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Masterstudiengang Umweltsysteme und Ressourcenmanagement Gleichungsbasierte Modelle II Dynamik und Selbstorganisation nichtlinearer Systeme Unterlagen zum Gebrauch neben der Vorlesung Horst Malchow Institut f¨ ur Umweltsystemforschung Fachbereich Mathematik/Informatik Universit¨ at Osnabr¨ uck Wintersemester

Gleichungsbasierte Modelle II Dynamik und ... · •Entropie ist monotone nichtfallende Zeitfunktion, die fur große Zeiten asymptotisch¨ maximalen Wert erreicht, der zu Gleichgewichtswerten

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Masterstudiengang Umweltsysteme und Ressourcenmanagement

Gleichungsbasierte Modelle II

Dynamik und Selbstorganisation nichtlinearer Systeme

Unterlagen zum Gebrauch neben der Vorlesung

Horst Malchow

Institut fur Umweltsystemforschung

Fachbereich Mathematik/Informatik

Universitat Osnabruck

Wintersemester

Gleichungsbasierte Modelle II

Autor: Prof. Dr. Horst Malchow

Institut fur Umweltsystemforschung

Fachbereich Mathematik/Informatik

Universitat Osnabruck

Barbarastr. 12

Gebaude 66, Raum 107

49076 Osnabruck

Tel / Fax 0541-969-2499 / 2599

E-Mail [email protected]

http://www.usf.uos.de/index.php?id=1875

ii

Gleichungsbasierte Modelle II Inhalt

Inhaltsverzeichnis

Vorbemerkungen v

1. Empfohlene Fachbucher 1

2. Grundlagen und Beispiele 5

2.1 Zweiter Hauptsatz der Thermodynamik und Selbstorganisation . . . . . . . . . 5

2.1.1 Grundzuge der Theorie irreversibler Prozesse in offenen Systemen. . . 5

2.1.2 Spezialfalle der Hauptsatze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6

2.1.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

2.2 Physikalische dissipative Strukturen . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . 10

2.2.1 Das Experiment von Benard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10

2.2.2 Das Prinzip des Festkorperlasers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

2.3 Chemische Oszillationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . 12

2.3.1 Die Bray-Liebhafsky-Reaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 13

2.3.2 Die Briggs-Rauscher-Reaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .14

2.3.3 Die Belousov-Zhabotinskii-Reaktion . . . . . . . . . . . . . . .. . . 15

2.3.4 Einfache Modelle der Belousov-Zhabotinskii-Reaktion. . . . . . . . . 17

2.3.5 Aktive Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18

2.3.6 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .19

2.4 Geschichte der Forschunguber nichtlineare Phanomene . . . . . . . . . . . . . 21

2.4.1 Zitate und weitere Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . .. . . . . . 23

3. Modellsysteme 27

3.1 Das deterministische und stochastische Schlogl-Modell . . . . . . . . . . . . . 27

3.2 Der deterministische und stochastische Brusselator . . . . . . . . . . . . . . . 35

3.3 Das chaotische Lorenz-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . 40

3.4 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . 44

4. Dissipative Strukturbildung in raumzeitlich kontinuie rlichen Systemen 47

4.1 Reaktion und Diffusion (RD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 47

4.2 Reaktion und Advektion (RA) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .49

4.3 Kombination von Reaktion, Diffusion und Advektion (RDA) .. . . . . . . . . 50

4.4 Lineare RD-Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52

4.4.1 Exponentielles Wachstum und Diffusion . . . . . . . . . . . .. . . . . 52

4.4.2 Exponentielles Wachstum, Diffusion, Konkurrenz undSelektion durch

konstante Gesamtsortenkonzentration . . . . . . . . . . . . . . . . .. 54

4.5 Einkomponentige nichtlineare RD-Systeme . . . . . . . . . . . .. . . . . . . 57

4.5.1 Logistisches Wachstum und Diffusion . . . . . . . . . . . . . .. . . . 57

4.5.2 Bistabile Systeme mit Diffusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . 59

iii

Inhalt Gleichungsbasierte Modelle II

4.6 Mehrkomponentige nichtlineare RD-Systeme . . . . . . . . . . .. . . . . . . 63

4.6.1 Flußinduzierte Instabilitaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65

4.6.2 Entstehung verzweigter und vernetzter Strukturen . .. . . . . . . . . . 74

4.6.3 Parametergradienten und diffusionsinduziertes Chaos . . . . . . . . . . 76

4.7 Biodiffusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79

4.7.1 Klassifikation der Biodiffusion . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . 79

4.7.2 Diffusive Instabilitaten bei repulsiver dichteabhangiger Diffusion . . . 80

4.7.3 Umweltdichte und Umweltpotential . . . . . . . . . . . . . . . .. . . 82

4.7.4 Wachstum und schnelle Diffusion in Umweltpotentialen . . . . . . . . 83

4.8 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . 86

5. Einfachste numerische Methoden 91

5.1 Differentiation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . 91

5.2 Diskretisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 92

5.3 Differentialgleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . 92

5.3.1 Gewohnliche Differentialgleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92

5.3.2 Partielle Differentialgleichungen . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . 93

5.4 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . 95

6. Studienprojekte 97

6.1 Strukturbildung im Segel-Jackson-Modell . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . 97

6.2 Verzweigungen und Netze in einem Gierer-Meinhardt-Modell . . . . . . . . . 97

6.3 Raumzeitliches Chaos entlang eines Nahrstoffgradienten . . . . . . . . . . . . 97

6.4 Locher im Algenteppich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97

6.5 Ausbreitung von virusinfizierten Algen I . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . 97

6.6 Ausbreitung von virusinfizierten Algen II . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . 97

6.7 Raumzeitliches Chaos hinter Rauber-Beute-Wellen . . . . . . . . . . . . . . . 97

6.8 Invasionswellen in einem Rauber-Beute-Modell mit Allee-Effekt . . . . . . . . 98

6.9 Rauber mit verhaltnisabhangiger funktioneller Reaktion auf die Beute . . . . . 98

6.10 Zwei diffusiv gekoppelte Rauber-Beute-Populationen . . . . . . . . . . . . . . 98

6.11 Chaos hinter jagenden Raubern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98

6.12 Diffusive Instabilitaten und Strukturen in heterogenen Landschaften . . . . . . 98

6.13 Rauber mit verhaltnisabhangiger funktioneller Reaktion auf die Beute . . . . . 98

6.14 Konkurrenz und Invasion in variabler Umwelt . . . . . . . . .. . . . . . . . . 98

6.15 Heterogene Ausbreitung von Neobiota und deren Kontrolle . . . . . . . . . . . 99

6.16 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . 99

7. Zusammenstellung der Literaturhinweise aus allen Kapiteln 101

iv

Gleichungsbasierte Modelle II

Vorbemerkungen

Die Veranstaltung”Gleichungsbasierte Modelle II: Dynamik und Selbstorganisation nichtlinea-

rer Systeme“ ist fur Studierende des Masterstudienganges”Umweltsysteme und Ressourcen-

management“ konzipiert.

Das vorliegende Skript ist von der entsprechenden Veranstaltungsseite unter STUD.IP als PDF-

und komprimiertes Postscriptfile herunterzuladen. Ich bitte um Verstandnis, daß es standiger

Veranderung unterliegt.

Horst Malchow

v

Gleichungsbasierte Modelle II

vi

Gleichungsbasierte Modelle II 1. Empfohlene Fachbucher

1. Empfohlene Fachbucher

Grundlagen

Haken, H. (1981).Erfolgsgeheimnisse der Natur.DVA, Stuttgart.

Haken, H. (1990).Synergetik. Eine Einfuhrung.Springer, Berlin.

Haken, H., Wunderlin, A. (1991).Selbststrukturierung der Materie.Vieweg, Braunschweig.

Nicolis, G., Prigogine, I. (1977).Self-organization in nonequilibrium systems.Wiley, New

York.

Nicolis, G. (1995).Introduction to nonlinear science.Cambridge University Press, Cambridge.

Prigogine, I. (1979).Vom Sein zum Werden.Piper, Munchen.

Prigogine, I., Stengers, I. (1981).Dialog mit der Natur.Piper, Munchen.

Acheson, D. (1999).Vom Calculus zum Chaos.Oldenbourg, Munchen.

Ebeling, W., Feistel, R. (1982, 1986).Physik der Selbstorganisation und Evolution.Akademie-

Verlag, Berlin.

Feistel, R., Ebeling, W. (1989).Evolution of complex systems: self-organization, entropyand

development.DVW, Berlin und Kluwer, Dordrecht.

Ebeling, W., Engel, A., Feistel, R. (1990).Physik der Evolutionsprozesse.Akademie-Verlag,

Berlin.

Ebeling, W., Feistel, R. (1994).Chaos und Kosmos: Prinzipien der Evolution.Spektrum, Hei-

delberg.

Jetschke, G. (1989).Mathematik der Selbstorganisation.DVW, Berlin und Verlag Harri Deutsch,

Frankfurt/Main.

Chaos und Fraktale

Alligood, K.T., Sauer, T.D., Yorke, J.A. (1997).Chaos. An introduction to dynamical systems.

Springer, Berlin.

Argyris, J. H., Faust, G., Haase, M. (1995).Die Erforschung des Chaos. Studienbuch fur Na-

turwissenschaftler und Ingenieure.Vieweg-Verlag, Braunschweig.

Jackson, A. A. (1991).Perspectives of nonlinear dynamics.Vol. 1 & 2. Cambridge University

Press, Cambridge MA.

1

1. Empfohlene Fachbucher Gleichungsbasierte Modelle II

Kapitaniak, T. (1998).Chaos for engineers: theory, applications, and control.Springer-Verlag,

Berlin.

Kaplan, D., Glass, L. (1995).Understanding nonlinear dynamics.Springer-Verlag, New York.

Peitgen, H.-O., Jurgens, H., Saupe, D. (1992).Bausteine des Chaos: Fraktale.. Springer-

Verlag, New York.

Strogatz, S. (1994).Nonlinear dynamics and chaos: with applications to physics, biology,

chemistry, and engineering.Addison-Wesley Publ., Reading MA.

Stochastische Systeme

Allen, L.J.S. (2003).An introduction to stochastic processes with applications to biology.Pear-

son Prentice Hall, Upper Saddle River.

Anishenko, V.S., Astakhov, V.V., Neiman, A.B., Vadivasova,T.E., Schimansky-Geier, L. (2003).

Nonlinear dynamics of chaotic and stochastic systems.Springer Series in Synergetics.

Springer, Berlin.

Garcıa-Ojalvo, J., Sancho, J.M. (1999).Noise in spatially extended systems.Springer-Verlag,

New York.

Gardiner, C.W. (1985).Handbook of stochastic methods. Springer Series in Synergetics, vol.

13.Springer-Verlag, Berlin.

Malchow, H., Schimansky-Geier, L. (1985).Noise and diffusion in bistable nonequilibrium

systems.Teubner Verlagsgesellschaft, Leipzig.

Zellul are Automaten

Deutsch, A., Dormann, S. (2005).Cellular automaton modeling of biological pattern formati-

on. Characterization, applications, and analysis.Birkhauser, Basel.

Gerhardt, M., Schuster, H. (1995).Das digitale Universum. Zellulare Automaten als Modelle

der Natur.Vieweg, Braunschweig.

Weimar, J.R. (1997).Simulation with cellular automata.Logos, Berlin.

Nichtlineare Dynamik in Biologie, Okologie und Epidemiologie

Allen, L.J.S. (2007).An introduction to mathematical biology.Pearson Prentice Hall, Upper

Saddle River.

2

Gleichungsbasierte Modelle II 1. Empfohlene Fachbucher

Camazine, S., Deneubourg, J.-L., Franks, N.R., Sneyd, J., Theraulaz, G., Bonabeau, E. (2001).

Self-organization in biological systems.Princeton Studies in Complexity. Princeton Uni-

versity Press, Princeton.

Edelstein-Keshet, L. (2005).Mathematical models in biology.SIAM, Philadelphia..

Jeffries, C. (1989).Mathematical modeling in ecology. A workbook for students.Birkhauser,

Boston.

Kot, M. (2001).Elements of mathematical ecology.Cambridge University Press, Cambridge.

Malchow, H., Petrovskii, S.V., Venturino, E. (2008).Spatiotemporal patterns in ecology and

epidemiology: Theory, models, simulations.CRC Press, Boca Raton.

Meinhardt, H. (1982).Models of biological pattern formation.Academic Press, London.

Meinhardt, H. (1997).Wie Schnecken sich in Schale werfen.Springer, Berlin.

Murray, J.D. (2002).Mathematical biology. I. An introduction.Springer-Verlag, Berlin.

Murray, J.D. (2003).Mathematical biology. II. Spatial models and biomedical applications.

Springer-Verlag, Berlin.

Okubo, A., Levin, S. (2001).Diffusion and ecological problems. Modern perspectives.Springer-

Verlag, Berlin.

Shigesada, N., Kawasaki, K. (1997).Biological invasions: Theory and practice.Oxford Uni-

versity Press, Oxford.

Vries, G. de, Hillen, T., Lewis, M., Muller, J., Schonfisch, B. (2006).A course in mathematical

biology: Quantitative modeling with mathematical and computational methods.SIAM,

Philadelphia.

Yodzis, P. (1989).Introduction to theoretical ecology.Harper & Row, New York.

Nichtlineare Dynamik in der Chemie

Schneider, F. W., Munster, A. F. (1996).Nichtlineare Dynamik in der Chemie.Spektrum, Hei-

delberg.

Nichtlineare Dynamik in Medizin und Psychologie

Keener, J.P., Sneyd, J. (1998).Mathematical physiology.Springer-Verlag, New York.

Kriz, J. (1997).Systemtheorie. Eine Einfuhrung fur Psychotherapeuten, Psychologen und Me-

diziner.Facultas, Wien.

3

1. Empfohlene Fachbucher Gleichungsbasierte Modelle II

Nichtlineare Dynamik in der Okonomie

Lorenz, H.-W. (1997).Nonlinear dynamical economics and chaotic motion.Springer, Berlin.

Numerisches

Kloeden, P.E., Platen, E. (1999).Numerical solution of stochastic differential equations.Sprin-

ger, Berlin.

Kloeden, P.E., Platen, E., Schurz, H. (2002).Numerical solution of SDE through computer

experiments.Universitext. Springer, Berlin.

Press, W.H., Teukolsky, S.A., Vetterling, W.T., Flannery,B.P. (1992).Numerical recipes in

FORTRAN.Cambridge University Press, Cambridge.

Press, W.H., Teukolsky, S.A., Vetterling, W.T., Flannery,B.P. (1992).Numerical recipes. Ex-

ample book [FORTRAN].Cambridge University Press, Cambridge.

Roache, P.J. (1998).Fundamentals of computational fluid dynamics.Hermosa Publishers, Al-

buquerque NM.

Thomas, J.W. (1995).Numerical partial differential equations: Finite difference methods.

Springer, New York.

Geschichtliches

Paslack, R., Knost, P. (1990).Zur Geschichte der Selbstorganisationsforschung. Ideengeschicht-

liche Einfuhrung und Bibliographie (1940-1990).Kleine Verlag GmbH, Bielefeld.

Haken, H., Plath, P., Ebeling, W., Romanovsky, Yu.M. (2016).Beitrage zur Geschichte der

Synergetik: Allgemeine Prinzipien der Selbstorganisation in Natur und Gesellschaft.Sprin-

ger Fachmedien, Wiesbaden.

Enzyklopadisches

Scott, A., ed. (2005).Encyclopedia of nonlinear science.Routledge, New York.

4

Gleichungsbasierte Modelle II 2. Grundlagen und Beispiele

2. Grundlagen und Beispiele

Literatur: Ebeling (1976); Nicolis & Prigogine (1977); Prigogine (1979); Haken (1981); Ebeling

& Feistel (1982); Ebeling (1989)

2.1 Zweiter Hauptsatz der Thermodynamik und Selbstorganisation

Eine der Kernfragen der Naturwissenschaften:

Entstehung hochgeordneter Strukturen trotz deruberall herrschenden unvermeidlichen

Energiedissipation?

Energiedissipation (Zerstreuung):

grundlegende Eigenschaft realer Prozesse, im 2. HS der Thermodynamik als Naturgesetz

formuliert.

Clausius:

Entropie nimmt in abgeschlossenen Systemen standig zu, bis sie im Zustand des thermo-

dynamischen Gleichgewichts Maximum erreicht.

Boltzmann/Planck:

Relation zwischen Entropie S und thermodynamischer Wahrscheinlichkeit W

S = k lnW (2.1)

Entropiezunahme entsprichtUbergang zu wahrscheinlicheren, d.h., ungeordneteren Zustanden

Ubertragung dieses fur abgeschlossene Systeme gultigen Gesetzes auf das Weltall unbe-

rechtigt!

Schrodinger/Prigogine/Bertalanffy/Turing:

Offenheit der Systeme in der Natur ist entscheidend fur Strukturbildung

Prigogine:

thermodynamische Theorie offener Systeme

2.1.1 Grundzuge der Theorie irreversibler Prozesse in offenen Systemen

Ein offenes thermodynamisches System tauscht mit seiner Umgebung Energie und Stoff aus.

Entropieanderung eines offenen Systems im Zeitelement dt (nach Prigogine)

EntropieanderungdS = Entropieproduktion im InnerndiS + AustauschdeS (2.2)

5

2. Grundlagen und Beispiele Gleichungsbasierte Modelle II

mit

diS≥ 0 , deS≤ oder> 0 (2.3)

Drei wesentliche Eigenschaften der Entropie:

1. Zustandsfunktion, die von SystemenergieU , VolumenV und Molzahlen der Komponen-

tenni (i = 1,2,...,s) abhangt:

S = S(U,V,ni) (2.4)

2. Extensive Zustandsfunktion, d.h. bei Zerlegung eines makroskopischen Systems mit Entro-

pieS in zwei makroskopische Teilsysteme mit EntropienS1 undS2 gilt Additivit atsregel:

S = S1+S2 (2.5)

3. Fur das Differential der Entropie gilt Gibbsche Fundamentalgleichung

TdS = dU − d′A −s

∑i=1

µi dni (2.6)

mit

µi = chemische Potentiale der s Stoffkomponenten

d′A = am System geleistete Arbeit

Schreiben auch 1. HS in analoger Form, Beschrankung auf quasi-statische Systeme, d.h. keine

Umwandlung von kinetischer in innere Energie:

Bilanz der inneren Energie:

dU = diU + deU (2.7)

mit

diU = 0 ⇐ Energieerhaltung im Innern

deU 6= 0 ⇐ Energieflußuber Systemgrenzen

2.1.2 Spezialfalle der Hauptsatze

1. makroskopisch isoliertes SystemdeS = 0 , dS = diS ≥ 0,

• Entropie ist monotone nichtfallende Zeitfunktion, die fur große Zeiten asymptotisch

maximalen Wert erreicht, der zu Gleichgewichtswerten der thermodynamischen Pa-

rameter(U,V, ...) korrespondiert.

6

Gleichungsbasierte Modelle II 2. Grundlagen und Beispiele

• ⇒makroskopisch isolierte Systeme nahern sich fur t→ ∞ dem Zustand maximaler

Unordnung

2. geschlossene Systeme⇒ kein makroskopischer Stoffaustausch mit Umgebung

T deS = d′Q ; T dS = T diS + d′Q ⇒ T dS≥ d′Q (2.8)

(Ungleichung von Clausius-Carnot)

• ⇒ jede Warmezufuhr in geschlossenes System vergroßert Unordnung

• Vergroßerung der Ordnung (Sinken der Entropie) erfordert Warmeentzug

d′Q< 0

↓Strukturbildung durch Warmeentzug

(Ubergang zu tiefen Temperaturen)

↓universelle Eigenschaft der Materie

• physikalische Korper gehen bei tiefen Temperaturen in Aggregatzustand mitrelativ

hohem Ordnungsgraduber. z.B. kristallin

• bei tiefen Temperaturen sind die sonst relativ unwahrscheinlichen Zustande mit klei-

nen bzw. negativen Energien realisierbar, die hohem Ordnungsgrad entsprechen

• folgt aus Boltzmannscher Wahrscheinlichkeitsverteilung,die fur tiefe Temperaturen

Zustande mit kleinen bzw. negativen Energien favorisiert:

pi =Cexp−Ei/kT (2.9)

• andere Moglichkeit, geschlossenem System Entropie zu entziehen, ist, Warme bei

hoheren Temperaturen zu- und bei tieferen Temperaturen wieder abzufuhren→

3. offene Systeme:

• bei offenen Systemen laßt sich AustauschanteildeS im Prinzip beliebig gestalten,

indem man Umgebungsparameter entsprechend variiert

• ⇒ fur dSkeine Ungleichung mehr, sondern

dS = deS + diS = beliebig (2.10)

7

2. Grundlagen und Beispiele Gleichungsbasierte Modelle II

T~6000 K

Sonne

300 K

Kern1000 K

Weltraum

Atmosphäre und Erdoberfläche

T~3 K

Abbildung 2.1: Mechanismus des Entropieexportes der Erde

• speziell kann sich Entropie verringern, wenn System Entropie exportiert (deS< 0)

und wenn Export pro Zeiteinheit die entsprechende Entropieproduktion im Innern

ubersteigt, d.h.

dS< 0 , wenn|deS| > diS ≥ 0 (2.11)

• solche Situation nur weitab vom Gleichgewicht denkbar, da in Gleichgewichtsnahe

diS> 0 dominiert

• ⇒ Entropieexport muß kritischen Wertubersteigen, damit im System Strukturbil-

dung beginnen kann

• ⇒ Selbstorganisation ist”uberkritische“ Erscheinung, nur moglich, wenn System-

parameter kritische Werteuberschreiten

• Entropieexport, der innere Entropieproduktionubersteigt, erfolgt nicht spontan, son-

dern”Entropiepumpe“ erforderlich

• Betrieb dieser Pumpe erfordert verschleißbare Energie, dieausaußeren und inneren

Quellen stammen kann

• letztlich lassen sich solche Energiequellen immer auf irdisch oder stellar ablaufende

Kernreaktionen oder chemische Reaktionen zuruckfuhren

• Entropiepumpe kann sich sowohl außerhalb als auch innerhalb des strukturbilden-

den Systems befinden, vgl. Tabelle unten

• wenn System stark vom Gleichgewicht abweicht genugen Variablen i.a. nicht mehr

linearen Gleichungen sondern unterliegen nichtlinea- renGesetzen

• Nichtlinearitat ist wesentliches und allgemeines Merkmal der Naturprozesse weitab

vom Gleichgewicht

8

Gleichungsbasierte Modelle II 2. Grundlagen und Beispiele

• andererseits erfordertuberkritischer Entropieexport außerordentlich spezielle innere

Systemstrukturen

⇒Selbstorganisation ist keine allgemeine, sondern spezielle Eigenschaft der Mate-

rie, die nur unter spezifischen inneren undaußeren Bedingungen existiert; ist

jedoch nicht an spezielle Stoffklassen gebunden.

außerhalb ← Entropiepumpe → innerhalb

↓ ↓passives System aktives System

↓ ↓Benard-Zellen Lebewesen

Elektrogerate, Laser usw. Ottomotoren usw.

↓ ↓Kopplung an die Umgebung, Entropiepumpe im Innern,

die Entropiepumpe enthalt, daher meist hoher Grad

welche z.B. Elektrizitat, innerer Organisiertheit.

Warme bei hoher Temperatur Weiterhin Zufluß energie-

oder kurzwellige Strahlung reicher Rohstoffe aus der

in das System pumpt Umgebung

→ Systeme ←werden durch

Pumpe vom

Gleichgewicht

weggetrieben

2.1.3 Zusammenfassung

• Zwei Grundtypen irreversibler Prozesse in der Natur

1. Strukturzerstorung in Gleichgewichtsnahe als allgemeine Systemeigenschaft unter

beliebigen Bedingungen

2. Strukturbildung in Gleichgewichtsferne unter speziellen inneren undaußeren Be-

dingungen, wozu Offenheit des Systems, Nichtlinearitat der inneren Dynamik und

uberkritische Werte deraußeren Systemparameter gehoren

• Prigogine (1967): Bezeichnung”dissipative Strukturen“ = stabile raumliche, zeitliche

oder raumzeitliche Strukturen, die sich weitab vom Gleichgewicht jenseits kritischer Pa-

rameterwerte im nichtlinearen Bereich ausbilden konnen

9

2. Grundlagen und Beispiele Gleichungsbasierte Modelle II

• Entscheidende Merkmale = Stabilitat der Struktur gegen kleine Storungen unduberkriti-

scher Abstand vom Gleichgewicht

• wichtigste Teilklasse der dissipativen Strukturen sindstationare DS, die im Laufe der

Zeit bei konstantenaußeren Bedingungen keinenAnderungen unterworfen sind.

dS = diS + deS = 0 , deS = −diS< 0 (2.12)

• letztere Beziehung muß gelten, da fur alle echten NichtgleichgewichtsprozessediS > 0

zutrifft

⇒ deS < 0, d.h., das System muß Entropie an Umgebung abgeben, um Entropieproduk-

tion im Innern aufgrund irreversibler Prozesse kompensieren zu konnen.

• Ostwald / Bertalanffy:”Fließgleichgewicht“ = stationarer (d.h. zeitunabhangiger) Nicht-

gleichgewichtszustand des offenen Systems, der stabil gegenuber kleinen Schwankungen

ist.

2.2 Physikalische dissipative Strukturen

2.2.1 Das Experiment von Benard (1900)

Eine Flussigkeitsschicht im Gravitationsfeld (z.B. Silikonol) wird von unten erhitzt. Die warme-

re Flussigkeit am Boden dehnt sich aus und”mochte nach oben steigen“, wahrend die kaltere

Flussigkeit an der Oberflache”nach unten fallen mochte“. Diese Tendenzen werden aber von der

Viskositat”gebremst“. Bei kleinen Temperaturdifferenzen gewinnt die Viskositat, die Flussig-

keit bleibt in Ruhe und die Warme wird durch homogene Warmeleitung von unten nach oben

transportiert. Dieser Zustand wird bei einem kritschen Wert des Temperaturgradienten∆T insta-

bil, und es entwickelt sich ein neuer stationarer Zustand, bei dem Konvektionszellen auftreten.

Mit weiterem Anwachsen des Gradienten beobachtet man einenUbergang zur chaotischen Be-

wegung oberhalb eines zweiten kritischen Wertes.

Da das System mit der Umgebung nur WaŁrme austauscht, ist der gesamte Entropiestrom durch

die Grenzflachen

deSdt

=QTG− Q

TO= Q

TO−TG

TGTO< 0, (2.13)

d.h., es findet Entropieexport statt. Im stationaren Fall ist der Entropieexport gleich der inneren

Entropieproduktion durch Reibungs- und Leitungsverluste.

Lorenz (1963) hat dazu ein einfach erscheinendes Modell entwickelt, das im Abschnitt 3.3

besprochen wird.

10

Gleichungsbasierte Modelle II 2. Grundlagen und Beispiele

∆Τ

Wärmeleitung Wärmekonvektion Turbulenz

c1T < T∆ T <c1 ∆ c2 c2 ∆TT <T < T

Abbildung 2.2: Zum Benard-Effekt: Temperaturgefalle zwischen Grund- und Oberflache∆T =

TG−TO > 0.

Konvektions−

zellen

ruhende

Temperaturdifferenz

Q

∆Tc1

Flüssigkeit

Abbildung 2.3: Die transportierte WarmemengeQ knickt beimUbergang von Warmeleitung zu

Konvektion in typischer Weise ab.

2.2.2 Das Prinzip des Festkorperlasers

Die Untersuchung von Lasern war der Ausgangspunkt von H. Haken zur Formulierung der

Synergetik (1971), der Lehre vom Zusammenwirken, die eine eher systemtheoretische Heran-

gehensweise an das Phanomen der Selbstorganisation im Nichtgleichgewicht beschreibt.

Am Beispiel eines Festkorperlasers mit zwei Endspiegeln soll gezeigt werden, wie kooperatives

Verhalten von Teilsystemen bei nichtlinearen Prozessen fern vom Gleichgewicht zur Entstehung

von Ordnung aus dem Chaos fuhren kann. Durch eine Pumpstrahlung werden die aktiven Atome

im Laserkristall in angeregte ZustaŁndeuberfuhrt. Die angeregten Atome sind winzige Anten-

nen, die Wellenzuge abstrahlen und dabei auf den energetischen Ausgangszustand zuruckfallen.

Bei geringer Pumpleistung laufen die einzelnen Emissionsakte inkoharent ab. Der Laser arbei-

tet als Lampe und gibt nur kurze Wellenzuge ab. Wellenzuge in axialer Richtung werden durch

die Endspiegel langer im System gehalten.

Ubersteigt die Pumpleistung einen kritischen Wert, so synchronisiert die elektromagnetische

Lichtwelle die elementaren Emissionsakte. Die atomaren Antennen beginnen kooperativ zu ar-

beiten, oszillieren synchron und emittieren in axialer Richtung Riesenwellenzuge, die den La-

11

2. Grundlagen und Beispiele Gleichungsbasierte Modelle II

serstrahl bilden. Die Laserlichtwelle als Ordner versklavt also einerseits die Leuchtelektronen

zu synchroner Schwingung, andererseits bilden die versklavten Leuchtelektronen die Laser-

lichtwelle.

Der Laser ist ein typisches Beispiel fur ein offenes System, dessen Teilsysteme (Elektronen)

nach Zufuhr eineruberkritischen Energiemenge kooperativ werden (synchronisieren) und eine

allein aus der Kenntnis der Bestandteile des Laserkristallsnicht erkennbare (emergente) Eigen-

schaft (Laserstrahl) zeigen. Aus unkoordinierter niederenergetischer Abstrahlung (Lampe) wird

nachuberkritischer Energiezufuhr durch dissipative Selbstorganisation koordinierte hochener-

getische Strahlung (Laser).

Q

Laser

Lampe

AnregungsenergieSchwellwert

Abbildung 2.4: Die emittierte LichtenergieQ knickt beimUbergang vom Lampen- zum La-

serregime analog zum Verhalten des Warmestroms beim Benard-Effekt ab, vgl. Fig. 2.3. Man

spricht hier von Phasenubergangen 2. Art.

2.3 Chemische Oszillationen

Oszillierende chemische Reaktionen sind von besonderem Interesse fur die Wissenschaft. Ihr

Verhalten ist u. a. fur die Chaosforschung von Bedeutung, denn solche Reaktionssysteme sind

immer komplex und weit entfernt vom thermodynamischen Gleichgewicht. EinUbersichtsarti-

kel zum Thema ist von Field & Schneider (1988).

A+B+ . . . −→ X, Y, . . . −→ P+Q+. . .

Reaktanden

verschwinden

−→ Zwischenprodukte konnen entweder eine

stationare Konzentration erreichen oder

oszillieren

−→ Produkte

entstehen

| −→ −→ energieliefernde Gesamtreaktion −→ −→ |

Die treibende Kraft der Oszillationen der Zwischenprodukte und katalytisch aktiven Spezies ist

die im Reaktionsverlauf verbrauchte freie Energie. Neben den einfachen Oszillationen konnen

eine Reihe verwandter Phanomene auftreten. Dazu gehoren Multistabilitat, Hysterese, Erreg-

12

Gleichungsbasierte Modelle II 2. Grundlagen und Beispiele

barkeit, laufende Wellen und aperiodische Oszillationen.

Das Phanomen der Oszillation in chemischen Reaktionssystemen laßt sich auch am Beispiel

einer einfachen einseitig verlaufenden Reaktionsfolge erklaren:

A−→ X −→Y −→ P.

Ohne Autokatalyse stellt sich bei konstanter Konzentration des Ausgangsstoffes ein stationares

Fließgleichgewicht ein. Katalysiert X seine eigene Bildungsreaktion, steigt dessen Konzentra-

tion immer weiter an. Wird aber auch die Bildung von Y autokatalytisch beschleunigt, wird die

Zunahme von X gebremst; denn irgendwann ist die Bildungsgeschwindigkeit von X→ Y hoher

als die von A→ X. Dann nimmt X ab, bis die Konzentration so niedrig ist, daß Yrucklaufig

wird. Dabei verlauft die zeitlicheAnderung der Konzentration des einen Zwischenprodukts

proportional zum Abstand der Konzentration des anderen Zwischenprodukts von ihrem Soll-

wert. Auf diese Weise oszillieren die Konzentrationen um ihre Sollwerte. Die bisher bekann-

ten chemischen Oszillationen verlaufen komplizierter alsdurch dieses Modell beschrieben, die

Oszillation an sich kann aber so erklart werden.

Dieses Wortmodell beschreibtubrigens auch Rauber(Y)-Beute(X)-Oszillationen.

2.3.1 Die Bray-Liebhafsky-Reaktion (1921)

Eine der ersten in homogener Losung oszillierenden Reaktionen wurde 1921 durch W.C. Bray

zufallig entdeckt und wird heute Bray-Liebhafsky-Reaktion genannt. Es handelt sich um die

IO−3 -katalysierte Zersetzung von H2O2 zu H2O und O2. Das in Pulsen gebildete O2 ist ebenso

wie I2 und I− eine leicht meßbare oszillierende Spezies. Eine grundlegende Eigenschaft des

Systems ist, daß H2O2 das notige Redoxpotential besitzt, um in Reaktion (I) sowohl I2 zu IO−3zu oxidieren als auch in Reaktion (II) IO−3 zu I2 zu reduzieren.

(I) 5H2O2 + I2 −→ 2IO−3 + 2H+ + 4H2O ,

(II) 5H2O2 + 2IO−3 + 2H+ −→ I2 + 5O2 + 6H2O ,

(III) 2H2O2IO−3−→

Katalysator2H2O + O2 .

Reaktion (III) zeigt die Nettostochiometrie der Gleichungen (I) und (II) und stellt die treibende

Kraft der Oszillationen dar. Die BL-Oszillationen treten auf, weil die Kontrolle der Gesamtre-

aktion zwischen den Schritten (I) und (II) hin- und herwechselt. Der detaillierte Mechanismus

ist erheblich komplizierter als der der spater beschriebenen Belousov-Zhabotinskii-Reaktion

(BZR).

13

2. Grundlagen und Beispiele Gleichungsbasierte Modelle II

2.3.2 Die Briggs-Rauscher-Reaktion (1973)

Eine Kombination aus der BZ- und der BL-Reaktion ist die auch Jod-Uhr genannte Briggs-

Rauscher-Reaktion. Sie besteht aus

• Wasserstoffperoxid H2O2 (1.2 mol/l),

• Kaliumiodat KIO3 (0.05 mol/l),

• Malonsaure CH2(COOH)2 (0.04mol/l),

• Perchlorsaure HCIO4 oder Schwefelsaure H2SO4 (0.05 mol/l)

• sowie einem Mn(III)/Mn(II)-Katalysator wie Mangansulfatmonohydrat MnSO4 · H2O

(0.006 mol/l)

• und Starke (0.01%) als Farbindikator.

Die Reaktion durchlauft dann folgende Sequenz: goldgelb, blau und farblos. Im geschlossenen

System dauern die Oszillationen 5 bis 10 Minuten im Vergleich zu mehreren Stunden bei der

BZR. Auch hier beruht das Oszillieren auf autokatalytischen Reaktionen, bei denen in rhythmi-

scher Folge Zwischenverbindungen oxidiert und reduziert werden.

0 1

−8

−6

−4

lg C

t/min

Jod

Abbildung 2.5: Schwingungen der Jod-Konzentration bei derBriggs-Rauscher-Reaktion.

14

Gleichungsbasierte Modelle II 2. Grundlagen und Beispiele

2.3.3 Die Belousov-Zhabotinskii-Reaktion (1958–1964)

Die bisher am besten untersuchte oszillierende Reaktion istdie Belousov- Zhabotinskii-Reaktion

(BZR). Es handelt sich dabei eigentlich um eine Klasse von Reaktionen, bei denen in jedem Fall

eine Dicarbonsaure durch Bromat in saurer Losung oxidiert wird, wobei als oszillierender Ka-

talysator ein Redoxsystem anwesend ist, dessen oxidierte und reduzierte Form sich nur um eine

Oxidationsstufe unterscheiden.

Solche Systeme sind z.B. Ce(III)/Ce(IV), Mn(II)/Mn(III) oderFe(phen)3+3 / Fe(phen)2+3 . Be-

nannt wurde diese Reaktionsklasse nach den beiden russischen Wissenschaftlern B. Belousov,

der die erste dieser Reaktionen Anfang der 1950er Jahre entdeckte (Publikation erst 1958), und

A. Zhabotinskii, der ihre Bedeutung erkannte und zeigte. Fur die BZR sind drei Prozesse aus-

schlaggebend:

• Verbrauch von Bromidionen,

• Bildung von Cer(IV)-Ionen,

• Bildung von Bromid unter Verbrauch von Cer(IV)-Ionen

Bei diesen Prozessen finden nach Field, Koros und Noyes (1972) folgende Reaktionen statt. In

Klammern ist die dem FKN-Mechanismus entsprechende Reaktionsnumerierung angegeben:

(R1) Br− + HBrO + H+ −→ Br2 + H2O ,

(R2) Br− + HBrO2 + H+ −→ 2HBrO ,

(R3) Br− + BrO−3 + 2H+ −→ HBrO2 + HBrO ,

(R4) 2HBrO2 −→ HBrO + BrO−3 + H+ ,

(R5-R6) autokatalytisch fur HBrO2:

(R5) HBrO2 + BrO−3 + H+ −→ 2BrO•2 + H2O ,

(R6) (BrO•2 + Ce3+ + H+ −→ Ce4+ + HBrO2)*2 ,

(R7) BrO•2 + Ce4+ + H2O−→ BrO−3 + Ce3+ + 2H+ ,

(R8) Br2 + CH2(COOH)2 −→ BrCH(COOH)2 + Br−+ H+ ,

(R9) 6Ce4+ + CH2(COOH)2 + 2H2O−→ 6Ce3+ + HCOOH + 2CO2 + 6H+ ,

(R10) 4Ce4+ + BrCH(COOH)2 + 2H2O−→ 4Ce3+ + HCOOH + 2CO2 + 5H+ ,

(R11) Br2 + HCOOH−→ 2Br− + CO2 + 2H+ ,

Gesamtreaktion nach Bornmann et al. (1973):

2BrO−3 + 3CH2(COOH)2 + 2H+ −→ 2BrCH(COOH)2 + 3CO2 + 4H2O .

15

2. Grundlagen und Beispiele Gleichungsbasierte Modelle II

Experiment

Anleitungen von F. Kappenberg (1992).

Materialien: PC, ALL-CHEM-MISST, serielles Kabel, Vollpipette (2ml), Becherglas (400ml),

4 Becherglaser (100 ml), 2 Experimentierkabel, Platinelektrode, Kupferelektrode, Stativ, 2 Muf-

fen, 2 Greifklemmen, Magnetruhrer, Ruhrmagnet

Chemikalien:KBrO3, Malonsaure CH2(COOH)2, KBr, Schwefelsaure (konz), Ferroin-Indika-

torlosung, c=1/40 mol/l, dest. Wasser

Durchfuhrung:

Zunachst werden vier Losungen vorbereitet:

• 6,75 g KBrO3 in 80 ml Wasser

• 15,6 g Malonsaure in 100 ml Wasser

• 1,3 g KBr in 70 ml Wasser

• 14 ml H2SO4 (konz) in 70 ml Wasser

Die vier Losungen werden in das Becherglas gegeben und der Magnetruhrer angestellt. Die

beiden Elektroden werden so befestigt, daß sie in die Losung eintauchen. Nachdem die anfang-

liche Braunfarbung verschwunden ist, werden noch 2 ml Ferroin-Losung zugegeben und die

Meßwertaufnahme (am Computer) gestartet. Es wird eine potentiometrische Messung durch-

gefuhrt.

Beobachtung:

Nach Zugabe des Ferroin-Indikators farbt sich die Losung rot. Sobald die gemessene Spannung

ansteigt, tritt eine rasche Blaufarbung auf, die nach kurzer Zeit wieder verschwindet, so daßdie

ursprungliche, rote Farbe zu sehen ist.

Deutung:

Ausschlaggebend fur die Farbe der Losung und die Hohe der Spannung ist das Ferroin. Dies

ist ein intensiv rot gefarbter Komplex aus einem Eisen(II)-Ion und 3 Phenantrolin-Molekulen.

In der oxidierten Form ist der Komplex blau gefarbt. Die Bildung der Eisen(III)-Ionen wird

durch Bromidionen inhibiert, solange deren Konzentration einen bestimmten Wertubersteigt.

Die Bromidionen werden verbraucht (siehe: Reaktionen), folglich uberwiegt die autokatalyti-

sche Bildung der Eisen(III)-Ionen bei Unterschreitung des kritischen Wertes. Die Bildung von

Bromidionen unter Verbrauch von Eisen(III)-Ionen wurde bisher noch nicht vollstandig geklart.

16

Gleichungsbasierte Modelle II 2. Grundlagen und Beispiele

2.3.4 Einfache Modelle der Belousov-Zhabotinskii-Reaktion

Der FKN-Mechanismus besteht aus 11 Reaktionen zwischen 15 verschiedenen chemischen

Spezies. Von diesen 15 sind 7 Zwischenprodukte, deren Konzentrationen sich wahrend jeder

Oszillation stark verandern: Br2O4, BrO•2, Br2, HOBr, HBrO2, Br− und Ce4+. Die Kinetik der

BZR kann also durch ein System von 7 gekoppelten nichtlinearen gewohnlichen Differential-

gleichungen 1. Ordnung beschrieben werden. Auch kompliziertere (detailliertere) Mechanis-

men konnen numerisch untersucht werden, um jedoch Oszillationen, Mehrfachstabilitat und

Wellen theoretisch zu behandeln, muß das Reaktionsmodell reduziert werden. Da die Reakti-

onskonstanten sich zum Teil um Großenordnungen unterscheiden, ist das auch ohne Probleme

moglich. Es gibt verschiedene Ansatze wie dasModell K (”Kyoto“ University, Tomitaet al.

1977), denIUator (”Indiana University“, Schmidt & Ortoleva 1981) oder denPushchinator

(Institute of Experimental and Theoretical Biophysics at”Pushchino“, Rovinsky & Zhabotins-

kii 1984). Das bekannteste kommt aber von den Autoren des FKN-Mechanismus selbst, der

Oregonator (University of”Oregon“ at Eugene, Field & Noyes 1974):

Mit A=BrO−3 , P=HOBr, X=HBrO2, Y=Br− und Z=Ce4+ lauten die Reaktionsgleichungen des

Oregonators

A+Y −→k1 X+P, (2.14)

X+Y −→k2 P, (2.15)

A+X −→k3 2X+2Z , (2.16)

2X −→k4 A+P, (2.17)

Z−→k5 fY . (2.18)

Die 5 Reaktionskonstanten sind bekannt, f ist ein stochiometrischer Faktor (f ≈ 0.5).

Daraus folgen nach den Regeln der Formalkinetik (Massenerhaltung) die kinetischen Gleichun-

gen fur X, Y und Z:

dXdt

= k1AY−k2XY+k3AX−2k4X2 , (2.19)

(Faktor 2 vor letztem Term, weil 2 Teile X direkt ohne Zwischenschritt zerfallen!)

dYdt

=−k1AY−k2XY+ f k5Z , (2.20)

dZdt

= 2k3AX−k5Z . (2.21)

(Faktor 2 vor erstem Term, weil 2 Teile Z direkt ohne Zwischenschritt entstehen!)

17

2. Grundlagen und Beispiele Gleichungsbasierte Modelle II

Es ist immer vorteilhaft, mit dimensionslosen Großen zu arbeiten. Mit den Konzentrationsein-

heiten

X0 =k3A2k4

,Y0 =k3Ak2

undZ0 =(k3A)2

k4k5, der Zeiteinheitt0 = k−1

5

sowie den dimensionslosen Parameternε =k5

k3A,δ =

2k4k5

k2k3A,q=

2k1k4

k2k3und f ≈ 0.5

folgt in dimensionslosen GroßenX1 = X/X0 ,X2 =Y/Y0 ,X3 = Z/Z0 ,τ = t/t0

εdX1

dτ= qX2−X1X2+X1(1−X1) , δ

dX2

dτ=−qX2−X1X2+2 f X3 ,

dX3

dτ= X1−X3 . (2.22)

Eine mathematische Analyse dieses Systems in genau dieser Skalierung kann in Murray (1989)

gefunden werden.

2.3.5 Aktive Medien

Die BZR spielt eine Sonderrolle bei der Untersuchung chemischer dissipativer Strukturen. Sie

wird oft als Modell fur das Studium von Wellenprozessen inaktiven Medien gewahlt. Der

Begriff der aktiven Medien war ursprunglich mit der Erforschung der Signalausbreitung in Ner-

venfasern, im Hirn, im Herzen und in Muskeln entstanden.

Jeder Raumpunkt eines aktiven Mediums ist

1. Quelle freier Energie,

2. Ort nichtlinearer Prozesse, die fern vom Gleichgewicht ablaufen,

3. durch Transportsysteme eng mit den Nachbarpunkten verbunden.

Charakteristische Prozesse sind

1. die ungedampfte Ausbreitung von Impulsen, Fronten und Wellen,

2. die spontane Erregung von Wellen in bestimmten Punkten (Fuhrungszentren),

3. die Erzeugung irregularer Wellen, die zur Turbulenz (Chaos) fuhrt,

4. die Ausbildung raumlich synchroner Schwingungen,

5. die Bildung stationarer inhomogener Strukturen, z.B. stehender Fronten und stehender

Wellen.

Eine Methode der theoretischen Behandlung solcher Prozesseist die mit Reaktions-Diffusions-

Advektionsgleichungen:

∂Xi(~r, t)∂t

= fi(X)−~∇ ·[

~viXi−N

∑j=1

Di j~∇Xj

]

; i = 1,2, ...,N. (2.23)

18

Gleichungsbasierte Modelle II 2. Grundlagen und Beispiele

Dabei ist

• X = Xi : i = 1,2, . . . ,N der Vektor der Konzentrationen der N chemischen Sorten am

Ort~r = x,y,z,

• fi(X) die i.a. nichtlineare Reaktionsfunktion,

• ~vi der Geschwindigkeitsvektor der i-ten Sorte,

• ~∇ der Nabla-Operator und

• Di j die Diffusionsmatrix.

2.3.6 Literaturhinweise

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20

Gleichungsbasierte Modelle II 2. Geschichtliche Entwicklung

2.4 Geschichte der Forschunguber nichtlineare Phanomene und Selbst-

organisation

Literatur: Tyson & Kagan (1988); Paslack & Knost (1990)

Fruhzeit Spekulative Konzepte gab es bereits in der Antike (Heraklit, Aristoteles, Lukrez)

17. Jh. Verbindung philosophischer Ideen mit naturwissenschaftlichen Konzepten (New-

tonsche Physik)

18. Jh. I. Kant Kritik der Urteilskraft : SELBSTORGANISATION = Vermogen der Na-

tur, Ordnung hervorzubringen = unerforschliche Eigenschaft der Materie

1798 Unbeschranktes Wachstum von Populationen von T. Malthus

19. Jh. Darwin⇒ Einfuhrung des Entwicklungsgedankens in die Naturwissenschaften,

Helmholtz⇒ Formulierung des Energiesatzes (1. HS der Thermodynamik),

Clausius⇒ Formulierung des Entropiesatzes (2. HS der Thermodynamik)

1828 Schwankungen des Potentials an einer Eisenelektrode in schwachsaurer Losung

von M. Fechner

1834 Pulsierendes Gluhen von Phosphor nach P. S. Munck af Rosenschold

1838 Beschranktes Wachstum von Populationen von P. Verhulst

1873 Schlagendes Quecksilberherz von G. Lippmann

1896 Periodische Fallungsreaktionen von R. Liesegang

1899 Periodische Losung von Chrom in Saure von W. Ostwald

20. Jh. Mehrere unabhangige Entwicklungsstrange der Selbstorganisationsforschung:

1900 Konvektionszellen in einer Flussigkeitsschicht von H. Benard

1906 Diffusive Reaktionsfronten von R. Luther

1910 Theorie periodischer chemischer Reaktionen von A. Lotka

1913 Kinetik der Invertinwirkung von L. Michaelis und M. Menten

1916 Periodische Reaktion von J. S. Morgan

1921 Periodische Reaktion von W. C. Bray (Bray-Liebhafsky)

1923 Instabilitat einer Flussigkeitsschicht zwischen 2 rotierenden Zylindern von G.L.

Taylor

1925 Physikalische Biologie von A. Lotka

1926 Populationstheorie von V. Volterra

21

2. Geschichtliche Entwicklung Gleichungsbasierte Modelle II

1934 Populationsoszillationen nach G.F. Gause und A.A. Vitt

1937 Diffusionsfronten nach R.A. Fisher sowie Kolmogorovet al.

1938 Winderzeugte Rollzellen von I. Langmuir

1940 Organismus als offenes System im Fließgleichgewicht nach L. v. Bertalanffy

1944 E. Schrodinger: What is life?

1948 Kybernetik von N. Wiener (Regelkreis, feedback systems)

1952 Theorie der chemischen Grundlagen der Biomorphogenesevon A. Turing

1959 Periodische Reaktion von B. Belousov

1960 Systemtheoretisch-kybernetischer Ansatz von H. von Foerster (Prinzip”Order

from noise“)

1962-70 Theorie selbstreproduzierender Automaten von J. von Neumann, E. F. Moore,

A. W. Burks, K. v. Zuse u.a. [”Mosaikstrukturen (-automaten)“,

”Zellulare Auto-

maten“,”Iterative Computer“]

1963 Theorie des deterministischen Chaos seit E. N. Lorenz

1964 Chemische Zielscheibenwellen von A. M. Zhabotinskii

1967 Theorie dissipativer Strukturen von I. Prigogine

1971 Chemische Spiralwellen von A. M. Zhabotinskii und A. N. Zaikin

1971 Synergetik von H. Haken

1971 Theorie autokatalytischer Hyperzyklen von M. Eigen

1972 Theorie biologischer Formbildung von A. Gierer und H. Meinhardt

1972 Diffusionsinstabilitaten in der Populationsdynamik nach L. A. Segel und J. L.

Jackson

1972 Stabilitat nach R. M. May

1973 Periodische Reaktion von Briggs-Rauscher (Kombination von BLR und BZR)

1973 Konzept elastischerOkosysteme von C. S. Holling

1974 Gaia-Prinzip von L. Margulis und J. Lovelock

1977 Fraktale Geometrie der Natur nach B. Mandelbrot

1980 Bifurkationstheorie von M. Feigenbaum

1980 Autopoiesekonzept von H. Maturana und F. Varela ab ca. 1975

22

Gleichungsbasierte Modelle II 2. Geschichtliche Entwicklung

1988 Selbstorganisierte Kritizitat, Leben am Rande des Chaos, Komplexitatstheo-

rie (speziell P. Bak, C. Langton, N. Packard und S. Kauffman, vgl. Lewin

(1993a,1993b)

1990 Experimenteller Nachweis von Turing-Strukturen in chemischen Systemen von

V. Castets, P. de Kepper u.a.

1992 Theoretische Vorhersage und experimenteller Nachweis von durch differentielle

Flusse erzeugten Wellen in chemischen Systemen von A. B. Rovinsky und M.

Menzinger

1995-97 Nachweis dynamischerUbergange und irregularer Oszillationen in Insektenpo-

pulationen durch Costantino et al.

21. Jh.

2005 Nachweis dynamischerUbergange und irregularer Oszillationen in Bakterienpo-

pulationen durch Becks et al.

2.4.1 Zitate und weitere Literaturhinweise

BAK , P., TANG, C. & WIESENFELD, K. (1988). Self-organized criticality.Physical Review A

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BECKS, L., HILKER , F. M., MALCHOW, H., JURGENS, K. & A RNDT, H. (2005). Experi-

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23

2. Geschichtliche Entwicklung Gleichungsbasierte Modelle II

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26

3. Modellsysteme Gleichungsbasierte Modelle II

3. Modellsysteme

3.1 Das deterministische und stochastische Schlogl-Modell

Die deterministische Dynamik

Aus der Formalkinetik weiß man, daß sich der zeitliche Verlauf chemischer Reaktionen durch

gewohnliche Differentialgleichungen beschreiben laßt:

dCi

dt= fi (C1,C2, . . . ,Cn) , i = 1,2, . . . ,n. (3.1)

Dabei ist fi die algebraische Summe der Geschwindigkeiten der Elementarreaktionen der betei-

ligten Reaktanden mit den KonzentrationenCi. Die fi sind meist Polynome niedriger Ordnung.

Ein klassisches Beispiel ist das Schlogl-Modell 1972:

A+2Xk1−→←−

k−1

3X , (3.2)

Xk2−→←−

k−2

B . (3.3)

Das ZwischenproduktX wird durchAutokatalyse 2. Ordnung gebildet. AusgangsstoffA und

ProduktB werden konstant gehalten, d.h., sie sind Steuerparameter,die die Reaktion aus dem

Gleichgewicht treiben konnen. Die Dynamik des Zwischenproduktes wird beschriebendurch

dCX

dt=−k−1C

3X +k1CAC2

X−k2CX +k−2CB . (3.4)

Sind beide Reaktionen im Gleichgewicht, gilt

−k−1C3X +k1CAC2

X = 0 und

−k2CX +k−2CB = 0.

Aus der ersten Gleichung folgtCX = k1CA/k−1, aus der zweitenCX = k−2CB/k2. Somit lautet

die Gleichgewichtsbedingung

CA

CB=

k−1k−2

k1k2. (3.5)

Alle anderen Werte des Quotienten stellen Nichtgleichgewichtszustande dar, d.h., daß die che-

mischen Reaktionen durch dieaußeren Zwange (A,B) ihre Gleichgewichtszustande nicht reali-

sieren konnen. Je nach Wahl der Konzentrationen der an der Gesamtreaktion beteiligten Stoffe

findet man dann:

1. summarische Zustande, beide Reaktionen (3.2,3.3) produzieren mit der gleichen Effekti-

vitat das Zwischenprodukt,

2. Zustande in denen eine Reaktion dominant ist, und

27

Gleichungsbasierte Modelle II 3. Modellsysteme

3. Zustande, in denen sich in Abhangigkeit von der Anfangsbedingung ein jeweils zu den

Einzelreaktionen (3.2) oder (3.3) gehoriger stationarer Zustand herausbildet.

Diese Eigenschaft wird als Bistabilitat bezeichnet. Bei gleichenaußeren Zwangen besitzt das

System eine bestimmte Variabilitat, die sich darinaußert, das es in Abhangigkeit vom Anfangs-

zustand einen von zwei asymptotisch stabilen Zustanden anlauft und in ihm bei Vernachlassi-

gung von Fluktuationen unendlich lange verweilt.

Als notwendige Voraussetzung fur die Erzeugung von Bistabilitat erweisen sich die Gleichge-

wichtsferne und das Wirken von qualitativ unterschiedlichen Wachstumsgesetzen des chemi-

schen Reaktanden, von denen mindestens eines nichtlinear ist.

Die Einfuhrung dimensionsloser Großen erleichtert die weitere Arbeit mit dem Schlogl-Modell:

Man setztCX =C ·C0 = Betrag× Dimension, und entsprechendt = τ · t0, woraus folgt

dCdτ

=t0C0

[−k−1C

3C30 +k1CAC2C2

0−k2CC0+k−2CB],

dCdτ

=−k−1t0C20C3+k1CAt0C0C

2−k2t0C+k−2t0C0

CB

Schließlich wahlt man die Einheitent0 undC0 so, daß moglichst viele Einsen vor den hochsten

Potenzen inC entstehen:

k−1t0C20 = 1 =⇒ t0 =

1

k−1C20

k1CAt0C0 = 1 =⇒ k1CA1

k−1C20

C0 = 1

C0 =k1CA

k−1=⇒ t0 =

k−1

k21C

2A

Setzeβ = k2t0 =k−1

k21C

2A

k2 und γ =t0C0

k−2CB =k2−1

k31C

3A

k−2CB

=⇒dCdτ

=−C3+C2−βC+ γ (3.6)

So erhalt man eine dimensionslose Gleichung mit nur noch zwei Parametern.

Stationare Zustande einkomponentiger Systeme sind die Nullstellen der Reaktionsfunktionf (CS)

= 0. Eine lineare Analyse der Stabilitat gegen kleine Auslenkungen zeigt, daß sie stabil sind fur

d f(CS)/dC= f ′(CS)< 0 und entsprechend instabil fur f ′(CS)> 0. Die Bedingungf ′(CS) = 0

deutet auf einenUbergangspunkt hin, in dem sich Zahl und Stabilitat stationarer Zustande

28

3. Modellsysteme Gleichungsbasierte Modelle II

-0.01

-0.005

0

0.005

0.01

0 0.1 0.2 0.3 0.4 0.5 0.6 0.7

F(X

)

X

Reaktionsfunktion des Schloegl-Modells

Beta=0.25 ; Gamma=0.01

Abbildung 3.1: Reaktionsfunktion des Schlogl-Modells

andern konnen.

Die Kombination der Bedingungen von Stationaritat und Kritizitat liefert das Bifurkationsdia-

gramm im Parameterraum, hier

f ′(CS) = 0 ⇒ β = 2C−3C2 = 3C

(23−C

)

,

f (CS) = 0 ⇒ γ =C3−C2+βC= 2C2(

12−C

)

.

Laßt man jetzt C als Parameter zwischen 0 und 0.5 laufen, ergeben sich die beiden Flanken einer

fur C= 1/3 beiβk = 1/3, γk = 1/27 entstehendenSpitze, dem fur bistabile Systeme typischen

Bifurkationsbild.

Im Inneren der Spitze existieren 3 stationare ZustandeCS1 <CS

2 <CS3. FurC<CS

2 ist die nichtka-

talytische Reaktion (3.3) dominant, und es wird der stationare ZustandC=CS1 angelaufen. Fur

C>CS2 dominiert die autokatalytische Reaktion (3.2), und das System wird beiC=CS

3 stationar.

Ein Verlassen der Spitze (des bistabilen Bereiches) fuhrt beiβ < βk undγ < γk zu einer totalen

Dominanz einer der beiden Reaktionstypen. Beiβ > βk und γ > γk stellen sich Zustande ein,

die oben als summarisch bezeichnet worden sind.

DieseUbergange konnen auch als elementare Katastrophen nach R. Thom 1975 erklart werden.

Ein Durchgang durch die Flanken stellt eineEndkatastrophedar (Entstehung bzw. Verschwin-

den eines stabilen und eines instabilen Zustandes). Bei Durchlaufen des kritischen Punktes an

29

Gleichungsbasierte Modelle II 3. Modellsysteme

0

0.005

0.01

0.015

0.02

0.025

0.03

0.035

0.04

0 0.05 0.1 0.15 0.2 0.25 0.3 0.35

Gam

ma

Beta

Bifurkationsdiagramm fuer das bistabile Schloegl-Modell

Abbildung 3.2: Bifurkationsdiagramm des Schlogl-Modells

der Spitze, spricht man entsprechend von einerSpitzenkatastrophe(ein stabiler Zustand wird

selbst instabil und spaltet 2 stabile Losungen ab).

Die stochastische Dynamik

Welcher der beiden stabilen stationaren Zustande angelaufen wird, hangt im deterministischen

Fall, wie mehrfach festgestellt, von der Wahl der Anfangsbedingung ab.

An dieser Stelle soll jetzt ein ganz kurzer Ausflug ins Reich der Zufallsprozesse gemacht wer-

den. Es werden keine KonzentrationenC(t) betrachtet sondern TeilchenzahlenN(t) in einem

vorgegebenen ReaktionsvolumenV mit N(t) =VC(t). Ordnet man jetzt der chemischen Reak-

tion den Charakter eines Zufallsprozesses zu, gibt es nur noch eine bestimmte Wahrscheinlich-

keit, daß die TeilchenzahlN(t) ihren Wertandert. Als Elementarereignis treten reaktive Stoße

(und diffusive Bewegungen) auf. Entgegen der deterministischen Theorie erfolgt in der stocha-

stischen Theorie keine eindeutige Abbildung vonN(t0) auf spatere Zeitpunktet > t0.

Die Hauptgroße der stochastischen Theorie ist die WahrscheinlichkeitPk(N1, t1;N2, t2; . . . ;Nk, tk),

Ni Teilchen zu einem Zeitpunktti anzutreffen. Fur Markovprozesse (ohne Gedachtnis) und ein-

fache chemische Reaktionen mit∆N = ±1, ist es moglich, eine Gleichung zur Bestimmung

der Wahrscheinlichkeitsverteilung zu finden. Fur einkomponentige Systeme (also auch fur das

Schlogl-Modell) besitzt diese eine eindeutige stationare Losung.

Fur eine numerische Simulation werden jetzt lediglich Elementarereignisse∆N = 0,±1, d.h.

Verweilen und Ab- bzw. Zunahme der Teilchenzahl um±1, betrachtet.

30

3. Modellsysteme Gleichungsbasierte Modelle II

Es werdenUbergangswahrscheinlichkeiten pro Zeiteinheit definiert, die nur verschieden von

Null sind, wenn sich die Teilchenzahl um±1 andert:

WN,N+1≡W+N 6= 0 fur N→ N+1, (3.7)

WN,N−1≡W−N 6= 0 · · · N→ N−1, (3.8)

WN,M ≡ 0 · · · M 6= N−1,N+1, (3.9)

WN,M ≡ 0 · · · N,M < 0. (3.10)

Damit laßt sich eine Pauli-Gleichung formulieren, die ein spezieller Typ der Master-Gleichung

(Haken, 1978; Gardiner, 1985; Malchow & Schimansky-Geier,1985) fur eindimensionale dis-

krete Markovprozesse ist:

dP(N, t)dt

=W+N−1P(N−1, t)+W−N+1P(N+1, t)− (W+

N +W−N )P(N, t) . (3.11)

Zu- und Abfluß der Wahrscheinlichkeit, N Teilchen zum Zeitpunkt t vorzufinden, reduzieren

sich auf die Nachbarzustande. Grundelement der Methode ist die Realisierung einer stochasti-

N+1W P(N+1,t)-+

W P(N-1,t)N-1

W P(N,t)-N

W P(N,t)+N

N-1 N+1N

schen Trajektorie in Abhangigkeit von denUbergangswahrscheinlichkeiten pro Zeiteinheit und

der Wartezeitverteilungsfunktion. Um letztere zu bestimmen, lost man die Pauli-Gleichung

mit der Anfangsbedingung P(N′,0) = δN,N′

und den Randbedingungen P(N′, t) = 0 fur N′ 6= N.

Die Pauli-Gleichung lautet dann

dPN(t)dt

=−(W+N +W−N )PN(t) . (3.12)

PN(t) ist die Wahrscheinlichkeit, daß der Prozeß zur Zeitt den ZustandN noch nicht verlassen

hat. Fur einen Markov-Prozeß findet man daraus als Wartezeitverteilungsfunktion einen Expo-

nentialausdruck

PN(t) = exp

(

− tτN

)

(3.13)

mit der mittleren LebenszeitτN des ZustandesN

τN =1

W+N +W−N

. (3.14)

31

Gleichungsbasierte Modelle II 3. Modellsysteme

Man sieht, daßPN(0) = 1 undPN(∞) = 0, also richtigerweisePN(t)∈ [0,1]. Fur die Zeitt findet

man

t =−τN lnPN(t).

Realisiert man jetzt eine gleichverteilte ZufallszahlRNDM im Intervall [0,1], so ist

t =−τN ln(RNDM)

eine zufallige Zeit mit der VerteilungPN(t), die das System im ZustandN verweilt.

Nach der Zeitt wird das System den ZustandN verlassen. Mit der Wahrscheinlichkeit

W+N τN =

W+N

W+N +W−N

springt es in den ZustandN+1, mit der Wahrscheinlichkeit

W−N τN =W−N

W+N +W−N

in den ZustandN−1.

Realisiert man jetzt eine weitere ZufallszahlRANDOMim Intervall [0,W+N +W−N ], moge sich

die Teilchenzahl um 1 erhohen, wenn giltRANDOM<W+N und umgekehrt.

-WN

+WN

N N N-1N+1

Tragt man in einem(N, t)-Diagramm den ZustandN zur Zeit t auf und wiederholt diese Pro-

zedur nach jedem Schritt, wobei die Lebenszeit jeweils an die des vorhergehenden Zustandes

anknupft, erhalt man eine TrajektorieN(t).

Andererseits kann man die zufalligen Zeiten in allen Zustanden summieren. Die so erhaltene

FunktionQ(N, t) mit t als Dauer des Prozesses ist nach einer Normierung eine der moglichen

Zeitentwicklungen der Wahrscheinlichkeitsverteilungsfunktion. Fur hinreichend große Zeiten

stimmt die normierte FunktionQ(N, t) mit der stationaren Losung der Pauli-Gleichunguberein.

Jetzt wird der Formalismus auf das Schlogl-Modell angewendet. Die Festlegung derUbergangs-

wahrscheinlichkeiten beginnt mit der deterministischen Ausgangsgleichung (3.4) fur die Kon-

zentration des ZwischenproduktesX:

dCX

dt=−k−1C

3X +k1CAC2

X−k2CX +k−2CB .

32

3. Modellsysteme Gleichungsbasierte Modelle II

Jetzt wird ins Teilchenzahlenbild gewechselt durchCX(t) = N(t)/V, und man erhalt nach Mul-

tiplikation mit V

dNdt

=−V

(

k−1N3

V3 −k1CAN2

V2 +k2NV−k−2CB

)

. (3.15)

Eine Neuskalierung durch Einfuhrung dimensionsloser Großen fur Volumenv=V/V0 und Zeit

τ = t/t0 fuhrt nach Multiplikation mitt0 auf

dNdτ

=−v

(

k−1t0N3

v3V20

−k1t0CAN2

v2V0+k2t0

Nv−k−2t0V0CB

)

.

Die Wahl von

t0 =V2

0

k−1, a=

k1

k−1V0CA , b=

k2

k−1V2

0 und c=k−2

k−1V3

0 CB

ergibt schließlich

dNdτ

=−v

(N3

v3 −aN2

v2 +bNv−c

)

=−N3

v2 +aN2

v−bN+vc. (3.16)

Die Ubergangswahrscheinlichkeiten pro Zeiteinheit werden gefunden, indem man in den deter-

ministischen Gewinn- und Verlustraten die ProdukteNk durchN(N−1)(N−2) . . . (N+1−k)

ersetzt (McQuarrie, 1967; Gardiner, 1985). Diese Regel berucksichtigt, daß eines vonN Teil-

chen jeweils nur mit(N−1) anderen Teilchen zusammentreffen kann.

Fur das Schlogl-Modell lauten die Gewinn- und Verlustrate

(dNdτ

)

(+)

= v

(

aN2

v2 +c

)

und

(dNdτ

)

(−)= v

(N3

v3 +bNv

)

. (3.17)

Damit folgt fur dieUbergangswahrscheinlichkeiten pro Zeiteinheit

N→ N+1 ↔ W+N = v

[

aN(N−1)

v2 +c

]

,

N→ N−1 ↔ W−N = v

[N(N−1)(N−2)

v3 +bNv

]

.

Mit diesen Regeln kann die stochastische Simulation begonnen werden. Es wird deutlich, daß

ein deterministischer Attraktor jetzt zugunsten des anderen verlassen werden kann (vgl. Mal-

chow & Schimansky-Geier, 1985, S. 90ff.).

33

Gleichungsbasierte Modelle II 3. Modellsysteme

c Programmbeispiel in FORTRAN 77

program realisdimension n(0:1000000),t(0:1000000)common/rand/ny1,ny2,ny3

c Zahl der stochastischen Uebergaengenstep=500000

c Systemparametera=1.55b=0.595c=0.060481v=100.0

c Anfangswertet(0)=0.n(0)=5

c Stabile Zustaende n1=13, n3=99; instabil n2=44c Anfangswerte des Zufallszahlengenerators RNDM

ny1=77651ny2=129ny3=2097152

c Realisierungdo 100 k=0,nstep

c Uebergangswahrscheinlichkeitenwplus=a*v*(n(k)*(n(k)-1)/(v*v)+c/a)wminus=n(k)*((n(k)-1)*(n(k)-2)/(v*v)+b)

c Summe der Uebergangswahrscheinlichkeitensumofw=wplus+wminus

c Mittlere Aufenthaltszeitdtmean=1.0/sumofw

c Naechster Zeitschrittdt=-dtmean*log(rndm(1.0))

c Neue Zeitt(k+1)=t(k)+dt

c Festlegung des stattfindenden Uebergangsevent=rndm(sumofw)if (event.le.wplus) n(k+1)=n(k)+1if (event.gt.wplus) n(k+1)=n(k)-1

100 continuec Ausgabe von Zeit vs. Teilchenzahl zur Darstellung mit Gnuplot

open(10,file=“real“)write(10,200) (t(k),n(k),k=0,nstep)close(10)

200 format(1x,f15.3,2x,i5)end

c Zufallszahlengenerator

function rndm(s)common/rand/ny1,ny2,ny3ny1=mod (ny1*ny2+1,ny3)rndm=s*float(ny1)/float(ny3)returnend

34

3. Modellsysteme Gleichungsbasierte Modelle II

0

20

40

60

80

100

120

140

160

0 500 1000 1500 2000

Tei

lche

n

Zeit

Stochastische Dynamik des bistabilen Schloegl-Modells

"real"

Abbildung 3.3: Stochastische Realisierung des Schlogl-Modells

3.2 Der deterministische und stochastische Brusselator

Die deterministische Dynamik

Der Brusselator von Prigogine und Lefever (1968) enthalt wie das Schlogl-Modell einen au-

tokatalytischen Reaktionsschritt zweiter Ordnung, d.h., auch eine kubische Nichtlinearitat. Im

Unterschied zu Schlogl werden zwei dynamische Zwischenprodukte eingefuhrt:

Ak1−→←−

k−1

X , (3.18)

B+Xk2−→←−

k−2

Y+D , (3.19)

2X+Yk3−→←−

k−3

3X , (3.20)

Xk4−→←−

k−4

E . (3.21)

A, B, D undE sind wie beim Schlogl-Modell Steuerparameter, die die Reaktion aus dem Gleich-

gewicht treiben konnen. Die Gesamtreaktion ist

AkG−→←−

k−G

E .

Unter der vereinfachenden Annahme irreversibler Reaktionen k−i = 0; i = 1,2,3,4; findet man

35

Gleichungsbasierte Modelle II 3. Modellsysteme

fur die Kinetik der ZwischenprodukteX undY:

dCX

dt= k1CA− (k2CB+k4)CX +k3C

2XCY , (3.22)

dCY

dt= k2CBCX−k3C

2XCY . (3.23)

Die Einfuhrung dimensionsloser Großen erleichtert wieder die Arbeit:

X1 =

k3

k4CX , X2 =

k3

k4CY ,a=

k1

k4

k3

k4CA, b=

k2

k4CB , τ = k4t ,

woraus folgt

dX1

dτ= f1(X1,X2) = a− (b+1)X1+X2

1X2 , (3.24)

dX2

dτ= f2(X1,X2) = bX1−X2

1X2 . (3.25)

Es gibt nur eine stationare Losung(XS1 ,X

S2 ) mit f1(X1,X2) = f2(X1,X2) = 0, namlich

XS1 = a, XS

2 =ba. (3.26)

Die linearen Stabilitatsbedingungen fur stationare Losungen zweikomponentiger Systeme lau-

ten

a11+a22 < 0 , a11a22−a12a21 > 0,

mit den Elementen der Jacobi-Matrix

ai j =∂ fi(XS

1 ,XS2 )

∂Xj; i = 1,2; j = 1,2.

Die erste Stabilitatsbedingung ist erfullt f ur

b< 1+a2 , (3.27)

die zweite immer, unabhangig von der Parameterwahl. Dabei ist der stationare Zustand ein

stabiler Knoten fur 0 < b < (a−1)2 ,

stabiler Fokus fur (a−1)2 < b < a2+1 ,

instabiler Fokus fur a2+1 < b < (a+1)2 ,

instabiler Knoten fur (a+1)2 < b < ∞ .

Wie verhalt sich das System aber fur b> 1+a2, wenn(XS1 ,X

S2 ) instabil ist und keine Trajektorie

diese Losung fur τ→ ∞ anlaufen kann?

36

3. Modellsysteme Gleichungsbasierte Modelle II

Wenn es wie hier nur eine einzige stationare Losung gibt, mussen die Trajektorien entweder ge-

gen unendlich oder gegen eine periodische Losung streben. Kann man zeigen, daß die Losung

beschrankt ist, ist man sicher, daß es mindestens eineperiodische Losung gibt (Tyson, 1976).

Um zu beweisen, daß die Losungen des Brusselators beschrankt sind, reicht es, zu zeigen, daß

jede TrajektorieX1(τ),X2(τ) | 0≤ τ < ∞, die in einem gewissen GebietΩ startet, auch inΩverbleibt.

Man betrachte die Menge

Ω = X1,X2 | X1 > 0,X2 > 0,X2 < α−X1,X2 < β+X1 , (3.28)

wobeiα undβ im Moment noch unbestimmt bleiben. Der Rand vonΩ besteht aus Teilen der

vier Geraden

X1 = 0, X2 = 0, X2 = α−X1 , X2 = β+X1 .

Sei~e1 = (1,0) der Einheitsvektor in Richtung derX1-Achse,~e2 = (0,1) der auf derX2-Achse

und

~w= ~e1dX1

dτ+~e2

dX2

dτ=

(dX1

dτ,dX2

)

(3.29)

das durch den Brusselator definierte Vektorfeld. Es soll gezeigt werden, daß dieses Vektorfeld

~w von jedem Punkt des Randes∂Ω in das GebietΩ hineinzeigt, d.h.

~w ·~n< 0 auf ∂Ω ,

wenn~n der nach außen gerichtete Normalenvektor auf∂Ω ist.

Auf dem linken Teil des Randes mitX1 = 0,~n= (−1,0) gilt

~w ·~n |X1=0 =−dX1

∣∣∣X1=0

=−a< 0.

Auf dem unteren Teil des Randes mitX2 = 0,~n= (0,−1) gilt

~w ·~n |X2=0 =−dX2

∣∣∣X2=0

=−bX1 < 0.

Gilt X1 = X2 = 0, kann auch keine Trajektorie das Gebiet verlassen, denn fur (X1(0),X2(0)) =

(0,0) ist X1(τ)> 0 und damit auchX2(τ)> 0 fur ein Zeitintervall 0< τ < ε.

Auf dem rechten oberen Rand istX2 = α−X1,~n= (1,1) und

~w ·~n |X2=α−X1=

(dX1

dτ+

dX2

)

X2=α−X1

= a−X1 < 0 fur X1 > a.

37

Gleichungsbasierte Modelle II 3. Modellsysteme

Fur jedesα > 0 istX2 = α−X1 eine ausreichende Grenze, solangeX1 > a bleibt.

Ist X1 < a, wird X2 = β+X1 als linker oberer Rand vorgeschlagen. Mit~n= (−1,1) folgt

~w ·~n |X2=β+X1=

(dX1

dτ+

dX2

)

X2=β+X1

=−a+(2b+1)X1−2X21X2 < 0 ???

Damit dieser Ausdruck kleiner Null wird, muß gelten

X2 >(2b+1)X1−a

2X21

.

Die rechte Seite erreicht ihr Maximum(2b+1)2/8a beiX1 = 2a/(2b+1). Fur den betrachteten

Bereichb> 1+a2 ist dieses Maximum immer kleiner alsa, X1 = 2a/(2b+1)< a, man ist also

in der richtigen Region.

Jetzt mußβ so gewahlt werden, daß die GeradeX2 = β+X1 durch den PunktX1 = 2a/(2b+

1),X2 = (2b+1)2/8a verlauft. Daraus folgt

β =(2b+1)3−16a2

8a(2b+1).

Schließlich wirdα so gewahlt, daß sich die GeradenX2 = α−X1 undX2 = β+X1 bei X1 = a

schneiden, d.h.α = 2a+ β. Damit ist bewiesen, daß der Brusselator fur b > 1+a2 be-

schrankte Losungen, also wenigstens eine stabile periodische Losung hat (Tyson, 1976,

S. 16ff.).

0

1

2

3

4

5

6

7

0 1 2 3 4 5 6 7 8

X(2

)

X(1)

Beschraenkte periodische Loesung des Bruesselators

+

a=1, b=3Instabile Loesung X(1) = a, X(2) = b/a

X(2) = 5.84 + X(1)

X(2) = 7.84 - X(1)

X(1) = a

Abbildung 3.4: Beschrankte periodische Losung des deterministischen Brusselators

38

3. Modellsysteme Gleichungsbasierte Modelle II

Die stochastische Dynamik

Ausgangspunkt sind wie beim Schlogl-Modell die deterministischen Gleichungen (3.22,3.23).

Die stationare Losung in dimensionierten Großen lautet

CSX =

k1CA

k4, CS

Y =k4k2CB

k3k1CA.

Honerkamp (1990) hat einen Parameterη eingefuhrt, namlich

η =2k4

k2CB.

Die stationare Losung ist dann stabil fur

η > ηc = 2

(

1−CSX

CSY

)

= 2

(

1− k3k21C

2A

k24k2CB

)

und instabil fur η < ηc (Grenzzyklus).

Fur die stochastische Behandlung wird zu TeilchenzahlenNX, NY im VolumenV ubergegangen.

Die beim irreversiblen Brusselator moglichenUbergange sind hier skizziert:

t t t

t t t

t t t

NX,NY

NX +1,NYNX−1,NY

NX−1,NY +1

NX +1,NY−1

Fur die vierUbergangswahrscheinlichkeiten gilt:

(1) NX,NY −→ NX +1,NY:

w(NX +1,NY |NX,NY) ≡ w(1)(NX,NY) = Vk1CA,

39

Gleichungsbasierte Modelle II 3. Modellsysteme

(2) NX,NY −→ NX−1,NY +1 :

w(NX−1,NY +1|NX,NY) ≡ w(2)(NX,NY) = k2CBNX,

(3) NX,NY −→ NX +1,NY−1:

w(NX +1,NY−1|NX,NY) ≡ w(3)(NX,NY) = k3NX(NX−1)NY/V2 ,

(4) NX,NY −→ NX−1,NY:

w(NX−1,NY |NX,NY) ≡ w(4)(NX,NY) = k4NX.

Damit lautet die Mastergleichung

∂P(NX,NY, t)∂t

= w(1)(NX,NY |NX−1,NY)P(NX−1,NY)

+ w(2)(NX,NY |NX +1,NY−1)P(NX +1,NY−1)

+ w(3)(NX,NY |NX−1,NY +1)P(NX−1,NY +1)

+ w(4)(NX,NY |NX +1,NY)P(NX +1,NY)

− [w(1)(NX +1,NY |NX,NY) (3.30)

+ w(2)(NX−1,NY +1|NX,NY)

+ w(3)(NX +1,NY−1|NX,NY)

+ w(4)(NX−1,NY |NX,NY) ]P(NX,NY).

Ubungsaufgabe:Numerische Berechnung der stochastischen Trajektorien, graphische Darstel-

lung und Vergleich mit der deterministischen Losung.

Parameterwerte:

1. k1 = 10,k2 = 1,k3 = 10−4,k4 = 1,CA = 10,CB = 1

(⇒ η = 2,ηc = 0),V = 1,NX(0) = 1,NY(0) = 1;

2. k1 = 1.225,k2 = 1,k3 = 5·10−5,k4 = 0.15,CA = 1.225,CB = 1

(⇒ η = 0.3,ηc = 0.5),V = 0.1,NX(0) = 1,NY(0) = 1.

3.3 Das chaotische Lorenz-Modell

Das bekannteste und bereits im Grundlagen-Kapitel 2.2.1 erwahnte Beispiel eines dreikompo-

nentigen autonomen Differentialgleichungssystems mit chaotischen Schwingungen ist sicher

das von Edward Lorenz (1963), der versucht hat, ein Modell fur denUbergang vom konvekti-

ven zum turbulenten (chaotischen) Warmetransport in einem Temperaturgradienten aufzustel-

len, vgl. Schuster (1994, S. 9-11).

40

3. Modellsysteme Gleichungsbasierte Modelle II

Ausgangspunkt war das im Abschnitt 2.2.1 beschriebene Experiment von Benard. Lorenz hat

die komplizierten partiellen Differentialgleichungen fur Warme- und Flussigkeitsbewegung auf

ein einfach erscheinendes System von 3 gewohnlichen Differentialgleichungen reduziert:

dXdt

=−σ(X−Y) ,dYdt

= rX−Y−XZ ,dZdt

= XY−bZ. (3.31)

Dabei sindσ und b dimensionslose Konstanten, die Materialeigenschaften des Systems be-

schreiben, undr ist ein externer Kontrollparameter, der proportional zur Temperaturdifferenz

∆T ist. Die VariableX ist proportional zur Geschwindigkeit, mit der die Flussigkeit zirkuliert,Y

charakterisiert die Temperaturdifferenz zwischen auf- und absteigenden Flussigkeitselementen,

undZ ist proportional zur Abweichung des vertikalen Temperaturprofils von seinem Gleichge-

wichtswert.

Die numerische Analyse dieser so einfach aussehenden Differentialgleichungen ergibt, daß ihre

Zustandsgroßen oberhalb einer Schwelle∆T chaotisches Verhalten zeigen.

Das Lorenz-Modell kann drei stationare Zustande(XS,YS,ZS) besitzen, vgl. Jetschke (1989).

Die triviale Losung(XS1 ,Y

S1 ,Z

S1) = (0,0,0) existiert stets und entspricht der ruhenden Flussig-

keit.

Die beiden Losungen(XS2,3 =YS

2,3,ZS2,3) = (±

b(r−1), r−1) existieren erst fur r > 1 und ent-

sprechen dem Vorliegen von Konvektionszellen.

Die Eigenwertgleichung fur die lineare Stabilitatsanalyse einer stationaren Losung

(XS,YS,ZS) lautet∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣

−σ−λ σ 0

r−ZS −1−λ −XS

YS XS −b−λ

∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣

= 0 .

Fur die triviale Losung erhalt man

(λ+b)[λ2+(σ+1)λ−σ(r−1)

]= 0 ,

so daß(XS1 ,Y

S1 ,Z

S1)= (0,0,0) fur 0< r < 1 ein asymptotisch stabiler Knoten ist. Beir = 1 kreuzt

ein reeller Eigenwert die imaginare Achse (d.h.λ1 = 0,λ3 < λ2 < 0), so daß die Nullosung fur

r > 1 ein Sattelpunkt ist.

Fur die beiden anderen Losungen erhalt man die charakteristische Gleichung

λ3+(σ+1+b)λ2+b(σ+ r)λ+2bσ(r−1) = 0 .

41

Gleichungsbasierte Modelle II 3. Modellsysteme

Fur r > 1 soll das Routh-Hurwitz-Kriterium angewendet werden:

Alle Nullstellen des Polynoms

anλn+an−1λn−1+ . . .+a1λ+a0 = 0 .

mit reellen Koeffizientenai ; i = 0,1,2, ...,n; unda0 > 0;an 6= 0 liegen genau dann in der linken

offenen Halbebene, wenn alle Determinanten

a1,

∣∣∣∣∣∣∣

a1 a0

a3 a2

∣∣∣∣∣∣∣

,

∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣

a1 a0 0

a3 a2 a1

a5 a4 a3

∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣

, . . . ,

∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣

a1 a0 0 0 · · · 0

a3 a2 a1 0 · · · 0...

......

.... ..

...

a2n−1 a2n−2 a2n−3 a2n−4 · · · an

∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣

,

(mit am = 0 fur m> n) positiv sind, vgl.Teubner-Taschenbuch der Mathematik(Hrsg. E. Zeid-

ler, 1996, S. 477).

Hier haben wira3 = 1,a2 = σ+ 1+ b,a1 = b(σ + r) und a0 = 2bσ(r − 1). Daher folgt als

Stabilitatsbedingung fur (XS2,3 =YS

2,3,ZS2,3) undσ > b+1

1< r < rc = σσ+b+3σ−b−1

.

Bei r = rc kreuzt ein Paar konjugiert-komplexer Eigenwerte die imaginare Achse, so daß(XS2,3=

YS2,3,Z

S2,3) fur r > rc instabil werden.

Fur r > rc existiert keine stabile Losung mehr. Trotzdem bleiben alle Losungen endlich. Trajek-

torien mit großen Anfangswerten werden in Richtung auf den Koordinatenursprung gedampft.

Bezeichnet man mit~f den Vektor der ReaktionsfunktionenX,Y, Z, ergibt die Berechnung

der Dampfungsrate im Zustandsraum mittels derDivergenz

div~f =∂X∂X

+∂Y∂Y

+∂Z∂Z

=−(σ+b+1)< 0 ,

so daß alle Zustandsraumvolumina gleichmaßig kontrahieren. Die Divergenz eines Vektors in

einem Vektorfeld gibt denUberschuß des ausstromendenuber den einstromenden Vektorfluß

durch die Umrandung eines Volumenelementes im Verhaltnis zu seiner Große an (Quellener-

giebigkeit). Eine spezielle analytische Losung mit dieser Eigenschaft ist

X(t) = 0;Y(t) = 0;Z(0) = exp−bt .

Numerische Integrationen im Parameterbereichr > rc zeigen:

i) Die Integralkurven X(t) und Y(t) oszillieren unregelmaßig um

±√

b(r−1) und klappen zu scheinbar zufalligen Zeiten um.

42

3. Modellsysteme Gleichungsbasierte Modelle II

ii) Die Trajektorien sind aufspiralende Oszillationen um+√

b(r−1), denen ein plotzlicher

Sprung folgt, worauf die Bahn um−√

b(r−1) aufspiralt und wieder nach+√

b(r−1)

springt. Das Ganzeahnelt dem Kreisen einer Fliege um 2 Lampen. Der Attraktor besteht

aus vielen, raumlich sehr eng liegenden Blattern (Blatterteigstruktur).

iii) F ur t→∞ tritt eine rasche Konvergenz gegen einen(seltsamen) Attraktor (engl.strange

attractor) ein, der beim Benard-Problem der Turbulenz entspricht.

iv) Registriert man aufeinanderfolgende MaximaZ1,Z2, . . . von Z(t), so gibt es eine nahezu

funktionale AbhangigkeitZk+1 = φ(Zk) in Form einer spitzdachahnlichen Abbildung, die

auf eine tieferliegende Gesetzmaßigkeit hinweist.

Lorenz-Modell mit r=60.0 und 2 benachbarten Anfangsbedingungen

-30-20

-100

1020

30

x

-40-20

020

4060

y

30

60

90

z

-40

-20

0

20

40

60

-30 -20 -10 0 10 20 30

y

x

Projektion in die (x,y)-Ebene

2 benachbarte Anfangsbedingungen

10

20

30

40

50

60

70

80

90

100

-30 -20 -10 0 10 20 30

z

x

Projektion in die (x,z)-Ebene

2 benachbarte Anfangsbedingungen

20

40

60

80

100

120

-40 -20 0 20 40

z

y

Projektion in die (y,z)-Ebene

2 benachbarte Anfangsbedingungen

Abbildung 3.5: Der Lorenzattraktor und seine Projektionen.

43

Gleichungsbasierte Modelle II 3. Modellsysteme

-40

-30

-20

-10

0

10

20

30

40

50

0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10

Diff

eren

zen

Zeiteinheiten

Divergierende Anfangsbedingungen im Lorenz-Modell

65

70

75

80

85

90

95

100

65 70 75 80 85 90 95

Aufeinanderfolgende Maxima von Z beim Lorenzattraktor

b = 8/3Sigma = 10

r = 60

’map’

Abbildung 3.6: Entfernung unterschiedlicher Anfangsbedingungen und Amplitudenabbildung

beim Lorenzattraktor.

3.4 Literaturhinweise

GARDINER, C. W. (1985). Handbook of stochastic methods, vol. 13 of Springer Series in

Synergetics. Berlin: Springer.

HAKEN , H. (1978). Synergetics. An introduction, vol. 1 of Springer Series in Synergetics.

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HONERKAMP, J. (1990).Stochastische dynamische Systeme: Konzepte, numerische Methoden,

Datenanalysen. Weinheim: VCH.

JETSCHKE, G. (1989). Mathematik der Selbstorganisation. Frankfurt/Main: Verlag Harri

Deutsch.

LORENZ, E. N. (1963). Deterministic nonperiodic flow.Journal of Atmospheric Sciences20,

130–141.

MALCHOW, H. & SCHIMANSKY-GEIER, L. (1985).Noise and diffusion in bistable nonequili-

brium systems, vol. 5 ofTeubner-Texte zur Physik. Leipzig: Teubner-Verlag.

MCQUARRIE, D. A. (1967).Stochastic approach to chemical kinetics, vol. 8 ofSupplementary

Review Series in Applied Probalility. Methuen’s Monographs on Applied Probability and

Statistics. London: Methuen.

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systems, II.Journal of Chemical Physics48(4), 1695–1700.

SCHLOGL, F. (1972). Chemical reaction models for nonequilibrium phase transitions.Zeit-

schrift fur Physik253, 147–161.

44

3. Modellsysteme Gleichungsbasierte Modelle II

SCHUSTER, H. (1994).Deterministisches Chaos. Eine Einfuhrung. Weinheim: VCH.

THOM, R. (1975).Structural stability and morphogenesis. Reading: Benjamin.

TYSON, J. J. (1976).The Belousov-Zhabotinskii reaction, vol. 10 ofLecture Notes In Bioma-

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ZEIDLER, E. (ed.) (1996).Teubner-Taschenbuch der Mathematik. Stuttgart und Leipzig: B.G.

Teubner.

45

Gleichungsbasierte Modelle II 3. Modellsysteme

46

Gleichungsbasierte Modelle II 4. Raumzeitliche Strukturbildung

4. Dissipative Strukturbildung

in raumzeitlich kontinuierlichen Systemen

Literatur: Segel (1980); Trapp & Matthies (1996); Murray (2002, 2003);

Okubo & Levin (2001).

Bisher wurden nur lokale Prozesse wie chemische Reaktionen oder biologisches Wachstum und

Wechselwirkungen untersucht. Doch sind in der Umwelt naturlich nicht nurortlich fixierte Pro-

zesse von Bedeutung, sondern kommt der raumlichen Verbreitung von Stoffen und Organismen

eine ganz wesentliche Bedeutung zu.

4.1 Reaktion und Diffusion (RD)

Experiment: Man gebe vorsichtig einen Tropfen Tinte in ein Wasserglas.

Zunachst ist der Tropfen deutlich abgegrenzt tiefblau. Nach einer relativ kur-

zen Zeit ist das Wasser aber gleichmaßig eingefarbt. Diese Durchmischung oh-

ne außere Einwirkung erfolgt durch die ungerichtete zufallige Bewegung von

Wasser und Tinte.Random Walk

Die mikroskopische Warmebewegung von Molekulen fuhrt zur Durchmischung und damit ma-

kroskopisch zum Ausgleich von Konzentrationsunterschieden. Teilchen oder Molekule stromen

von Orten hoherer zu Orten niedrigerer Konzentration. Dieser Zusammenhang wurde zuerst von

A. Fick (1855) mathematisch formuliert und wirdmolekulare Diffusion genannt.

Zur Ableitung der phanomenologischen Diffusionsgleichung in einer raumlichen Dimensionx

(o.B.d.A.) stelle man folgendeUberlegungen an:

Die zeitliche Anderung der KonzentrationC(x, t) ei-

nes Stoffes in einem Raumintervall[x0,x0+∆x] ergibt

sich aus derAnderung durch Transformation (Reakti-

on, Wachstum, usw.)f [C(x, t)] in diesem Intervall so-

wie dem ZuflußJC(x0, t) vermindert um den Abfluß

JC(x0+∆x, t):

x

J

C(x,t)

f[C(x,t)]

x

C

0 0+ x∆x

Einheitsflächen

∂∂t

∫ x0+∆x

x0

C(x′, t)dx′ =∫ x0+∆x

x0

f [C(x′, t)]dx′+JC(x0, t)−JC(x0+∆x, t) .

Man beachte, daß der FlußJC eigentlich ein Vektor in x-Richtung ist, d.h. normal zu den oben

gekennzeichneten Durchflußflachen. Das wird an dieser Stelle zur Vereinfachung nicht beruck-

sichtigt.

47

4. Raumzeitliche Strukturbildung Gleichungsbasierte Modelle II

DaC jetzt eine Funktion von Raum und Zeit ist, mussen die entsprechenden Ableitungen partiell

genommen werden. Nach Division durch∆x und Grenzubergang∆x→ 0 findet man

∂C(x, t)∂t

= f [C(x, t)]− ∂∂x

JC(x, t) .

Der Diffusionsfluß ist proportional zum Konzentrationsgradienten

JDi f fC (x, t) ∝− ∂

∂xC(x, t) ,

wobei das Minuszeichen die Flußrichtung von hoheren zu niedrigeren Konzentrationen anzeigt.

Die Proportionalitatskonstante ist derDiffusionskoeffizientoder dieDiffusivit at Dx der betref-

fenden Substanz der KonzentrationC(x, t), womit folgt

JDi f fC (x, t) = −Dx

∂∂x

C(x, t) , (4.1)

∂C(x, t)∂t

= f [C(x, t)]+∂∂x

[

Dx∂∂x

C(x, t)

]

. (4.2)

Gl. (4.1) ist das sogen.erste Ficksche Gesetz, wahrend Gl. (4.2) alszweites die Massenbilanz

beschreibt. Der Diffusionskoeffizient ist abhangig von Temperatur, Druck und Volumen, kann

aber auch zeit-, orts- und dichteabhangig sein.

Verallgemeinert fur 3 Raumdimensionen lauten diese Gleichungen

~JDi f fC (~r, t) = −DC ·~∇C(~r, t) , (4.3)

mit dem Ortsvektor ~r =~exx+~eyy+~ezz ,

dem Nabla-Operator ~∇ =~ex∂∂x

+~ey∂∂y

+~ez∂∂z

,

und der Diffusionsmatrix DC =

Dx 0 0

0 Dy 0

0 0 Dz

,

sowie

∂C(~r, t)∂t

= f [C(~r, t)]+~∇ ·[

DC ·~∇C(~r, t)]

bzw. (4.4)∂C(~r, t)

∂t= f [C(~r, t)]+

[∂∂x

(

Dx∂∂x

)

+∂∂y

(

Dy∂∂y

)

+∂∂z

(

Dz∂∂z

)]

C(~r, t) .

48

Gleichungsbasierte Modelle II 4. Raumzeitliche Strukturbildung

Fur ein isotropes Medium, d.h. fur konstante gleiche DiffusionskoeffizientenDx = Dy = Dz =

DC in alle Richtungen, erhalt man fur 1 Raumdimension

∂C(x, t)∂t

= f [C(x, t)]+DC∂2

∂x2 C(x, t) ,

fur 3 Raumdimensionen folgt

∂C(~r, t)∂t

= f [C(~r, t)]+DC ∆C(~r, t)

mit dem Laplace-Operator .

∆ = ~∇2 =∂2

∂x2 +∂2

∂y2 +∂2

∂y2 . (4.5)

Molekulare Diffusion taucht in allen Umweltmedien (Wasser, Boden, Luft) auf.Diffusion ist

eine Eigenschaft des Molekuls (Warmebewegung).

Andere Mischungsprozesse lassen sich mit analogen Gleichungen beschreiben, obwohl ihre Ur-

sache nicht die molekulare Diffusion ist. DurchTurbulenz des bewegten umgebenden Medi-

ums (zufallige Geschwindigkeitsschwankungen in alle Richtungen) wird ein ahnlicher Durch-

mischungsprozeß erzeugt, derDispersion genannt wird.Dispersion ist eine Eigenschaft des

bewegten umgebenden Mediumsund von den Molekuleigenschaften unabhangig. Dabei ist die

Dispersion oft einige Großenordnungen schneller als die reine Diffusion. Formal wird sie aber

wie die molekulare Diffusion beschrieben.

4.2 Reaktion und Advektion (Konvektion)

Durch die Bewegung des Mediums wird ein darin enthaltener Stoff mittransportiert. Man spricht

vonAdvektion oderKonvektion. Der entsprechende Advektionsfluß ist in 1 Raumdimension

JAdvC (x, t) = vxC(x, t) (4.6)

mit der Geschwindigkeitvx in x-Richtung. Die Kontinuitatsgleichung lautet hier

∂C(x, t)∂t

= f [C(x, t)]− ∂∂x

[vxC(x, t)] . (4.7)

Verallgemeinert fur 3 Raumdimensionen folgt

~JAdvC (~r, t) =~vCC(~r, t) (4.8)

mit dem Geschwindigkeitsvektor~vC =~exvx+~eyvy+~ezvz sowie

∂C(~r, t)∂t

= f [C(~r, t)]−~∇ · [~vCC(~r, t)] . (4.9)

49

4. Raumzeitliche Strukturbildung Gleichungsbasierte Modelle II

Fur konstante Geschwindigkeit ergibt sich

∂C(~r, t)∂t

= f [C(~r, t)]−(

~vC ·~∇)

C(~r, t)

bzw.∂C(~r, t)

∂t= f [C(~r, t)]−

(

vx∂∂x

+vy∂∂y

+vz∂∂z

)

C(~r, t) .

Die Geschwindigkeit kann in biologischen Systemen auch diegerichteteEigenbewegungvon

Organismen beschreiben.

Diffusion und Advektion sind universelle Vorgange. Folglich treten sie auch in allen Umwelt-

medien auf und mussen Bestandteil der entsprechenden Modellierungen sein.Die Menge der

Stoffe oder Organismen wird durch Advektion oder Diffusionnicht verandert. Es handelt sich

um reine Transportprozesse.

4.3 Kombination von Reaktion, Diffusion und Advektion (RDA)

Durch Kombination der Diffusions- und Advektionsprozesseerhalt man

∂C(~r, t)∂t

= f [C(~r, t)]−~∇ ·[

~vCC(~r, t)−DC ·~∇C(~r, t)]

. (4.10)

Fur 1 Raumdimension und konstante Geschwindigkeit bzw. Diffusion folgt

∂C(x, t)∂t

= f [C(x, t)]−vx∂∂x

C(x, t)+Dx∂2

∂x2 C(x, t) . (4.11)

Diese partiellen Differentialgleichungen nennt manReaktions-Diffusions-Advektions-Glei-

chungen, mit denen eine Vielzahl raumzeitlicher Prozesse in kontinuierlichen naturlichen, so-

zialen oder technischen Systemen mathematisch beschrieben werden kann.

Zur Losung partieller Differentialgleichungen muß man nicht nur die Anfangsbedingungen

(zeitlich), sondern auch dieRandbedingungen(raumlich) beachten. Typisch sindDirichlet -

Randbedingungen, bei denen der Wert der Zustandsgroße am Rand fixiert ist, d.h.

C(0, t) =CR1 , C(L, t) =CR2 mit 0≤ x≤ L , (4.12)

undNeumann-Randbedingungen, bei denen der Gradient der Zustandsgroße am Rand festge-

legt ist, z.B. Null-Fluß-Bedingungen

∂∂x

C(0, t) =∂∂x

C(L, t) = 0 . (4.13)

Außerdem konnen gemischte Randbedingungen oder unendlich ausgedehnte Systeme unter-

sucht werden.

50

Gleichungsbasierte Modelle II 4. Raumzeitliche Strukturbildung

Zur analytischen Losung partieller Differentialgleichungen gibt es Techniken wie dieSepara-

tion der Variablen oder dieLaplace-Transformation, auf die an dieser Stelle aber nicht naher

eingegangen werden kann.

Es sei aber eine analytische Beispiellosung fur folgende Reaktionsfunktion, Anfangs- und Rand-

bedingungen in 1D angegeben:

• die Reaktion sei eine einfache Abbaureaktionf (C) =−λC,

• der (Diffusions-)DispersionskoeffizientDx sei zeitlich und raumlich konstant,

• zur Zeitt = 0 sei die betreffende Substanz beix= 0 konzentriert,

d.h.C(x,0) =C0δ(x) mit derDelta-Funktion δ(x) =

∞ fur x= 0 ,

0 sonst,

• die Fließgeschwindigkeitvx sei konstant,

• das System sei raumlich nicht begrenzt undC(±∞, t) = 0.

Dann lautet die analytische Losung

C(x, t) =C0√4πDxt

exp

−(x−vxt)2

4Dxt

exp−λt . (4.14)

Die ersten beiden Faktoren entsprechen der Losung der Diffusions-Advektionsgleichung. Die

Losung entspricht einer Stoffwelle, die sich bei ihrer Bewegung in x-Richtung durch Diffusion

verbreitert und durch Stoffabbau an Masse verliert.

1t

t2t3

C

t = 0

0 x

Diffusion Advektion Abbau

Abbildung 4.1: Abbau, Diffusion und Advektion einer “Schadstoffwolke“.

Ubungsaufgabe:Beweisen Sie, daß der angegebene Ausdruck (4.14) Losung der Reaktions-

Diffusions-Advektionsgleichung unter o.g. Bedingungen ist!

51

4. Raumzeitliche Strukturbildung Gleichungsbasierte Modelle II

4.4 Lineare Reaktions-Diffusionssysteme

4.4.1 Exponentielles Wachstum und Diffusion

Hier soll noch einmal separat auf Reaktions-Diffusionssysteme mit linearer Reaktions- oder

Wachstumsfunktion im 1D-Raum eingegangen werden, d.h. zunachst fur nur eine Zustands-

große

∂C(x, t)∂t

= f (C)+DC ∆C(x, t) (4.15)

mit f (C) = EC,E undDC = const. und∆ = ∂2/∂x2 fur 1 Dimension−∞ < x<+∞,C(0,0) =

C0δ(x). Das raumlich homogene System liefert exponentielles Wachstum (E > 0) bzw. Zerfall

(E< 0). In chemischen Systemen wurde man furE> 0 von reversibler Autokatalyse 1. Ordnung

sprechen, d.h.

A+Ck+−→ 2C , C

k−−→ B ⇒ E = k+CA−k− ,

in biologischen von Geburts- und Sterbeprozessen.

Die analytische Losung ist Teil der oben angegebenen Gesamtlosung (4.14), wenn man den

Advektionsfaktor vernachlassigt:

C(x, t) =C0√4πDxt

exp

− x2

4Dxt

expEt . (4.16)

Dieses einfache Modell hat sich bewahrt bei der Beschreibung von

• Patchiness (instationare Planktonverteilungen, KISS-Modell von Kierstead & Slobodkin,

1953),E > 0;

• Ausbreitung einer Population, z.B. Bisamratten, vgl. Skellam (1951); Elton (1958); Oku-

bo (1980);E > 0;

• Ausbreitung von Proteinen auf Zellmembranen (Koppelet al., 1980),E > 0;

• Transport und Abbau von Schadstoffen (James, 1993; Trapp & Matthies, 1996),E < 0;

usw.

Fur E > 0 breitet sich der Stoff bei exponentiell wachsender Gesamtkonzentration mit einer

Reaktions-Diffusionsfront in x-Richtung aus.

52

Gleichungsbasierte Modelle II 4. Raumzeitliche Strukturbildung

R. Luther hat sich bereits1906 mit der raumlichen Fortpflanzung chemischer Reaktionen

beschaftigt. Er untersuchte obige Reaktion 1. Ordnung und schatzte die sich fur große Zeiten

einstellende Geschwindigkeit der Reaktions-Diffusionsfront ab. Denkt man sich einen Punkt

auf der Front, an dem sich bei der Ausbreitung die Konzentration C(x, t) nicht andert, z.B.

C(x, t) =CF , dann verschwindet an dieser Stelle der Front der Zuwachs (das totale Differential)

von C

dC=∂C∂x

dx+∂C∂t

dt = 0 =⇒ ∂C∂x

dxdt

+∂C∂t

= 0 .

CF

t1

x

C

t

Fv

2

Abbildung 4.2: Diffusionsfront bei exponentiellem Wachstum.

Setzt man die oben angegebene Losung (4.16) der Reaktions-Diffusionsgleichung ein, so findet

man fur die Geschwindigkeit der Front

dxdt

=2EDCt

x+

x2t− DC

x. (4.17)

Fuhrt man die Geschwindigkeit der FrontvF bei Annahme gleichformiger Bewegung ein,

vF =dxdt≈ x

t

folgt aus Gl. (4.17)

vF =2EDC

vF+

vF

2− DC

vFt,

v2F = 4EDC−

2DC

t.

Bildet man jetzt den Grenzwert fur große Zeitent → ∞, erhalt man fur die Ausbreitungsge-

schwindigkeit

vF = 2√

EDC . (4.18)

Das Ergebnis sind stetsr aumlich homogene Verteilungen(0 oder∞), d.h. es entstehenkeine

r aumlichen Konzentrationsmuster.

53

4. Raumzeitliche Strukturbildung Gleichungsbasierte Modelle II

4.4.2 Exponentielles Wachstum, Diffusion, Konkurrenz und Selektion

durch konstante Gesamtsortenkonzentration

M. Eigen (1971) untersuchte Ende der 60er Jahre die Evolution biologischer Makromolekule

und entwickelte spater mit P.Schusterdie Hyperzyklustheorie der naturlichen Selbstorganisa-

tion (Eigen & Schuster, 1977, 1978a,b). An dieser Stelle soll nur die Evolution eines Systems

ausn Spezies in Konkurrenz durch die Nebenbedingung der konstanten GesamtsortendichteC

betrachtet werden:n

∑i=1

Ci =C= const. ,∂∂t

n

∑i=1

Ci = C= 0 . (4.19)

Lokal wird die konstante Gesamtsortenkonzentration bei individuellem exponentiellem Wachs-

tum durch eine Art”Verdunnung“ mit der Ratek0 gesichert:

Ci = EiCi−k0Ci ,n

∑i=1

Ci =n

∑i=1

EiCi−k0

n

∑i=1

Ci = 0. (4.20)

Diese Verdunnungsrate kann als”mittlere lokale Replikationsrate“EL interpretiert werden:

k0 = EL(t) =

n

∑i=1

EiCi

n

∑i=1

Ci

=1C

n

∑i=1

EiCi . (4.21)

Die GroßeCi/C hat die Eigenschaften einer Wahrscheinlichkeit, d.h.,∑i Ci/C = 1. Um

den Mittelwert einer Zufallsgroße zu erhalten, muß man jeden ihrer moglichen Werte mit

der ihm entsprechenden Wahrscheinlichkeit multiplizieren und alle so erhaltenen Produkte

addieren, vgl. z.B. Gnedenko & Khinchin (1973); Gnedenko (1997).

Bei Berucksichtigung des Raumes, d.h. hier von Diffusionsprozessen, fuhrt man durch Integra-

tion uber das VolumenV eine”mittlere raumliche Replikationsrate“E(t) ein:

E(t) =

n

∑i=1

Ei

∫V

CidV′

n

∑i=1

∫V

CidV′=

1CV

n

∑i=1

Eici mit ci(t) =∫

VCidV′ und

1CV

n

∑i=1

ci(t) = 1 . (4.22)

Fur die Reaktions-Diffusionsgleichung folgt

∂Ci

∂t= (Ei− E)Ci +Di∆Ci ; i = 1,2, . . . ,n. (4.23)

Fur die Losung wird angesetzt (Joneset al., 1976)

Ci(V, t) =Yi(V, t) exp

−∫

tE(t ′)dt′

. (4.24)

54

Gleichungsbasierte Modelle II 4. Raumzeitliche Strukturbildung

Bei Einsetzen in Gl.(4.23) erhalt man nach Division durch den Exponentialausdruck

Yi− EYi = (Ei− E)Yi +Di∆Yi

und schließlich das System entkoppelter Reaktions-Diffusionsgleichungen

Yi = EiYi +Di∆Yi ; i = 1,2, . . . ,n; (4.25)

mit der bekannten Losung (4.16).

Fur die mittlere raumliche Replikationsrate (4.22) ergibt sich nach Einsetzen von (4.24)

E =

n

∑i=1

Ei

∫V

Yi exp

−∫

tEdt′

dV′

n

∑i=1

∫V

Yi exp

−∫

tEdt′

dV′.

Nach Kurzen des Exponentialausdrucks folgt

E =

n

∑i=1

∫V

EiYidV′

n

∑i=1

∫V

YidV′=

n

∑i=1

∫V

∂Yi

∂t−Di∆Yi

dV′

n

∑i=1

∫V

YidV′.

Unter Annahme von Null-Fluß-Randbedingungen verschwindetdas Integraluber den Diffu-

sionsterm im Zahler, und man erhalt schließlich

E =∂∂t

lnn

∑i=1

∫V

YidV′ . (4.26)

Integrationuber die Zeit und Anwendung der Exponentialfunktion liefern

exp

−∫

tEdt′

= exp

− lnn

∑i=1

∫V

YidV′

=1

n

∑i=1

∫V

YidV′.

Fur die Große

yi(t) =∫

VYidV′ ,

findet man aus Gl. (4.25) die Losung

yi(t) = yi(0)expEit .

Da gilt yi(0) = ci(0), vgl. Gl. (4.22), ergibt sich die Gesamtlosung also zu

Ci(V, t) =Yi(V, t)

n

∑i=1

∫V

YidV′=

Yi(V, t)n

∑i=1

ci(0)expEit; i = 1,2, . . . ,n. (4.27)

55

4. Raumzeitliche Strukturbildung Gleichungsbasierte Modelle II

Da Gl.(4.23) invariant ist gegen Transformationen der FormE′i = Ei + ε mit beliebigemε kann

man die Menge derEi festsetzen auf

Ei ≤ 0 mit maxiEi= 0 ; i = 1,2, . . . ,n. (4.28)

Dann gilt fur die mittlere raumliche Replikationsrate

E(t) =1

CV

n

∑i=1

Eici(t) ≤ 0 (4.29)

und fur ihre zeitliche EntwicklungdEdt

=1

CV

n

∑i=1

Eidci(t)

dt

=1

CV

n

∑i=1

Ei (Ei− E)ci

=1

CV

[n

∑i=1

E2i ci− E

n

∑i=1

Eici

]

= E2− E2 ,

alsodEdt≥ 0 . (4.30)

Beweis:vgl. Gnedenko & Khinchin (1973)

Formal kann man schreibenE2− E2 = E2−2E2+ E2 .

Außerdem gilt 2E2 = 2EE = 2E1

CV

n

∑i=1

Eici =1

CV

n

∑i=1

2EEici ,

E2 = E2 1CV

n

∑i=1

ci

︸ ︷︷ ︸

1

=1

CV

n

∑i=1

E2ci ,

also E2− E2 =1

CV

n

∑i=1

(E2

i −2EEi + E2)ci

=1

CV

n

∑i=1

(Ei− E)2ci

≥ 0 q.e.d.

Gl. (4.30) stellt ein Extremalprinzip dar. In dem hier behandelten deterministischen Prozeß

”uberlebt“ die Spezies mit der anfangs großten ReplikationsrateEi. Erst die Einfuhrung sto-

chastischer Mutationen, d.h. die zufallige Entstehung neuer Spezies, fuhrt zu einer weiterge-

henden Dynamik der mittleren ReplikationsrateE (Ebeling & Feistel, 1974, 1977). Am Ende

uberlebt nur die”fitteste“ Spezies mitEi = 0. Die Replikationsraten steuern den Selektions-

prozeß, wahrend die Diffusion fur die Ausbreitung der Sorten sorgt. Auch hier ergibt sich eine

homogene Endverteilung, kein raumliches Muster, vgl. Feistel & Malchow (1982).

56

Gleichungsbasierte Modelle II 4. Raumzeitliche Strukturbildung

4.5 Einkomponentige nichtlineare RD–Systeme

4.5.1 Logistisches Wachstum und Diffusion

Als einfachstes Beispiel eines nichtlinearen Quellentermssoll das logistische Wachstum be-

trachtet werden. R.A.Fisher (1937) modellierte die Ausbreitung eines vorteilhaften Gens in-

nerhalb einer Population als Reaktions-Diffusionsprozeß mit

∂C(x, t)∂t

= rC(x, t)[1−C(x, t)]+DC∂2C(x, t)

∂x2 . (4.31)

Gleichzeitig und unabhangig von Fisher untersuchtenKolmogorov, Petrovskii & Piskunov

(KPP) das Losungsverhalten dieser Gleichung.

Die Stabilitat der raumlich homogenen VerteilungenC(x, t) = 0 bzw.C(x, t) = 1 wird durch

die Diffusion nicht verandert, wie sich durch eine lineare Analyse der Stabilitat gegen kleine

wellenformige Storungen der Form

δC= δC0expλt + ikx oder δC= δC0 eλt cos(kx) (4.32)

mit der Wellenzahlk leicht zeigen laßt. Von Interesse war die Suche nach Reaktions-Diffusions-

fronten mit den Randbedingungen

C(−∞, t) = 1 und C(+∞, t) = 0 . (4.33)

Dabei ist die Transformation der Raum-Zeit-Koordinaten(x, t) auf die mitbewegte Wellenkoor-

dinate(x−vt) mit der Frontgeschwindigkeitv von Vorteil. Man setzt

C(x, t) = c(φ) mit φ = x−vt .

Fur die partiellen Ableitungen erhalt man

∂C∂t

=dcdφ

∂φ∂t

=−vdcdφ

,∂C∂x

=dcdφ

∂φ∂x

=dcdφ

,∂2C∂x2 =

d2cdφ2 .

Dadurch wird die Reaktions-Diffusionsgleichung in eine gewohnliche Differentialgleichung 2.

Ordnung transformiert,

c′′+v

DCc′+

rDC

c(1−c) = 0 , (4.34)

wobei die Striche die Ableitungen nachφ bedeuten. Als Randbedingungen sind entsprechend

zu formulieren

c(−∞) = 1 und c(+∞) = 0 .

Die Anfangsbedingung wird spater spezifiziert.

57

4. Raumzeitliche Strukturbildung Gleichungsbasierte Modelle II

Mit dem Ansatzc′ = y uberfuhrt man Gl. (4.34) in ein System aus 2 Dgln. 1. Ordnung

c′ = y , y′ =− vDC

y− rDC

c(1−c) (4.35)

mit den beiden stationaren Losungen

c′1 = y1 = 0 ; c1 = 0 und (4.36)

c′2 = y2 = 0 ; c2 = 1 . (4.37)

Die lineare Analyse ihrer Stabilitat gegen kleine Storungen liefert folgende Losungen fur die

beiden Eigenwerte der Jacobi-Matrix:

1. Losung(4.36)

λ1,2 =1

2DC

[

−v±√

v2−4rDC

]

stabiler Knoten fur v≥ 2√

rDC ,

stabiler Strudel fur v< 2√

rDC .

2. Losung(4.37)

λ1,2 =1

2DC

[

−v±√

v2+4rDC

]

⇒ immer Sattelpunkt.

Das Losungsverhalten soll durch Darstellung

der Trajektorien fur v≥ 2√

rDC im Phasenraum

(c,c′) veranschaulicht werden.

Der Koordinatenursprung ist ein stabiler

Knoten. Fur v < 2√

rDC ware er ein stabiler

Strudel, doch die entsprechenden gedampften

Oszillationen vonc um den Ursprung wurden

zu negativen Werten vonc fuhren.

Daher gibt es fur alle Geschwindigkeitenv ≥2√

rDC nur eine sinnvolle Trajektorie von (1,0)

nach (0,0), die vollstandig im Quadrantenc≥0,c′ ≤ 0 mit 0≤ c≤ 1 liegt. Sie entspricht einer

stehenden Front im(φ,c)-Raum.

c’

c0

1

1

φ

c

Die Minimalgeschwindigkeit der Front

v= vmin = 2√

rDC (4.38)

ist gleich der von Luther (1906) vorhergesagten Ausbreitungsgeschwindigkeit chemischer Re-

aktionen (4.18).

58

Gleichungsbasierte Modelle II 4. Raumzeitliche Strukturbildung

Kolmogorov, Petrovskii & Piskunov (1937) haben bewiesen, daß jede Anfangsbedingung

C(x,0) =C0(x)≥ 0 , C0(x) =

1 fur x≤ x1

0 fur x≥ x2

mit x1 < x2 undC0(x) stetig inx1 < x < x2 sich zu einer Wellenfrontc(φ) mit φ = x− vmint

entwickelt.

Andere raumliche oder raumzeitliche Strukturen sind in einkomponentigen Systemen mit qua-

dratischer Nichtlinearitat nicht moglich.

4.5.2 Bistabile Systeme mit Diffusion

Daher soll jetzt einbistabiles System mit Diffusion untersucht werden. Als Modellbeispiel

konnte das Schlogl-Modell (1972) fur eine Autokatalyse 2. Ordnung dienen. Ebenso hatten das

bistabile Fischfangmodell, eine Populationsdynamik mit Allee-Effekt oder das Tannentrieb-

wickler-Modell herangezogen werden konnen, die in der Veranstaltung”Gleichungsbasierte

Modelle I“ behandelt worden sind. Die Reaktions-Diffusionsgleichung lautet allgemein

∂C(x, t)∂t

= f (C)+DC∆C, (4.39)

wobei als Anforderungen anf (C) nur f (0)≥ 0 und f (∞)< 0 gestellt werden mussen.

Es soll wieder nachFrontl osungengesucht werden, vgl. Nitzanet al. (1974); Ebelinget al.

(1977); Ebeling & Schimansky-Geier (1980); Malchow & Schimansky-Geier (1985). Voraus-

gesetzt werden soll nur, daß man sich im Parameterbereich der Bistabilitat befindet, d.h. es

existieren 3 stationare ZustandeCS1 <CS

2 <CS3, von denenCS

1 undCS3 stabil sind.

Im Unterschied zu den vorangegangenen Betrachtungen soll zwei- bzw. dreidimensionale ra-

dialsymmetrische Geometrie vorausgesetzt werden, um die Ausbreitung eines kreis- bzw. ku-

gelformigen Keimes der DichteCS3 in einer Umgebung der DichteCS

1 zu studieren, z.B. Wasser-

tropfen in Wasserdampf. Die entsprechende Gleichung lautet dann mitd als Raumdimension

∂C∂t

= f (C)+(d−1)DC

r∂C∂r

+DC∂2C∂r2 . (4.40)

Zu Anfang befinde sich ein Keim der DichteCS3 mit dem RadiusR0 um den Koordinatenur-

sprung herum, wahrend der Rest des Systems im ZustandCS1 ist. Beide Zustande sind raumlich

durch eine scharfe Front mit der Dicke derDiffusionslangelD getrennt. Die Randbedingungen

sind also

C(0, t) =CS3 , C(∞, t) =CS

1 fur t ≥ 0 .

59

4. Raumzeitliche Strukturbildung Gleichungsbasierte Modelle II

Diese Randbedingungen sind nur sinnvoll, wenn der

Radius des Keimes großer als die Diffusionslange ist,

d.h. R > lD, da sonst die Diffusion jede raumliche

Struktur sofort zerstoren wurde.

Der Radius wird implizit durch die Lage des instabilen

ZustandesCS2 auf der Front zur Zeit t definiert:

CS3

C2S

S1C

l

R(t)

D

C

0 r

C[R(t), t] =CS2 . (4.41)

Differenziert man letzteren Ausdruck (4.41) nach der Zeit,so folgt

∂C∂t

+∂C∂R

dRdt

= 0 , (4.42)

und man findet daher fur die Frontgeschwindigkeit

dRdt

=− ∂C(R, t)/∂t∂C(R, t)/∂R

. (4.43)

Multipliziert man die Ausgangsgleichung (4.40) mit∂C/∂r und integriert vonr = 0 bis∞, erhalt

man unter der Annahme, daß∂C/∂r fur r=0 und∞ verschwindet

∫ ∞

0

∂C∂t

∂C∂r

dr =∫ ∞

0f (C)

∂C∂r

dr︸ ︷︷ ︸

∫CS1

CS3

f (C)dC

+∫ ∞

0

(d−1)DC

r

(∂C∂r

)2

dr+DC

∫ ∞

0

∂2C∂r2

∂C∂r

dr︸ ︷︷ ︸

= 12

[

( ∂C∂r )

2]∞

0=0

= −∫ CS

3

CS1

f (C)dC+∫ ∞

0

(d−1)DC

r

(∂C∂r

)2

dr . (4.44)

Zeitunabhangige Losungen findet man fur verschwindende linke Seite, d.h.

∫ ∞

0

(d−1)DC

r

(∂C∂r

)2

dr =∫ CS

3

CS1

f (C)dC .

Da ∂C/∂r nur fur r ≈ R> lD einen entscheidenden Beitrag liefert, kann man an dieser Stelle

naherungsweise den Parameter

Rk =

(d−1)DC

∫ ∞

0

(∂C∂r

)2

dr

∫ CS3

CS1

f (C)dC

(4.45)

60

Gleichungsbasierte Modelle II 4. Raumzeitliche Strukturbildung

einfuhren. Mit dem gleichen Argument erhalt man fur die zeitabhangige Darstellung (4.44) nach

Erweiterung der linken Seite mit∂C/∂r∫ ∞

0

(∂C∂r

)2[∂C/∂t∂C/∂r

− (d−1)DC

r

]

dr =

[∂C(R, t)/∂t∂C(R, t)/∂R

− (d−1)DC

R

] ∫ ∞

0

(∂C∂r

)2

dr

= −∫ CS

3

CS1

f (C)dC .

Dividiert man beide Seiten durch das negative Integraluber die Reaktionsfunktion auf der rech-

ten Seite, so folgt

[

− ∂C(R, t)/∂t∂C(R, t)/∂R

︸ ︷︷ ︸

=dR/dt(4.43)

+(d−1)DC

R

]

∫ ∞

0

(∂C∂r

)2

dr

∫ CS3

CS1

f (C)dC

︸ ︷︷ ︸

=Rk/[(d−1)DC](4.45)

=

[dRdt

+(d−1)DC

R

]Rk

(d−1)DC= 1 ,

und damit

dRdt

= (d−1)DC

(1Rk− 1

R

)

. (4.46)

Diese Gleichung beschreibt die zeitliche Entwicklung des Radius’ der anfanglichen Inhomoge-

nitat. Es stellt sich heraus, das der eingefuhrte ParameterRk derkritische Radius eines Keimes

und ein instabiler stationarer Zustand ist. Alle Keime mit RadienR> Rk werden wachsen, die

anderen wieder zerfallen. Man ist hier erstmals mit dem Phanomen derkritischen Gr oße einer

r aumlichen Struktur konfrontiert. Raumlich eindimensionale Systeme bedurfen einer geson-

derten Betrachtung.

In bistabilen Systemen sind neben den Frontwellen erstmalsauch stehende inhomogene Vertei-

lungen moglich. Die Stabilitatstheorie fur inhomogene Losungen in einer raumlichen Dimensi-

on ist gut entwickelt, die Ergebnisse seien hier nur gelistet (Fife, 1979; Jetschke, 1979, 1989):

• Moglichkeit einer stabilen inhomogenen Losung mit 1 raumlichen Extremum fur Dirichlet-

Randbedingungen,

• keine inhomogenen Losungen fur Null-Fluß-Randbedingungen,

• stabile homogene Verteilungen, die den Randbedingungen entsprechen, bleiben auch mit

Diffusion stabil,

• strukturell instabile stehende Fronten fur unendliche Systeme,

• Frontwellen→ Keimbildungsphanomene (s.o.).

Damit hat man erstmals raumliche Muster, aber noch keine diffusiven Instabilitaten gefunden.

Dafur braucht man mehr als einer Zustandsgroße.

61

4. Raumzeitliche Strukturbildung Gleichungsbasierte Modelle II

62

Gleichungsbasierte Modelle II 4. Raumzeitliche Strukturbildung

4.6 Nichtlineare Reaktions-Diffusionssysteme

mit 2 und mehr Komponenten

Das folgende Unterkapitel 4.6.1 ist ein Verschnitt der Publikationen des Autors von 1996b und

2000.

Zusammenfassung

Differentielle Flusse konnen lokal stabile stationare Dichteverteilungen in Systemen mit nichtli-

nearen Wechselwirkungen, Diffusion, Transport und Selbstbewegung chemischer oder biologi-

scher Spezies destabilisieren und dadurch die Ausbildung stehender oder laufender Raumstruk-

turen verursachen. Verschiedene Szenarien dieses allgemeingultigen Mechanismus der raum-

zeitlichen Strukturbildung in Reaktions-Diffusions-Advektionssystemen werden anhand eines

einfachen zweikomponentigen Rauber-Beute-Modells analytisch und numerisch demonstriert.

Einleitung

Die raumzeitliche Dynamik wechselwirkender physikalischer, chemischer, biologischer,okono-

mischer oder sozialer Komponenten kann eine Vielzahl lokaler und raumlicher Nichtgleichge-

wichtseffekte hervorrufen. Dazu gehoren das Auftreten mehrerer stabiler stationarer Zustande,

zeitlich und raumlich periodische, quasiperiodische und chaotische Losungen, lokale Anreg-

barkeit, stehende und laufende diffusive Fronten zwischenhomogenen stationaren Verteilungen

oder stehende und laufende Wellen.

Chemie und Biochemie waren immer Vorreiter bei der Erforschung nichtlinearer Phanome-

ne, da sie die erforderlichen nichtlinearen Wechselwirkungen in nahezu unbegrenzter Zahl

im Labor zur Verfugung haben. DieBelousov-Zhabotinskii-, Bray-Liebhafsky- undBriggs-

Rauscher-Reaktion oder katalytische Wirkungen allosterischer Enzyme sind bekannte Beispie-

le fur strukturbildende chemische und biochemische Systeme (Field & Burger, 1985; Atkins,

1990).

A. Turing hat bereits 1952 theoretisch gezeigt, daß die Diffusion im Zusammenspiel mit nicht-

linearen Reaktionen auch strukturerzeugend wirken kann. Unter bestimmten Voraussetzungen

konnen stabile raumlich homogene Verteilungen diffusiv destabilisiert werden und in stabile

raumlich inhomogene Verteilungenubergehen.

63

4. Raumzeitliche Strukturbildung Gleichungsbasierte Modelle II

Laterale langreichweitige Hemmung

Lokale kurzreichweitige Aktivierung

+

- -

Aktivator

Inhibitor

Diffusion

Diffusion

Schnelle

LangsameZerfall

Zerfall

Autokatalyse

Selbstreplikation

Akt

ivie

rung

Hem

mun

g

Zufuhr

Schematische Darstellung des diffusiven

Aktivator-Inhibitor-Mechanismus

Aktivator

Inhibitor

Zerfall

Zerfall

Autokatalyse

Selbstreplikation

Akt

ivie

rung

Hem

mun

g

Zufuhr

Diffusion

Diffusion

v

v

I

A

Schematische Darstellung des advektiven

Aktivator-Inhibitor-Mechanismus

Diese diffusionsinduzierten stehenden raum-

lichen Muster konnen in Systemen von min-

destens zwei wechselwirkenden Komponenten

mit unterschiedlichen Diffusionskoeffizienten

auftreten. Da die effektiven Diffusionskoef-

fizienten in waßriger Losung jedoch nahezu

gleich sind, hat es sich als sehr schwierig

erwiesen, diesen Strukturbildungsmechanis-

mus auch im Labor nachzuvollziehen. Erst

die Moglichkeit der Regelung der Diffusion

in Gelen fuhrte 1990 zum experimentellen

Nachweis der Turing-Strukturen. Segel und

Jackson waren 1972 die ersten, die Turings

Idee auch auf ein Problem in der Populati-

onsdynamik angewandt haben: Das Auftreten

einer dissipativen Instabilitat bei der Rauber-

Beute-Wechselwirkung.

Der zugrundeliegende Mechanismus ist in

nebenstehender Abbildung skizziert.

Rovinsky und Menzinger haben 1992uber die

durch unterschiedliche Diffusion und Advek-

tion verursachte Instabilitat (DIFICI - Diffe-

rential Flow Induced Chemical Instability) ei-

ner homogenen Verteilung in einem Subsy-

stem der Belousov-Zhabotinskii-Reaktion be-

richtet. Die raumlich homogene Losung geht

in diesem Falle in laufende Reaktionswellen

uber. Dieser Mechanismus laßt sich in sinnvol-

ler Weise auch auf die Entstehung von raum-

lich heterogenen Populationsstrukturen und in

derOkodynamik anwenden, da organismische

Bewegung nur in den seltensten Fallen als pas-

sive neutrale Diffusion zu beschreiben ist.

Der zugrundeliegende Mechanismus ist wie-

derum in nebenstehender Abbildung skizziert.

64

Gleichungsbasierte Modelle II 4. Raumzeitliche Strukturbildung

Jetzt sollen die diffusiven und advektiven Szenarien der raumlichen Strukturbildung aus homo-

gener Phase anhand eines zweikomponentigen Systems von beweglichen Rauber- und Beute-

spezies demonstriert werden.

4.6.1 Flußinduzierte Instabilitaten in Reaktions-Diffusions-Advektionssystemen

Reaktionen, Diffusion und Advektion vonN Spezies mit isotroper Bewegung in einem inkom-

pressiblen Medium lassen sich durch folgende partielle Differentialgleichungen beschreiben

(Malchow & Shigesada, 1994; Malchow, 1995, 1996a)

∂Xi

∂t= fi (X,λ)−~vi ·~∇Xi +

N

∑j=1

Di j~∇2Xj , i = 1,2, . . . ,N. (4.47)

Dabei istX = Xi ; i = 1,2, . . . ,N der Vektor derN Populationsdichten zur Zeitt am Ort

~r = x,y,z. f = fi ; i = 1,2, . . . ,N ist der Vektor der Wachstums- und Wechselwirkungs-

funktionen.λ = λk ; k= 1,2, . . . ,M ist die Menge der zugehorigen Reaktionsraten.

~vi = vix,viy,viz ; i = 1,2, . . . ,N; ist der Geschwindigkeitsvektor der i-ten Spezies. Er steht so-

wohl fur den passiven Transport mit dem umgebenden Medium wie Wasser oder Luft als auch

fur die mogliche aktive Selbstbewegung und deren Superposition.~∇ = ∂/∂x,∂/∂y,∂/∂z ist

wieder der Nabla-Operator.D= Di j ; i, j = 1,2, . . . ,N ist die Matrix der Selbst- und Kreuzdif-

fusionskoeffizienten. Die Selbstdiffusionskoeffizientenbeschreiben die intraspezifische Diffusi-

on, gewohnlich den eigenen Gradienten hinab. Die Kreuzdiffusion steht fur die interspezifische

Bewegungswechselwirkung im Gradienten der anderen Spezies. Mit ihnen kann man einfach

Verhaltensstrategien wie Neutralitat, Anziehung und Abstoßung modellieren (Jorne, 1977; Mal-

chow, 1988c; Okubo & Levin, 2001; Skellam, 1973). Kreuzdiffusion kennt man von elektroly-

tischen Losungen und der Theorie der Strukturbildung in Reaktions-Elektrodiffusionssystemen

(Jorne, 1975; Malchow, 1988a).

Um flußinduzierte Instabilitaten einer raumlich homogenen Verteilung der Spezies nachzuwei-

sen, wird zunachst die Existenz einer solchen, gegen raumlich homogene Storungen stabilen

Verteilung vorausgesetzt:

∃ X (~r, t) = Xs , f (Xs,λ) = 0 ,ddt

Xs = 0 , ~∇Xs = 0 . (4.48)

Durch lineare Analyse der Stabilitat gegen Storungen durch ebene Wellen

δX = δX0exp

νt +µ~k ·~r

(4.49)

mit dem Wellenzahlvektor~k= kx,ky,kz und der imaginaren Einheitµ2 =−1, findet man die

charakteristische Determinante fur die Eigenwerteν∣∣∣ ai j −~k2Di j −δi j

(

µ~k ·~vi +ν)∣∣∣= 0 ; i, j = 1,2, . . . ,N ; (4.50)

65

4. Raumzeitliche Strukturbildung Gleichungsbasierte Modelle II

mit den Elementen der JacobimatrixJ = ai j = ∂ fi (Xs)/∂Xj ; i, j = 1,2, . . . ,N; und dem

Kroneckersymbolδi j . Die stationare Losung (4.48) ist stabil, wenn die Realteile allerN Eigen-

werte kleiner sind als Null.

Explizite Ergebnisse kann man fur Systeme mit 2 Spezies erhalten, d.h.N = 2. Die stationare

Losung (4.48) wird als linear stabil angenommen gegen raumlich homogene Fluktuationen, d.h.,

es mussen die bekannten Bedingungen an SpurTr(J) und Determinante∆(J) der Jacobimatrix

gestellt werden:

Tr (J) = a11+a22 < 0 , (4.51)

∆(J) = a11a22−a12a21 > 0 . (4.52)

Nach Aufspaltung der Eigenwerte in Real- und Imaginarteil, ν = b+µc, lautet die charakteri-

stische Gleichung (4.50) bei der Suche nach flußinduziertenInstabilitaten der Verteilung (4.48)

gegen Storungen der Form (4.49) mit endlichen~k 6=~0

∣∣∣ ai j −δi j

[

b+µ(

~k ·~vi +c)]∣

∣∣= 0 ; i, j = 1,2 ; (4.53)

d.h.,

b2− (a11+ a22)b+ a11a22− a12a21−(

~k ·~v1+c)(

~k ·~v2+c)

+

+ µ[

(b− a11)(

~k ·~v2+c)

+(b− a22)(

~k ·~v1+c)]

= 0 , (4.54)

mit ai j = ai j −∣∣∣~k∣∣∣

2Di j ; i, j = 1,2. Die Verteilung (4.48) ist stabil, d.h.Re(ν)1,2 = b1,2 < 0, ge-

gen raumlich homogene Storungen (4.49) mit~k=~0, wenn die Bedingungen (4.51,4.52) erfullt

sind. Die Instabilitat fur wachsende Werte von∣∣∣~k∣∣∣ wird auftreten beib1b2 = 0 oder einfacher

b= 0. Der Realteil von Gl. (4.54) liefert dann

c2+~k · (~v1+~v2)c+(

~k ·~v1

)(

~k ·~v2

)

− (a11a22− a12a21) = 0 , (4.55)

und der Imaginarteil

(a11+ a22)c+~k · (a11~v2+ a22~v1) = 0 . (4.56)

Gemeinsame reelle Losungen fur c existieren wenn die Resultante der Gleichungen (4.55) und

66

Gleichungsbasierte Modelle II 4. Raumzeitliche Strukturbildung

(4.56) verschwindet:

G(k2) =

∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣

1 ~k · (~v1+~v2)(

~k ·~v1

)(

~k ·~v2

)

− (a11a22− a12a21)

a11+ a22 ~k · (a11~v2+ a22~v1) 0

0 a11+ a22 ~k · (a11~v2+ a22~v1)

∣∣∣∣∣∣∣∣∣∣

(4.57)

= −~k · (a11~v2+ a22~v1)[

~k · (a11~v2+ a22~v1)−~k · (~v1+~v2)(a11+ a22)]

+

+ (a11+ a22)2[

a11a22− a12a21−(

~k ·~v1

)(

~k ·~v2

)]

= a11a22

[

~k · (~v1−~v2)]2

+(a11+ a22)2( a11a22− a12a21) (4.58)

= 0 .

Jetzt werden die Winkelφi ; i = 1,2; zwischen dem Wellenzahlvektor~k der Storung und den

Geschwindigkeiten~vi ; i = 1,2; uber die Skalarprodukte eingefuhrt:

~k ·~vi =∣∣∣~k∣∣∣ |~vi |cosφi ; i = 1,2. (4.59)

Dann lautet Gl. (4.58)

G(k2) = a11a22(|~v1|cosφ1−|~v2|cosφ2)

2∣∣∣~k∣∣∣

2+(a11+ a22)

2(a11a22− a12a21) (4.60)

= (|~v1|cosφ1−|~v2|cosφ2)2[

D11D22

∣∣∣~k∣∣∣

6− (a11D22+a22D11)

∣∣∣~k∣∣∣

4+a11a22

∣∣∣~k∣∣∣

2]

+

+

[

Tr (D)∣∣∣~k∣∣∣

2−Tr (J)

]2

×

×[

∆(J)+∆(D)∣∣∣~k∣∣∣

4− (a11D22+a22D11−a12D21−a21D12)

∣∣∣~k∣∣∣

2]

(4.61)

= 0 ,

mit der SpurTr (D) = D11+D22 und der Determinante∆(D) = D11D22−D12D21 der Diffusi-

onsmatrix. Die Nullstellen dieses Polynoms vierter Ordnung in∣∣∣~k∣∣∣

2sind die kritischen Wellen-

zahlen der Storung. Analytische Resultate bekommt man fur separierte Diffusions- und Advek-

tionseffekte:

Anhand des ersten Terms der Gl. (4.58) kann man leicht erkennen, daß es advektive Effek-

te nur dann gibt, wenn beide Spezies sich mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten bewegen.

Daher bedeutet die Vernachlassigung der Advektion nicht notwendigerweise verschwindende

Geschwindigkeiten~v1 =~v2 =~0, sondern nur gleiche~v1 =~v2. Dann findet man die kritische Wel-

lenzahl zum Erreichen der diffusiven Turing-Instabilitat aus dem zweiten Term von Gl. (4.58)

67

4. Raumzeitliche Strukturbildung Gleichungsbasierte Modelle II

oder (4.60), d.h., aus der zweiten und dritten Zeile von Gl. (4.61). Sie lautet (Jorne, 1977; Mal-

chow, 1988b, 1996a)[

~k2]diff

crit=

a11D22+a22D11−a12D21−a21D12

2∆(D). (4.62)

Vernachlassigt man auch die Kreuzdiffusion, d.h.D12 = D21 = 0, wird Gl. (4.62) auf die Stan-

dardformulierung reduziert (Segel & Jackson, 1972). In diesem Fall mussen die Spezies neben

den Bedingungen (4.51) und (4.52) die strengen Aktivator-Inhibitor-Relationen erfullen (Gie-

rer & Meinhardt, 1972; Meinhardt, 1982)a11a22 < 0,a12a21 < 0,D11/D22 < 1, d.h. man hat

eine langsam diffundierende selbstreplizierende (autokatalytische) Spezies (Aktivator)X1 mit

a11 > 0, die die homogene Verteilung destabilisiert und eine sichviel schneller bewegende sta-

bilisierende Spezies (Inhibitor)X2 mit a22< 0, die den Aktivator hemmt, vgl. die Schemata auf

S. 64.

Vernachlassigt man alle diffusiven Effekte, d.h.D = 0, kann man die Tilden in Gl. (4.60) weg-

lassen und findet[

~k2]adv

crit=−

(Tr (J)

|~v1|cosφ1−|~v2|cosφ2

)2 ∆(J)a11a22

. (4.63)

Es ist einfach zu sehen, daßa11a22 < 0 sein muß, d.h., das System mit 2 Spezies muß wieder

vom Aktivator-Inhibitor-Typ sein. Instabilitaten der raumlich homogenen Verteilung konnen

auftreten, wenn die Spezies sich mit unterschiedlicher Geschwindigkeit bewegen. Dabei ist es

aufgrund des Vektorcharakters der Geschwindigkeit nicht wichtig, welche von beiden schneller

ist, solange sie sich in unterschiedlicher Richtung bewegen. Damit ist dieser Mechanismus der

raumlichen Strukturbildung von wesentlich allgemeinerer Art als der rein diffusive, und daher

sind breitere Anwendungsfelder speziell auch in derOkosystem- und populationsdynamischen

Modellierung zu erwarten. Die homogene Verteilung wird allerdings in einem speziellen Fal-

le stabil bleiben, wenn sich namlich beide Spezies in die gleiche Richtung bewegen und die

Storungswelle senkrecht zu ihnen, d.h.,~k ·~vi = 0 ; i = 1,2.

Andererseits wird aus Gl. (4.63) deutlich, daß die Vernachlassigung der diffusiven Effekte zu

einer Instabilitat der homogenen Verteilung gegen jegliche Storung fuhrt, d.h., der Wert~k =~0

ist selbst Bifurkationspunkt. Das widerspricht den anfanglichen Annahmen! Deshalb muß die

vollstandige Gl. (4.61) numerisch gelost werden, um die kombinierten Wirkungen von Advekti-

on und Diffusion zu erkennen. Daher soll jetzt das Erreichendes Instabilitatspunktes bei Zusam-

menwirken von Reaktion, Diffusion und Advektion numerisch simuliert werden. Ein einfaches

Rauber-Beute-Modell dient der Illustration.

Strukturbildung in einem R auber-Beute-Modell

Scheffer (1991; 1998) hat ein Minimalmodell fur die Rauber-Beute-Wechselwirkung von Zoo-

plankton und Phytoplankton vorgeschlagen, um die lokale Mehrfachstabilitat und Dichteoszil-

lationen aquatischer Populationen zu beschreiben. Ein genereller Nahrstoff fur Phytoplankton

68

Gleichungsbasierte Modelle II 4. Raumzeitliche Strukturbildung

und ein sich nur von Zooplankton ernahrender Fisch dienen als externe Kontrollparameter, die

das System aus dem Gleichgweicht treiben konnen. Die Nahrungskette von Nahrstoff bis Fisch

ist in Abb. 4.3 skizziert.

Phytoplankton ZooplanktonNährstoffe Fische

Abbildung 4.3: Schema der vereinfachten marinen Nahrungskette

Das entsprechende einfache Beute-Rauber-Modell von Wachstum, Wechselwirkung, Advektion

und Diffusion der dynamischen Spezies PhytoplanktonX1 und ZooplanktonX2 zur Zeit t am

Ort~r = x,y lautet

∂X1

∂t= α

NHN +N

X1−cX21 − γ

X1

H1+X1X2−~v1 ·~∇X1+D1

~∇2X1 , (4.64)

∂X2

∂t= eγ

X1

H1+X1X2−δX2−F

X22

H22 +X2

2

−~v2 ·~∇X2+D2~∇2X2 . (4.65)

X1 undX2 sind die Dichten von Phyto- und Zooplankton. Die nicht spezifizierten, das Wachstum

des Phytoplankton begrenzenden NahrstoffeN als auch die FreßrateF sich nur von Zooplank-

ton ernahrende Fische dienen als externe Steuerparameter, die dasSystem aus dem Gleichge-

wicht treiben konnen.α ist die maximale Wachstumsrate des Phytoplanktons,γ die Freßrate des

Zooplanktons,c der Konkurrenzkoeffizient des Phytoplanktons,edie Effektivitat des Zooplank-

tons bei der Umwandlung von aufgenommenem Phytoplankton ineigenes Wachstum, undδ die

Sterbe- und Respirationsrate des Zooplanktons.H1, H2 undHN sind die halben Sattigungskon-

stanten der funktionellen Reaktionen und der Nahrstofflimitierung.X1, X2, H1 undH2 werden

in [mg.dwl−1] gemessen.N undHN sind in relativen Einheiten gegeben,e ist ein dimensions-

loser Parameter. Die Einheit vona, g undd ist [d−1], wahrendF in [mg.dwd−1l−1] gemessen

wird. c ist gegeben in [mg.dw−1ld−1]. Die Nahrstoffbegrenzung des Phytoplanktonwachstums

als auch die Limitierung der Freßrate des Zooplanktons durch die Biomasse Phytoplankton sind

vom Michaelis-Menten-Typ, der auch unter Monod- oder Holling-Typ II in der theoretischen

Okologie bekannt ist. Die Limitierung der FreßrateF der Fische durch die Biomasse Zooplank-

ton ist vom Holling-Typ III.

Dieses Modell zeigt lokal die bekannten Rauber-Beute-Oszillationen bei niedriger Fischakti-

vitat sowie alternativ oder simultan stabile phyto- bzw. zooplanktondominierte Zustande bei

hoherer Fischaktivitat. In gewissen Bereichen der FreßrateF ist bei außerer Anregung des Sy-

stems durch die temperatur- und lichtinduzierte Jahresperiode des Phytoplanktonwachstumsαauch der Weg zu chaotischen Oszillationenuber Toruszerstorung nachgewiesen worden (Stef-

fen & Malchow, 1996; Steffenet al., 1997).

Jetzt soll dieses Modell als Beispiel fur die Erzeugung von Instabilitaten durch differentielle

69

4. Raumzeitliche Strukturbildung Gleichungsbasierte Modelle II

Flusse bei fixierten Reaktionsparametern dienen. Es wurden gewahlt

N = 2.5, F = 0.4, α = 0.5, γ = 0.4, HN = 1.0, H1 = 0.6, H2 = 5.0, c= 0.05,e= 0.6, δ = 0.175.

Zunachst wird Gl. (4.61) fur eine raumlichen Dimension untersucht. Die kritischen Wellen-

zahlen, d.h. die Nullstellen des Polynoms (4.61), sind auf den linken Seiten der Abbildungen

(4.4,4.5) dargestellt. Die zugehorigen kritischen Werte und Verhaltnisse der Diffusivitaten und

Geschwindigkeiten werden spater auch im raumlich zweidimensionalen System benutzt. Man

erkennt, daß bei Kombination von Diffusion und Advektion imGegensatz zum nichtdiffusiven

Fall (Malchow, 1995) die resultierende Instabilitat nicht zur Entstehung Turing-ahnlicher ste-

hender Strukturen wie auf der rechten Seite von Abb. (4.4) fuhrt, sondern zu laufenden Wellen,

die auf der rechten Seite von Abb. (4.5) zu sehen sind.

-0.004

-0.003

-0.002

-0.001

0

0.001

0 5 10 15 20 25 30

G(k

^2)

Wave Number k/m

"100x(d1=d2=1.0e-5)""d1=1.0e-5_d2=2.0e-3"

0

1

2

3

4

5

10 20 30 40 50 60 70 80 90 100

Pla

nkto

n D

ensi

ties/

mg.

dw/l

Length/cm

"PHY""ZOO"

Abbildung 4.4: Nullstellen des Polynoms (4.61) mitG(k2 = 0

)> 0 fur vx

1−vx2 = 0, D1 = 10−5,

D2 = 2·10−3 (links) und die enstehenden Turing-Muster (rechts). Null-Fluß-Randbedingungen.

-1e-05

0

1e-05

0 5 10 15 20 25 30 35

G(k

^2)

Wave Number k/m

"vrel=0.00""vrel=0.01"

0

1

2

3

4

5

6

7

10 20 30 40 50 60 70 80 90 100

Pla

nkto

n D

ensi

ties/

mg.

dw/l

Length/cm

"PHY1600""PHY1500"

Abbildung 4.5: Nullstellen des Polynoms (4.61) mitG(k2 = 0

)> 0 fur vx

1 − vx2 = 0.01

und D1 = D2 = 10−5 (links) und die entstehenden laufenden Wellen (rechts). Null-Fluß-

Randbedingungen.

70

Gleichungsbasierte Modelle II 4. Raumzeitliche Strukturbildung

In Abb. 4.6 sind drei Beispiele fur die Selektion von Turing-Strukturen in zwei Raumdimensio-

nen fur wachsende Systemlangen und~v1 =~v2 =~0, D1 = 10−5, D2 = 2·10−3 dargestellt.

010

2030

4050 0

10

20

30

40

500

1

2

3

4

5

Length x/cm

Length y/cm

Phytoplankton/mg.dw/l

020

4060

80100 0

20

40

60

80

1000

1

2

3

4

5

Length x/cm

Length y/cm

Phytoplankton/mg.dw/l

025

5075

100125

150 025

5075

100125

1500

1

2

3

4

5

Length x/cm

Length y/cm

Phytoplankton/mg.dw/l

Abbildung 4.6: Selektion von Turing-Strukturen auf Flachen von 0.25, 1.0 und 2.25m2. Null-

Fluß-Randbedingungen.

71

4. Raumzeitliche Strukturbildung Gleichungsbasierte Modelle II

In Abb. 4.7 sind Turing-Strukturen fur verschiedene symmetrische und unsymmetrische An-

fangsstorungen der raumlich homogenen Verteilung zu sehen.

020

4060

80100 0

20

40

60

80

1000

1

2

3

4

5

Length x/cm

Length y/cm

Phytoplankton/mg.dw/l

020

4060

80100 0

20

40

60

80

1000

1

2

3

4

5

Length x/cm

Length y/cm

Phytoplankton/mg.dw/l

020

4060

80100 0

20

40

60

80

1000

1

2

3

4

5

Length x/cm

Length y/cm

Phytoplankton/mg.dw/l

Abbildung 4.7: Selektion von Turing-Strukturen auf Flachen von 0.25, 1.0 und 2.25m2. Null-

Fluß-Randbedingungen.

72

Gleichungsbasierte Modelle II 4. Raumzeitliche Strukturbildung

In Abb. 4.8 sind zwei Zeitschritte einer laufenden Welle in zwei Raumdimensionen gezeigt fur

vx1−vx

2 = vy1−vy

2 = 0.01 undD1 = D2 = 10−5.

0

20

40

60

80

100

020

4060

80100

0

1

2

3

4

5

6

7

Length x/cm

Length y/cm

Phytoplankton/mg.dw/l

Abbildung 4.8: Laufende Plankton-Populationswelle nach einer DIFII der horizontal homoge-

nen Planktonverteilung auf einer Flache von 1m2. Frontdefekte werden durch diagonale Bewe-

gung erzeugt. Null-Fluß-Randbedingungen an oberer und unterer Grenze. Periodische Randbe-

dingungen links und rechts.

In diesem Kapitel wurden die Bedingungen fur das Auftreten differentieller Flußinstabilitaten in

raumlich ein- und zweidimensionalen zweikomponentigen Reaktions-Diffusions-Advektions-

systemen zusammengestellt. Die Resultante aus Real- und Imaginarteil der charakteristischen

Gleichung fur die die Stabilitat bestimmenden Eigenwerte ist als Funktion der kritischenSto-

rungswellenzahlen detailliert numerisch untersucht worden. Dabei wurde festgestellt, daß bei

verschwindender Advektion rein diffusive Instabilitaten einer homogenen Dichteverteilung fur

uberkritische Verhaltnisse der Diffusionskoeffizienten auftreten konnen, wenn die Wechselwir-

kungen vom Aktivator-Inhibitor-Typ sind. Rein advektive Instabilitaten einer stabilen homoge-

nen Losung existieren nicht, da letztere bei Vernachlassigung der Diffusion selbst zum grenzsta-

73

4. Raumzeitliche Strukturbildung Gleichungsbasierte Modelle II

bilen Zustand wird. Dagegen konnen diffusiv-advektive Instabilitaten auch bei gleichen Diffusi-

onskoeffizienten entstehen, solange Aktivator-Inhibitor-Wechselwirkungen vorliegen. Letztge-

nannter Weg zur Ausbildung raumzeitlicher Strukturen aus homogener Phase laßt eine Vielzahl

von Anwendungen speziell in derOkosystemmodellierung erwarten.

4.6.2 Entstehung verzweigter und vernetzter Strukturen

Meinhardt (1976; 1982) hat sich auch mit Reaktions-Diffusionsmechanismen der Bildung ver-

zweigter und vernetzter Strukturen bei der Entwicklung eines Organismus beschaftigt. Er hat

mehrere erweiterte Aktivator-Inhibitor-Modelle vorgeschlagen, von denen hier nur eines vorge-

stellt werden soll:

∂A∂t

=cA2S

H−µA+Da

~∇2A+ρ0Y , (4.66)

∂H∂t

= cA2S−νH +Dh~∇2H +ρ1Y , (4.67)

∂S∂t

= c0− γS− εYS+Ds~∇2S , (4.68)

dYdt

= dA−eY+Y2

1+ fY2 . (4.69)

Der langsam diffundierende AktivatorA fordert in Anwesenheit der SubstanzS das Wachs-

tum des schnell diffundierenden InhibitorsH. Bildet sich ein lokales Maximum des Aktiva-

tors, schaltet an diesem Raumpunkt die SubstanzY von niedriger zu hoher Konzentration, vgl.

Abb. (4.9).

-0.01

0

0.01

0.02

0.03

0 0.2 0.4 0.6 0.8 1

dY/d

t

Y

Nicht differenzierter Zustand Differenzierter Zustand

A=0

A=1

A=5

Abbildung 4.9: Die SubstanzY wirkt als Schalter. Ist eine Zelle mituberkritischer Aktivatorkon-

zentration differenziert, springtY von niedriger zu hoher Konzentration. Diesen Zustand kann

Y nicht mehr verlassen, auch wennA wieder absinkt.Y ubernimmt die Rolle eines”Gedacht-

nisses“.

74

Gleichungsbasierte Modelle II 4. Raumzeitliche Strukturbildung

Y verbleibt auf diesem hohen Konzentrationsniveau, unabhangig von der weiteren Entwicklung

von A. Die SubstanzY ist eine Art”Gedachtnis“ des Modells, sie

”erinnert“ die Positionen

der Maxima des AktivatorsA. Durch den hohenY-Wert wird an dieser Stelle das Konzentrati-

onsniveau vonS rapide abgesenkt sowie in der Folge die Bildung vonA behindert und dessen

Maximum in die Nachbarschaft verschoben. So entsteht eine verzweigte und in diesem Modell

auch vernetzte Struktur. Die Unregelmaßigkeiten entstehen durch ein Verrauschen der raumli-

chen Anfangsverteilung des Parametersc. Ein typisches Beispiel ist in Abb. (4.10) zu sehen.

a) t=0 b) t=3000 c) t=5000 d) t=6000

e) t=7000 f) t=8000 g) t=9000 h) t=10000

Abbildung 4.10: Bildung einer verzweigten und vernetzten (Blatt-)Struktur im Modell mit den

Parameternc = 0.004, µ = 0.12, c0 = 0.02, γ = 0.02, ε = 0.2, d = 0.6, e= 0.1, f = 10.0,

ν = 0.04,Da = 0.02,Ds= 0.06,Dh = 0.18. Null-Fluß-Randbedingungen, Zeitschrittdt = 0.01,

Raumschrittdxy= 0.1.

75

4. Raumzeitliche Strukturbildung Gleichungsbasierte Modelle II

4.6.3 Parametergradienten und diffusionsinduziertes Chaos

Die Wachstumsrate der Beute in einem Rauber-Beute-System mit funktioneller Reaktion des

Raubers vom Typ II wird jetzt als zeitlich konstant aber mit einem linearen raumlichen Gradien-

ten angenommen. Das entspricht der Problemstellung von M. Pascual (1993). Die Gleichungen

der raumzeitlichen Dynamik sind

∂X1(t)∂t

= βN

HN +NX1−cX2

1 − γX1

H1+X1X2+D1∆X1 , (4.70)

∂X2(t)∂t

= eγX1

H1+X1X2−δX2− ε

X22

H22 +X2

2

X3 +D2∆X2 . (4.71)

Mit der Kapazitat

K =βN

c(HN +N), α = Kc ,

uberfuhrt man den Wachstumsterm der BeuteX1 in die logistische Standardform. Jetzt werden

dimensionslose Großen fur Dichte, Zeit und Raum eingefuhrt:

X1 =X1

K, X2 =

X2

eK, X3 =

εX3

eKα, t = αt, x,y,z= 1

Lx1,x2,x3 ,

wo L fur die Systemlange in allen 3 Raumrichtungenx1,x2,x3 steht.α ist das raumliche

Mittel von α im betrachteten VolumenV = L3:

α =1V

∫V

αdV (4.72)

Schließlich findet man nach Weglassen der Tilden die dimensionslosen Gleichungen (Malchow

et al., 2000)

∂X1

∂t= rX1(1−X1)−

aX1

1+bX1X2+d1∆X1 , (4.73)

∂X2

∂t=

aX1

1+bX1X2−mX2−

g2X22

1+g2X22

X3+d2∆X2. (4.74)

mit den Koeffizienten

r =αα, b=

KH1

, a= be γα, m=

δα, g=

eKH2

, d1 =D1

L2α, d2 =

D2

L2α. (4.75)

Zur Illustration der Auswirkung des linearen Gradienten inr kann man sich auf eine raumli-

che Dimensionx∈ [0,1] beschranken. Bei der Parameterwahl ist zu beachten, daß entlang des

Gradienten lokal Grenzzyklen existieren. Hier werden gesetzt:

r(0) = 0.6 , r(1) = 2.0 , a= b= 5.0 , e= 1.0 , g= 0.0 , d1 = d2 = 10−4.

Durch die Diffusion kommt es zur Kopplung dieser nichtlinearen Oszillatoren. In kritischen

Bereichen des Produktivitatsgradienten und der Diffusionskoeffizienten bleibt es imGebiet re-

lativer hoher Produktivitat bei regularen Oszillationen, wahrend sie mit sinkendemr in quasi-

periodische und schließlich chaotische Oszillationenubergehen. Das ist in Abb. (4.11) fur die

Beute raumzeitlich dargestellt.

76

Gleichungsbasierte Modelle II 4. Raumzeitliche Strukturbildung

Gradient of Prey Growth Rate

550

600

650

700

750Scaled Time 0.25

0.5

0.75

1

Scaled Length

0

0.5

1

Scaled Prey Density

Abbildung 4.11: Raumzeitliche Darstellung der Entwicklungder Beutedichte. Regulare Oszil-

lationen fur hohe Werte der Wachstumsrate der Beute undUbergang zu irregularen entlang des

Gradienten der Rate. Null-Fluß-Randbedingungen.

Die lokalen Oszillationen sind in Abb. (4.12) zu sehen. Beix= 0.85 sind die lokalen Schwin-

gungen noch regular, beix= 0.50 bereits quasiperiodisch und beix= 0.15 schließlich chaotisch.

Das laßt sich durch Konstruktion der Amplitudenabbildungen leicht zeigen, vgl. Abb. (4.13).

0

0.2

0.4

0.6

0.8

500 600 700 800

Sca

led

Pre

y D

ensi

ty

Scaled Time

a) x=0.85

0

0.2

0.4

0.6

0.8

500 600 700 800

Sca

led

Pre

y D

ensi

ty

Scaled Time

b) x=0.50

0

0.2

0.4

0.6

0.8

500 600 700 800

Sca

led

Pre

y D

ensi

ty

Scaled Time

c) x=0.15

Abbildung 4.12: Lokale Oszillationen entlang des Gradienten der Produktivitat.

77

4. Raumzeitliche Strukturbildung Gleichungsbasierte Modelle II

0

0.2

0.4

0.6

0.8

1

0 0.2 0.4 0.6 0.8 1

Max

X1(

t+t’)

[Den

sity

]

MaxX1(t) [Density]

a) x=0.85

0

0.2

0.4

0.6

0.8

1

0 0.2 0.4 0.6 0.8 1

Max

X1(

t+t’)

[Den

sity

]

MaxX1(t) [Density]

b) x=0.50

0

0.2

0.4

0.6

0.8

1

0 0.2 0.4 0.6 0.8 1

Max

X1(

t+t’)

[Den

sity

]

MaxX1(t) [Density]

c) x=0.15

Abbildung 4.13: Amplitudenabbildungen entlang des Gradienten der Produktivitat.

Dies ist ein weiteres Beispiel fur die Generierung dynamischer Strukturen in Reaktions-Diffu-

sionssystemen, in diesem Falle hervorgerufen durch den raumlichen Gradienten eines Kontroll-

parameters.

78

Gleichungsbasierte Modelle II 4. Raumzeitliche Strukturbildung

4.7 Biodiffusion

Organismische Bewegung, hier Biodiffusion genannt, wird sicher nur bei sehr niedrigen En-

wicklungsstufen als Ficksche Diffusion zu beschreiben sein. Man nennt diese Diffusion dann

Dispersal, den bekannten Random Walk mit einer Nettofortbewegung ungleich Null. DieUber-

gangswahrscheinlichkeiten sind zustandsunabhangig, daher ist die Bewegung ungerichtet.

Im Unterschied dazu versteht man unterMigration eine Diffusion und die Ruckkehr zum Aus-

gangspunkt, d.h. einer Nettofortbewegung gleich Null.

Biodiffusion ist sicher das Ergebnis verschiedener biologischer Effekte, wie z.B.

• Heterogenitat der Umgebung,

• anziehende oder abstoßende Wechselwirkungen der Individuen,

• lokale Fixierung der Reifung, der Eiablage, des Brutens, usw.

4.7.1 Klassifikation der Biodiffusion

Bei Skellam (1951–1973) werden Biodiffusivitaten wie folgt klassifiziert, vgl. auch Okubo

(1980), Okubo & Levin (2001):

i) Neutrale (Ficksche) Diffusion (0-te Naherung) mit dem Fluß

~j in(~r, t) =−Di(~r,X)~∇Xi(~r, t) ; i = 1,2, . . . ,n; (4.76)

wobei mogliche Orts- und Dichteabhangigkeit der Diffusion (McMurtrie, 1978) schon

berucksichtigt worden ist. Mit dieser neutralen Bewegung beschreibt man am besten pas-

sive Diffusion von Sporen oder Plankton, in jedem Falle einen Fluß den Gradienten hinab.

ii) RepulsiveDiffusion

Hier hangen die Bewegungen von den Bedingungen am Ausgangspunkt ab,z.B. Uber-

bevolkerung, Nahrungsmangel o.a. mit dem Fluß

~j ir (~r, t) = −~∇ [Di(~r,X)Xi(~r, t)] ; (4.77)

= −Xi(~r, t)~∇Di(~r,X)−Di(~r,X)~∇Xi(~r, t) : i = 1,2, . . . ,n; (4.78)

womit verschiedene Arten gerichteter Bewegungen (Taxis) beschrieben werden konnen.

iii) Attraktive Diffusion

Hier hangen die Bewegungen hangen von den Bedingungen im Zielgebiet ab. Der Fluß

79

4. Raumzeitliche Strukturbildung Gleichungsbasierte Modelle II

ist definiert durch

~j ia(~r, t) = −D2i (~r,X)~∇

[Xi(~r, t)Di(~r,X)

]

; (4.79)

= +Xi(~r, t)~∇Di(~r,X)−Di(~r,X)~∇Xi(~r, t) ; i = 1,2, . . . ,n . (4.80)

In der Realitat werden sich diese genannten Bewegungsarten sicheruberlagern. Ein Modell-

beispiel fur die Dichteabhangigkeit der Populationsbewegung wurde 1979 von Shigesadaet al.

eingefuhrt:

Di(X) = αi +n

∑j=1

βi j Xj ; i = 1,2, . . . ,n . (4.81)

Die αi ≥ 0 stehen fur die Zufallsanteile an den Bewegungen. Dieβii beschreiben die intraspe-

zifischen und dieβi j , i 6= j, die interspezifischenBewegungsinterferenzen. Dabei gilt:

βii > 0 intraspezifische Abstoßung βi j > 0 Speziesj stoßt i ab

βii = 0 intraspezifische Neutralitat βi j = 0 interspezifische Neutralitat

βii < 0 intraspezifische Anziehung βi j < 0 Speziesj zieht i an

Dieses Bewegungsverhalten kann dann mit den entsprechend zuwahlenden Wechselwirkungen

kombiniert werden.

Heterogene Medien und Umweltbedingungen konnen auch eine Ortsabhangigkeit der Diffusion

erzeugen. Ein Beispiel dafur ist bei Malchowet al. (1992) zu finden.

4.7.2 Diffusive Instabilitaten bei repulsiver dichteabhangiger Diffusion

Hier soll kurz gepruft werden, ob bei repulsiver dichteabhangiger Diffusion mit dem entspre-

chenden Fluß (4.77) auch Turing-Instabilitaten einer homogen stabilen Populationsverteilung

moglich sind. Man hat

Xi(~r, t) = fi(X,λ)+∆ [Di(X)Xi(~r, t)] ; i = 1,2, . . . ,n . (4.82)

Durch die Einfuhrung der

SelbstdiffusionskoeffizientenDii (X) =

(

1+Xi(~r, t)∂

∂Xi

)

Di(X) ; i = 1,2, . . . ,n;

und

KreuzdiffusionskoeffizientenDi j (X) = Xi(~r, t)∂

∂XjDi(X) ; i = 1,2, . . . ,n; i 6= j;

80

Gleichungsbasierte Modelle II 4. Raumzeitliche Strukturbildung

kann man Gl. (4.82) umschreiben in

Xi(~r, t) = fi(X,λ)+n

∑i=1

~∇ ·[

Di j (X)~∇Xj(~r, t)]

; i = 1,2, . . . ,n . (4.83)

Es ist zu erkennen, es ohne Dichteabhangigkeit der Diffusion keine Kreuzdiffusion geben wurde.

Wie in Kap. 4.6.1 wird jetzt die Existenz einer gegen homogene kleine Storungen stabilen

raumlich homogenen Losung angenommen und ihre Stabilitat gegen Storungen in Form von

ebenen Wellen (4.49)

δX = δX0exp

νt +µ~k ·~r

untersucht. Die Taylorentwicklung um die LosungXs ergibt im Diffusionsterm

~∇ ·

Di j [Xs+δX(~r, t)]~∇[Xs

j +δXj(~r, t)]

= ~∇ ·[

Di j (Xs)+n

∑l=1

∂Dil (Xs)

∂XlδXl

]

~∇δXj

= Di j (Xs)∆δXj +~∇ ·n

∑l=1

∂Dil (Xs)

∂XlδXl

~∇δXj

= Di j (Xs)∆δXj +n

∑l=1

∂Dil (Xs)

∂Xl

~∇ · (δXl~∇δXj)

= Di j (Xs)∆δXj +n

∑l=1

∂Dil (Xs)

∂Xl

(~∇δXl

~∇δXj +δXl ∆δXj

)

= Di j (Xs)∆δXj −2~k2n

∑l=1

∂Dil (Xs)

∂XlδXl δXj︸ ︷︷ ︸

≈0

= Di j (Xs)∆δXj ; i = 1,2, . . . ,n .

Damit ist man zuruck bei der Standarduntersuchung mit Kreuzdiffusion und findet fur zwei-

komponentige Systemen= 2 die kritische Wellenzahl (4.62)

[

~k2]diff

crit=

a11D22+a22D11−a12D21−a21D12

2∆(D),

die erforderlich ist, um die raumlich homogene LosungXs zu destabilisieren.

Nimmt man sich als Beispiel ein zweikomponentiges Lotka-Volterra-Modell

dX1

dt= (a1−b11X1+b12X2)X1 ,

dX2

dt= (a2−b22X2+b21X1)X2 (4.84)

mit der Dichteabhangigkeit (4.81)

D1 = α1+β11X1+β12X2 , D2 = α2+β21X1+β22X2 (4.85)

81

4. Raumzeitliche Strukturbildung Gleichungsbasierte Modelle II

findet man zunachst heraus, daß Lotka-Volterra-Systeme nicht den strengen Aktivator-Inhibitor-

Bedingungen genugen, d.h., selbstdiffusive (Turing-) Instabilitaten sind nicht moglich. Auf der

Suche nach kreuzdiffusiv induzierten Instabilitaten erhalt man die Bedingung

β12b21+β21b12 < 0 , (4.86)

d.h., fur okologisch sinnvolle Bewegungswechselwirkungen sind Kreuzdiffusionsinstabilitaten

nur bei Symbionten(b12 > 0,b21 > 0,β12 < 0,β21 < 0) und Konkurrenten(b12 < 0,b21 <

0,β12 > 0,β21 > 0) moglich. Mit Rauber-Beute-Wechselwirkungen(b12 < 0,b21 > 0,β12 >

0,β21 < 0) kann man die Bedingung (4.86) nicht erfullen, es sei denn, man betrachtet”hinter-

listige“ Rauber und”lebensmude“ Beute wie J. Jorne (1977), wo der Rauber so tut, als wenn er

vor der Beute flieht, worauf die Beute hereinfallt und ihn verfolgt ...

4.7.3 Umweltdichte und Umweltpotential

Eine interessante Erweiterung der Klassifikation nach Skellam ist dasKonzept der Umwelt-

dichte nach Morisita (1971). Es dient der Beschreibung dichteabhangiger Diffusion in be-

vorzugte Lebensraume in heterogener Umwelt. Morisita experimentierte mit Ameisenlowen

Glenuroides japonicus. Eine Schale wurde je zur Halfte mit feinkornigem und grobkornigem

Sand gefullt. Die Tiere wurden genau auf der Grenze eingesetzt, und es konnte beobachtet wer-

den, daß zunachst der bevorzugte grobe Sand besiedelt wurde. Erst als eine gewisse kritische

Besiedlungsdichte erreicht war, wurde auch die weniger “angenehme“ Umgebung akzeptiert.

Shigesada & Teramoto haben 1978 zur mathematischen Modellierung dieses Konzepts das so-

genannteUmweltpotential eingefuhrt. Die Praferenz fur ein Habitat ist proportional zu einer

Potentialkraft

~F(~r, t) =−~∇U(~r, t) .

Der entsprechende Flußterm lautet

~j ip(~r, t) = ~j i(n,r,a)(~r, t)− γiXi(~r, t)~∇U(~r, t) : i = 1,2, . . . ,n . (4.87)

Die γi sind die Koeffizienten der Affinitat der Umwelt. Lokale Minima des Umweltpotentials

sind immer Gebiete mit bevorzugten Lebensbedingungen. Diese mussen nicht statisch sondern

konnen dynamisch sein, z.B. konnten sie sich periodisch mit der Zeit im Raum bewegen, d.h.

U(~r, t) =U(~r, t +T) ,

und dadurch entsprechend periodische Populationsbewegungen erzeugen (Malchow, 1988c).

Es wurde gezeigt, daß auch heterogene Umweltbedingungen und spezifisches Bewegungsver-

halten in entsprechend parametrisierten Modellen statische und dynamische Raumstrukturen

hervorrufen konnen, vgl. auch Malchow (1990a,1990b).

82

Gleichungsbasierte Modelle II 4. Raumzeitliche Strukturbildung

4.7.4 Wachstum und schnelle Diffusion in Umweltpotentialen

Bei Einfuhrung eines ungleichformigen UmweltpotentialsU(~r) kann es keine raumlich homo-

gene Populationsverteilung mehr geben. Es ist eine ArtLandschaft der Lebensbedingungen

mit den optimaleren in den Talern, d.h., in den Minima des Potentials. Alle Informationenuber

die Struktur der Umwelt sind in der”Karte“ vonU(~r) enthalten.

Wachstum und Wechselwirkungen auf der einen und Biodiffusion auf der anderen Seite werden

meist auf unterschiedlichenZeitskalen ablaufen, denn Bewegungen zur Nahrungssuche sind

sicher haufiger als die Vermehrung. Die Annahme schneller Diffusionist alsookologisch plau-

sibel.

Ohne Beschrankung der Allgemeinheit wird eine Population mit konstanter Diffusion in einer

raumlichen Dimensionr ∈ [0,L] betrachtet, d.h.,

X(r, t) = ε f (X)−~∇ ·~j(r,X) , X(r,0) =W(r)≥ 0 , aber W(r) 6≡ 0 ; (4.88)

~j(r,X) =−D~∇X−X~∇U , ~j(0,X) = ~j(L,X) =~0 (Null-Fluß-RB) . (4.89)

Reaktionsfunktionf und Flußterm~j sind auf gleicher ZeitskalaO(1). Jetzt wird angenommen,

daßε klein genug ist, um die Zwei-Zeiten-Storungsmethode anzuwenden (Nayfeh, 1973; Shige-

sada, 1984). Einer schnellenAnderung der raumlichen Verteilung durch Bewegung folgt dann

die langsameAnderung der Populationsgroße durch Wachstum und Wechselwirkungen.

Die Einfuhrung der zwei Zeitskalen

T0 = t , T1 = εt (4.90)

liefert die Zeitableitung

∂∂t

=∂

∂T0+ ε

∂∂T1

. (4.91)

Man geht mit dem Ansatz

X(r, t) = X(r,T0,T1;ε) (4.92)

= X0(r,T0,T1)+ εX1(r,T0,T1)+ . . . (4.93)

in die Ausgangsgleichung (4.88) und findet nach Sortieren nach Ordnung vonε

∂∂T0

X0(r,T0,T1) = −~∇ ·~j(r,X0) , (4.94)

X0(r,0,0) = W(r) ,

~∇ ·~j(r,X0) = ~0 fur r = 0,L ;

83

4. Raumzeitliche Strukturbildung Gleichungsbasierte Modelle II

∂∂T0

X1(r,T0,T1)+~∇ ·~j(r,X1) = f (X0)−∂

∂T1X0(r,T0,T1) , (4.95)

X1(r,0,0) = 0 ,

~∇ ·~j(r,X1) = ~0 fur r = 0,L .

Die allgemeine Losung von (4.94) kann geschrieben werden als

X0(r,T0,T1) = Y0(T1)g(r,T0) . (4.96)

Dabei istg die Losung von

∂∂T0

g(r,T0) = −~∇ ·~j(r,g) , (4.97)

g(r,0) =W(r)∫ L

0W(r)dr

,

~∇ ·~j(r,g) = ~0 fur r = 0,L .

Integriert man (4.97)uberr, erhalt man∫ L

0g(r,T0)dr = 1 , g(r,T0)≥ 0 . (4.98)

Die Funktiong(r,T0) kann man offenbar als Wahrscheinlichkeitsdichte der raumlichen Popula-

tionsverteilung auffassen.

Die Gln. (4.97) sind ein regulares Sturm-Liouville-Problem mit der formalen Losung (Berg &

McGregor, 1969; Shigesada, 1984)

g(r,T0) =∞

∑n=0

cnψn(r)exp−λnT0 . (4.99)

Die Konstantencn sind aus den Anfangsbedingungen zu bestimmen. Dieψn(r) sind die Ei-

genfunktionen von (4.99) zu den nichtnegativen Eigenwerten λn, die man nach ansteigenden

Werten sortieren kann, d.h.,

0= λ1 < λ2 < λ3 < .. . .

Daher istg(r,T0) beschrankt fur aller undT0 und erreicht fur T0→ ∞ den Gleichgewichtswert

gs(r). Dieser ist die Losung von~j(r,gs) =~0 :

limT0→∞

g(r,T0) = gs(r) =exp−U(r)/D∫ L

0exp−U(r)/Ddr

. (4.100)

Die FunktionY0(T1) in Gl. (4.96) ist bisher unbestimmt geblieben. Sie folgt ausder nachsten

Stufe des Storungsschemas. Gl. (4.95) wirduberr integriert, und mit

Y1(T0,T1) =∫ L

0X1(r,T0,T1)dr

84

Gleichungsbasierte Modelle II 4. Raumzeitliche Strukturbildung

findet man

∂∂T0

Y1(T0,T1) =∫ L

0f [r,Y0(T1)g(r,T0)]dr− ∂

∂T1Y0(T1) . (4.101)

Fur T0→ ∞ sollte die rechte Seite gegen Null gehen, daY1(T0,T1) sonst unbeschrankt ware.

Nach Substitution vongs(r) in g(r,T0) und Nullsetzen der rechten Seite kann manY0(T1) fest-

setzen als Losung von

∂∂T1

Y0(T1) =∫ L

0f [r,Y0(T1)g

s(r)]dr , (4.102)

Y0(0) =∫ L

0W(r)dr .

Schließlich findet man die Losung als

X(r, t) =Y0(εt)g(r, t)+O(ε) . (4.103)

Dabei istY0 die Losung der gewohnlichen Differentialgleichung (4.102) undg(r, t) die formale

Losung (4.99) des Sturm-Liouville-Problems (4.97). Diese Losung ist gultig fur Zeiten bis zur

OrdnungO(ε−1).

Wegen∫ L

0 g(r, t)dr = 1 gilt∫ L

0 X(r, t)dr = Y0(εt)+O(ε) . Y0(εt) steht also fur die Große der

Gesamtpopulation.

Das KurzzeitverhaltenO(1) ist durch den schnellen Diffusionsprozeß bestimmt:g(r, t) erreicht

den Gleichgewichtswertgs(r) ohneAnderung der GesamtpopulationsgroßeY0.

Das LangzeitverhaltenO(ε−1) wird dagegen vom Wachstum der Populationsgroße bestimmt,

wahrendg(r, t) beigs(r) verbleibt.

Fur t→ ∞ erreicht das System den stationaren Zustand

Xs(r) =Ys0gs(r) . (4.104)

Bei Shigesada (1984) ist eine Anwendung auf die Große einer logistisch wachsende Population

in einem allgemeinen Potential, bei Malchow (1988c) in einem Double-Well-Potential zu fin-

den. Es ist erstaunlich, fur welch”große“ε die Naherung (4.104) nahe der exakten numerischen

Losung bleibt.

Die Zwei-Zeiten-Methode ist auch auf die Trennung langsamer biologischer Prozesse und schnel-

ler Stromung im Unterlauf eines Modellflusses angewendet worden (Malchow & Shigesada,

1994). Bei Messungen wurde das der Moving-Boat-Technik entsprechen, man treibt dabei mit

dem Boot und der Biologie flußabwarts.

85

4. Raumzeitliche Strukturbildung Gleichungsbasierte Modelle II

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90

Gleichungsbasierte Modelle II 5. Einfache numerische Methoden

5. Einfachste numerische Methoden

Literatur: Roache (1982, 1998); Smith (1985); Acton (1990); Presset al. (1992); Thomas

(1995)

Hier soll nur eine kurze Zusammenstellung der allereinfachsten numerischen Rezepte zur Losung

der gleichungsbasierten Probleme aus den vorangegangenenKapiteln gegeben werden.

5.1 Differentiation

Eine Differentiationd fdx kann durch eine Taylorreihe, die an entsprechender Stelle abgebrochen

wird, angenahert werden. Es ergeben sich dann aus

f (x+∆x) = f (x)+∆x1!

f ′(x)+ . . . , (5.1)

a) Vorwartsdifferenz f ′(x) = f (x+∆x)− f (x)∆x

b) Ruckwartsdifferenz f ′(x) = f (x)− f (x−∆x)∆x [ersetze∆x durch−∆x]

c) Zentraldifferenz f ′(x) = f (x+∆x)− f (x−∆x)2∆x [Addition von (a) und (b)]

Die zweite Ableitungd2 fdx2 kann ausgehend von der abgebrochenen Taylorreihe

f (x+∆x) = f (x)+∆x1!

f ′(x)+∆x2

2!f ′′(x)+ . . . , (5.2)

dargestellt werden als

f ′′(x) =f (x+∆x)−2 f (x)+ f (x−∆x)

∆x2 ,

wenn fur f ′(x) in der Taylorreihe die Zentraldifferenz eingesetzt wird.

Ist f = f (x,y), kann die zweite Ableitung∂2 f

∂y2 entsprechend dargestellt werden:

∂2 f∂y2 =

f (x,y+∆y)−2 f (x,y)+ f (x,y−∆y)

∆y2 .

91

5. Einfache numerische Methoden Gleichungsbasierte Modelle II

5.2 Diskretisierung

In numerischen Modellen sollen die Funktionswerte und deren Ableitungen an vielen Stellen

innerhalb eines betrachteten Gebietes errechnet werden. Dazu wird dieses Gebiet diskretisiert:

x = i x

y = j y

∆∆

x

y∆

∆x [i]

y [j]

So kann man∂2 f

∂x2 und ∂2 f∂y2 an der Stelle[i, j] darstellen als

∂2

∂x2 f (x,y) → fi+1, j −2 fi, j + fi−1, j

∆x2 , (5.3)

∂2

∂y2 f (x,y) → fi, j+1−2 fi, j + fi, j−1

∆y2 . (5.4)

Durch den Abbruch der Taylorreihe entstehen numerische Fehler, die man durch moglichst

kleine Schritte∆x und∆y minimieren kann.

5.3 Differentialgleichungen

5.3.1 Gewohnliche Differentialgleichungen

Die Veranderung einer GroßeG in der Zeitt wird durch die i.a. nichtlineare Reaktionsfunktion

F [.] beschrieben:

dG(t)dt

= F [G(t),λ] .

Nach Diskretisierung der Zeitt = k∆t,k= 0,1,2, ...; und Wahl der Vorwartsdifferenz mit Schritt-

weite∆t findet man

G(t +∆t)−G(t)∆t

=Gk+1−Gk

∆t= F [Gk,λ]

Gk+1 = Gk+∆t ·F [Gk,λ] . (5.5)

Dies ist das simple Euler-Verfahren. Besser und stabiler laufen Runge-Kutta- oder andere (auch

implizite) Verfahren, siehe Literatur. In Abb. 5.1 ist einmal der Vergleich der Losungen eines

92

Gleichungsbasierte Modelle II 5. Einfache numerische Methoden

Euler- und eines Runge-Kutta-Verfahrens 4. Ordnung am Beispiel eines angeregten Rauber-

Beute-Systems gezeigt:

1.95

2

2.05

2.1

3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6

Zoo

plan

kton

/mg.

dw/l

Phytoplankton/mg.dw/l

"PZ_Euler""PZ_RunKu"

Abbildung 5.1: Vergleich eines Euler- und eines Runge-Kutta-Verfahrens 4. Ordnung

Qualitativ wird die quasiperiodische Systemdynamik auch mit dem Euler-Verfahren richtig be-

schrieben, aber nicht quantitativ.

5.3.2 Partielle Differentialgleichungen

Eindimensionale Reaktions-Diffusionsgleichung:

Wachstum, Zerfall und Diffusion einer GroßeG mit dem DiffusionskoeffizientenD am Ortx

zur Zeitt wird modelliert durch

∂G(x, t)∂t

= F [G(x, t),λ]+D∂2G(x, t)

∂x2 .

Mit x= i∆x; i = 1,N; und t = k∆t;k = 1,M; folgt die diskrete Darstellung fur die numerische

Realisierung

Gi,k+1 = Gi,k+∆t ·F [Gi,k,λ]+D∆t∆x2 [Gi+1,k−2Gi,k+Gi−1,k] (5.6)

mit dem Stabilitatskriterium

∆x2≥ 2D∆t . (5.7)

93

5. Einfache numerische Methoden Gleichungsbasierte Modelle II

Eindimensionale Advektionsgleichung:

Die Advektion einer GroßeG mit der Geschwindigkeitv am Ortx zur Zeit t wird modelliert

durch

∂G(x, t)∂t

+v∂G(x, t)

∂x= 0 .

Die Losung dieser Gleichung ist ein relativ kompliziertes und”gefahrliches“ numerisches Pro-

blem (Instabilitaten, numerische Diffusion), siehe Spezialliteratur, z.B.Roache (1982); O’Brien

(1986)!

Hier nur wird nur dasUpstream-Verfahren erlautert, das in der Modellierpraxis meist nicht

eingesetzt wird wegen der großennumerischen Diffusion, siehe unten.

x [i]ii−1 i+1

v > 0

v < 0

Es folgt fur ∆x und∆t wie oben

Gi,k+1 = Gi,k−v∆t∆x·

Gi,k−Gi−1,k fur v> 0 ,

Gi+1,k−Gi,k fur v< 0 .(5.8)

Der Faktor

c=v∆t∆x

(5.9)

wird Courant-Zahl genannt. Die praktische Kombination der beiden Ausdrucke fur v> 0 und

v< 0 in (5.8) ergibt

Gi,k+1 = Gi,k(1−|c|)+12

[(c+ |c|)Gi−1,k+(|c|−c)Gi+1,k

]. (5.10)

Dieses Schema ist stabil fur

|c| ≤ 1 . (5.11)

Jetzt soll noch kurz die Entstehung der numerischen Diffusion demonstriert werden, vgl. O’Brien

(1986). Die Advektionsgleichung fur c≥ 0 lautet in der Upstream-Formulierung

Gi,k+1 = Gi,k−c(Gi,k−Gi−1,k) .

94

Gleichungsbasierte Modelle II 5. Einfache numerische Methoden

Addiert man einen Term gleich Null, so folgt

so folgt Gi,k+1 = Gi,k−c(Gi,k−Gi−1,k)+c2(Gi+1,k−Gi+1,k) ,

und Gi,k+1 = Gi,k−c2(Gi+1,k−Gi−1,k)

︸ ︷︷ ︸

Instabile Diskretisierung

der Advektionsgleichung

(vorwarts in der Zeit, zen-

tral im Raum: FTCS)

+c2(Gi+1,k−2Gi,k+Gi−1,k)

︸ ︷︷ ︸

Stabile Diskretisierung der

Diffusionsgleichung (vor-

warts in der Zeit, zentral im

Raum)

,

d.h. in Wirklichkeit wird die Advektions-Diffusionsgleichung

∂G(x, t)∂t

+v∂G(x, t)

∂x= DN

∂2G(x, t)∂x2

mit der numerischen DiffusionDN = v ∆x2 und der grundsatzlich instabilen FTCS-Approximation

fur den Advektionsterm gelost, wobei die numerische Diffusion (computational viscosity) den

instabilen Teil dampft. Diese numerische Diffusion kann die reale turbulente Diffusion um

Großenordnungenubertreffen! Es gibt verschiedene Methoden, um diesen Effekt zu unter-

drucken, vgl. z.B. van Leer (1974); Smolarkiewicz & Clark (1986), doch das fuhrt an dieser

Stelle zu weit.

(Roache, 1982, S.1)

5.4 Literaturhinweise

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ROACHE, P. J. (1982).Computational fluid dynamics. Albuquerque: Hermosa Publ.

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95

5. Einfache numerische Methoden Gleichungsbasierte Modelle II

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96

Gleichungsbasierte Modelle II 6. Studienprojekte

6. Studienprojekte mit Schwierigkeitsgraden①–②–③

Die Projekte laufenuber das gesamte Semester. Die genannte Literatur ist selbstandig zu erar-

beiten. Die Ergebnisse der Autoren sind zu verifizieren und vorzutragen.

6.1 Strukturbildung im Segel-Jackson-Modell②

Der Klassiker zu Turing-Strukturen in chemischen Systemenund der aquatischen Populations-

dynamik (Segel & Jackson, 1972).Methode: Reaktions-Diffusionsgleichungen.

6.2 Verzweigungen und Netze in einem Gierer-Meinhardt-Modell③

Ob Blatter so wachsen (Meinhardt, 1976, 1982)?

Methode: Reaktions-Diffusionsgleichungen.

6.3 Raumzeitliches Chaos entlang eines Nahrstoffgradienten ②

Wenn das Essen nicht gleichmaßig verteilt wird, gibt’s Chaos, auch beim Plankton (Pascual,

1993).

Methode: Reaktions-Diffusionsgleichungen.

6.4 Locher im Algenteppich②

Turing lochert Plankton (Malchow, 2000).

Methode: Reaktions-Diffusionsgleichungen.

6.5 Ausbreitung von virusinfizierten Algen I②

Krankeln und trotzdem Wirbel machen: Der grunlich-schleimige Patient (Malchowet al., 2004;

Hilker et al., 2006).

Methode: Reaktions-Diffusionsgleichungen.

6.6 Ausbreitung von virusinfizierten Algen II ②

Noch mehr und nun auch noch erregbare grunlich-schleimige Patienten (Malchowet al., 2005).

Methode: Reaktions-Diffusionsgleichungen.

6.7 Raumzeitliches Chaos hinter Rauber-Beute-Wellen②

Die Rauber jagen die Beute, aber was geschieht hinter ihnen (Sherratt et al., 1995, 1997;

Petrovskii & Malchow, 1999)?

Methode: Reaktions-Diffusionsgleichungen und/oder Zellularautomat.

97

6. Studienprojekte Gleichungsbasierte Modelle II

6.8 Invasionswellen in einem Rauber-Beute-Modell mit Allee-Effekt ②

Seltsame Invasoren (Petrovskiiet al., 2002, 2005; Morozovet al., 2006).

Methode: Reaktions-Diffusionsgleichungen.

6.9 Rauber mit verhaltnisabhangiger funktioneller Reaktion auf die Beu-

te ②

Rauber und Beute im Verhaltnis und die Bildung von Labyrinthen (Banerjee & Petrovskii, 2010;

Banerjee, 2011).

Methode: Reaktions-Diffusionsgleichungen.

6.10 Zwei diffusiv gekoppelte Rauber-Beute-Populationen②

Beute hier und da, Rauberuberall (Jansen, 2001).

Methode: Reaktions-Diffusions-Differenzengleichungen.

6.11 Chaos hinter jagenden Raubern ②

Chaos folgt Raubern folgt Beute. (Sherrattet al., 1995).

Methode: Reaktions-Diffusionsgleichungen.

6.12 Diffusive Instabilitaten und Strukturen in heterogenen Landschaf-

ten ③

Landschaft schafft Struktur in Populationen. (Cobboldet al., 2015).

Methode: Reaktions-Diffusions-Differenzengleichungen.

6.13 Rauber mit verhaltnisabhangiger funktioneller Reaktion auf die Beu-

te ②

Rauber und Beute im Verhaltnis und neue Strukturen (Banerjee & Abbas, 2015).

Methode: Reaktions-Diffusionsgleichungen.

6.14 Konkurrenz und Invasion in variabler Umwelt ②

Abwehr von Neobiota in schnell veranderlicher Umwelt (Malchowet al., 2011).

Methode: Stochastische Reaktions-Diffusionsgleichungen.

98

Gleichungsbasierte Modelle II 6. Studienprojekte

6.15 Heterogene Ausbreitung von Neobiota und deren Kontrolle③

Unerwartete Ausbreitungsmuster neuer Arten (Petrovskiiet al., 2005).

Methode: Reaktions-Diffusionsgleichungen.

6.16 Literaturhinweise

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100

Gleichungsbasierte Modelle II Zitierte weiterfuhrende Literatur

7. Zitierte Literatur aus allen Kapiteln

101

Zitierte weiterfuhrende Literatur Gleichungsbasierte Modelle II

102