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Deutschlandfunk
GESICHTER EUROPAS
Samstag, 6. November 2010 - 11.05 – 12.00 Uhr
Genua, die Stolze -
Geschichten einer Hafenstadt
Mit Reportagen von: Kirstin Hausen Redakteurin am Mikrofon: Ursula Welter
Musikauswahl: Babette Michel
Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar –
Licht- und Schattenseiten. Das sind stets die zwei Seiten einer Medaille,
wenn es um Hafenstädte geht: Das eine sind die grandiose Lage am Meer
und die guten Geschäfte, die sich damit machen lassen. Das andere ist
das Elend, das mit dem Kommen und Gehen, dem Unsteten einer
Hafenstadt verbunden ist. Genua macht da keine Ausnahme.
Genua, die Stolze. Geschichten einer Hafenstadt. Mit Reportagen von
Kirstin Hausen. Zu den Gesichtern Europas begrüßt Sie Ursula Welter.
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"Genu" , das Knie – so entstand womöglich der Name der Stadt, die wie
ein Knie die Linie der ligurischen Küste nachzeichnet. Mal unabhängig, mal
fremdbeherrscht, war die Geschichte Genuas stets bewegt. Und bis heute
ist Genau einer der wichtigsten Häfen Italiens. Aber der Niedergang der
Schwerindustrie des Landes hat seine Spuren hinterlassen, alte
Produktionsstätten zerfallen - und doch läßt die Architektur der Stadt, hie
und da, den Glanz früherer Zeiten aufblitzen. Vor dem Hintergrund dieser
Kulisse sucht die Stadt eine neue Identiät.
Die Geschichte Genuas ist die Geschichte einflussreicher Familien.
Boccanegra, Espinola, Grimaldo, Sopranis – die großen Familien handelten
mit Wein, Leder, Olivenöl und häuften so gewaltigen Reichtum an.
Wunderschöne Palazzi mit Innenhöfen und Gärten zeugen von dieser Zeit,
sie alle stehen in Genova Alta, der Oberstadt. Und bis heute blicken von
hier die Bessergestellten auf die Altstadt mit ihren schmutzigen Gassen
hinab.
Reportage 1:
Schöne Künste im Palazzo: die Enkelin eines Genueser Reeders
Buchpräsentation in der Beletage des Palazzo Reale. Eine bekannte
Kunsthistorikerin stellt die Neuerscheinung des Museums vor. Ein reich
bebildertes Buch über die Werke von Valerio Castello, einem Genueser
Maler des 17. Jahrhunderts. Unter Deckenfresken und filigranen
Stuckdekorationen hat sich ein illustrer Kreis von Kunstkennern
versammelt. Die meisten gehören zur Genueser Oberschicht, das
Durchschnittsalter liegt jenseits der 50. Eine Frau, die mit ihren 43 Jahren
den Schnitt senkt, heißt Anna Orlando und sitzt in der ersten Reihe. Sie
hat perfekt frisierte schulterlange Haare mit blonden Strähnen und trägt
ein dunkles Wollkleid. Darüber einen Mantel, der mehr sportlich als
klassisch ist, aber sicher nicht billig war. Sie hat an dem Buch
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mitgearbeitet und schaut zufrieden auf die voll besetzen Bankreihen hinter
ihr.
Kaum hat die Kunsthistorikerin ihren Vortrag beendet, drängen die
Besucher nach vorne, um Anna Orlando die Hand zu schütteln und
Komplimente zu machen.
Man kennt sich, man grüßt sich mit einem gehauchten Kuss auf die
Wange. Anna Orlando ist eine versierte und gefragte Expertin für
Genueser Kunst der vergangenen Jahrhunderte. Sie ist inmitten wertvoller
Gemälde aufgewachsen.
Ich bin in eine Familie hineingeboren worden, die jemanden vorweisen
kann, der für die Geschichte dieses Landes von großer Bedeutung war.
Angelo Costa, mein Großvater, war Präsident des Industriellenverbandes
und hat als Unternehmer die italienische Wirtschaft nach dem Krieg
geprägt. Für Genua war er ein Bezugspunkt, ein charismatischer Mann,
der oft um Rat gebeten wurde. Er saß in verschiedenen Verwaltungsräten
und war darüber hinaus ein großer Kunstsammler. Er begann in den 50er-
Jahren antike Gemälde Genueser Maler zu sammeln. Er hatte den Willen
und die finanziellen Möglichkeiten, das im großen Stil zu tun.
Mit Stolz erzählt Anna Orlando von ihrem berühmten Großvater, der starb
als sie noch ein Kind war.
"Er war ein typischer Genuese. Er hatte auch einen starken Genueser
Akzent und wenn er im Industriellenverband oder bei sonstigen
öffentlichen Auftritten sprach, dann würzte er seine Reden gerne mit
dialektalen Ausdrücken, damals sprach man noch mehr Dialekt als heute.
In Rom, wo er oft zu tun hatte, hieß es, sein einziger Fehler sei dieser
starke Akzent."
Anna Orlando öffnet ihre Handtasche und holt ein zierliches Goldetui
hervor. Sie entnimmt ihm eine Zigarette und ein kleines Feuerzeug mit
ihren Initialen, dann geht sie schnellen Schrittes die breite Treppe hinab
und tritt in den Garten des Palazzo. Die Aussicht auf das Meer ist
überwältigend, am Horizont fährt winzig klein ein Schiff. Keine
Menschenseele ist zu sehen zwischen den geharkten Blumenrabatten,
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oben werden bereits Sekt und Häppchen serviert. Anna Orlando zündet
sich ihre Zigarette an und blickt versonnen in den flammend roten
Sonnenuntergang.
Genua ist ein Ort, von dem man aufbricht. Oft genug mit Wut im Bauch,
weil diese Stadt keine Möglichkeiten schafft und gute Ideen nicht
prämiert. Aber jeder, der Genua verlässt, kann es nicht erwarten,
zurückzukehren. Wir haben dieses Klima, dieses Meer, den Wind, den du
fühlst, der dir unter die Haut geht, ob er nun vom Meer oder aus den
Bergen kommt, irgendwann kannst du nicht mehr ohne ihn sein. Die
jungen Leute gehen heute in Scharen weg, aber viele kommen zurück. Sie
bringen Erfahrungen mit, die die Stadt bereichern.
Auch Anna Orlando hat viele Jahre nicht in Genua gelebt. Florenz, Madrid,
die weite Welt.
So wie die Kreuzfahrtschiffe der Reederei Costa heute noch überall
anlegen, hat auch die Enkelin des Reeders Station gemacht in den
Metropolen Europas und in den USA.
"Ich hatte das Glück, mir meinen Weg wählen zu können. Meine Eltern
haben nie von mir verlangt, zu arbeiten und produktiv zu sein. Wenn ich
meine Arbeit im Kulturbetrieb heute gut mache, dann liegt das daran,
dass ich zu nichts gezwungen wurde. Ich liebe die alten Genueser Maler
und werde häufig um fachlichen Rat gefragt. Außerdem setze ich mich für
Kunst und Kultur im Allgemeinen in meiner Heimatstadt ein, aber mein
tägliches Brot ist die Genueser Malerei. Und das verdanke ich einerseits
meinem Großvater, der dafür gesorgt hat, dass ich inmitten von Gemälden
aufwuchs, und andererseits meinem Drang, mich in der Welt
umzuschauen und eine andere Perspektive einzunehmen."
Die Zigarette ist verglimmt, die Sonne im Meer verschwunden. Anna
Orlando fröstelt. Sie klopft sich imaginären Staub vom Mantel und verlässt
den Garten des Palazzo Reale. Am Fuß der Treppe zur Beletage trifft sie
auf eine gute Freundin.
Carla Viale leitet ein Kommunikationsbüro in Genua und arbeitet bei der
Promotion kultureller Anlässe immer wieder mit Anna Orlando zusammen.
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Die beiden Frauen haben sich länger nicht gesehen und nach einem
verschwörerischen Blickwechsel ist klar: statt zu dem langweiligen
Sektempfang oben werden sie in eine angesagte Austern-Bar am alten
Hafen gehen. Manche Dinge werden heute nicht mehr in den
altehrwürdigen Mauern antiker Palazzi besprochen, das ist sogar in Genua
vorbei.
Musik
Literatur Teil 1:
Samstagmorgen. Mistral. In der Ferne zieht der Wind Furchen durch das
Meer. Wie Perlen heben sich die Schaumkronen von der blauen
Wasserfläche ab, bevor sie einen Wimpernschlag später wieder
verschwinden. Der vom Wind blank geputzte Himmel strahlt in einem
leuchtenden Türkis, das dem Betrachter fast den Atem nimmt. Genua und
der Wind. Zwei launische Gesellen, die nicht müde werden, miteinander zu
spielen. Unartig und lästig.
Der Wind bläst unter die Mäntel und die Röcke der Frauen, die an diesem
kalten Dezembermorgen dick eingemummelt durch die Straßen hasten,
als würden sie dem Wind davonlaufen wollen. Papierschnipsel, Staub und
Blätter tanzen in wilden Wirbeln über die Straße und taumeln zwischen
einer Bö und der nächsten auf den Asphalt zurück. Kaum setzt die Musik
des Windes wieder ein ,wird alles erneut hochgewirbelt und der Tanz
beginnt von vorne.
Musik
Genuas Altstadt ist ein Labyrinth . Die Gassen sind teilweise so schmal,
dass ausweichen unmöglich ist. Drogendealer, Diebe und Prostituierte
fühlten sich stets angezogen von den engen Winkeln. Auch die Ratten.
Laut, feucht und schmutzig –gutsituierte Genuesen setzten keinen Fuß in
diese Gegend. Bis 1992. Mit dem Kolumbus-Jahr kam die Wende für
Genuas Altstadt. Zum 500. Jubiläum der Entdeckung Amerikas floss Geld
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in den Umbau des Alten Hafens und der historischen Altstadt. Fast 1,3
Milliarden Euro. Eine gelungene Investition. Die Besucherzahlen stiegen
stetig an und als Genua 2004 auch noch europäische Kulturhauptstadt
wurde und die UNESCO 2006 Teile der Altstadt zum Weltkulturerbe
erklärte, war die Sache perfekt. Heute gelten die Bars und Clubs als "hip",
und wer sich abends vergnügt sieht nicht, was es auch noch gibt in der
Altsadt Genuas ... ..:
... ..die Schattenseiten - unsanierte Straßenzüge mit Häusern ohne
Heizung und mit Toilette auf dem Gang. Von den Fassaden bröckelt der
Putz und dahinter sieht es noch schlimmer aus. Hier leben vor allem
Armutsflüchtlinge aus Afrika und Südamerika, die in Genua ein besseres
Leben suchen.
Reportage 2:
Verkaufen, essen schlafen – das harte Leben eines afrikanischen
Einwanderers
800 Gramm gefrorener Fisch mit Schwanzflosse kosten drei Euro 20, die
junge dunkelhäutige Frau hinter der Theke trennt mit einer elektrischen
Säge den Fischkopf ab und legt ihn zurück in die Tiefkühltruhe. Im Laufe
des Tages wird sie ihn verschenken, an einen der vielen Afrikaner, die bei
ihr einkaufen wollen, aber kein Geld haben. Jetzt ist es noch früh und ihr
kleiner Lebensmittelladen wimmelt von fliegenden Händlern, die sich ein
paar Kekse kaufen oder auch nur Hallo sagen. Einer von ihnen heißt
Abeeku, ist 26 Jahre alt und aus dem Senegal.
..ich bin seit acht Jahren hier und es geht mir nicht gut. In acht Jahren
habe ich keinen einzigen italienischen Freund gefunden. Die Leute sind so
misstrauisch, sie denken alles Mögliche über uns Afrikaner, das ist nicht in
Ordnung. Ich bin offen für andere, aber ich habe es in acht Jahren nicht
geschafft, auch nur einen italienischen Freund zu finden. Meine Freunde
sind entweder Afrikaner oder Südamerikaner.
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Abeeku schaut in die schwarzen Gesichter um ihn herum. In den Augen
tiefe Sehnsucht. Nach einem besseren Leben? Kopfschütteln. Das haben
sie abgeschrieben. Nach einer Heizung, die funktioniert? Einem Zimmer,
das sie nicht mit fünf anderen teilen müssen? Schon eher. Die meisten
sind so alt wie Abeeku, einige jünger. Sie tragen Wollmützen und
zerschlissene Anoraks. Gebeugt verlassen sie das Lebensmittelgeschäft,
bepackt mit afrikanischen Tüchern in leuchtenden Farben, billigen Uhren,
Feuerzeugen, Schirmen und gefälschten Designertaschen, die sie für zehn
bis fünfzehn Euro verkaufen. Abeeku steuert den alten Hafen an, er hofft,
dort auf kauffreudige Touristen zu stoßen.
Das ist hier alles für die Touristen auf Vordermann gebracht worden, aber
Genua ist auch eine Stadt für Touristen, die bringen Geld und ich finde es
in Ordnung, dass der alte Hafen saniert wurde, mir gefällt er sehr.
Auf der Promenade am Yachthafen haben bereits ein paar Kollegen ihre
Waren ausgebreitet. Abeeku wirft ein buntes Tuch zu Boden und platziert
seine Schätze. Er tut es mit Sorgfalt. Rechts die Taschen, links die
Schirme, in der Mitte der Kleinkram. Seine Blicke schweifen umher.
Ununterbrochen sucht er die Umgebung nach Polizisten ab, bereit, in
Windeseile alles einzupacken und wegzulaufen.
" Das ist ungerecht. Jedes Mal, wenn die Polizei auftaucht, müssen wir
flüchten wie die Hasen und gefährlich ist es auch. 138 00:38 Vor kurzem
ist eine alte Frau umgerannt worden, sie musste sogar ins Krankenhaus.
So kann es nicht weitergehen.
Zwei Stunden später . Abeekus Augen wandern immer noch aufmerksam
umher. Aber Polizisten sind nicht zu sehen, allerdings auch kaum
Touristen. Nur ein paar Feuerzeuge und Manschettenknöpfe zu ein Euro
50 das Stück hat er bisher verkauft. Es geht auf Mittag zu. Menschen mit
Laptoptaschen und Handy am Ohr eilen an Abeeku und den anderen
afrikanischen Händlern vorbei, sehen sie nicht an.
Italien hat beim Thema Immigration versagt. Das Land ist nicht bereit,
Einwanderer aufzunehmen. Es gibt keine seriöse Politik, jeder wurschtelt
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vor sich hin und heraus kommen dabei Gesetze, die rassistisch und
ausländerfeindlich sind. Die bringen am Ende überhaupt nichts."
Abeeku massiert sich die Fingerknöchel. Seine Hände haben Schwielen,
die Haut ist rissig. Es ist kalt. Seine Mutter stammte aus Ghana, sie starb
bei der Geburt. Abeeku wuchs bei der Großmutter in Dakar auf, wie seine
beiden älteren Schwestern, die inzwischen auch Kinder haben, aber keinen
Mann. An seinem 18. Geburtstag beschloss er, in Europa Arbeit zu suchen,
um den Frauen Geld schicken zu können. Wie genau er es ohne Papiere
bis nach Genua schaffte, will er nicht sagen.
Eine junge Frau schlendert heran, wirft einen Blick auf Abeekus Taschen.
Der Senegalese ermuntert sie, eine hochzunehmen und genauer zu
inspizieren. Doch sie ist bereits beim Händler nebenan und fixiert einen
hellgrauen Trenchcoat, angeblich Markenware, in Wahrheit gefälscht.
Die Frau zückt einen 50-Euro-Schein, viel zu viel für diesen Trenchcoat,
der schlecht geschnitten ist und bereits Fäden zieht. Bevor sich Abeeku
darüber ärgern kann, begrüßt ihn ein Freund.
Die beiden beschließen, zusammen Mittag essen zu gehen. Das macht
Abeeku selten, er verkauft lieber bis vier, fünf Uhr und isst dann. Eine
warme Mahlzeit am Tag muss reichen. Aber sein Freund lädt ihn heute
ein. Er hat anscheinend gut verdient, aus seiner Hosentasche lugen ein
paar Geldscheine.
Die Männer drehen dem Hafen den Rücken zu und verschwinden in einer
handtuchbreiten Gasse, die als Durchschlupf zur Via Pré dient. Hier
beginnt Afrika. Marokkanische Couscous-Imbisse reihen sich an Internet-
und Telefoncafes, dazwischen islamische Metzgereien und winzige
Lebensmittelläden. Die Türen stehen überall offen. In den Geschäften
bedienen meist Frauen, die Straße aber gehört den Männern. Sie stehen in
Grüppchen herum oder sitzen auf den Treppen der Hauseingänge: kauen,
spucken, schauen. Vor einer mächtigen Eisentür bleiben Abeeku und sein
Freund stehen.
"Hier drin ist ein illegales Restaurant, geführt von Senegalesen"
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Im Hausflur riecht es nach Schimmel und Urin. Der Fliesenboden ist
zerbrochen, das Treppengeländer morsch. Im 2. Stock ist eine
Wohnungstür einen Spalt weit geöffnet.
Gebratenen Reis mit Huhn und Gemüse gibt es heute, erklärt die
Hausherrin, eine etwa 50jährige Senegalesin mit wild aufgetürmter
Haarpracht. Sie nimmt eine ovale Servierplatte und füllt sie großzügig.
Das ist die einzige akzeptable Wohnung in diesem Haus, die anderen sind
fürchterlich heruntergekommen. Die Frauen halten hier alles in Schuss,
aber bei den anderen kann man nicht reingehen, da leben 15 Menschen
auf engstem Raum zusammen, menschenunwürdig ist das."
Wütend schlägt Abeekus Freund seine Zähne in den Hühnchenflügel, dann
schaufelt er den Reis sich hinein. Abeeku lässt den halbvollen Teller
stehen. Er ist müde. Die Hausherrin bedeutet ihm, auf dem Sofa ein
Nickerchen zu machen. Mütterlich streichelt sie ihm über die Wange. Ein
bisschen Wärme an einem kalten Tag in Genuas Altstadt.
Musik
Literatur Teil 2.
Ich lehne an der Mauer des Corso Carbonara und blicke nach unten. Von
hier oben hat man eine großartige Aussicht über den Hafen und den
Borgo, den Teil der Altstadt zwischen der Loggia di Banchi und dem alten
Staddtor Porta di Vacca. Ein graues Gewirr windschiefer Dächer, zwischen
denen sich das enge Netz der Carruggi ausbreitet, der schmalen dunklen
Gassen, wo die Sonne nur zur Mittagszeit vorsichtig hineinlugt. Flankiert
vom mächtigen Maritone-Hochhaus und dem Aussichtsturm Il Bigo
erkenne ich die Stazione Marittima und die Darsena-Werft. Hier liegt es:
Das vom Mistral blank geputzte Genua.
Musik
10
Genuas Suche nach einer neuen Identität schließt den Tourismus mit ein.
Die Fährverbindungen von und nach Genua sind zahlreich und ein
wichtiger Faktor im Wirtschaftsleben der Stadt und der Region geworden.
Aber die Fähren transportieren längst nicht mehr nur Urlauber, laufen
nicht mehr nur die Küstenstädte Sardiniens, Korsikas und Siziliens an.
Nordafrika gehört längst in den Kanon der Linien, die die Schiffe auf ihren
Wegen von Küste zu Küste ziehen.
Mehrmals pro Woche laufen Fähren aus Marokko und Tunesien in Genua
ein. Sie befördern Hunderte von afrikanischen Immigranten, die in Italien,
Frankreich, Deutschland oder der Schweiz leben. Mit ihnen Hausrat aller
Art. Die Autos, die sich aus dem Bauch des Schiffes über die Rampe an
Land quälen, sind voll bepackt mit Möbeln, Kunsthandwerk und
Lebensmitteln aus der Heimat. Für die Polizisten am Kai beginnen mit dem
Anlegen des Fährschiffes zwei intensive Stunden.
Reportage 3:
Gewürze, Mehl und Kokain: bei der Drogenfahndung am Hafen
Im Schritttempo rollen die Autos über zwei vorgezeichnete Linien auf die
Kontrollposten der Polizei am Hafen zu. Die meisten Passagiere der MS
Blizzard aus Tanger halten ihre Papiere bereits in den Händen:
Personalausweis und Aufenthaltsgenehmigung. Durch das
heruntergelassene Autofenster reicht ein dunkelhäutiger Mann mit müden
Augen seine Dokumente einem jungen Polizisten, der in einer Art
Mauthäuschen sitzt. Er hat einen Laptop vor sich und gibt die Personalien
des Marokkaners in die polizeiliche Datenbank ein.
Alles in Ordnung, der Mann ist bei einer Baufirma in Mailand als Maurer
beschäftigt. Der Polizist wirft noch einen Blick auf Führerschein und
Fahrzeugpapiere. Dann winkt er das Auto durch. Sein Chef schaut ihm
über die Schulter.
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"Jeder, der das Schiff verlässt, muss an einem dieser drei
Kontrollhäuschen vorbei. Das ist unsere erste Kontrolllinie. Hier
kontrollieren wir, dass niemand illegal einreist, dass die Autos nicht
gestohlen sind und der Versicherungsschutz noch gültig ist."
Guglielmo Santimone, Vicequestore aggiunto, und damit ein Stellvertreter
des Polizeipräsidenten, ist ein Polizist, wie er italienischer nicht sein
könnte. Hoch aufgerichtet, die Hände auf dem Rücken verschränkt,
verfolgt er mit Argusaugen, was passiert. Die dunkelblaue Uniform blitzt
vor Sauberkeit, darunter trägt er ein blütenweißes Hemd. Am kleinen
Finger ein Brillantring, am Handgelenk eine Rolex, die ihm seine
Kommilitonen zum Abschluss des Jurastudiums geschenkt haben. Der
Fünfzigjährige hat Anti-Mafia- und Anti-Terrorismus-Einheiten geleitet,
seinem Blick entgeht nichts.
"Wenn wir hier eine Unregelmäßigkeit feststellen, zum Beispiel, dass der
Pass gefälscht ist, dann geben wir diese Information an die zweite
Kontrolllinie weiter. Der zuständige Unteroffizier stoppt den Wagen dann
erneut und verweigert die Einreise."
Ausweis um Ausweis wird kontrolliert und mit dem obligatorischen
Einreisestempel versehen. Routine.
"Siebenhundert Mal die gleichen Fragen, ohne Übertreibung, von diesem
Schiff gehen 700 Menschen an Land. Siebenhundert Mal verstehen die
Passagiere unsere Fragen nicht und wir wiederholen sie geduldig. Auch
dann, wenn wir provoziert werden, weil es jemandem nicht schnell genug
geht. Meine Leute halten sich vor Augen, dass diese Menschen eine lange
Reise hinter sich haben und müde sind."
Guglielmo Santimone hat sich in 25 Jahren Polizeidienst seine Sensibilität
bewahrt. Das Schicksal der afrikanischen Einwanderer, die in Italien oft
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genug für wenig Geld schwer arbeiten berührt ihn, deshalb legt er Wert
auf Freundlichkeit. Doch plötzlich versteift sich sein Rücken. Die Augen
werden zu Schlitzen, sie saugen sich am Bildschirm fest.
"Das ist ein Mafioso" murmelt er und zeigt auf den Vermerk, den die
Datenbank gerade ausgespuckt hat. Der Marokkaner hinter dem Steuer
trommelt nervös auf sein Lenkrad.
Der Vicequestore winkt ihn aus der Schlange und fragt nach seinen
Vorstrafen.
Zigarettenschmuggel vor vielen Jahren, mehr nicht, sagt der Marokkaner
mit einem Achselzucken, aber Guglielmo Santimone gibt sich damit nicht
zufrieden.
Er holt zwei seiner Mitarbeiter und eine Vertreterin der Finanzpolizei hinzu.
Während Santimone mit dem Marokkaner redet, liegen seine Mitarbeiter
bereits unter dem Auto. Sie klopfen die Hohlräume ab, öffnen die
Türverschalung.
Dann geht es ans Gepäckausladen. Mehrere Koffer, eine Sporttasche und
jede Menge Plastiktüten landen auf dem Asphalt.
Eine enthält kiloweise Mandeln, die nächste Pistazien und Nüsse, dazu
Sesamkörner und Gewürze, jeweils einzeln abgepackt. Ein Polizist
schnuppert an jeder Tüte, lässt den Inhalt durch seine Hand rieseln.
"Das ist normal. Unglaublich, was die alles nach Italien mitbringen."
Ein belustigtes Kopfschütteln und die Suche geht weiter.
Atmo von Durchsuchung 338 1:10
Noch mehr Tüten, noch mehr Gewürze. Doch dann, in der letzten kleinen
Plastiktüte, kommt ein weißes Pulver zum Vorschein, das die
Finanzpolizistin erstarren lässt.
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"Das ist Mehl" sagt Guglielmo Santimone lässig und probiert. In der Tat:
Mehl. Aber verdächtig ist ihm dieser Transport trotzdem.
"Das Auto dort hinten könnte ihn decken. Wenn er die Grenze passiert,
folgen sie ihm bis zu seinem Bestimmungsort, wo er die Drogen abliefern
muss. Ich hab das im Gefühl, meine Erfahrung sagt mir, das hier was
nicht stimmt."
Santimone würdigt den verdächtigen Jaguar keines Blickes, aber er gibt
dem Mitarbeiter, der das Gepäck durchsucht hat, ein Zeichen.
"Ein Wettlauf ist das, zwischen ihnen und uns", sagt der und
benachrichtigt die Kollegen mit den Polizeihunden.
"Was uns verdächtig vorkommt, sind all diese Gewürze, die er dabei hat.
Die eignen sich nämlich dazu, die Hunde zu verwirren. Er ist der arme
Teufel, der den Stoff über die Grenze bringen muss und das Risiko auf sich
nimmt. Natürlich bekommt er dafür Geld, aber die Herren dort in der
Limousine verdienen weit mehr. Jetzt greift er zum Handy und sagt ihnen
Bescheid, dass er die Grenze passiert hat. Wir werden ihn am Ausgang
des Hafenareals erneut abfangen und dann nehmen wir das Auto wirklich
auseinander"
Auch die Männer im Jaguar werden um eine eingehende Befragung nicht
herumkommen. Und wenn sie tatsächlich vor wenigen Minuten einen
Anruf vom Handy des Marokkaners erhalten haben, dann sitzen sie in der
Bredouille. In den Augen des Vicequestore Guglielmo Santimone blitzt
Genugtuung auf. Aber dann richtet er seine Aufmerksamkeit wieder auf
die Fahrzeugschlange, die das Kontrollhäuschen noch nicht passiert hat.
Seine Arbeit ist noch längst nicht getan. 300 Passagiere müssen noch
abgefertigt werden. Atmo hoch
Musik
Literatur Teil 3:
14
Sonntagnacht im Porto Antico. Keine Menschenseele weit und breit. Eisige
Windböen lassen die Wellen gegen die Kaimauern klatschen. Wo früher die
Güter der vor Anker liegenden Schiffe gelöscht wurden, kann man heute
herrlich spazieren gehen, direkt am Wasser. Kleine Sportboote liegen hier,
schnelle Cruiser, Segelboote, Lotsenboote und Barken. Der Buran zerrt an
den Ankertauen, quält die Wanten und rüttelt an den Masten, immer
wiederkehrende, klagende Geräusche, die sich im Dunkeln verlieren. Die
Schiffe schwanken hin und her und der Widerschein ihrer abgeblendeten
Lichter tanzt auf dem schwarzen Wasser. Wer heute Nacht unter Deck
schläft, wird keine Ruhe finden.
Wie ein Amphitheater öffnet sich Genua zur Meerseite. Die Stadt zieht sich
mit ihren Außenbezirken über Kilometer an der Küste entlang , felsige
Abschnitte wechseln sich mit Sandstränden ab. Die westlichen Stadtteile
in Richtung Ventimiglia und französischer Grenze sind von den Überresten
der Schwerindustrie geprägt, die hier zwei Jahrhunderte lang für volle
Lohntüten und rauchende Schornsteine sorgte. Denn mit der
Industrialisierung Italiens im 19. Jahrhundert begann die
Industrialisierung Genuas. Arbeiter aus Süditalien wanderten in großer
Zahl ein, weil es Arbeit im Überfluss gab. Es entstanden Eisen- und
Stahlwerke und ,im ersten Weltkrieg, Kanonen- und Munitionsfabriken.
Später wurden die Schiffswerften von Genua weltweit bekannt, weil sie
gewaltige Atlantikkreuzer bauten, mit denen Auswanderer nach New York
gelangten.
Von den glorreichen Zeiten ist wenig geblieben: Zerfallene Fabrikgebäude
gibt es hier, Brachland und eine Hinterlassenschaft, die nicht so
augenfällig ist:
Reportage 4:
Umweltsünden im Paradies: das dreckige Vermächtnis einer Fabrik
am Meer
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Der Strand von Cogoleto, kaum 20 Kilometer westlich vom Stadtzentrum
Genuas. Im Sommer ist er ein beliebtes Ausflugsziel für die Großstädter,
heute, an einem nasskalten Herbsttag, ist er fast menschenleer. Nur zwei
Männer in Jeans und Windjacken graben im Sand.
Sie tragen die oberste Schicht Sand ab und stoßen darunter auf rostrote
Klumpen.
Das ist Chrom. Genauer gesagt, Spuren einer Chromverbindung, die in
Gerbereien benutzt wird. Bis vor zehn Jahren war der Strand von Cogoleto
kein Strand, sondern Teil der Chemiefabrik Stoppani, die hier unter
anderem Chromsalz zur Behandlung von Leder herstellte. Die mit
Umweltgiften belasteten Abwässer wurden lange Zeit ungefiltert ins Meer
geleitet. Chrom hat in Gewässern eine durchschnittliche Lebensdauer von
11.000 Jahren. Es ist krebserregend und schädigt beim Einatmen oder
Verschlucken die Atemwege.
Die Männer graben nicht mehr, sondern machen Fotos. Fotos von einem
Umweltskandal, den in Genua jeder kennt, der aber kaum jemanden
aufregt. Anders Enrico, ein freiberuflicher Parkettleger und Christian
Abbondanza, Kulturschaffender, DJ und Präsident des spendenfinanzierten
Vereins "Casa della legalità", der Umweltsünden in Ligurien öffentlich
macht. Er ist knapp über 40, hat wuscheliges grau-braunes Haar, ein
schmales Gesicht und einen durchdringenden Blick. Wütend zeigt er auf
den verseuchten Boden, der sich unter dem Sand verbirgt.
" Das ist wirklich ekelhaft. Aber im Sommer, wenn die Badegäste mit
ihren Sonnenschirmen kommen und die Kinder im Sand spielen, fällt das
niemandem auf. 0:30 Jemand, der die Geschichte dieses Ortes nicht
kennt, will ein paar unbeschwerte stunden am Meer verbringen, er bringt
seine Kinder mit und ahnt nicht, dass er sich hier vergiftet."
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Schon seit Jahren beklagen Christian und seine Mitstreiter diese Situation.
Auf der Internetseite des Vereins haben sie die Geschichte der Fabrik
detailliert rekonstruiert.
"Die Fabrik wurde vor knapp zehn Jahren geschlossen, weil die
Eigentümer die Produktion nach Brasilien verlagerten. Das verseuchte
Gelände haben sie einer Firma geschenkt, die sich im Gegenzug um die
Sanierung des Bodens kümmern sollte. Diese Firma wollte hier eine Reihe
von Häusern bauen und so an der ganzen Sache verdienen. Die
umweltschädlichen Substanzen wurden allerdings nicht abgetragen und
ordnungsgemäß entsorgt, sondern einfach auf dem Gelände vergraben.
So wie hier am Strand. Christian zeigt auf einen Fußballplatz, der weiter
nördlich angelegt wurde. Wer hier gegen den Ball kickt, hat einen
fantastischen Blick auf das Meer. Und eine toxische Zeitbombe unter den
Füssen, meint Christian. Zahlen über Krebserkrankungen und Todesfälle,
die auf den Kontakt mit den chemischen Altlasten der Fabrik
zurückzuführen sind, kann er nicht nennen. Es fehlt an den
entsprechenden Statistiken.
"Sowohl Stadt- als auch Provinzregierung von Genua weigern sich, eine
Erhebung durchzuführen, um festzustellen, wie viele Menschen erkrankt
oder gestorben sind, weil sie in Kontakt mit Schadstoffen wie Chromkali
oder Asbest gekommen sind. Mit diesen Substanzen, hat die Stoppani-
Fabrik hier den Boden verseucht. Sie weigern sich, weil das Ergebnis
erschütternd wäre. Aber solange es keine offizielle Erhebung gibt, kann
man eine Fabrik wie die Stoppani nicht auf Totschlag verklagen."
Für die Umweltschäden wurden die Verantwortlichen aber sehr wohl vor
Gericht gestellt. In der ersten Instanz ist das Urteil milde ausgefallen,
trotzdem sind die Angeklagten in die zweite Instanz gegangen. Der
Prozess läuft noch.
Bis das Urteil in zweiter Instanz gefällt werden kann, wird diese Straftat
verjährt sein.
Was man machen kann, ist: die Situation dokumentieren und zu diesem
Zweck sind Christian und Enrico heute hier.
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Unter die Lupe nehmen die beiden Umweltaktivisten auch das lange Rohr,
das am nördlichen Ende der Bucht, Wasser ins Meer einleitet.
"Das Wasser, das dort herauskommt, ist manchmal blau eingefärbt, auf
den Felsen wächst nicht mehr" sagt Christian und ballt die Hände zu
Fäusten.
(6 3:55) Die Zahl der Todesfälle unter den früheren Fabrikarbeitern haben
sie versucht, zu vertuschen. Sie sprachen offiziell von fünf, aber in
Wirklichkeit waren es 35. Nicht eingerechnet die Menschen aus der
Nachbarschaft der Fabrik. Hier können wir nur spekulieren, weil die
Institutionen keine gesicherten Daten haben wollen und die Bewohner
auch nicht. Hauptsache, sie haben ihren Fußballplatz und kauffreudige
Sommerurlauber, dann ist alles gut."
Christian Abbondanza ist hartnäckig. Regelmäßig spricht er die lokalen
Politiker auf den Umweltskandal an, informiert die Medien, organisiert
Bürgerversammlungen. Damit macht er sich nicht nur Freunde.
"Wenn jemand sagt, wie die Dinge wirklich stehen, wird er verklagt."
Aktuell hat er eine Klage wegen Rufschädigung am Hals. Ausgerechnet
von einem Mann, der im dringenden Verdacht steht, zur kalabrischen
Mafia-Organisation Ndrangheta zu gehören. In Polizeiakten taucht dieser
Mann immer wieder in Verbindung mit einem Clan auf, der sich schon vor
Jahren in Ligurien festgesetzt hat. Die Clanmitglieder sind spezialisiert auf
öffentliche Bauaufträge oder die Sanierung verseuchter Industrieflächen.
In Wahrheit überdecken sie die Wunden der Industrialisierung in Genua
und Umgebung nur, sie heilen sie nicht.
So gehen diese Leute immer vor. Sie entsorgen nichts wie es den
Gesetzen entspräche, deshalb sind die Dienstleistungen, die die
Ndrangheta anbietet, ja auch so billig.
Dass Christian Abbondanza darüber so offen spricht, bringt ihn in Gefahr.
Auch, wenn er das mit einem amüsierten Lächeln beiseite wischt. Enrico
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stapft zurück zum Auto, geparkt an der Uferpromenade. Christian lässt
seinen Blick über die Wellen gleiten, die schäumend an den Strand
schlagen. Ein schöner Flecken Erde. Wenn nicht das Gift im Boden wäre.
Musik
Literatur Teil 4:
Von hier unten wirkt die Stadt wie eine übergroße Weihnachtskrippe, die
sich die Hügel hinaufzieht. Dort blinken Myriaden von Lichern, die bei
jedem Windstoß aufflackern und wieder verschwinden. Hoch über den
Neonschildern der Magazzini del Cotone schwenkt die Lanterna, der alte
Leuchtturm von Genua, ihr weithin sichtbares Licht erst über den Palazzo
Millo, dann über die Stadtautobahn und die Piazza Caricamento, weiter
über die Silhouette des Glockenturms von Santa Maria di Castello und die
zerfallenen Zinnen des Torre degli Embriaci bis hin zum etwas abseits
liegenden Campanile di San Giorgio im Westen.
Genua sucht seinen Platz in der neuen Zeit. Das Columbus-Jahr,
internationale Großereignisse und die Ernennung zur Kulturhaupstadt
haben der Stadt dabei Rückenwind gebracht. Das Zusammenspiel
öffentlicher und privater Akteure und Geldgeber hat die Sanierung von
Wohnraum möglich gemacht, hat geholfen, historische Bausubstanz zu
retten und aufzupolieren. Das "Centro Storico" ist zugänglicher und die
vielleicht glücklichste Entscheidung war, die Fakultät für Architektur
mitten in die Altstadt zu verlegen. So zog studentisches Leben hierher,
wenn sich auch mancher Barbesitzer in der Nähe der Fakultät erst an die
vielen jungen Leute gewöhnen musste:
Reportage 5:
"Il capitano" - ein Mann und sein Lokal in der Altstadt
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Ein Lokal so klein wie eine Schiffskombüse. Und rappelvoll. Hinter sechs
Elektro-Herdplatten, die alle in Betrieb sind, steht er: der "Capitano". Sein
Reich ist winzig, aber perfekt organisiert. Anders ginge es gar nicht, jetzt
um kurz nach eins, der mittäglichen Rush hour. In dem Stehimbiss von
Mauro Caccia drängeln sich hungrige Studenten.
"Schaut, was auf der Tafel steht und dann sagt ihr mir, was ihr wollt."
Seine Anweisungen sind kurz und präzise, niemand würde es wagen, dem
Capitano zu widersprechen. Wie er zu diesem Spitznamen kam, weiß er
selbst nicht mehr, aber er mag es, wenn seine Kunden ihn so rufen. Der
Platz hinter den Herdplatten ist seine Kommandobrücke. Weiße Schürze,
kerzengerade Haltung, volle Konzentration. Mauro Caccia ist ganz bei der
Sache. Er backt Crepes, mit süßer oder würziger Füllung, je nach Wunsch
seiner Kundschaft.
Eine jungenhaftes Grinsen, raspelkurzes graues Haar und sorgfältig
gestutzte Koteletten. Mauro Caccia ist eine charismatische Erscheinung.
Dass er die 50 überschritten hat, sieht man ihm nicht an. Er läuft
Marathon und fährt gerne Fahrrad. Ein Auto hat er nicht, braucht er auch
nicht hier in der Altstadt.
Das historische Viertel ist wegen seiner zentralen Lage mit guten
Verkehrsanbindungen sehr praktisch zum arbeiten und wohnen, und es
hat an Prestige gewonnen seitdem die Häuser renoviert wurden, alles
antike Palazzi, die einmal sehr heruntergekommen waren. Früher waren
sie einfach nur alt und vernachlässigt."
Ob schön renoviert oder heruntergekommen – Mauro Caccia liebt die
Altstadtgassen von Genua in jedem Fall, niemals würde er woanders
wohnen wollen.
Es ist jetzt zwei Uhr und der Ansturm der Studenten vorbei.
Zugegeben: ich habe einen etwas rauen Charakter, aber ich bin gern
unter Menschen. Und hier habe ich den ganzen Tag Menschen um mich.
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Ein älterer Herr im Kamelhaarmantel kommt herein und bezieht seinen
Stammplatz direkt neben der Kasse. Weißer Haarkranz, blaues Hemd, das
Jackett etwas altmodisch.
182 Mein Büro ist ganz in der Nähe und ich komme mittags oft hierher,
weil ich hier genau das bekomme was mir schmeckt, 1.15 ich habe hier
schon gewohnt als das Historische Zentrum noch verrufen war, aber es
hat mir früher besser gefallen, da gab es noch kleine Werkstätten und
Tante-Emma-Läden, heute nur noch Bars und Restaurants
Ein Seufzer, ein Blick zu Mauro, der nach Verständnis sucht. Doch der
Capitano schüttelt den Kopf. In die Litanei vieler Genuesen, dass es früher
besser war im Historischen Zentrum, stimmt er nicht ein.
Es waren die jungen Leute, die hier einfielen und für frische Luft sorgten,
danach kamen die Freiberufler: Makler, Rechtsanwälte mit ihren
Kanzleien, sie haben das Historische Zentrum verändert. Die Mentalität
der alten Genuesen hat sich dagegen nicht verändert, sie sind etwas
irritiert durch die rasanten Entwicklungen vor ihrer Haustür. Diejenigen,
die früher schon hier wohnten, zeigen sich alles andere als begeistert von
den jungen Leuten, die dazugekommen sind und abends vor den Bars
herumlärmen. Aber das sind eben Leute von Anfang 20, wir waren auch
einmal jung und so wie wir damals wollen sie sich heute auch amüsieren.
Mit einem Lappen wischt Mauro Caccia die Theke ab, er freut sich über die
jungen Leute, die inzwischen sein Viertel bevölkern. Nur mit ihnen habe
Genua eine Chance, die post-industrielle Depression hinter sich zu lassen
und in Zukunft wieder als bedeutsame Stadt wahrgenommen zu werden,
glaubt er.
Unsere Altstadt ist wunderschön, aber jeder restauriert alleine vor sich
hin, man müsste eine Komplettsanierung der Altstadt machen, so wie es
am alten Hafen geschehen ist. Eine Altstadt wie unsere kann man nicht so
peu à peu restaurieren, denn das, was du vor 20 Jahren saniert hast, ist
heute schon wieder alt, du hinkst also immer hinterher und wirst niemals
fertig. Man müsste alles auf einen Schlag machen, das wäre es!"
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In seine Augen tritt ein kämpferischer Glanz. In früheren Jahren war
Mauro Caccia ein engagierter Kommunist, heute hat die Politik an
Stellenwert verloren. Das Wichtigste in seinem Leben ist Viola, seine
knapp fünfjährige Tochter, die er jetzt von der Schule abholen muss. An
die Glastür seines Lokals hängt er ein Schild: wir öffnen wieder ab sechs
Uhr abends.
Musik
Welter:
Genua, die Stolze. Licht- und Schattenseiten einer Hafenstadt. Kirstin
Hausen hat die Reportagen aus Genua recherchiert und geschrieben, die
Literaturauszüge haben wir dem Buch "Kalter Wind in Genua" von BrUNO
Morchio entnommen. Musikauswahl: Babette Michel. Für Ihr Interesse an
den Gesichtern Europas dankt Ursula Welter, mit den besten Wünschen
für dieses Wochenende.
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