf die weither kommende und heute nicht mehr wirklich lebendige Tradition der aristotelischen Phi- losophie. In ihr gab es eine sogenannte philosophia practica (sive politi- ca), die bis zum Ende des 18. ]ahrhunderts noch fort1ebte. Sie bildete den systematischen Rahmen aller »Kiinste«, sofern sie alle im Dienste der »Yolis«stehen. Um uns in die Mitte der Probleme zu versetzen, miissen wir die Begriffe, die in diesen Namensgebungen stecken, einer begriffsge- schicht1ichen Ref1exion unterziehen. Da ist zunachst das Wort »Philo- sophie« selbst. Es hatte im 18. ]ahrhundert nicht den ausschlieBlichen Sinn, den wir damit verbinden, wenn wir Philosophie von Wissen- schaft unterscheiden und allenfalls darauf bestehen, daB auch sie eine Wissenschaft - oder gar die K6nigin der Wissenschaften - sei. Philo- sophie heiBt vielmehr nichts anderes als »Wissenschaft«. Aber aIs »Wis- senschaft« galt damals nicht nur die auf dem neuzeit1ichen Methoden- begriff begriindete, Mathematik und Messung handhabende For- schung, sondern alle Sachkunde und Wahrheitserkenntnis war mitge- meint, auch soweit sie nicht durch den anonymen ProzeB erfahrungs- wissenschaft1ichet Arbeit erworben wurde, So ist auch in dem aristote. lischel1 Ausdttick »puktische 1'hilo5<Jphie«tI1it lil>hiloS0l'hie« »Wis" Hans-Georg Gadamer 109 senschaft« in jenem allgemeinen Sinne gemeint, zwar aIs ein mit Be- weisen arbeitendes und Lehre erm6glichendes Wissen, aber nicht von der Art der Wissenschaft, die den Griechen das Vorbild theoretischer Erkenntnis war: die Mathematik. »Praktisch« heiBt diese Wissenschaft im betonten Gegensatz zur theoretischen Philosophie, welche »Phy- sik«, das heiBt das Wissen von der Natur, »Mathematik« und »Theolo- gie« (oder erste Wissenschaft, das heiBt Metaphysik) umfaBte. Da der Mensch ein politisches Wesen ist, geh6rt~ zur praktischen Philosophie als ihre oberste die politische Wissenschaft, die aIs die sogenannte »klassische Politik« bis ins 19. ]ahrhundert hinein gepf1egt wurde. Der moderne Gegensatz von Theorie und Praxis nimmt sich auf diesem Hintergrund etwas seltsam auso Denn der klassische Gegensatz war letzten Endes ein Gegensatz des Wissens, nicht der Gegensatz zwischen Wissenschaft und Airweridllng der Wissenschaft. Darinliegt zugleich, daB auch der urspriingliche Begriff der Praxis anders strukturiert war. Um ihn wieder zu erfassen und den Sinn der Tradition der praktischen Philosophie zu verstehen, muB man ihn aus der gegensatzlichen Beziehung zur »Wissenschaft« ganz herausdrehen. Nicht einmal der Gegensatz zu »Theoria«, der gewiB in der Aristoteli- schen Einteilung der Wissenschaften liegt, ist hier wirklich bestim- mend, wie schon der sch6ne Satz des Aristoteles beweist, daB wir diejenigen im h6chsten MaBe »tatig« nennen, die allein durch ihre gedankliche Leistung bestimmend sind. (Po!. 1325 b 21 fI.). Die Theo- ria ist selber eine Praxis. Das klingt~u;ftir moderne Ohren wie ein Sophisma, weil nur ftir uns die Bedeutung von Praxis durch die Anwendung von Theorie und Wissenschaft bestimmt ist - mit alI den ererbten Konnotationen von »Praxis«, die solcher Anwendung der reinen Theorie Unreinheit, Halbheit, Akkomodation oder KompromiB nachsagen. An sich ist das ganz richtig, und insbesondere Plato hat uns diesen Gegensatz in seinen Staatsschriften bestandig eingescharft. Die unaufhebbare Scheidung, die zwischen der reinen Ordnung und der getriibten und gemischten Sinnenwelt besteht und die Platos Lehre von der Idee beherrscht, ist jedoch nicht mit dem Verhaltnis von Theorie und Praxis im griechi- schen Sinne identisch. Das Begriffsfeld, in dem Wort und Begriff Praxis ihren eigent1ichen Ort haben ist nicht primar durch den Gegen- satz zur »Theorie« und aIs eine Anwendung von Theorie bestimmt. »Praxis« formuliert vielmehr, wie insbesondere]oachim Ritter in sei- nen Arbeiten gezeigt hat, die Verhaltensweise des Lebendigen in weite- ster Allgemeinheit. Praxis aIs Lebendigkeit steht zwischen Tatigkeit und Befmdlichkeit. Sie ist aIs solche nicht auf den Menschen be-

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  • HANS-GEORG GAD AMER

    Hermeneutik aIs praktische PhiIosophie

    Hermeneutik ist an sich eine alte Sache. Aber seit etwa 15]ahren hatsie eine neue Aktualitat gewonnen. Wenn wir diese Aktualitat wiirdi-gen und uns die Bedeutung der Hermeneutik und ihrer Beziehung zuden zentralen Problemen der Philosophie und Theologie klarmachenwollen, miissen wir den geschicht1ichen Hintergrund ausarbeiten, vordem sich das hermeneutische Problem zu seiner neuen Aktualitat er-hob, und das heiBt, wir miissen verfolgen, wie sich die Hermeneutikvon einem speziellen und okkasionellen Anwendungsgebiet in dasweite Feld philosophischer Fragestellungen hinein geweitet hat.Man versteht unter Hermeneutik die Theorie oder die Kunst der

    Auslegung, der Interpretation. Der daftir iibliche deutsche Ausdruckdes 18. ]ahrhunderts, Kunst1ehre, ist eigent1ich eine Obersetzung desgriechischen Techne und riickt die Hermeneutik mit solchen Arteswie Grammatik, Rhetorik und Dialektik zusammen. Doch verweistder Ausdruck Kunst1ehre in Wahrheit noch auf eine andere aIs diesespatantike Bildungstradition, namlich auf die weither kommende undheute nicht mehr wirklich lebendige Tradition der aristotelischen Phi-losophie. In ihr gab es eine sogenannte philosophia practica (sive politi-ca), die bis zum Ende des 18. ]ahrhunderts noch fort1ebte. Sie bildeteden systematischen Rahmen aller Kiinste, sofern sie alle im Diensteder Yolisstehen.

    Um uns in die Mitte der Probleme zu versetzen, miissen wir dieBegriffe, die in diesen Namensgebungen stecken, einer begriffsge-schicht1ichen Ref1exion unterziehen. Da ist zunachst das Wort Philo-sophie selbst. Es hatte im 18. ]ahrhundert nicht den ausschlieBlichenSinn, den wir damit verbinden, wenn wir Philosophie von Wissen-schaft unterscheiden und allenfalls darauf bestehen, daB auch sie eineWissenschaft - oder gar die K6nigin der Wissenschaften - sei. Philo-sophie heiBt vielmehr nichts anderes als Wissenschaft. Aber aIs Wis-senschaft galt damals nicht nur die auf dem neuzeit1ichen Methoden-begriff begriindete, Mathematik und Messung handhabende For-schung, sondern alle Sachkunde und Wahrheitserkenntnis war mitge-meint, auch soweit sie nicht durch den anonymen ProzeB erfahrungs-wissenschaft1ichet Arbeit erworben wurde, So ist auch in dem aristote.lischel1Ausdttick puktische 1'hilo5hiloS0l'hie Wis"

    Hans-Georg Gadamer 109

    senschaft in jenem allgemeinen Sinne gemeint, zwar aIs ein mit Be-weisen arbeitendes und Lehre erm6glichendes Wissen, aber nicht vonder Art der Wissenschaft, die den Griechen das Vorbild theoretischerErkenntnis war: die Mathematik. Praktisch heiBt diese Wissenschaftim betonten Gegensatz zur theoretischen Philosophie, welche Phy-sik, das heiBt das Wissen von der Natur, Mathematik und Theolo-gie (oder erste Wissenschaft, das heiBt Metaphysik) umfaBte. Da derMensch ein politisches Wesen ist, geh6rt~ zur praktischen Philosophieals ihre oberste die politische Wissenschaft, die aIs die sogenannteklassische Politik bis ins 19. ]ahrhundert hinein gepf1egt wurde. Dermoderne Gegensatz von Theorie und Praxis nimmt sich auf diesemHintergrund etwas seltsam auso Denn der klassische Gegensatz warletzten Endes ein Gegensatz des Wissens, nicht der Gegensatz zwischenWissenschaft und Airweridllng der Wissenschaft.Darinliegt zugleich, daB auch der urspriingliche Begriff der Praxis

    anders strukturiert war. Um ihn wieder zu erfassen und den Sinn derTradition der praktischen Philosophie zu verstehen, muB man ihn ausder gegensatzlichen Beziehung zur Wissenschaft ganz herausdrehen.Nicht einmal der Gegensatz zu Theoria, der gewiB in der Aristoteli-schen Einteilung der Wissenschaften liegt, ist hier wirklich bestim-mend, wie schon der sch6ne Satz des Aristoteles beweist, daB wirdiejenigen im h6chsten MaBe tatig nennen, die allein durch ihregedankliche Leistung bestimmend sind. (Po!. 1325 b 21 fI.). Die Theo-ria ist selber eine Praxis.Das klingt~u;ftir moderne Ohren wie ein Sophisma, weil nur ftir

    uns die Bedeutung von Praxis durch die Anwendung von Theorie undWissenschaft bestimmt ist - mit alI den ererbten Konnotationen vonPraxis, die solcher Anwendung der reinen Theorie Unreinheit,Halbheit, Akkomodation oder KompromiB nachsagen. An sich ist dasganz richtig, und insbesondere Plato hat uns diesen Gegensatz in seinenStaatsschriften bestandig eingescharft. Die unaufhebbare Scheidung,die zwischen der reinen Ordnung und der getriibten und gemischtenSinnenwelt besteht und die Platos Lehre von der Idee beherrscht, istjedoch nicht mit dem Verhaltnis von Theorie und Praxis im griechi-schen Sinne identisch. Das Begriffsfeld, in dem Wort und BegriffPraxis ihren eigent1ichen Ort haben ist nicht primar durch den Gegen-satz zur Theorie und aIs eine Anwendung von Theorie bestimmt.Praxis formuliert vielmehr, wie insbesondere]oachim Ritter in sei-nen Arbeiten gezeigt hat, die Verhaltensweise des Lebendigen in weite-ster Allgemeinheit. Praxis aIs Lebendigkeit steht zwischen Tatigkeitund Befmdlichkeit. Sie ist aIs solche nicht auf den Menschen be-

  • 110 III. Hermeneutik

    schrank.t, der allein aus freier Wahl (Prohairesis) tatig isto Vielmehrmeint Praxis den Lebensvollzug (Energeia) des Lebendigen iiberhaupt,dem ein Leben, eine Lebensweise, ein Leben, das in gewisser WeisegefUhrt wird (Bios), entspricht. Auch Tiere haben Praxis und Bios, dasheiBt eine Lebensweise.Freilich ist mer ein entscheidender Unterschied zwischen Tier und

    Mensch. Die Lebensweise des Menschen ist nicht von Natur so festge-legt wie die der anderen Lebewesen. Das driickt der ihm allein zukom-mende Begriff der Prohairesis ausoProhairesis meint Vornahme undvQrgangigeWahl. Wissentlich das eine dem anderen vorzuziehen undbewuBt zwischen Moglichkeiten zu wahlen, ist die alleinige und beson-dere Auszeichnung des Menschen. Der aristotelische Begriff der Praxisbekommt nun noch einen spezifischen Akzent, sofern er auf den Statusdes.freien Biirgers in der Polis angewandt wird. Dort ist menschlichePraxIs iifieminenten Sinne des Wortes. Sie ist durch Prohairesis desBios ausgezeichnet. Die freie Entscheidung orientiert sich an leitendenVorzugsordnungen der LebensfUhrung, sei es an GenuB oder anMachtund Ehre oder an Erkenntnis. Daneben begegnen in der politischenVerfaBtheit des menschlichen Zusammenlebens noch andere Unter-schiede der LebensfUhrung, zwischen Mann und Frau, Greis und Kind,Abhangigen und Unabhangigen (was damals vor allem den Unter-scmed von Sklaven und Freien meinte). Das alles ist Praxis. Praxis istalso hier nicht langer das Naturhafte einer Verhaltensweise, wie bei denTieren, die in die Ziige eingeborener Lebensinstinkte eingelassen sind.Insbesondere die sophistische Aufk1arung bestand darauf, daBdie Ar-ete des Menschen in alI diesen FaIlen eine verschiedene sei - wenn auchdie ganze, auf Wissen und Wahlen beruhende Arete erst im freienStande des Polisbiirgers sich vollendet. . "'v,Oo .(. \ '/' :~Da Praxis diesen weiten Bedeutungsbereich einschlieBt, ist die'

    wichtigste Abgrenzung, die der Begriff der Praxis bei Aristoteles er-fahrt, nicht die von der theoretischen Wissenschaft, die sich aIs eine Arthochster Praxis aus dem weiten Bereich menschlicher Lebensmoglich-keiten erhebt, als die Abgrenzung gegen das auf Wissen beruhendeHerstellen, die Poiesis, die fUr das Leben der Polis die okonomischeBasis darstellt. Insbesondere, wenn es sich nicht um .>niedere,banau-sische Kiinste handelt, sondern um soIche, die ein freier Mann ohneDisqualifikation betreiben kann, gehort soIchesWissen und Konnen zuseiner Praxis, ohne doch praktisches Wissen im praktisch-politi-schen Sinne zu sein. So ist die praktische Philosopme von der Grenzzie-hung bestimmt, die zwischen dem praktischen Wissen des freiWahlen-den und dem gelernten Konnen des Fachmanns, das Aristoteles Tech-

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    ne nennt, besteht. Praktische Philosophie hat es nicht mit den erlern-baren Handwerkskiinsten und Fertigkeiten aIs soIche zu tun, so we-sentlich auch der Anteil solchen menschlichen Konnens fUr das Ge-meinschaftsleben der Menschen ist, sondern mit dem, was einemjedenaIs Biirger zukommt und was seine Arete ausmacht. Die praktischePhilosopme muB daher die Auszeichnung des Menschen, Prohairesiszu haben, zum BewuBtsein erheben, sei es aIs Ausbildung der mensch-lichen Grundhaltungen soIchen Vorziehens, die den Charakter derArete haben, sei es aIs die alles Handeln leitende Klugheit der Besin-nung und Ratfindung. Auf alle Falle muB sie auch den Gesichtspunkt,unter dem etwas einem anderen vorzuziehen ist, also den Bezug auf dasGute, von ihrem Wissen aus mitverantworten. Da aber das Wissen, dasdas Handeln leitet, seinem Wesen nach von der konkreten Situationgefordert wird, in der es das Tun1iche zu wahlen gilt, ohne daB eineerlernte und beherrschte Techne einem die eigene Oberlegung undEntscheidung ersparen kann, so ist auch die praktische Wissenschaft,die auf dieses praktische Wissen gerichtet ist, weder theoretische Wis-senschaft im Stile der Mathematik, noch Fachwissen im Sinne derwissenden Beherrschung von Arbeitsgangen, Poiesis, sondern eineWissenschaft eigener Art. Sie muB sich aus der Praxis selbst erhebenund mit alI den typischen Al1gemeinheiten, die sie bewuBt macht, aufdie Praxis zuriickbeziehen. Das macht nun in der Tat den spezifischenCharakter der aristotelischen Ethik und Politik ausoEs ist nicht nur so,daBihr Gegenstand stets wechselnde Situationen und Verhaltensweisensind, die man natiirlich nur in ihrer al1gemeinen Regelhaftigkeit undDurchschnittlichkeit iiberhaupt zur Erkenntnis erheben kann. DenCharakter wirklicher Erkenntnis hat soIches lehrbare Wissen typischerStrukturen auch umgekehrt nur dadurch, daB es - wie die Techne, dieKunstlehre stets - immer wieder in die konkrete Situation der Praxisumgesetzt wird. Praktische Philosophie ist also gewiB .)Wissenschaft,das heiBt ein Wissen im al1gemeinen, das aIs soIches lehrbar ist, aber esist doch eine unter Bedingungen stehende Wissenschaft. Sie fordertvom Lernenden den gleichen unloslichen Praxisbezug wie vom Leh-renden. Insofern steht sie dem Fachwissen der Techne zwar nahe, aberwas sie grundsatzlich von ihm trennt, ist, daB sie auch die Frage nachdem Guten, zum Beispiel nach der besten Weise des Lebens oder nachder besten Staatsverfassllng stel1t, und nicht nur, wie die Techne, einKonnen beherrscht, dem seine Aufgabe von einer anderen Instanzgestel1twird: von dem Z~weck.-demdas Herzustel1ende zu dienen"~at-,__.Das gilt nun alles auch fUr die Hermeneutik. AIs Theorie dei"inter-

    pretation oder Auslegung ist sie nicht einfach nur eine Theorie. Ganz

  • 112 III.Hermeneutik

    deutlich hat die Hermeneutik von den altesten Zeiten an bis zumheutigen Tage den Anspruch erhoben, daB ihre Ref1exion liber dieMoglichkeiten, Regeln und Mittel der Auslegung fUrdie Praxis unmit-telbar dienlich und f

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    unter den veranderten Umstanden der Neuzeit einen bestandigen her-meneutischen Stachel. Die Idee des Rechts enthalt die Idee der Rechts-gleichheit. Wenn der Souveran dem Gesetz nicht se1bst unterliegt,sondem frei iiber seine Anwendung entscheiden kann, ist offenbar dieGrundlage aller Hermeneutik zerst6rt. Auch hier zeigt sich, daB dierechte Auslegung der Gesetze nicht einfach eine Kunstlehre ist, eine Artlogischer Technik der Subsumtion unter Paragraphen, sondem einepraktische Konkretisierung der Rechtsidee. Die Kunst des )uristen istzugleich Rechtspf1ege.

    Eine nicht geringere Spannung entstand aber auch noch in einer ganzanderen Richtung, zu deren Oberwindung es der Hermeneutik bedurf-te. Das war, aIs im neuen Aufbruch des Humanismus die groBenlateinischen und griechischen Klassiker aIs Vorbilder aller h6herenmenschlichen Kultur neu angeeignet werden sollten. Der Riickgangauf das klassische Latein, das insbesondere durch seine h6here Stilistikim Vergleich zu demscholastischen Latein etwas anspruchsvoll Neueswar, aber vor allem der Riickgang auf das Griechische- und im Falledes Alten Testaments auf das Hebraische - verlangte nicht nur vie1erleipraktische hermeneutische Hilfe fUrGrammatik, Lexikon und ReaIien-kunde, was sich in zahlreichen Hermeneutica genannten Hilfsbii-chem niederschlug. Die Klassiker beanspruchen iiberdies eine spezifi-sche Vorbildlichkeit, die das SelbstbewuBtsein der Neuzeit in Fragestellte. So geh6rt die beriihmte querelle des anciens et des modemesihrerseits in die Vorgeschichte deiHermeneut1k, indem sie eine herme-neutische Ref1exion iiber die IdeaIe des Humanismus weckte. Wennman diese querelle neuerdings mit Recht aIs eine Vorbereitung desErwachens des geschichtlichen BewuBtseins gewertet hat, so bedeutetdas fUr die Hermeneutik auf der anderen Seite, daB sie nicht bloB eineFertigkeit des Verstehens pf1egt, das heiBt eine bloBe Kunstlehre ist,sondem die Vorbildlichkeit dessen, was sie versteht, mitverantwortenmuB.

    $0 sehr das dem eigenen Se1bstverstandnis der Hermeneutik aIseinerKunstlehre widerspricht - sie ist in allen ihrer Richtungen, wie sichzeigt, mehr aIs eine bloBe Kunstlehre und geh6rt in die Nachbarschaftder praktischen Philosophie. Sie hat damit an jenem Selbstbezug teil,der fUr die praktische Philosophie wesentlich isto Wenn zum Beispie1die Ethik eine Lehre des rechten Lebens ist, setzt sie doch zugleichdessen Konkretion in einem lebendigen Ethos voraus. Auch die Kunstdes Verstehens der Oberlieferung setzt, ob es sich um heilige Biicher,um Rechtstexte oder um vorbildliche Meisterwerke handelt, nicht nurderen Anerkennung voraus, sondem bildet die Oberlieferung dersel-

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    ben produktiv weiter. Die altere Hermeneutik stellte freilich keinenzentralen Aspekt innerhaIb der Problemkonzeption der traditionellenPhilosophie dar, solange sie aufnormative Texte beschrankt blieb.Insofem ist sie von unserem heutigen philosophischen Interesse an derHermeneutik noch sehr weit entfemt. Doch trat das Problem derHermeneutik starker in das philosophische ProblembewuBtsein aIsnicht nur auf einzelnen Gebieten ein Abstand der H6he und ein Abslandder Feme zu iiberwinden war wie bei den religi6sen Urkunden, Geset-zestexten oder fremdspracWichen Klassikem, sondem wo das Ganzeder bisherigen geschichtlichen Oberlieferung in solchen Abstand riick-te, und das geschah durch den groBen Traditionsbruch, den die Franz6-sische Revolqti9A.darstellte und in dessen Folge die europaische Zivili-satl()n in NationaIkulturen aufsplitterte. Die gemeinsame Oberliefe-rung der christlichen Staatenwelt Europas, die im Hintergrund dieserneuen Entwicklung gewiB fortwirkte, trat mit dem Schwinden ihrerselbstverstandlichen Geltung auf eine neuartige Weise ins BewuBtsein,aIs gewaWtes Vorbild, aIs sehnsuchtsvolles Ziel des Heimwehs und amEnde aIsGegenstand geschichtlichen Wissens. Das war die Stunde eineru!liY~}:s.-,!kI!Be!'ml;neutik,durch die das Universum der geschichtli-chen Welt aufzuschlieBen war. Denn es war das Vergangene aIssolchesfremd geworden. Alle Wiederbegegnung mit alter Oberlieferung istnun nkht mehr einfache Aneignung, die ebenso selbstverstandlich, wiesie das Alte aufnimmt, das Eigene hinzutut, sondem hat den Graben zuiiberbriicken, der Gegenwart und Vergangenheit trennt. So wurde dieRomantik zum Wegbereiter des historischenB.ewuBtseins. Es war dieallgemeine Parole, auf die originaren Quellen zuriickzugehen, undunser Geschichtsbild der Vergangenheit wurde auf diese Weise aufeinen ganz neuen Boden gestellt. Darin lag eine zutiefst hermeneutischeAufgabe. Wenn man anerkennt, daB die Eigenperspektive von denGesichtspunkten der Autoren und dem Sinn der Texte der Vergangen-heit ganz verschieden ist, bedarf es einer eigenen Anstrengung, damitman den Sinn alter Texte nicht miBversteht und sie doch in ihrerOberzeugungskraft wirklich versteht. Die bloBe Beschreibung derinneren Struktur und Koharenz eines gegebenen Textes und die bloBeWiedergabe dessen, was der Autor sagt, ist noch kein wirkliches Ver-stehen. Man muB sein Sprechen emeuem, und dazu muB man mit denSachen vertraut sein, von denen die Texte sprechen. GewiB muB manauch die grammatischen Regeln, die Stilmittel, die kompositorischeKunst, die einem Text zugrunde liegen erfassen, wenn man das, wasder Autor in seinem Text hat sagen wollen, wirklich verstehen will,aber der Hauptpunkt alles Verstehens betrifft doch das sachliche Ver-

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    haltnis, das zwischen Aussage des Textes und unserem eigenen Ver-~tandnis der Sache besteht.

    GleichwoW tat die nachromantische Epoche bei der Entwicklung deshermeneutischen Verfahrens diesem Hauptpunkt nicht wahrhaft Ge-niige. Der Entfremdungserfahrung, die im geschichtlichen BewuBt-sein zutage trat, bot sich zunachst das aus der Tradition der Kunstlehrestammende Selbstverstandnis an: Erlemung des kritischen K6nnens imUmgang mit Texten.Diesem Selbstverstandnis kam aIs eine machtige Unterstiitzung das

    steigende logische SelbstbewuBtsein der induktiven Wissenschaften zuHilfe. Man suchte daher dem groBen Vorbild der N aturwissenschaftenzu folgen und sah das Ideal wie dort so auch hier darin, alIe subjeki:ivenVoraussetzungen auszuschalten. So wie fUr die N aturforschung dasdurch jedermann nachpriifbare Experiment eine Verifikationsgrundla-ge darstelIt, suchte man auch bei der Auslegung von Texten iiberpriif-bare Verfahrensweisen anzuwenden. Das alte Verfahren der Exegese,die Sammlung von ParalIelen insbesondere, fand nun eine historisch-kritische Verfeinerung. Die hermeneutische Methodenlehre, die dasromantische Interesse an der Geschichte in ihre wissenschaftliche Ob-hut nahm, verglich sich auf dieser Basis bestandig mit der Methoden-lehre der Naturwissenschaften. Ihre Gegenstande, die iiberliefertenTexte, solIten wie die Beobachtungsdaten in der Naturforschung be-handelt werden. DaB ein solches Selbstverstandnis der neuen kritischenPhilologie, dem auch Schleiermachers Trennung einer alIgemeinenHermeneutik von der Dialektik, und im theologischen Bereich derhermeneutischen Kunstlehre von der Glaubenslehre entsprach, demInteresse der Historie nicht geniigte, blieb zwar bei den groBen Histori-kem, etwa bei Ranke oder Droysen, nicht unempfunden, da es demtheologischen Pathos, das in ihrer kritischen Forschung lebendig war,nicht entsprach. Nicht ohne Grund schlossen sie sich mehr an Fichte,Humboldt und Hegel an. Trotzdem kam es nicht mehr zu einer grund-satzlichen Anerkennung der aIteren Tradition der praktischen Philo-sophie, selbst bei Dilthey nicht, der das Erbe der romantischen Schuleauf den Begriffbrachte. Es fehltejede Einsicht in den Zusammenhangzwischen Hermeneutik und praktischer Philosophie.

    So war es erst, aIs sich unsere Kultur aIs ganze der Anzweiflung undder radikalen Kritik ausgesetzt sah, daB Hermeneutik eine Sache vonuniversaler Bedeutung wurde. Das hatte seine iiberzeugende innereLogik. Man braucht nur an den gadikalismus im Zweifel zu denken,der sich insbesondere bei Friedrich Nietzsche findet. Sein langsamwachsender EinfluB auf alIen Erscheinungsgebieten unserer Kultur war

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    von einer Tiefe, die man nicht geniigend zu realisieren pflegt. DiePsychoanalyse zum Beispiel kann man sich gar nicht vorstelIen ohne'Nietzschesradikale Anzweiflung der Zeugnisse des menschlichenSelbstbewuBtseins: Nietzsche stelIte die Forderung auf, man miissetiefer und griindlicher zweifeln als Descartes, der im SelbstbewuBtseindas letzte unerschiitterliche Fundament alIer GewiBheit gesehen hatte.Die Illusion des SelbstbewuBtseins, die Idole der Selbsterkenntnis wa-ren die neue Entdeckung Nietzsches, und die Modeme datiert von demalIes durchdringenden EinfluB Nietzsches. Damit erlangte der Begriffder ~)Interpretation eine weit tiefere und allgemeinere Bedeutung.Interpretation meint nun nicht nur die Auslegung der eigentlichenMeinung eines schwierigen Textes: Interpretation wird ein AusdruckHir das Zl!!f:i~kg~Jl~!.1J!iQt

  • 118 III.Hermeneutik

    darstellt. Sein beriihmter Vortrag Was ist Metaphysik? stellte dieBehauptung auf, daB die traditionelle Metaphysik die Frage nach demSein gerade nicht selber gefragt habe, sondern im Gegenteil diese Frageverdeckt hielt, indem sie vom Begriff des Seienden aus das Gebaude derMetaphysik aufbaute. Der wirkliche Sinn dessen, was Heideggers Fra-ge Was ist Metaphysik? fragte, laBt sich in Wahrheit nur von demneuen Begriff von Interpretation aus verstehen. Das wird klarer, wennman den Tite1 der Vorlesung Wort fUr Wort wagt und die geheimeBetonung spiirt, die das Wort ist tragt. - Der Sinn der Frage Was istMetaphysik? ist, zu fragen, was Metaphysik wirklich ist, im Gegen-satz zu dem, was Metaphysik sein will und als was sie sich se1bstversteht. Was bedeutet es, daB sich die Frage der Philosophie aIsMeta-physik ausbildet? Was ist die Bedeutung des Ereignisses, daB die grie-chischen Denker den Kopf hoben und sich von den Bindungen desmythischen und religiosen Lebens freimachten und solche Fragen wag-ten wie: Warum ist es? und: Was ist es?und: Von wo aus kommt etwasins Sein? Wenn man die Frage Was ist Metaphysik? in dem Sinneversteht, daBman fragt, was sich mit dem Beginn des metaphysischenDenkens ereignete, dann gewinnt erst die Heideggersche Frage dieKraft ihrer Provokation und enthiillt sich aIs ein Beispiel des neuenBegriffs von Interpretation.

    Der neue Begriff von Interpretation, und folgerichtigerweise vonHermeneutik, der hier ins Bild tritt, iiberschreitet offenkundig dieGrenzen einer noch so universal verstandenen hermeneutischen Theo-rie. In ihm liegt am Ende ein ganz neuer Begriff von Verstandnis undSelbstverstandnis. Es ist interessant genug, daB der Ausdruck Selbst-verstandnis heute ein richtiger Modeausdruck ist und auch in denaktuellen politischen und gesellschaftlichen Diskussionen bestandiggebraucht wird, bis in die Romanliteratur hinein. Worte sind Parolen.Sie driicken oft aus, was fehlt und was sein solI. Ein unsicher geworde-nes Selbstverstandnis bewirkt, daBjeder davon redet. Aber das ersteAufkommen des Wortes pragt seine Geschichte. Der Ausdruck Selbst-verst:irJ.clni~isterstmals mit einer gewissen terminologischen Betonungvoli ]ohann Gottlieb Fichte gebraucht worden. Indem er sich aIs An-hanger Kants fUhlte,' beanspruchte er zugleich, mit seiner Wissen-schaftslehre die einzig verniinftige und authentische Interpretation derKantischen Philosophie zu geben. Was man von einem Denker verlan-gen miisse, sei Konsequenz. Nur in der radikalen Konsequenz derEntwicklung seiner Gedanken konne ein Philosoph zu echtem Selbst-verstandnis gelangen. In den Augen Fichtes gibt es aber nur eine einzigeMoglichkeit, mit seinem eigenen Denken in voller widerspruchsloser

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    Obereinstimmung zu sein, und das ist, wenn man alI das, was inunserem Denken Geltung beanspruchen s611,aus der Spontaneitat desSelbstbewuBtseins ableitetund begriindet. Wenn man nun behauptenwollte, daE Kant neben seiner LeIirevon SelbstbewuBtsein und derDeduktion der Stammbegriffe des Verstandes, der Kategorien, ein)Ding ansich annahm, das unseren Geist durch unsere Sinnlichkeitiffiiiere, ~J;;;~miiBte man behaupten, er sei iiberhaupt kein Denkergewesen, sondern ein Dreiviertelskopf, wie Fichte mit schnoder Rup-pigkeit es ausdriickt. Denn fUr ihn ist es selbstverstandlich, d~B alles,was aIs wahr gelten soll, durch Tatigkeit hervorgebracht sem muB.Natiirlich meint er damit eine geistige Konstruktion, und das hat nichtszu tun mit dem absurden Begriff des Solipsismus, der in den Niederun-gen der Philosophie des 19. ]ahrhunderts herumspukt. !

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    denen unsere vitale Energie oder unsere gesellschaftlichen Interessen inunbewuBter Weise ihre Ziele verfoIgen, wenn alle noch so offenkundi-gen u~d evidenten Einsichten, die wir haben, solchem ZweifeI ausge-setzt smd, dann kann Selbstverstandnis gewiB nicht eine selbstver-standliche Selbstdurchsichtigkeit unseres Daseins bedeuten. Wir miis-sen auf die Illusion verzichten, das Dunkel unserer Motivationen undunserer Tendenzen ganz aufzuk1aren. Wir konnen aber dieses neueGebiet menschlicher Erfahrungen, das sich im UnbewuBten auftut,nicht einfach ignorieren. Was hier zu methodischer Erforschungko~mt, istja nicht nur jenes Feld des UnbewuBten, das der Psychoana-Iytlker als Arzt betritt, es ist ebenso die Welt der herrschenden geselI-schaftlichen VorurteiIe, die der Marxismus aufzukl:iren beansprucht.Ps!choanalyse und IdeoIogiekritik sind Formen von Aufklarung, undb~ld~berufen sich auf den emanzipatorischen Auftrag der AufkIarung,WIeIhn Kant formuIiert hat aIs den Ausgang aus dem selbstverschuI-deten Zustand der Unmiindigkeit.Indessen, wenn wir die Reichweite dieser neuen Einsichten priifen,

    miissen wir, wie mir scheint, kritisch durchleuchten, welche ungepriif-ten Voraussetzungen traditionelIer Art in ihnen fortwirken. Es muBeinem fragIich werden, ob das Bewegungsgesetz des menschIichenLebens wirklich in dem Begriff des Fortschritts, des bestandigen Vor-ankommens vom Unbekannten zum Bekannten gedacht werden kannund ob der Weg der menschIichen Kultur der gradlinige Fortgang vonM:>,~h.0Iogie_zu~ufklaru?-gistoMan muB eine ganz andere VorstelIungerwagen, narrilIch ob dIe Bewegung des menschlichen Daseins eine~naufhorliche innere Spannung zwischen ErhelIung und VerhiilIung inslch austragt. Man muB sich die Frage stelIen, ob es vielIeicht einVorurteil der Modeme ist, daB der Fortschrittsbegriff, der in der TatfUrdas Wesen der wissenschaftlichen Forschung konstitutiv ist, auf dasGanze des menschIichen Lebens und der menschlichen Kultur iibertra-gen wurde. Man muB die Frage in alIem Emste stelIen, ob Fort-schritt(~,wie .erim Son~erbereich der wissenschaftlichen Forschung zuHause ISt, mIt den Bedmgungen des menschlichen Daseins im ganzeniiberhaupt im Eink1ang istoIst die VorstelIung einer steigenden und sichvollendenden AufkIarung am Ende zweideutig?Man muB diesen phiIosophischen und humanen Hintergrund, diesen

    griindIichen Zweifel an der Legitimitat des SelbstbewuBtseins vor Au-gen haben, wenn man die Bedeutung, das heiBt die Aufgabe und dieGrenzen dessen, was wir heute Hermeneutik nennen, wiirdigen will. Ingewisser Weise gibt schon das Wort Hermeneutik und das ihmentsprechende Wort Interpretation einen ersten Wink. Denn in die-

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    sen Worten steckt eine scharfe Unterscheidung zwischen dem An-spruch, eine gegebene Tatsache durch ihre AbIeitung von alI ihrenBedingungen hervoIIstandig zu erk1aren, sie aus derGegebenheit alIeri~_I"er_~~dingungenzu errechnen und durch kiinstliche Veranstaltunghert>eifUhren zu lemen - das ist das wohlbekannte !deal naturwissen-schaftlicher Erkenntnis -, und auf der anderen Seite dem Begriff derInterpretatlon. b

  • 122 III.Hermeneutik

    Ist es iiberhaupt wahr, daB wir unserer freien Entscheidung folgen,wenn wir bestimmte Dinge zu erforschen oder auszulegen suchen?Freie Entscheidung? Eine unbeteiligte, ganz objektive Bemiihung?Mindestens der Theologe wird da woW Einwendungen haben undsagen: 0 nein! Unser Verstehen der Heiligen Schrift kommt nicht ausI,msererfreien WaW. Es verlangt einen Akt der Gnade. Und die Bibel istnicht ein Ganzes von Satzen, die sich wiIlt:nlos der menscWichen Ana-lysis zum Opfer bieten. Nein, das Evangelium richtet sich an mich. Esbeansprucht, nicht eine objektive Aussage oder ein Ganzes objektiverAussagen zu sein, sondern eine spezielle Anrede an mich selbst zuenthalten. Nun, ich denke, es sind nicht nur Theologen, die an derhergebrachten Vorstellung Zweifel haben, daB man beim Interpretie-ren iiberlieferter Texte freie Entscheidungen treffe. Es gibt vielmehruns bestimme~deIriteressen dabei, sowohl bewuBte aIsauch unbewuB-te, und immer wird es so sein, daBwir uns fragen miissen, warum einText unser Interesse erregt. DaB er uns eine Tatsache mitteilt, wird niedie Antwort sein. Wir miissen im Gegenteil hin ter so1che vermeintli-chen Tatsachen zuriickgehen, um unser Interesse fUrdiese Tatsachen zuwecken oder uns bewuBt zu machen. Tatsachen begegnen in Aussagen.Alle Aussagen sind Antworten. Das ist aber noch nicht alles. Die Frage,auf diejede Aussage Antwort ist, istja selber wieder motiviert, und soist in einem gewissen Sinnejede Frage selber eine Antwort. Sie antwor-tet auf eine Herausforderung. Ohne eine innere Spannung zwischenunseren Sinnerwartungen und den allverbreiteten Ansichten und ohneein kritisches Interesse an den allgemein herrschenden Meinungen wiir-de es iiberhaupt keine Frage geben.Dieser erste Schritt hermeneutischer Anstrengung, insbesondere die

    Forderung, beim Verstehen von Aussagen auf die motivierenden Fra-g~zJ:l~iif-~.z_llg~hC:!1,ist nicht ein Verfahren von besonderer Kiinstlich-keit, im Gegenteil, es ist unser aller allgemeine Praxis. Wenn wir aufeine Frage zu antworten haben und wir konnen die Frage nicht rechtverstehen, das heiBt wir wissen nicht recht, was der andere wissen will,dann miissen wir offenkundig den Sinn der Frage besser zu verstehensuchen. Und so fragen wir zuriick, warum man einen das frage. Erstwenn ich den motivierenden Sinn der Frage verstanden habe, kann ichiiberhaupt anfangen, nach einer Antwortzu sucheiCDas ist ganz undgar nichts Kiinstliches, iiber die Voraussetzung nachzudenken, die inunseren Fragen stecken. Es is! iIti Gegenteil kiinstlich, nicht iiber dieseVoraussetzungen nachzudenken. Es ist sehr kiinstlich, sich vorzustel-len, daBAussagen vom Himmel fallen und daB sie analytischer Arbeitunterworfen werden konnen, ohne iiberhaupt in Betracht zu ziehen,

    Hans-Georg Gadamer 123

    warum sie gesagt werden und in we1cher Weise sie auf etwas Antwor-ten sind. Das ist die erste, grundlegende und in Wahrheit unendlichweit reichende Forderung, die bei jeder hermeneutischen Bemiihungverlangt isto Nicht nur in der Philosophie oder in der Theologie,sondern iiberhaupt injeder echten Forschungsbemiihung ist gefordert,daB man ein BewuBtsein der hermeneutischen Situation ausarbeitet.Das muB unser erstes Ziel sein, wenn wir uns einer Frage nahern. Umes in den Worten unserer Trivialerfahrungen zu formulieren: Wir miis-sen verstehen, was dahinter steckt, wenn eine Frage gestel1tistoVerbor-gene VorausSetZtihgeh bewtiBtmachen, meint aber nicht nur und inerster Linie, unbewuBte Voraussetzungen im Sinne der PsychoanalyseaufkIaren, sondern es meint, unk1are Voraussetzungen und Implikatio-nen bewuBtmachen, die in einer sich erhebenden Frage stecken. DieAusarbeitung der hermeneutischen Situation, auf die es fUr methodi-sches Auslegen ankommt, hat dabei einiges Eigentiimliche. Die ersteleitende Einsicht ist, daB man sich die Unendlichkeit dieser Aufgabee~esteht. Es ist eine unmogliche VorsteI1ung, da:Bman uber-seineAntneoe"oder Frage-Interessenje volle Aufklarung erlangte. Trotzdembleibt es einelegitime Aufgabe, was unserem Interesse zugrunde liegt,nach Moglichkeit aufzuklaren. Nur dann haben wir Aussicht, die Aus-sagen, dieuns beschatdgen, zu verstehen, indem wir unsere eigenenFragen darin wiedererkennen.

    Damit hangt zusammen, daBdas UnbewuBte und Implizite zu unse-rer bewuBten menscWichen Existenz nicht einfach den Gegensatz bil-det. Die AuTgabe des Verstehens ist durchaus nicht nur, bis in deninnersten Grund unseres UnbewuBten hinein aufzukIaren, was unserInteresse motiviert, sondern vor al1em in der Richtung und in denGrenzen zu verstehen und auszulegen, die durch unser hermeneutischesInteresse bezeichnet sind. In den seltenen Fal1en,.in denen die kornmu-nikative Intersubjektivitii.t derGesprachsgemeinschaft griindlich ge-stort ist, so daB man an einem gemeinten und gemeinsamen Sinuverzweifelt, kann das eine Interessenrichtung motivieren, fU.rdie derPsychoanalytiker kompetent isto - Aber das ist eine hermeneutischeGrenzsituation. Man kannjede hermeneutische Situation bis zu dieserGrenze aersinnverzweiflung und Sinnhintergehung zuspitzen. DieArbeit der Psychoanalyse wiirde ihre Legitimation und ihren eigenenSinn, wie mir scheint, falsch einschatzen, wenn sie nicht ihre AufgabeaIs eine Grenzaufgabe ansahe und nicht von der Grundeinsicht ausgin- -ge, daB sich Leben immer in einer Art Gleichgewicht befindet und daB ~.zu diesem Gleichgewicht auch das Gleichgewicht zwischen unseren 'unbewuBten Trieben und unseren unbewuBten menschlichen Motiva-

  • 124 III.Hermeneutik

    tionen und Entscheidungen geh6rt. GewiB ist es nicht eine volle Kon-kordanz, die zwischen den Tendenzen unseres UnbewuBten und unse-ren bewuBten Motivationen besteht, aber in aller Regel handelt es sichauch nicht um volle Verdeckung und Verstellung. Es ist ein Zeichenvon Krankheit, wenn einer sich se1berverstellt hat, daB er nicht weiterweiB, ohne sich einem Heilkundigen anzuvertrauen und in gemeinsa-mer analytischer Arbeit ein paar Schritte weit den Hintergrund deseigenen UnbewuBten aufzuklaren - mit dem Ziele, das wiederzuge-winnen, was er ver10ren hatte: das Gleichgewicht zwischen der eigenenNaturheit und unser aller BewuBtsein und Sprache.

    Demgegeniiber ist das UnbewuBte im Sinne des Implizierten derNormalgegenstand hermeneutischer Beriiiihung: Das heiBt aber, daBdie Verstehensaufgabe eine begrenzte ist - begrenzt durch den Wider-stand, den Aussagen oder Texte leisten, und beendet durch dieWieder-gewinnung der kommunikativen Sinnhabe, ganz wie beim Gesprachdie AufkHirung einer Meinungsverschiedenheit oder eines MiBver-standnisses geschieht.In diesem eigentlichen Bereich hermeneutischer Erfahrung, iiber

    dessen Bedingungen sich eine hermeneutische Philosophi e Rechen-schaft zu geben sucht, bestatigt sich die nachbarliche Verwandtschaftder Hermeneutik mit der praktischen Philosophie, Da ist zunach~_t~daQVerstehen genau wie Hande1n immer ein Wagnis bleibi:llnd Ii.iemalsdieeinfache Anwendung eines allgemeinen Rege1wissens auf das Verste ..hen gegebener Aussagen oder-Texte gestattet. Es heiBt weiter, daB~-Verstehen dort, wo es ge1ingt, ein Innewerden bedeutet, das ais eineneue Erfahrung in das Ganze unserer eigenen geistigen Erfahrungeingeht. Verstehen ist ein Abenteuer und ist wie jedes Abenteuer ge-f:ihr1ich.Man muB durchaus zugestehen, daBdas hermeneutische Ver-fahren, gerade weil es sich nicht damit begniigt, nur erfassen zu wollen,was da gesagt ist oder dasteht, sondem auf unsere leitenden Interessenund Fragen zuriickgeht, eine sehr vie1weniger groBe Sicherheit hat, aIsdie Methoden der Naturwissenschaften erreichen. Aber wenn manVerstehen aIs ein Abenteuer erkennt, so liegt darin auch, daBes beson-dere Chancen bietet. Es vermag in besonderer Weise dazu beizutragen,unsere mensch1iche Erfahrungen, unsere Se1bsterkenntnis und unserenWe1thorizont auszuweiten. Denn alles~\vas das Verstehen vermittelt,ist mit uns se1bstvermitte1t.

    Ein weiterer Punkt ist der, daB die alteren hermeneutischen Leitbe-griffe, die mens auctoris oder die Meinung des Textes, aber auch alI diepsychologischen Faktoren von Offenheit des Lesers oder H6rers ftirden Text, insofem nicht das Wesentliche an dem wirklichen Vorgang

    Hans-GeorgGadamer 125

    des Verstehens treffen, aIs dieser Vorgang an sich ein Vorgang vonKommunikation ist, ja ein Vorgang von wachsender Vertrautheit zwi-schen der bestimmten Erfahrung beziehungsweise dem Text und unsselber. Es liegt in der sprach1ichen VerfaBtheit all unseres Verstehens,daB die vagen Vorstellungen von Sinn, die uns tragen, Wort fUrWortzur Artikulation gebracht und eben damit kommunikativ werden. DieGemeinsamkeit alles Verstehens, die in seiner Sprach1ichkeit griindet,scheint mir ein essentieller Punkt der hermeneutischen Erfahrung. Wirbilden bestandig an einer gemeinsamen Perspektive, wenn wir einegemeinsame Sprache sprechen und damit an der Gemeinsamkeit unse-rer We1terfahrung tatig sind. Das bezeugt sich gerade auch an Wider-standserfahrungen, zum Beispie1an der einer Diskussion. Sie ist frucht-bar, wenn eine gemeinsame Sprache gefunden wird. Dann gehen dieTeilnehmer auseinander wie Verwandelte. Die individuellen Aspekte,mit denen sie in die Diskussion eintraten, haben sich gewandelt und sosind sie se1ber gewandelt. Das ist dann auch eine Art von Fortschritt,freilich nicht wie der der Forschung, ein Fortschritt, hinter den mannicht zuriickfaIlen kann, sondem der immer wieder in der Anstrengungunseres Lebens emeuert werden muB.Das Kleinbild einer erfolgreichen Diskussion kann illustrieren, was

    ich in der Theorie der Horizontverschme1zung in Wahrheit und Me-thode entwiekelt habe;-un(rriiag-'realtf~tigen, warum ich die Situa-tion des Gesprachs auch dort ftir ein fruchtbares Modell halte, wo einstummer Text erst durch die Frage des Interpreten zum Reden gebrachtwird.

    Die Hermeneutik, die ich aIs eine philosophische bezeichne, stelltsich nicht ais ein neues Verfahren der Interpretation oder Auslegungvor. Siebeschreibtim Grunde genommen nur, was immer geschieht,wo'-Auslegung iiberzeugt und ge1ingt. Es hande1t sich also keineswegsum eine Kunstlehre, die sagen will, wie Verstehen sein miiBte. Wirmiissen anerkennen, was ist, und so k6nnen wir auch nicht andem, daBin unserem Verstehen immer unausgewiesene Voraussetzungen amWerk sind. ~t.s.Qllt?I1wir esnicht ein~al andem wollen, wenn \wir esk6nnten. Verstehen lst eben mehr ais dIe kunstvolle AnwendungemesKonnens. Es ist immer auch Gewinn eines erweiterten und ver-tieften Selbstverstandnisses. Das heiBt aber: Hermeneutik ist Phi1o-sophie, und aIs Philosophie praktische Philosophie.Die groBe Tradition der praktischen Philosophie lebt in einer Her-

    meneutik weiter, die sich ihrer philosophischen Implikationen bewuBtwird. So werden wir auf diese altere Tradition zuriickverwiesen, vonder oben die Rede war. Wie dort haben wir auch in der Hermeneutik

  • 126 III.Hermeneutik

    dieselbe Wechselimplikation zwischen theoretischem Interesse undpraktischem Tun. Aristoteles hat das in seiner Ethik mit voller Klarheitdurchdacht. Sein Leben theoretischen Interessen widmen, setzt dieTugend der Phronesis voraus. Das schrankt aber den Vorrang derTheorie, das heiBt des Interesses des bloBen Wissenwollens, in keinerWeise ein. Ihre Idee ist und bleibt, alle Interessen der Nlitzlichkeitauszuschalten, ob dieser Nutzen den einzelnen, eine Gruppe oder dieGesellschaft im ganzen betrifft. Auf der anderen Seite ist der Vorrangder Praxis unleugbar. Aristoteles war einsichtig genug, dasWechsel-verhaltnis zwischen Theorie und Praxis anzuerkennen. - So ist esTheorie, wenn ich hier liber Hermeneutik spreche. Es sind keine prak-tischen Situationen des Verstehens, die ich damit zu losen suche. Eshandelt sich um eine theoretische Haltung gegenliber der Praxis derInterpretation, der Interpretation von Texten, aber auch der in ihnenund in der kommunikativ sich entfaltenden Weltorientierung ausgeleg-ten Erfahrungen. Aber diese theoretische Haltung macht nur bewuBt,was in der praktischen Erfahrung des Verstehens im Spiele isto Soscheint mir, daB die Antwort, die Aristoteles liber die Moglichkeiteiner Moralphilosophie gab, auch fUrunser Interesse an der Hermeneu-tik gilt. Seine Antwort war, daB Ethik gewiB nur ein theoretischesUntemehmen ist, und daBalles, was in theoretischer Beschreibung vonFormen des rechten Lebens dort gesagt wird, fUrdie konkrete Anwen-dung in menscWicher Lebenserfahrung nur eine geringe Hilfe seinkonne. Dennoch macht das allgemeine Wissenwollen dort nicht halt,wo konkrete praktische Besonnenheit das Entscheidende isto Der Zu-sammenhang zwischen allgemeinem Wissenwollen und konkreterpraktischer Besonnenheit ist ein Wechselzusammenhang. So scheintmir: Theoretische BewuBtheit liber die Erfahrung des Verstehens unddie Praxis des Verstehens, philosophische Hermeneutik und eigenesSelbstverstandnis sind voneinander nicht zu trennen.

    IV. Marxismus - Leninismus

    Allgemeine Einftihrung

    1. Historische Wurzeln und HauptvertreterBevor hier die Entstehungsgeschichte der Weltanschauung des Mar-

    xismus-Leninismus und im engeren Sinne der marxistisch-IeninistischenPhilosophie grob skizziert werden kann, ist eine Vorbemerkung bezlig-lich desWortes Marxismus notwendig. DiesesWort dient heute haufigzur pauschalt:n Bezeichnung von verschiedenen Denkstr6mungen, dieman voneinander unterscheiden muB, will man nicht eine allzu einfacheund unnuancierte Betrachtungsperspektive anlegen. Eine Moglichkeitunter anderen, diese Denkstromungen aufzugliedem, ware folgende:

    (a) Marxismus-Leninismus oder Sowjetmarxismus: Die offizielle Staats-philosophie der UdSSR und jener sog. kommunistischen Staaten undParteien, die unter dem unmittelbaren EinfluBder Sowjetunion und ihrerKommunistischen Partei (KPdSU) stehen.

    (b) Maoismus: Die spezifische Variante des Marxismus-Leninismus,welche Mao Tse-tung unter Beriicksichtigung der revolutionaren Be-dingungen in China entwickelt hat.

    (c) Riformmarxismus: Vorstellungen und Ideen, die von Marxisten inden sozia1istischenLandem oder in westlichen kommunistischen Par-teien in verschiedenen Auspragungen und zumeist unter Ablehnung ge-wisser Elemente des Leninismus (insbesondere von Lenins Lehren vonder Diktatur des Proletariats und von der Partei neuen Typs) entwickeltworden sind. Dazu wiirden (a) die von den orthodoxerl Marxisten-Leni-nisten aIs revisionistisch hingestellten Vorstellungen von Autoren wieErnst Bloch, Adam Scha.ff, Leszek Kolakowski, Robert Havemann, RudolfBahro, Roy Medwedjew U. a. genauso zu rechnen sein wie (b) die Ideeneines Antonio Gramsci, Palmiro Togliatti u. a., (c) die Philosophie derPraxis-Gruppe in Jugoslawien, (d) die programmatischen Ideen desTitoismus (Edvard Karde/j u. a.), (e) die theoretischen Fundamente desEurokommunismus (Enrico Berlinguer U. a.) 1.

    1 Diese Stromungen des Marxismus werden u. a. naher erortert in: Iring FETSCHER, VonMarx zur Sowjetideologie. Darstel1ung, Kritik und Dokumentation des sowjetisehen, ju-goslawisehen und emnesisehen Marxismus. 19. Aufl. Frankfurt 1975; Wolfgang LEON-HARD,Die Dreispaltung des Marxismus. Ursprung und Entwieklung des Sowjetmarxis-mus, Maoismus und Reformkommunismus. Diisse1dorf 1970; Leszek KOLAKOWSKI,DieHauptstromungen des Marxisl11us. Entstehung - Entwicklung - Verfal1. Bd. I-III. Mun-ehen 1977-1979.

    page1titlesHermeneutik aIs praktische PhiIosophie

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    page10titlesIV. Marxismus - Leninismus Allgemeine Einftihrung 1. Historische Wurzeln und Hauptvertreter

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