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1 Deutschlandfunk GESICHTER EUROPAS Samstag, 6. November 2010 - 11.05 – 12.00 Uhr Genua, die Stolze - Geschichten einer Hafenstadt Mit Reportagen von: Kirstin Hausen Redakteurin am Mikrofon: Ursula Welter Musikauswahl: Babette Michel Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar – Licht- und Schattenseiten. Das sind stets die zwei Seiten einer Medaille, wenn es um Hafenstädte geht: Das eine sind die grandiose Lage am Meer und die guten Geschäfte, die sich damit machen lassen. Das andere ist das Elend, das mit dem Kommen und Gehen, dem Unsteten einer Hafenstadt verbunden ist. Genua macht da keine Ausnahme. Genua, die Stolze. Geschichten einer Hafenstadt. Mit Reportagen von Kirstin Hausen. Zu den Gesichtern Europas begrüßt Sie Ursula Welter.

GESICHTER EUROPAS Genua, die Stolze - Geschichten einer ... · Für Genua war er ein Bezugspunkt, ein charismatischer Mann, ... Geburtstag beschloss er, in Europa Arbeit zu suchen,

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Deutschlandfunk

GESICHTER EUROPAS

Samstag, 6. November 2010 - 11.05 – 12.00 Uhr

Genua, die Stolze -

Geschichten einer Hafenstadt

Mit Reportagen von: Kirstin Hausen Redakteurin am Mikrofon: Ursula Welter

Musikauswahl: Babette Michel

Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar –

Licht- und Schattenseiten. Das sind stets die zwei Seiten einer Medaille,

wenn es um Hafenstädte geht: Das eine sind die grandiose Lage am Meer

und die guten Geschäfte, die sich damit machen lassen. Das andere ist

das Elend, das mit dem Kommen und Gehen, dem Unsteten einer

Hafenstadt verbunden ist. Genua macht da keine Ausnahme.

Genua, die Stolze. Geschichten einer Hafenstadt. Mit Reportagen von

Kirstin Hausen. Zu den Gesichtern Europas begrüßt Sie Ursula Welter.

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"Genu" , das Knie – so entstand womöglich der Name der Stadt, die wie

ein Knie die Linie der ligurischen Küste nachzeichnet. Mal unabhängig, mal

fremdbeherrscht, war die Geschichte Genuas stets bewegt. Und bis heute

ist Genau einer der wichtigsten Häfen Italiens. Aber der Niedergang der

Schwerindustrie des Landes hat seine Spuren hinterlassen, alte

Produktionsstätten zerfallen - und doch läßt die Architektur der Stadt, hie

und da, den Glanz früherer Zeiten aufblitzen. Vor dem Hintergrund dieser

Kulisse sucht die Stadt eine neue Identiät.

Die Geschichte Genuas ist die Geschichte einflussreicher Familien.

Boccanegra, Espinola, Grimaldo, Sopranis – die großen Familien handelten

mit Wein, Leder, Olivenöl und häuften so gewaltigen Reichtum an.

Wunderschöne Palazzi mit Innenhöfen und Gärten zeugen von dieser Zeit,

sie alle stehen in Genova Alta, der Oberstadt. Und bis heute blicken von

hier die Bessergestellten auf die Altstadt mit ihren schmutzigen Gassen

hinab.

Reportage 1:

Schöne Künste im Palazzo: die Enkelin eines Genueser Reeders

Buchpräsentation in der Beletage des Palazzo Reale. Eine bekannte

Kunsthistorikerin stellt die Neuerscheinung des Museums vor. Ein reich

bebildertes Buch über die Werke von Valerio Castello, einem Genueser

Maler des 17. Jahrhunderts. Unter Deckenfresken und filigranen

Stuckdekorationen hat sich ein illustrer Kreis von Kunstkennern

versammelt. Die meisten gehören zur Genueser Oberschicht, das

Durchschnittsalter liegt jenseits der 50. Eine Frau, die mit ihren 43 Jahren

den Schnitt senkt, heißt Anna Orlando und sitzt in der ersten Reihe. Sie

hat perfekt frisierte schulterlange Haare mit blonden Strähnen und trägt

ein dunkles Wollkleid. Darüber einen Mantel, der mehr sportlich als

klassisch ist, aber sicher nicht billig war. Sie hat an dem Buch

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mitgearbeitet und schaut zufrieden auf die voll besetzen Bankreihen hinter

ihr.

Kaum hat die Kunsthistorikerin ihren Vortrag beendet, drängen die

Besucher nach vorne, um Anna Orlando die Hand zu schütteln und

Komplimente zu machen.

Man kennt sich, man grüßt sich mit einem gehauchten Kuss auf die

Wange. Anna Orlando ist eine versierte und gefragte Expertin für

Genueser Kunst der vergangenen Jahrhunderte. Sie ist inmitten wertvoller

Gemälde aufgewachsen.

Ich bin in eine Familie hineingeboren worden, die jemanden vorweisen

kann, der für die Geschichte dieses Landes von großer Bedeutung war.

Angelo Costa, mein Großvater, war Präsident des Industriellenverbandes

und hat als Unternehmer die italienische Wirtschaft nach dem Krieg

geprägt. Für Genua war er ein Bezugspunkt, ein charismatischer Mann,

der oft um Rat gebeten wurde. Er saß in verschiedenen Verwaltungsräten

und war darüber hinaus ein großer Kunstsammler. Er begann in den 50er-

Jahren antike Gemälde Genueser Maler zu sammeln. Er hatte den Willen

und die finanziellen Möglichkeiten, das im großen Stil zu tun.

Mit Stolz erzählt Anna Orlando von ihrem berühmten Großvater, der starb

als sie noch ein Kind war.

"Er war ein typischer Genuese. Er hatte auch einen starken Genueser

Akzent und wenn er im Industriellenverband oder bei sonstigen

öffentlichen Auftritten sprach, dann würzte er seine Reden gerne mit

dialektalen Ausdrücken, damals sprach man noch mehr Dialekt als heute.

In Rom, wo er oft zu tun hatte, hieß es, sein einziger Fehler sei dieser

starke Akzent."

Anna Orlando öffnet ihre Handtasche und holt ein zierliches Goldetui

hervor. Sie entnimmt ihm eine Zigarette und ein kleines Feuerzeug mit

ihren Initialen, dann geht sie schnellen Schrittes die breite Treppe hinab

und tritt in den Garten des Palazzo. Die Aussicht auf das Meer ist

überwältigend, am Horizont fährt winzig klein ein Schiff. Keine

Menschenseele ist zu sehen zwischen den geharkten Blumenrabatten,

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oben werden bereits Sekt und Häppchen serviert. Anna Orlando zündet

sich ihre Zigarette an und blickt versonnen in den flammend roten

Sonnenuntergang.

Genua ist ein Ort, von dem man aufbricht. Oft genug mit Wut im Bauch,

weil diese Stadt keine Möglichkeiten schafft und gute Ideen nicht

prämiert. Aber jeder, der Genua verlässt, kann es nicht erwarten,

zurückzukehren. Wir haben dieses Klima, dieses Meer, den Wind, den du

fühlst, der dir unter die Haut geht, ob er nun vom Meer oder aus den

Bergen kommt, irgendwann kannst du nicht mehr ohne ihn sein. Die

jungen Leute gehen heute in Scharen weg, aber viele kommen zurück. Sie

bringen Erfahrungen mit, die die Stadt bereichern.

Auch Anna Orlando hat viele Jahre nicht in Genua gelebt. Florenz, Madrid,

die weite Welt.

So wie die Kreuzfahrtschiffe der Reederei Costa heute noch überall

anlegen, hat auch die Enkelin des Reeders Station gemacht in den

Metropolen Europas und in den USA.

"Ich hatte das Glück, mir meinen Weg wählen zu können. Meine Eltern

haben nie von mir verlangt, zu arbeiten und produktiv zu sein. Wenn ich

meine Arbeit im Kulturbetrieb heute gut mache, dann liegt das daran,

dass ich zu nichts gezwungen wurde. Ich liebe die alten Genueser Maler

und werde häufig um fachlichen Rat gefragt. Außerdem setze ich mich für

Kunst und Kultur im Allgemeinen in meiner Heimatstadt ein, aber mein

tägliches Brot ist die Genueser Malerei. Und das verdanke ich einerseits

meinem Großvater, der dafür gesorgt hat, dass ich inmitten von Gemälden

aufwuchs, und andererseits meinem Drang, mich in der Welt

umzuschauen und eine andere Perspektive einzunehmen."

Die Zigarette ist verglimmt, die Sonne im Meer verschwunden. Anna

Orlando fröstelt. Sie klopft sich imaginären Staub vom Mantel und verlässt

den Garten des Palazzo Reale. Am Fuß der Treppe zur Beletage trifft sie

auf eine gute Freundin.

Carla Viale leitet ein Kommunikationsbüro in Genua und arbeitet bei der

Promotion kultureller Anlässe immer wieder mit Anna Orlando zusammen.

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Die beiden Frauen haben sich länger nicht gesehen und nach einem

verschwörerischen Blickwechsel ist klar: statt zu dem langweiligen

Sektempfang oben werden sie in eine angesagte Austern-Bar am alten

Hafen gehen. Manche Dinge werden heute nicht mehr in den

altehrwürdigen Mauern antiker Palazzi besprochen, das ist sogar in Genua

vorbei.

Musik

Literatur Teil 1:

Samstagmorgen. Mistral. In der Ferne zieht der Wind Furchen durch das

Meer. Wie Perlen heben sich die Schaumkronen von der blauen

Wasserfläche ab, bevor sie einen Wimpernschlag später wieder

verschwinden. Der vom Wind blank geputzte Himmel strahlt in einem

leuchtenden Türkis, das dem Betrachter fast den Atem nimmt. Genua und

der Wind. Zwei launische Gesellen, die nicht müde werden, miteinander zu

spielen. Unartig und lästig.

Der Wind bläst unter die Mäntel und die Röcke der Frauen, die an diesem

kalten Dezembermorgen dick eingemummelt durch die Straßen hasten,

als würden sie dem Wind davonlaufen wollen. Papierschnipsel, Staub und

Blätter tanzen in wilden Wirbeln über die Straße und taumeln zwischen

einer Bö und der nächsten auf den Asphalt zurück. Kaum setzt die Musik

des Windes wieder ein ,wird alles erneut hochgewirbelt und der Tanz

beginnt von vorne.

Musik

Genuas Altstadt ist ein Labyrinth . Die Gassen sind teilweise so schmal,

dass ausweichen unmöglich ist. Drogendealer, Diebe und Prostituierte

fühlten sich stets angezogen von den engen Winkeln. Auch die Ratten.

Laut, feucht und schmutzig –gutsituierte Genuesen setzten keinen Fuß in

diese Gegend. Bis 1992. Mit dem Kolumbus-Jahr kam die Wende für

Genuas Altstadt. Zum 500. Jubiläum der Entdeckung Amerikas floss Geld

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in den Umbau des Alten Hafens und der historischen Altstadt. Fast 1,3

Milliarden Euro. Eine gelungene Investition. Die Besucherzahlen stiegen

stetig an und als Genua 2004 auch noch europäische Kulturhauptstadt

wurde und die UNESCO 2006 Teile der Altstadt zum Weltkulturerbe

erklärte, war die Sache perfekt. Heute gelten die Bars und Clubs als "hip",

und wer sich abends vergnügt sieht nicht, was es auch noch gibt in der

Altsadt Genuas ... ..:

... ..die Schattenseiten - unsanierte Straßenzüge mit Häusern ohne

Heizung und mit Toilette auf dem Gang. Von den Fassaden bröckelt der

Putz und dahinter sieht es noch schlimmer aus. Hier leben vor allem

Armutsflüchtlinge aus Afrika und Südamerika, die in Genua ein besseres

Leben suchen.

Reportage 2:

Verkaufen, essen schlafen – das harte Leben eines afrikanischen

Einwanderers

800 Gramm gefrorener Fisch mit Schwanzflosse kosten drei Euro 20, die

junge dunkelhäutige Frau hinter der Theke trennt mit einer elektrischen

Säge den Fischkopf ab und legt ihn zurück in die Tiefkühltruhe. Im Laufe

des Tages wird sie ihn verschenken, an einen der vielen Afrikaner, die bei

ihr einkaufen wollen, aber kein Geld haben. Jetzt ist es noch früh und ihr

kleiner Lebensmittelladen wimmelt von fliegenden Händlern, die sich ein

paar Kekse kaufen oder auch nur Hallo sagen. Einer von ihnen heißt

Abeeku, ist 26 Jahre alt und aus dem Senegal.

..ich bin seit acht Jahren hier und es geht mir nicht gut. In acht Jahren

habe ich keinen einzigen italienischen Freund gefunden. Die Leute sind so

misstrauisch, sie denken alles Mögliche über uns Afrikaner, das ist nicht in

Ordnung. Ich bin offen für andere, aber ich habe es in acht Jahren nicht

geschafft, auch nur einen italienischen Freund zu finden. Meine Freunde

sind entweder Afrikaner oder Südamerikaner.

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Abeeku schaut in die schwarzen Gesichter um ihn herum. In den Augen

tiefe Sehnsucht. Nach einem besseren Leben? Kopfschütteln. Das haben

sie abgeschrieben. Nach einer Heizung, die funktioniert? Einem Zimmer,

das sie nicht mit fünf anderen teilen müssen? Schon eher. Die meisten

sind so alt wie Abeeku, einige jünger. Sie tragen Wollmützen und

zerschlissene Anoraks. Gebeugt verlassen sie das Lebensmittelgeschäft,

bepackt mit afrikanischen Tüchern in leuchtenden Farben, billigen Uhren,

Feuerzeugen, Schirmen und gefälschten Designertaschen, die sie für zehn

bis fünfzehn Euro verkaufen. Abeeku steuert den alten Hafen an, er hofft,

dort auf kauffreudige Touristen zu stoßen.

Das ist hier alles für die Touristen auf Vordermann gebracht worden, aber

Genua ist auch eine Stadt für Touristen, die bringen Geld und ich finde es

in Ordnung, dass der alte Hafen saniert wurde, mir gefällt er sehr.

Auf der Promenade am Yachthafen haben bereits ein paar Kollegen ihre

Waren ausgebreitet. Abeeku wirft ein buntes Tuch zu Boden und platziert

seine Schätze. Er tut es mit Sorgfalt. Rechts die Taschen, links die

Schirme, in der Mitte der Kleinkram. Seine Blicke schweifen umher.

Ununterbrochen sucht er die Umgebung nach Polizisten ab, bereit, in

Windeseile alles einzupacken und wegzulaufen.

" Das ist ungerecht. Jedes Mal, wenn die Polizei auftaucht, müssen wir

flüchten wie die Hasen und gefährlich ist es auch. 138 00:38 Vor kurzem

ist eine alte Frau umgerannt worden, sie musste sogar ins Krankenhaus.

So kann es nicht weitergehen.

Zwei Stunden später . Abeekus Augen wandern immer noch aufmerksam

umher. Aber Polizisten sind nicht zu sehen, allerdings auch kaum

Touristen. Nur ein paar Feuerzeuge und Manschettenknöpfe zu ein Euro

50 das Stück hat er bisher verkauft. Es geht auf Mittag zu. Menschen mit

Laptoptaschen und Handy am Ohr eilen an Abeeku und den anderen

afrikanischen Händlern vorbei, sehen sie nicht an.

Italien hat beim Thema Immigration versagt. Das Land ist nicht bereit,

Einwanderer aufzunehmen. Es gibt keine seriöse Politik, jeder wurschtelt

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vor sich hin und heraus kommen dabei Gesetze, die rassistisch und

ausländerfeindlich sind. Die bringen am Ende überhaupt nichts."

Abeeku massiert sich die Fingerknöchel. Seine Hände haben Schwielen,

die Haut ist rissig. Es ist kalt. Seine Mutter stammte aus Ghana, sie starb

bei der Geburt. Abeeku wuchs bei der Großmutter in Dakar auf, wie seine

beiden älteren Schwestern, die inzwischen auch Kinder haben, aber keinen

Mann. An seinem 18. Geburtstag beschloss er, in Europa Arbeit zu suchen,

um den Frauen Geld schicken zu können. Wie genau er es ohne Papiere

bis nach Genua schaffte, will er nicht sagen.

Eine junge Frau schlendert heran, wirft einen Blick auf Abeekus Taschen.

Der Senegalese ermuntert sie, eine hochzunehmen und genauer zu

inspizieren. Doch sie ist bereits beim Händler nebenan und fixiert einen

hellgrauen Trenchcoat, angeblich Markenware, in Wahrheit gefälscht.

Die Frau zückt einen 50-Euro-Schein, viel zu viel für diesen Trenchcoat,

der schlecht geschnitten ist und bereits Fäden zieht. Bevor sich Abeeku

darüber ärgern kann, begrüßt ihn ein Freund.

Die beiden beschließen, zusammen Mittag essen zu gehen. Das macht

Abeeku selten, er verkauft lieber bis vier, fünf Uhr und isst dann. Eine

warme Mahlzeit am Tag muss reichen. Aber sein Freund lädt ihn heute

ein. Er hat anscheinend gut verdient, aus seiner Hosentasche lugen ein

paar Geldscheine.

Die Männer drehen dem Hafen den Rücken zu und verschwinden in einer

handtuchbreiten Gasse, die als Durchschlupf zur Via Pré dient. Hier

beginnt Afrika. Marokkanische Couscous-Imbisse reihen sich an Internet-

und Telefoncafes, dazwischen islamische Metzgereien und winzige

Lebensmittelläden. Die Türen stehen überall offen. In den Geschäften

bedienen meist Frauen, die Straße aber gehört den Männern. Sie stehen in

Grüppchen herum oder sitzen auf den Treppen der Hauseingänge: kauen,

spucken, schauen. Vor einer mächtigen Eisentür bleiben Abeeku und sein

Freund stehen.

"Hier drin ist ein illegales Restaurant, geführt von Senegalesen"

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Im Hausflur riecht es nach Schimmel und Urin. Der Fliesenboden ist

zerbrochen, das Treppengeländer morsch. Im 2. Stock ist eine

Wohnungstür einen Spalt weit geöffnet.

Gebratenen Reis mit Huhn und Gemüse gibt es heute, erklärt die

Hausherrin, eine etwa 50jährige Senegalesin mit wild aufgetürmter

Haarpracht. Sie nimmt eine ovale Servierplatte und füllt sie großzügig.

Das ist die einzige akzeptable Wohnung in diesem Haus, die anderen sind

fürchterlich heruntergekommen. Die Frauen halten hier alles in Schuss,

aber bei den anderen kann man nicht reingehen, da leben 15 Menschen

auf engstem Raum zusammen, menschenunwürdig ist das."

Wütend schlägt Abeekus Freund seine Zähne in den Hühnchenflügel, dann

schaufelt er den Reis sich hinein. Abeeku lässt den halbvollen Teller

stehen. Er ist müde. Die Hausherrin bedeutet ihm, auf dem Sofa ein

Nickerchen zu machen. Mütterlich streichelt sie ihm über die Wange. Ein

bisschen Wärme an einem kalten Tag in Genuas Altstadt.

Musik

Literatur Teil 2.

Ich lehne an der Mauer des Corso Carbonara und blicke nach unten. Von

hier oben hat man eine großartige Aussicht über den Hafen und den

Borgo, den Teil der Altstadt zwischen der Loggia di Banchi und dem alten

Staddtor Porta di Vacca. Ein graues Gewirr windschiefer Dächer, zwischen

denen sich das enge Netz der Carruggi ausbreitet, der schmalen dunklen

Gassen, wo die Sonne nur zur Mittagszeit vorsichtig hineinlugt. Flankiert

vom mächtigen Maritone-Hochhaus und dem Aussichtsturm Il Bigo

erkenne ich die Stazione Marittima und die Darsena-Werft. Hier liegt es:

Das vom Mistral blank geputzte Genua.

Musik

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Genuas Suche nach einer neuen Identität schließt den Tourismus mit ein.

Die Fährverbindungen von und nach Genua sind zahlreich und ein

wichtiger Faktor im Wirtschaftsleben der Stadt und der Region geworden.

Aber die Fähren transportieren längst nicht mehr nur Urlauber, laufen

nicht mehr nur die Küstenstädte Sardiniens, Korsikas und Siziliens an.

Nordafrika gehört längst in den Kanon der Linien, die die Schiffe auf ihren

Wegen von Küste zu Küste ziehen.

Mehrmals pro Woche laufen Fähren aus Marokko und Tunesien in Genua

ein. Sie befördern Hunderte von afrikanischen Immigranten, die in Italien,

Frankreich, Deutschland oder der Schweiz leben. Mit ihnen Hausrat aller

Art. Die Autos, die sich aus dem Bauch des Schiffes über die Rampe an

Land quälen, sind voll bepackt mit Möbeln, Kunsthandwerk und

Lebensmitteln aus der Heimat. Für die Polizisten am Kai beginnen mit dem

Anlegen des Fährschiffes zwei intensive Stunden.

Reportage 3:

Gewürze, Mehl und Kokain: bei der Drogenfahndung am Hafen

Im Schritttempo rollen die Autos über zwei vorgezeichnete Linien auf die

Kontrollposten der Polizei am Hafen zu. Die meisten Passagiere der MS

Blizzard aus Tanger halten ihre Papiere bereits in den Händen:

Personalausweis und Aufenthaltsgenehmigung. Durch das

heruntergelassene Autofenster reicht ein dunkelhäutiger Mann mit müden

Augen seine Dokumente einem jungen Polizisten, der in einer Art

Mauthäuschen sitzt. Er hat einen Laptop vor sich und gibt die Personalien

des Marokkaners in die polizeiliche Datenbank ein.

Alles in Ordnung, der Mann ist bei einer Baufirma in Mailand als Maurer

beschäftigt. Der Polizist wirft noch einen Blick auf Führerschein und

Fahrzeugpapiere. Dann winkt er das Auto durch. Sein Chef schaut ihm

über die Schulter.

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"Jeder, der das Schiff verlässt, muss an einem dieser drei

Kontrollhäuschen vorbei. Das ist unsere erste Kontrolllinie. Hier

kontrollieren wir, dass niemand illegal einreist, dass die Autos nicht

gestohlen sind und der Versicherungsschutz noch gültig ist."

Guglielmo Santimone, Vicequestore aggiunto, und damit ein Stellvertreter

des Polizeipräsidenten, ist ein Polizist, wie er italienischer nicht sein

könnte. Hoch aufgerichtet, die Hände auf dem Rücken verschränkt,

verfolgt er mit Argusaugen, was passiert. Die dunkelblaue Uniform blitzt

vor Sauberkeit, darunter trägt er ein blütenweißes Hemd. Am kleinen

Finger ein Brillantring, am Handgelenk eine Rolex, die ihm seine

Kommilitonen zum Abschluss des Jurastudiums geschenkt haben. Der

Fünfzigjährige hat Anti-Mafia- und Anti-Terrorismus-Einheiten geleitet,

seinem Blick entgeht nichts.

"Wenn wir hier eine Unregelmäßigkeit feststellen, zum Beispiel, dass der

Pass gefälscht ist, dann geben wir diese Information an die zweite

Kontrolllinie weiter. Der zuständige Unteroffizier stoppt den Wagen dann

erneut und verweigert die Einreise."

Ausweis um Ausweis wird kontrolliert und mit dem obligatorischen

Einreisestempel versehen. Routine.

"Siebenhundert Mal die gleichen Fragen, ohne Übertreibung, von diesem

Schiff gehen 700 Menschen an Land. Siebenhundert Mal verstehen die

Passagiere unsere Fragen nicht und wir wiederholen sie geduldig. Auch

dann, wenn wir provoziert werden, weil es jemandem nicht schnell genug

geht. Meine Leute halten sich vor Augen, dass diese Menschen eine lange

Reise hinter sich haben und müde sind."

Guglielmo Santimone hat sich in 25 Jahren Polizeidienst seine Sensibilität

bewahrt. Das Schicksal der afrikanischen Einwanderer, die in Italien oft

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genug für wenig Geld schwer arbeiten berührt ihn, deshalb legt er Wert

auf Freundlichkeit. Doch plötzlich versteift sich sein Rücken. Die Augen

werden zu Schlitzen, sie saugen sich am Bildschirm fest.

"Das ist ein Mafioso" murmelt er und zeigt auf den Vermerk, den die

Datenbank gerade ausgespuckt hat. Der Marokkaner hinter dem Steuer

trommelt nervös auf sein Lenkrad.

Der Vicequestore winkt ihn aus der Schlange und fragt nach seinen

Vorstrafen.

Zigarettenschmuggel vor vielen Jahren, mehr nicht, sagt der Marokkaner

mit einem Achselzucken, aber Guglielmo Santimone gibt sich damit nicht

zufrieden.

Er holt zwei seiner Mitarbeiter und eine Vertreterin der Finanzpolizei hinzu.

Während Santimone mit dem Marokkaner redet, liegen seine Mitarbeiter

bereits unter dem Auto. Sie klopfen die Hohlräume ab, öffnen die

Türverschalung.

Dann geht es ans Gepäckausladen. Mehrere Koffer, eine Sporttasche und

jede Menge Plastiktüten landen auf dem Asphalt.

Eine enthält kiloweise Mandeln, die nächste Pistazien und Nüsse, dazu

Sesamkörner und Gewürze, jeweils einzeln abgepackt. Ein Polizist

schnuppert an jeder Tüte, lässt den Inhalt durch seine Hand rieseln.

"Das ist normal. Unglaublich, was die alles nach Italien mitbringen."

Ein belustigtes Kopfschütteln und die Suche geht weiter.

Atmo von Durchsuchung 338 1:10

Noch mehr Tüten, noch mehr Gewürze. Doch dann, in der letzten kleinen

Plastiktüte, kommt ein weißes Pulver zum Vorschein, das die

Finanzpolizistin erstarren lässt.

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"Das ist Mehl" sagt Guglielmo Santimone lässig und probiert. In der Tat:

Mehl. Aber verdächtig ist ihm dieser Transport trotzdem.

"Das Auto dort hinten könnte ihn decken. Wenn er die Grenze passiert,

folgen sie ihm bis zu seinem Bestimmungsort, wo er die Drogen abliefern

muss. Ich hab das im Gefühl, meine Erfahrung sagt mir, das hier was

nicht stimmt."

Santimone würdigt den verdächtigen Jaguar keines Blickes, aber er gibt

dem Mitarbeiter, der das Gepäck durchsucht hat, ein Zeichen.

"Ein Wettlauf ist das, zwischen ihnen und uns", sagt der und

benachrichtigt die Kollegen mit den Polizeihunden.

"Was uns verdächtig vorkommt, sind all diese Gewürze, die er dabei hat.

Die eignen sich nämlich dazu, die Hunde zu verwirren. Er ist der arme

Teufel, der den Stoff über die Grenze bringen muss und das Risiko auf sich

nimmt. Natürlich bekommt er dafür Geld, aber die Herren dort in der

Limousine verdienen weit mehr. Jetzt greift er zum Handy und sagt ihnen

Bescheid, dass er die Grenze passiert hat. Wir werden ihn am Ausgang

des Hafenareals erneut abfangen und dann nehmen wir das Auto wirklich

auseinander"

Auch die Männer im Jaguar werden um eine eingehende Befragung nicht

herumkommen. Und wenn sie tatsächlich vor wenigen Minuten einen

Anruf vom Handy des Marokkaners erhalten haben, dann sitzen sie in der

Bredouille. In den Augen des Vicequestore Guglielmo Santimone blitzt

Genugtuung auf. Aber dann richtet er seine Aufmerksamkeit wieder auf

die Fahrzeugschlange, die das Kontrollhäuschen noch nicht passiert hat.

Seine Arbeit ist noch längst nicht getan. 300 Passagiere müssen noch

abgefertigt werden. Atmo hoch

Musik

Literatur Teil 3:

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Sonntagnacht im Porto Antico. Keine Menschenseele weit und breit. Eisige

Windböen lassen die Wellen gegen die Kaimauern klatschen. Wo früher die

Güter der vor Anker liegenden Schiffe gelöscht wurden, kann man heute

herrlich spazieren gehen, direkt am Wasser. Kleine Sportboote liegen hier,

schnelle Cruiser, Segelboote, Lotsenboote und Barken. Der Buran zerrt an

den Ankertauen, quält die Wanten und rüttelt an den Masten, immer

wiederkehrende, klagende Geräusche, die sich im Dunkeln verlieren. Die

Schiffe schwanken hin und her und der Widerschein ihrer abgeblendeten

Lichter tanzt auf dem schwarzen Wasser. Wer heute Nacht unter Deck

schläft, wird keine Ruhe finden.

Wie ein Amphitheater öffnet sich Genua zur Meerseite. Die Stadt zieht sich

mit ihren Außenbezirken über Kilometer an der Küste entlang , felsige

Abschnitte wechseln sich mit Sandstränden ab. Die westlichen Stadtteile

in Richtung Ventimiglia und französischer Grenze sind von den Überresten

der Schwerindustrie geprägt, die hier zwei Jahrhunderte lang für volle

Lohntüten und rauchende Schornsteine sorgte. Denn mit der

Industrialisierung Italiens im 19. Jahrhundert begann die

Industrialisierung Genuas. Arbeiter aus Süditalien wanderten in großer

Zahl ein, weil es Arbeit im Überfluss gab. Es entstanden Eisen- und

Stahlwerke und ,im ersten Weltkrieg, Kanonen- und Munitionsfabriken.

Später wurden die Schiffswerften von Genua weltweit bekannt, weil sie

gewaltige Atlantikkreuzer bauten, mit denen Auswanderer nach New York

gelangten.

Von den glorreichen Zeiten ist wenig geblieben: Zerfallene Fabrikgebäude

gibt es hier, Brachland und eine Hinterlassenschaft, die nicht so

augenfällig ist:

Reportage 4:

Umweltsünden im Paradies: das dreckige Vermächtnis einer Fabrik

am Meer

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Der Strand von Cogoleto, kaum 20 Kilometer westlich vom Stadtzentrum

Genuas. Im Sommer ist er ein beliebtes Ausflugsziel für die Großstädter,

heute, an einem nasskalten Herbsttag, ist er fast menschenleer. Nur zwei

Männer in Jeans und Windjacken graben im Sand.

Sie tragen die oberste Schicht Sand ab und stoßen darunter auf rostrote

Klumpen.

Das ist Chrom. Genauer gesagt, Spuren einer Chromverbindung, die in

Gerbereien benutzt wird. Bis vor zehn Jahren war der Strand von Cogoleto

kein Strand, sondern Teil der Chemiefabrik Stoppani, die hier unter

anderem Chromsalz zur Behandlung von Leder herstellte. Die mit

Umweltgiften belasteten Abwässer wurden lange Zeit ungefiltert ins Meer

geleitet. Chrom hat in Gewässern eine durchschnittliche Lebensdauer von

11.000 Jahren. Es ist krebserregend und schädigt beim Einatmen oder

Verschlucken die Atemwege.

Die Männer graben nicht mehr, sondern machen Fotos. Fotos von einem

Umweltskandal, den in Genua jeder kennt, der aber kaum jemanden

aufregt. Anders Enrico, ein freiberuflicher Parkettleger und Christian

Abbondanza, Kulturschaffender, DJ und Präsident des spendenfinanzierten

Vereins "Casa della legalità", der Umweltsünden in Ligurien öffentlich

macht. Er ist knapp über 40, hat wuscheliges grau-braunes Haar, ein

schmales Gesicht und einen durchdringenden Blick. Wütend zeigt er auf

den verseuchten Boden, der sich unter dem Sand verbirgt.

" Das ist wirklich ekelhaft. Aber im Sommer, wenn die Badegäste mit

ihren Sonnenschirmen kommen und die Kinder im Sand spielen, fällt das

niemandem auf. 0:30 Jemand, der die Geschichte dieses Ortes nicht

kennt, will ein paar unbeschwerte stunden am Meer verbringen, er bringt

seine Kinder mit und ahnt nicht, dass er sich hier vergiftet."

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Schon seit Jahren beklagen Christian und seine Mitstreiter diese Situation.

Auf der Internetseite des Vereins haben sie die Geschichte der Fabrik

detailliert rekonstruiert.

"Die Fabrik wurde vor knapp zehn Jahren geschlossen, weil die

Eigentümer die Produktion nach Brasilien verlagerten. Das verseuchte

Gelände haben sie einer Firma geschenkt, die sich im Gegenzug um die

Sanierung des Bodens kümmern sollte. Diese Firma wollte hier eine Reihe

von Häusern bauen und so an der ganzen Sache verdienen. Die

umweltschädlichen Substanzen wurden allerdings nicht abgetragen und

ordnungsgemäß entsorgt, sondern einfach auf dem Gelände vergraben.

So wie hier am Strand. Christian zeigt auf einen Fußballplatz, der weiter

nördlich angelegt wurde. Wer hier gegen den Ball kickt, hat einen

fantastischen Blick auf das Meer. Und eine toxische Zeitbombe unter den

Füssen, meint Christian. Zahlen über Krebserkrankungen und Todesfälle,

die auf den Kontakt mit den chemischen Altlasten der Fabrik

zurückzuführen sind, kann er nicht nennen. Es fehlt an den

entsprechenden Statistiken.

"Sowohl Stadt- als auch Provinzregierung von Genua weigern sich, eine

Erhebung durchzuführen, um festzustellen, wie viele Menschen erkrankt

oder gestorben sind, weil sie in Kontakt mit Schadstoffen wie Chromkali

oder Asbest gekommen sind. Mit diesen Substanzen, hat die Stoppani-

Fabrik hier den Boden verseucht. Sie weigern sich, weil das Ergebnis

erschütternd wäre. Aber solange es keine offizielle Erhebung gibt, kann

man eine Fabrik wie die Stoppani nicht auf Totschlag verklagen."

Für die Umweltschäden wurden die Verantwortlichen aber sehr wohl vor

Gericht gestellt. In der ersten Instanz ist das Urteil milde ausgefallen,

trotzdem sind die Angeklagten in die zweite Instanz gegangen. Der

Prozess läuft noch.

Bis das Urteil in zweiter Instanz gefällt werden kann, wird diese Straftat

verjährt sein.

Was man machen kann, ist: die Situation dokumentieren und zu diesem

Zweck sind Christian und Enrico heute hier.

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Unter die Lupe nehmen die beiden Umweltaktivisten auch das lange Rohr,

das am nördlichen Ende der Bucht, Wasser ins Meer einleitet.

"Das Wasser, das dort herauskommt, ist manchmal blau eingefärbt, auf

den Felsen wächst nicht mehr" sagt Christian und ballt die Hände zu

Fäusten.

(6 3:55) Die Zahl der Todesfälle unter den früheren Fabrikarbeitern haben

sie versucht, zu vertuschen. Sie sprachen offiziell von fünf, aber in

Wirklichkeit waren es 35. Nicht eingerechnet die Menschen aus der

Nachbarschaft der Fabrik. Hier können wir nur spekulieren, weil die

Institutionen keine gesicherten Daten haben wollen und die Bewohner

auch nicht. Hauptsache, sie haben ihren Fußballplatz und kauffreudige

Sommerurlauber, dann ist alles gut."

Christian Abbondanza ist hartnäckig. Regelmäßig spricht er die lokalen

Politiker auf den Umweltskandal an, informiert die Medien, organisiert

Bürgerversammlungen. Damit macht er sich nicht nur Freunde.

"Wenn jemand sagt, wie die Dinge wirklich stehen, wird er verklagt."

Aktuell hat er eine Klage wegen Rufschädigung am Hals. Ausgerechnet

von einem Mann, der im dringenden Verdacht steht, zur kalabrischen

Mafia-Organisation Ndrangheta zu gehören. In Polizeiakten taucht dieser

Mann immer wieder in Verbindung mit einem Clan auf, der sich schon vor

Jahren in Ligurien festgesetzt hat. Die Clanmitglieder sind spezialisiert auf

öffentliche Bauaufträge oder die Sanierung verseuchter Industrieflächen.

In Wahrheit überdecken sie die Wunden der Industrialisierung in Genua

und Umgebung nur, sie heilen sie nicht.

So gehen diese Leute immer vor. Sie entsorgen nichts wie es den

Gesetzen entspräche, deshalb sind die Dienstleistungen, die die

Ndrangheta anbietet, ja auch so billig.

Dass Christian Abbondanza darüber so offen spricht, bringt ihn in Gefahr.

Auch, wenn er das mit einem amüsierten Lächeln beiseite wischt. Enrico

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stapft zurück zum Auto, geparkt an der Uferpromenade. Christian lässt

seinen Blick über die Wellen gleiten, die schäumend an den Strand

schlagen. Ein schöner Flecken Erde. Wenn nicht das Gift im Boden wäre.

Musik

Literatur Teil 4:

Von hier unten wirkt die Stadt wie eine übergroße Weihnachtskrippe, die

sich die Hügel hinaufzieht. Dort blinken Myriaden von Lichern, die bei

jedem Windstoß aufflackern und wieder verschwinden. Hoch über den

Neonschildern der Magazzini del Cotone schwenkt die Lanterna, der alte

Leuchtturm von Genua, ihr weithin sichtbares Licht erst über den Palazzo

Millo, dann über die Stadtautobahn und die Piazza Caricamento, weiter

über die Silhouette des Glockenturms von Santa Maria di Castello und die

zerfallenen Zinnen des Torre degli Embriaci bis hin zum etwas abseits

liegenden Campanile di San Giorgio im Westen.

Genua sucht seinen Platz in der neuen Zeit. Das Columbus-Jahr,

internationale Großereignisse und die Ernennung zur Kulturhaupstadt

haben der Stadt dabei Rückenwind gebracht. Das Zusammenspiel

öffentlicher und privater Akteure und Geldgeber hat die Sanierung von

Wohnraum möglich gemacht, hat geholfen, historische Bausubstanz zu

retten und aufzupolieren. Das "Centro Storico" ist zugänglicher und die

vielleicht glücklichste Entscheidung war, die Fakultät für Architektur

mitten in die Altstadt zu verlegen. So zog studentisches Leben hierher,

wenn sich auch mancher Barbesitzer in der Nähe der Fakultät erst an die

vielen jungen Leute gewöhnen musste:

Reportage 5:

"Il capitano" - ein Mann und sein Lokal in der Altstadt

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Ein Lokal so klein wie eine Schiffskombüse. Und rappelvoll. Hinter sechs

Elektro-Herdplatten, die alle in Betrieb sind, steht er: der "Capitano". Sein

Reich ist winzig, aber perfekt organisiert. Anders ginge es gar nicht, jetzt

um kurz nach eins, der mittäglichen Rush hour. In dem Stehimbiss von

Mauro Caccia drängeln sich hungrige Studenten.

"Schaut, was auf der Tafel steht und dann sagt ihr mir, was ihr wollt."

Seine Anweisungen sind kurz und präzise, niemand würde es wagen, dem

Capitano zu widersprechen. Wie er zu diesem Spitznamen kam, weiß er

selbst nicht mehr, aber er mag es, wenn seine Kunden ihn so rufen. Der

Platz hinter den Herdplatten ist seine Kommandobrücke. Weiße Schürze,

kerzengerade Haltung, volle Konzentration. Mauro Caccia ist ganz bei der

Sache. Er backt Crepes, mit süßer oder würziger Füllung, je nach Wunsch

seiner Kundschaft.

Eine jungenhaftes Grinsen, raspelkurzes graues Haar und sorgfältig

gestutzte Koteletten. Mauro Caccia ist eine charismatische Erscheinung.

Dass er die 50 überschritten hat, sieht man ihm nicht an. Er läuft

Marathon und fährt gerne Fahrrad. Ein Auto hat er nicht, braucht er auch

nicht hier in der Altstadt.

Das historische Viertel ist wegen seiner zentralen Lage mit guten

Verkehrsanbindungen sehr praktisch zum arbeiten und wohnen, und es

hat an Prestige gewonnen seitdem die Häuser renoviert wurden, alles

antike Palazzi, die einmal sehr heruntergekommen waren. Früher waren

sie einfach nur alt und vernachlässigt."

Ob schön renoviert oder heruntergekommen – Mauro Caccia liebt die

Altstadtgassen von Genua in jedem Fall, niemals würde er woanders

wohnen wollen.

Es ist jetzt zwei Uhr und der Ansturm der Studenten vorbei.

Zugegeben: ich habe einen etwas rauen Charakter, aber ich bin gern

unter Menschen. Und hier habe ich den ganzen Tag Menschen um mich.

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Ein älterer Herr im Kamelhaarmantel kommt herein und bezieht seinen

Stammplatz direkt neben der Kasse. Weißer Haarkranz, blaues Hemd, das

Jackett etwas altmodisch.

182 Mein Büro ist ganz in der Nähe und ich komme mittags oft hierher,

weil ich hier genau das bekomme was mir schmeckt, 1.15 ich habe hier

schon gewohnt als das Historische Zentrum noch verrufen war, aber es

hat mir früher besser gefallen, da gab es noch kleine Werkstätten und

Tante-Emma-Läden, heute nur noch Bars und Restaurants

Ein Seufzer, ein Blick zu Mauro, der nach Verständnis sucht. Doch der

Capitano schüttelt den Kopf. In die Litanei vieler Genuesen, dass es früher

besser war im Historischen Zentrum, stimmt er nicht ein.

Es waren die jungen Leute, die hier einfielen und für frische Luft sorgten,

danach kamen die Freiberufler: Makler, Rechtsanwälte mit ihren

Kanzleien, sie haben das Historische Zentrum verändert. Die Mentalität

der alten Genuesen hat sich dagegen nicht verändert, sie sind etwas

irritiert durch die rasanten Entwicklungen vor ihrer Haustür. Diejenigen,

die früher schon hier wohnten, zeigen sich alles andere als begeistert von

den jungen Leuten, die dazugekommen sind und abends vor den Bars

herumlärmen. Aber das sind eben Leute von Anfang 20, wir waren auch

einmal jung und so wie wir damals wollen sie sich heute auch amüsieren.

Mit einem Lappen wischt Mauro Caccia die Theke ab, er freut sich über die

jungen Leute, die inzwischen sein Viertel bevölkern. Nur mit ihnen habe

Genua eine Chance, die post-industrielle Depression hinter sich zu lassen

und in Zukunft wieder als bedeutsame Stadt wahrgenommen zu werden,

glaubt er.

Unsere Altstadt ist wunderschön, aber jeder restauriert alleine vor sich

hin, man müsste eine Komplettsanierung der Altstadt machen, so wie es

am alten Hafen geschehen ist. Eine Altstadt wie unsere kann man nicht so

peu à peu restaurieren, denn das, was du vor 20 Jahren saniert hast, ist

heute schon wieder alt, du hinkst also immer hinterher und wirst niemals

fertig. Man müsste alles auf einen Schlag machen, das wäre es!"

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In seine Augen tritt ein kämpferischer Glanz. In früheren Jahren war

Mauro Caccia ein engagierter Kommunist, heute hat die Politik an

Stellenwert verloren. Das Wichtigste in seinem Leben ist Viola, seine

knapp fünfjährige Tochter, die er jetzt von der Schule abholen muss. An

die Glastür seines Lokals hängt er ein Schild: wir öffnen wieder ab sechs

Uhr abends.

Musik

Welter:

Genua, die Stolze. Licht- und Schattenseiten einer Hafenstadt. Kirstin

Hausen hat die Reportagen aus Genua recherchiert und geschrieben, die

Literaturauszüge haben wir dem Buch "Kalter Wind in Genua" von BrUNO

Morchio entnommen. Musikauswahl: Babette Michel. Für Ihr Interesse an

den Gesichtern Europas dankt Ursula Welter, mit den besten Wünschen

für dieses Wochenende.

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