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Geographie der Un-) Sicherheit Einführung zum Themenheft Benedikt Korf, Jürgen Ossenbrügge 167 Geographie der Un-) Sicherheit Einführung zum Themenheft Benedikt Korf, Zürich, Jürgen Ossenbrügge, Hamburg Am 29. November 2009 erhielt die Initiative gegen einen Neubau von Minaretten in der Schweiz bei einer Volksabstimmung 57.5% der abgegebenen Stimmen. Im Vorfeld warben die Initianten für die Zustimmung zur sogenannten « Antiminarettinitiative » mit einem Plakat, das eine Frau in Burka neben einer Phalanx von schwarzen Minaretten zeigt, die auf einer Schwei¬ zer Flagge platziert sind und eher aussehen wie Rake¬ ten Abb. 1). Der fundamentalistische Islam, so sug¬ geriert dieses Bild, dringt in die Schweiz ein und stellt eine gravierende Bedrohung dar. Migration, Integra¬ tion und Religion werden dadurch zu einem Sicher¬ heitsproblem. Dementsprechend lässt sich das Plakat als bildlicher Ausdruck einer Versicherheitlichung als englischer Fachterminus securitization der Migrati¬ onspolitik sehen und interpretieren. Doch blieb dieses Plakat, das in der Schweiz und international auf grosse Resonanz stiess, nicht unbeantwortet. « Der Himmel über der Schweiz ist gross genug » plakatierte die Gesellschaft « Minderheiten in der Schweiz » Abb. 2). Dieser Vorgang zeigt die Dynamik von Versicherheit¬ lichung auf: Bestimmte politische Fragen werden von Akteuren als Sicherheitsproblem definiert, doch blei¬ ben diese Diskurse und Sprechakte im öffentlichen Raum umstritten, werden herausgefordert und hinter¬ fragt ein Schritt der desecuritization, der den politi¬ schen Raum wieder öffnet Wæver 1995). Versicherheitlichung bezeichnet den gesellschaftlichen Prozess, in dem spezifische Probleme im politischen und öffentlichen Diskurs zu einem Sicherheitsproblem und zu einer gravierenden und manchmal gar existen¬ tiellen Bedrohung transformiert werden Buzan et al. 1998). Aus der Sicht der kritischen Sicherheitsstudien critical security studies) sind sicherheitspolitische Themen und Prozesse also sozial konstruierte Phäno¬ mene. Derartige Vorgänge einer securitization finden sich in vielen derzeitigen gesellschaftlichen Debatten wieder: Krieg gegen den Terror, Klimakriege, Gesund¬ heitsepidemien, Gewalt in Megastädten, globale Migrationsströme. Analysegegenstände sind Sprech¬ akte und weitergefasste diskursive Praktiken, die nicht nur Ansprachen von Politikern, sondern auch jegliche andere Form von Meinungskundgebung Einschät- Abb. 1: Das umstrittene Plakat der sogenannten Antiminarettinitiative The controversial poster of the « Anti- minaret ini¬ tiative » Laffiche controversée de linitiative anti- mina¬ rets Quelle: http:// www. minarette. ch Abb. 2: Ein Plakat als Antwort auf das Plakat der Anti¬ minarettinitiative A poster response to the « Anti- minaret initiative » poster Une affiche en réponse à laffiche de linitiative anti- mina¬ rets Quelle: http:// www. gms- minderheiten. ch/ minarettverbot/ informations. php

Geographie der (Un-) Sicherheit : Einführung zum Themenheft€¦ ·  · 2016-01-24securitization studies ein gewisser Fokus auf Elitendis¬ kurse, obwohl dies auch zum Gegenstand

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Geographie der Un-) Sicherheit Einführung zum Themenheft Benedikt Korf, Jürgen Ossenbrügge 167

Geographie der Un-) Sicherheit Einführung zum Themenheft

Benedikt Korf, Zürich, Jürgen Ossenbrügge,Hamburg

Am 29. November 2009 erhielt die Initiative gegeneinen Neubau von Minaretten in der Schweiz bei einerVolksabstimmung 57.5% der abgegebenen Stimmen.Im Vorfeld warben die Initianten für die Zustimmungzur sogenannten « Antiminarettinitiative » mit einemPlakat, das eine Frau in Burka neben einer Phalanxvon schwarzen Minaretten zeigt, die auf einer Schwei¬zer Flagge platziert sind und eher aussehen wie Rake¬ten Abb. 1). Der fundamentalistische Islam, so sug¬

geriert dieses Bild, dringt in die Schweiz ein und stellteine gravierende Bedrohung dar. Migration, Integra¬tion und Religion werden dadurch zu einem Sicher¬heitsproblem. Dementsprechend lässt sich das Plakatals bildlicher Ausdruck einer Versicherheitlichung alsenglischer Fachterminus securitization der Migrati¬onspolitik sehen und interpretieren. Doch blieb diesesPlakat, das in der Schweiz und international auf grosseResonanz stiess, nicht unbeantwortet. « Der Himmelüber der Schweiz ist gross genug » plakatierte dieGesellschaft « Minderheiten in der Schweiz » Abb. 2).

Dieser Vorgang zeigt die Dynamik von Versicherheit¬lichung auf: Bestimmte politische Fragen werden vonAkteuren als Sicherheitsproblem definiert, doch blei¬ben diese Diskurse und Sprechakte im öffentlichenRaum umstritten, werden herausgefordert und hinter¬fragt ein Schritt der desecuritization, der den politi¬schen Raum wieder öffnet Wæver 1995).

Versicherheitlichung bezeichnet den gesellschaftlichenProzess, in dem spezifische Probleme im politischenund öffentlichen Diskurs zu einem Sicherheitsproblemund zu einer gravierenden und manchmal gar existen¬tiellen Bedrohung transformiert werden Buzan et al.1998). Aus der Sicht der kritischen Sicherheitsstudiencritical security studies) sind sicherheitspolitische

Themen und Prozesse also sozial konstruierte Phäno¬mene. Derartige Vorgänge einer securitization findensich in vielen derzeitigen gesellschaftlichen Debattenwieder: Krieg gegen den Terror, Klimakriege, Gesund¬heitsepidemien, Gewalt in Megastädten, globaleMigrationsströme. Analysegegenstände sind Sprech¬akte und weitergefasste diskursive Praktiken, die nichtnur Ansprachen von Politikern, sondern auch jeglicheandere Form von Meinungskundgebung Einschät-

Abb. 1: Das umstrittene Plakat der sogenanntenAntiminarettinitiativeThe controversial poster of the « Anti- minaret ini¬tiative »

Laffiche controversée de linitiative anti- mina¬rets

Quelle: http:// www. minarette. ch

Abb. 2: Ein Plakat als Antwort auf das Plakat der Anti¬minarettinitiativeA poster response to the « Anti- minaret initiative » posterUne affiche en réponse à laffiche de linitiative anti-mina¬rets

Quelle: http:// www. gms- minderheiten. ch/minarettverbot/informations. php

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zungen von Zeitungen, Beamten und Think Tanksmiteinschließen. Daher lässt sich der Prozess der

Versicherheitlichung auch als proaktive Festlegungöffentlicher Gefahren, als Festschreibung von diffusenund unklaren Gefährdungslagen in konkrete Bedro¬hungen beschreiben. Dieser Vorgang ist hochpolitisch,interessegeladen und machtgetränkt. Der Verweis aufBedrohung und Gefährlichkeit ermöglicht weiterhineine Legitimation aussergewöhnlicher, z. T. auch aus¬

serrechtlicher Formen des Regierens: Phänomene, diesecuritized sind, erfordern aussergewöhnliche Mass¬nahmen, den Ausnahmezustand, die Aussetzung «nor¬maler » Gesetze, die zwar das Individuum schützen,doch gerade damit das Kollektiv bedrohen.

In der erweiterten securitization Debatte, also in denDiskussionen um die soziale Konstruktion und poli¬tische Nützlichkeit von öffentlichen Gefahren, kannman verschiedene Denkrichtungen unterscheiden, diegrob in drei Schulen eingeordnet werden vgl. Hag¬mann 2010, in diesem Heft): Die « Waliser » SchuleKen Booth u. a.) problematisiert die Frage, wer von

den Diskursen und Praktiken der Sicherheitspolitikbetroffen ist: werden Individuen, die «Zivilgesell¬schaft » oder der Staat zum Zentrum sicherheitspoliti¬schen Handelns erklärt? Die « Pariser » Schule DidierBigo u. a.) konzentriert sich auf die Gouvernementa¬lität neuer Gefahrendiskurse. Die « Kopenhagener »Schule Ole Wæver u. a.) zeichnet die Ausgestaltunginternationaler Politik mit Freund- Feind- Bildern unddie Errichtung extra- legaler Notstandsräume in ein¬zelnen Ländern nach. Innerhalb dieser verschiedenenDenkrichtungen muss noch zwischen einer engen undeiner weiten Auslegung des Sicherheitsbegriffs unter¬schieden werden vgl. Krause & Williams 1996). Derenge Sicherheitsbegriff orientiert sich an einem klas¬sischen, nationalstaatlich orientierten Verständnis vonSicherheit und trifft zum Beispiel auf securitization imRahmen des Krieges gegen den Terror zu, ein erwei¬terter Sicherheitsbegriff nimmt auch internationaleMigrationsströme, Klimakriege, Umweltsicherheit,Gesundheitsrisiken und Gewalt in Megastädten alsSicherheitsproblem wahr.

Erstaunlicherweise hat die Versicherheitlichungsde¬batte, die in den Politikwissenschaften breit rezipiertund debattiert wird vgl. Balzacq 2005; Buzan et al.1998; McDonald 2007; Neocleous 2008; Stritzel2007; Wæver 1995), bislang wenig Resonanz in derdeutschsprachigen) Politischen Geographie gefun¬

den, obwohl sich vielfältige Überschneidungen mitden critical geopolitics identifizieren lassen vgl. Hag¬mann 2010, in diesem Heft). Beiden Ansätzen gehtes um die Identifizierung, oft auch Entlarvung, spe¬

zifischer diskursiver Rahmungen und geopolitischerLeitbilder vgl. Dodds 2007; Gregory 2004; Lossau2000; Ó Tuathail & Dalby 1998; Reuber & Wolkers¬

dorfer 2003). Gemeinsam ist critical geopolitics undsecuritization studies ein gewisser Fokus auf Elitendis¬kurse, obwohl dies auch zum Gegenstand immanenterKritik wurde Müller & Reuber 2008). Den criticalgeopolitics ging es dabei vor allem um die räumlichenSemantiken und imaginativen Geographien dieserLeitbilder Redepenning 2006). Durch ihren Fokusauf konstruktivistische Ansätze, eine situative unddiskursive Beobachtung der Sicherheitspolitik unddie Analyse von Diskursen und sozialer Praxis istdie securitization Debatte an die critical geopoliticsanschlussfähig und geht gleichzeitig über diese hinausDalby 2009; Ingram & Dodds 2009), u. a. durch die

Öffnung zu einem erweiterten Sicherheitsbegriff unddamit neuen Themenfeldern. Gleichzeitig bietet diePolitische Geographie das Potential, die räumlichenSemantiken und territorialen Praktiken von securiti¬zation expliziter in die Analyse einzubinden und damitneue Impulse in die politikwissenschaftliche Debattezu tragen.

Zielsetzung dieses Themenheftes

Dieses Themenheft ist ein erster Beitrag, die securitiza¬tion Debatte innerhalb der Politischen) Geographieaber auch: Stadtgeographie, Geographische Entwick¬

lungsforschung, Politische Ökologie) zu positionieren.Die Zusammenstellung der insgesamt sechs Beiträgedeckt dabei ein breites Themenspektrum der Versicher¬heitlichung ab: Der Beitrag von Jonas Hagmann skiz¬ziert die Diskurslandschaft der securitization Debatteaus der Sicht der critical security studies und stellt ersteBezüge zu den critical geopolitics her. Die Beiträge vonConrad Schetter und Bernd Belina beziehen sichauf den klassischen Sicherheitsbegriff und behandelnFragen von « ungoverned territories » im Krieg gegenden Terror Schetter) und die EU- Aussengrenze alsSicherheitsproblem Belina). Hier zeigt sich bereitsdie Wichtigkeit räumlicher Semantiken und territori¬aler Praktiken als spezifischer Beitrag der PolitischenGeographie zur securitization Debatte. Der Beitragvon Johannes Herbeck und Michael Flitner thema¬tisiert den Klimawandel als Bedrohungsdiskurs unddiskutiert Implikationen eines erweiterten Sicherheits¬begriffs, wie er in dem Konzept der « human security»zum Ausdruck kommt. Die letzten beiden Beiträgevon Marc Redepenning, Henriette Neef und Edvâ¬nia Torres Aguiar Gomes sowie Mélina Germes undGeorg Glasze behandeln das Thema der Unsicherheitin) der Stadt anhand der politischen Regulation von

Straßenhändlern in brasilianischen Metropolen undden politischen Debatten um die Bedrohungen undGefahren der Pariser banlieues.

Damit zeigen diese Beiträge die Bandbreite von Geo¬graphien der Un-) Sicherheit auf und verbinden diese

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mit der Versicherheitlichung politischer Phänomenein verschiedenen gesellschaftspolitischen Diskursräu¬men. Gleichzeitig verorten die thematischen Beiträgediese Versicherheitlichung in konkreten räumlichenSemantiken und territorialen Alltagspraktiken undverdeutlichen damit den besonderen Beitrag, dendie Politische Geographie zur securitization Debattebeisteuern kann. Schetter zeigt zum Beispiel, wiesich durch den Terminus ungoverned territories dasProblem des internationalen Terrorismus wieder ter¬ritorial in sogenannten failed states verorten undmit konventionellen Formen der Kriegsführung inAfghanistan und anderswo) bekämpfen lässt. Germesund Glasze veranschaulichen, wie die banlieues zuGegenorten der République werden, indem sie alsbedrohliche und fremde Orte konstituiert werden. Beider jüngsten Fussballweltmeisterschaft gipfelte dieserDiskurs der Gegenorte in der Äusserung des Philoso¬phen Alain Finckielkraut, der die Ungezogenheitund Revolte der französischen Nationalspieler, diesich gegen die Abstrafung eines ihrer Kollegen durchNationaltrainer Raymond Domenech aufgelehnthatten, als Sieg der Unkultur der Vorstädte über diestädtische Zivilisation des Landes markierte Ritte2010). Für Redepenning et al. ist dieser Versuch derMarkierung von Gegenorten mittels der raumbezo¬genen Technik einer Containerisierung jedoch zumScheitern verurteilt: der öffentliche Raum stellt sichunter aktuellen gesellschaftlichen Raumverhältnissenmehr und mehr als flüssiger Raum dar, Sicherheit undUnsicherheit können nicht mehr territorial abgegrenztwerden und sind somit neu zu denken.

Zur Geographie der Un-) Sicherheit

Somit kann Versicherheitlichung nicht ohne die in ihrinhärenten räumlichen Semantiken gedacht werden,bei denen es um das Ein-, Ab- und Ausgrenzen vonObjekten und Subjekten geht, aber auch um den Gel¬tungsbereich und die Wirkungsräume von Regeln,Gesetzen und Normen. Darüber hinaus enthält Ver¬sicherheitlichung auch eine spezifische Zeitgeogra¬phie: Die Bedrohung liegt in der Zukunft, doch machtdiese Zukunft, die es vielleicht gar nicht geben wird,da es sich lediglich um eine potentielle handelt, kon¬kretes Handeln in der Jetztzeit erforderlich: durchMassnahmen der Vorsorge und der Vorsicht Ander¬son 2010). Streng genommen wird in der Litera¬tur zwischen Versicherheitlichung und Risikologikunterschieden: Sicherheit bezieht sich auf Aktualität,Risiko auf Potentiale und präventives Handeln. Wirhaben in diesem Themenheft diese Unterscheidungnicht weiter thematisiert; vgl. dazu Aaradau & VanMünster 2007). Indem Versicherheitlichung ausser¬ordentliche Massnahmen zur Bannung existentiellerGefahren einfordert, legitimiert sie tendenziell eine

gouvernementale Praxis der rechtlichen Ausnahme,der polizeilichen Präventionstat vgl. Opitz 2008: 217).Es ist die Temporalität des existentiellen Ernstfalls, diedie Ausnahme über das bestehende Recht hebt. So istempirisch von Interesse, wie die überhitzte Rhetorikvon securitization mit der taktischen Auslegung oderSuspendierung rechtlicher Regeln einhergeht.

Hierbei gilt es, zwei Formen von Ausnahmezustän¬den mit eigenen Temporalitäten und verschiedenenGraden von Verrechtlichung oder Domestizierungzu differenzieren. Auf der einen Seite gibt es die vonFoucault angesprochenen permanenten, « kleinen»Ausnahmezustände Foucault 2004). Diese « kleinen»Ausnahmezustände zeigen sich zum Beispiel in derPraxis von Sicherheitskontrollen an Flughäfen, in derzunehmenden Überwachung öffentlicher Räume undin der Versicherheitlichung der Migrationspolitik inForm strengerer Grenzkontrollen vgl. Belina 2010,in diesem Heft). Foucault interessiert sich für denNormalzustand, der unterhalb, neben und teilweiseauch gegen rechtliche Mechanismen Bestand hat inForm der « kleinen » Ausnahmezustände. Foucaultzielt somit darauf ab, wie « kleine » Ausnahmezuständein den Grauzonen der Legalität Normalität produzie¬ren vgl. Lemke 2004). Dem steht ein stärker dezisio¬nistisches Denken des Ausnahmezustands gegenüber.Dieses ist geprägt von Carl Schmitts einflussreichemSatz, dass « souverän ist, wer über den Ausnahmezu¬stand entscheidet » ([ 1922] 2004: 13). Dem deutschenStaatsrechtler Otto Depenheuer geht es zum Bei¬spiel um die Behandlung existentieller Unsicherheitim Augenblick ihres Ereignisses Depenheuer 2007).Depenheuers Fall ist das entführte Flugzeug, das denexistentiellen, grossen Ausnahmezustand hervorruft,den Ernstfall, der eine Entscheidung zum sofortigenHandeln notwendig macht, zu einem Handeln, dasauch über das Recht hinausgehen kann und damitden handelnden Staat als Souverän begründet in derEntscheidung Dezision).

In der Praxis zeigt sich aber das Ineinandergreifen von« kleinen » Ausnahmezuständen und existentiellemoft nur gedachten, antizipierten) grossen Ausnah¬

mezustand, der in die Jetztzeit projiziert wird. Diesepolitische Geographie des Rechtlichen, die im Prozessder Versicherheitlichung entsteht, bezeichnet Agam¬ben als Diffusion der Ausnahme in die NormalitätAgamben 2004). Der einer erfolgreichen Versicher¬

heitlichung folgende Ausnahmezustand führt zu einerEntgrenzung der Rechtslogik. Aus dieser ergeben sichMöglichkeiten zur Durchsetzung neuer Rechtsvor¬stellungen. Ein Recht jedoch, das Ausnahmezustände« verrechtlicht » verändert sich auch im normativenSinne) und transformiert damit die demokratische Ver¬fasstheit eines Gemeinwesens und die institutionellenRahmenbedingungen gesellschaftlicher Teilhabe.

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Auch die Raketenminarette der Schweizer Antimi¬narettinitiative sind letztlich Ausdruck einer Geo¬graphie von Un-) Sicherheit. Ulrich Schlüer, einerder Initianten der Antiminarettinitiative, schreibt:« Wo sich Einwanderer der Integration verschlies¬sen, geht es um Eroberung Eroberung von innenher » Schlüer 2010). Schlüer konstruiert eine exi¬stentielle Bedrohung, die aus dem Phänomen Islamund Migration in der Schweiz ein Problem der Un-)Sicherheit macht. Getreu der Maxime «Wehretden Anfängen » wurde das Minarett zum Symboleiner drohenden Islamisierung der Schweiz erklärtobwohl es zum Zeitpunkt der Abstimmung ledig¬

lich vier Minarette in der Schweiz gab). Hier zeigtsich visualisiert im Plakat eine Geographie derAngst, die das Fremde in « uns » « unserem Land » alsexistentielle Gefahr zeichnet. Diese Geographie derAngst zieht eine Geographie des Rechts nach sich:das Verbot zum Bau neuer Minarette « auf SchweizerBoden » als Fremdes, dem Schweizer Rechtswesenund der Demokratie widersprechend. So wird derAkt der Volksabstimmung gleichzeitig zur Wiederein¬setzung der Normalität, zur Rehabilitation des Rechtsdes Volkes als Souverän und eine Tat der Vorsorgegegen die Bedrohungen der Zukunft, hier die Angstvor der wachsenden Zahl von Muslimen. Es war alsodie Angst vor einer antizipierten Gefahr, die die Ver¬sicherheitlichung der sogenannten Integrationsfragevon Muslimen in der Schweiz vorangetrieben hat.Damit werden Räume der Unsicherheit sowohl durchProzesse der Ausgrenzung als auch durch das ins- Prä-sens-

holen postulierter Potentiale geschaffen. Unddennoch: « Der Himmel über der Schweiz ist grossgenug » so plakatierte die Gesellschaft «Minderhei¬ten in der Schweiz » Versicherheitlichung bleibt einim öffentlichen Raum umstrittener Akt.

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Prof. Dr. Benedikt Korf, Geographisches Institut,Universität Zürich, Winterthurerstrasse 190, CH- 8057Zürich, Schweiz.e- mail: benedikt. korf@ geo. uzh.chProf. Dr. Jürgen Ossenbrügge, Institut für Geographie,Universität Hamburg, Bundesstrasse 55, D- 20146Hamburg, Deutschland.e- mail: ossenbruegge@ geowiss. uni- hamburg. de