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Gott im Horizont der Existenz des Menschen Das Gottesverständnis der Neuzeit Paul Tillich Der Theologe und Philosoph Paul Tillich (1886-1965), wie Karl Barth 1886 geboren, war zunächst ebenfalls durch den Kulturprotestantismus geprägt. Auch für ihn wurde der Erste Weltkrieg, den er als Militärpfarrer an der Westfront erlebte, zum Schlüsselerlebnis. Im Rück- blick sagt er, dass der Druck dieser Zeit den Gottes- gedanken zu verdunkeln oder dämonisch zu färben drohte. Das vierjährige Erleben des Krieges riss den Abgrund für mich und meine ganze Generation so auf, dass er sich nie mehr schließen konnte. Wenn eine Vereinigung von Theologie und Philosophie möglich sein sollte, so durfte sie nur in einer Weise geschehen, die dieser Erfahrung des Abgrundes unserer Existenz gerecht wurde. Tillich hat in den Jahren zwischen 1924 und 1933 Pro- fessuren für Theologie und Philosophie in Marburg, Dresden, Leipzig und Frankfurt innegehabt; er wurde am 6.2.1933 als erster arischer Hochschullehrer entlas- sen und emigrierte in die USA. Dort lehrte er von 1933 bis 1965 an den Hochschulen in New York, Havard und Chicago. Er gilt als der bedeutendste Theologe Ameri- kas und wurde erst in den 60er Jahren in Deutschland stärker bekannt. 1962 erhielt er den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Die Erfahrung des Abgrunds sah er nicht allein als ein persönliches Erleben, sondern als eine tiefgreifende Krise, die die Situation der Men- schen im 20. Jahrhundert überhaupt bezeichnet - der Erste Weltkrieg, der Europa 1914 betraf, ist für ihn dafür genauso ein Symptom wie z.B. die große Wirt- schaftskrise in Amerika 1929; und die Erfahrungen, die der Zweite Weltkrieg brachte, Auschwitz und Hiroshi- ma, oder die Folgen einer rücksichtslosen Ausbeutung der Natur oder einer gnadenlosen Aufrüstung der Men- schheit können diese Zeitanalyse nur bestätigen. Der Mensch in der Mitte des 20. Jahrhunderts hat nicht nur eine Reihe schwerster Katastrophen hinter sich, er lebt auch weiter in einer Situation, die mit möglichen Kata- strophen geladen ist. Statt von Fortschritt spricht er. von Krise. [...] Und wenn die Frage in ihm auftaucht, welches der Sinn seines Seins ist, dann tut sich ein Ab- grund vor ihm auf, in den zu blicken nur der Mutigste wagt: der Abgrund der Sinnlosigkeit. Wie aber lässt sich in dieser Situation der Krise noch von Gott reden? Wie lässt sich ein solches Reden von Gott, von Glaube und vom Bestehen in der Sinnlosigkeit so formulieren, dass es diesen Menschen des 20. Jahr- hunderts erreicht, ihm zugänglich wird und ihm ein- leuchtet? Sicher nicht durch die traditionelle christliche Redeweise. Theologie ist weithin die Antwort auf Fra- gen, die der Mensch gar nicht gestellt hat. Es ist falsch, die Fragen des Menschen aus der Offenbarungsantwort herzuleiten, meint Tillich, und es ist auch unmöglich, weil die Offenbarungsantwort als sinnlos empfunden würde, wenn sie nicht Antwort auf eine zuvor gestellte Frage wäre. Wir können keine Antwort verstehen, die nicht Antwort auf eine Frage ist, die wir gefragt haben. Die Methode der Korrelation Eine Lösung kann nicht so gefunden werden, dass die Theologen ihre Antwort offener, moderner, gegenwarts- näher formulieren, sondern nur so, dass es zu einer Be- gegnung kommt, ein Vorgang, der sich nur mit den Kategorien existentieller Betroffenheit beschreiben lässt. Die existentielle Frage, die den Menschen der Gegen- wart beschäftigt, muss aufgenommen und in eine Bezie- hung gesetzt werden zu dem, was ihm nun als Antwort zuteil wird. Dies lässt sich nicht mehr als ein Vorgang von Mitteilen und Empfangen charakterisieren; existen- tielle Begegnung bedeutet vielmehr, dass der Fragende sich in dieser Begegnung verändert, dass sich ihm eine neue Sicht des Lebens, neue Lebensgewissheit auf- schließt – und es bedeutet ebenso, dass diese auch für den Antwortenden, also für Gott gilt. Denn es geht ja nicht um die Antwort eines Orakels, sondern um eine Beziehung. „Es gibt eine wechselseitige Abhängigkeit zwischen Gott für uns und Wir für Gott. Gottes Zorn und Gottes Gnade sind keine Gegensätze im Herzen Gottes (Luther), in der Tiefe seines Seins; sie sind Ge- gensätze in der Beziehung Gott-Mensch. Diese Bezie- hung zwischen Fragendem und Antwortendem nennt Tillich eine Korrelation. Er versteht darunter die Metho- de, die der Theologie – und das gilt ebenso für die Pre- digt wie für den Religionsunterricht – allein angemessen ist. Der Mensch und die Dimension der Tiefe Diese Methode setzt nun allerdings voraus, dass der Mensch überhaupt fragt und dass ihm die Frage nach Glaube, Gott oder einer religiösen Dimension seines Lebens nicht völlig gleichgültig geworden ist. Dies trifft weithin nicht sicher zu. Tillich gibt sich hier keinen Illu- sionen hin. Unser tägliches Leben in Beruf und Familie, mit Auto- und Flugreisen, bei Gesellschaften und Kon- ferenzen, beim Lesen von Unterhaltungsblättern und Reklamen, beim Fernsehen und am Radio ist ein einzi- ges großes Beispiel für ein Leben ohne Dimension der Tiefe, für ein Leben, das vergeht, indem es jeden einzel- nen Augenblick mit etwas ausfüllt, das getan, gesagt, gesehen oder geplant werden muss. Der Begriff Dimen- sion der Tiefe ist hierbei in einem doppelten Sinn zu verstehen. Er bezeichnet zunächst einmal die Qualität eines menschlichen Lebens. So wie ein Bild erst durch einen Hintergrund seine Tiefenwirkung bekommt, gilt auch für den Menschen, dass er ohne die Frage danach, woher er kommt, wohin er geht, was er tun und was er aus sich machen soll in der kurzen Spanne zwischen Ge- burt und Tod, ein flaches, vordergründiges und ein- dimensionales Leben führen würde. Tillich denkt aber auch an Erfahrungen seiner eigenen Lebenskrise im Ersten Weltkrieg. Die Tiefenpsychologie und die Psy- choanalyse decken auf, dass der Mensch nicht nur durch sein Bewusstsein bestimmt ist, sondern auch durch die Kräfte und Konflikte im Bereich des Unbewussten. Die Kunst des Expressionismus, mit der Tillich sich befass- te, sieht den Menschen als das Erhebendste und Kläg- lichste, wie es ein Expressionist in jener Zeit formulier- te. Der Mensch stößt also, ob er es will oder nicht, auf die Tiefe. Dies bezeichnet den Ort, wo sich der Mensch der Fraglichkeit seines Lebens bewusst wird. Es gehört deshalb für Tillich zum Menschsein hinzu, dass der Mensch sich nicht einfach mit der Vordergründigkeit des Lebens abfinden kann, sondern dass er darüber hin- aus fragt. Hier liegt genau der Punkt, der den Theologen interessieren muss: Die Frage von Paulus: Wie werde ich vom Gesetz befreit? oder die Frage von Luther: Wie finde ich einen gnädigen Gott? werden in unserer Zeit durch die Frage ersetzt: Wie kann ich einen Sinn in dieser sinnlosen Welt finden? Hier ist es für Tillich wichtig, die Bedingung zu benen- nen, unter der sich eine Antwort als zureichend und ein- 5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 90 95 100 105 110 115 120 125 130

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Gott im Horizont der Existenz des MenschenDas Gottesverständnis der Neuzeit

Paul Tillich

Der Theologe und Philosoph Paul Tillich (1886-1965), wie Karl Barth 1886 geboren, war zunächst ebenfalls durch den Kulturprotestantismus geprägt. Auch für ihn wurde der Erste Weltkrieg, den er als Militärpfarrer an der Westfront erlebte, zum Schlüsselerlebnis. Im Rück-blick sagt er, dass der Druck dieser Zeit den Gottes-gedanken zu verdunkeln oder dämonisch zu färben drohte. Das vierjährige Erleben des Krieges riss den Abgrund für mich und meine ganze Generation so auf, dass er sich nie mehr schließen konnte. Wenn eine Vereinigung von Theologie und Philosophie möglich sein sollte, so durfte sie nur in einer Weise geschehen, die dieser Erfahrung des Abgrundes unserer Existenz gerecht wurde.

Tillich hat in den Jahren zwischen 1924 und 1933 Pro-fessuren für Theologie und Philosophie in Marburg, Dresden, Leipzig und Frankfurt innegehabt; er wurde am 6.2.1933 als erster arischer Hochschullehrer entlas-sen und emigrierte in die USA. Dort lehrte er von 1933 bis 1965 an den Hochschulen in New York, Havard und Chicago. Er gilt als der bedeutendste Theologe Ameri-kas und wurde erst in den 60er Jahren in Deutschland stärker bekannt. 1962 erhielt er den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Die Erfahrung des Abgrunds sah er nicht allein als ein persönliches Erleben, sondern als eine tiefgreifende Krise, die die Situation der Men-schen im 20. Jahrhundert überhaupt bezeichnet - der Erste Weltkrieg, der Europa 1914 betraf, ist für ihn dafür genauso ein Symptom wie z.B. die große Wirt-schaftskrise in Amerika 1929; und die Erfahrungen, die der Zweite Weltkrieg brachte, Auschwitz und Hiroshi-ma, oder die Folgen einer rücksichtslosen Ausbeutung der Natur oder einer gnadenlosen Aufrüstung der Men-schheit können diese Zeitanalyse nur bestätigen. Der Mensch in der Mitte des 20. Jahrhunderts hat nicht nur eine Reihe schwerster Katastrophen hinter sich, er lebt auch weiter in einer Situation, die mit möglichen Kata-strophen geladen ist. Statt von Fortschritt spricht er. von Krise. [...] Und wenn die Frage in ihm auftaucht, welches der Sinn seines Seins ist, dann tut sich ein Ab-grund vor ihm auf, in den zu blicken nur der Mutigste wagt: der Abgrund der Sinnlosigkeit.

Wie aber lässt sich in dieser Situation der Krise noch von Gott reden? Wie lässt sich ein solches Reden von Gott, von Glaube und vom Bestehen in der Sinnlosigkeit so formulieren, dass es diesen Menschen des 20. Jahr-hunderts erreicht, ihm zugänglich wird und ihm ein-leuchtet? Sicher nicht durch die traditionelle christliche Redeweise. Theologie ist weithin die Antwort auf Fra-gen, die der Mensch gar nicht gestellt hat. Es ist falsch, die Fragen des Menschen aus der Offenbarungsantwort herzuleiten, meint Tillich, und es ist auch unmöglich, weil die Offenbarungsantwort als sinnlos empfunden würde, wenn sie nicht Antwort auf eine zuvor gestellte Frage wäre. Wir können keine Antwort verstehen, die nicht Antwort auf eine Frage ist, die wir gefragt haben.

Die Methode der Korrelation

Eine Lösung kann nicht so gefunden werden, dass die Theologen ihre Antwort offener, moderner, gegenwarts-näher formulieren, sondern nur so, dass es zu einer Be-gegnung kommt, ein Vorgang, der sich nur mit den Kategorien existentieller Betroffenheit beschreiben lässt.

Die existentielle Frage, die den Menschen der Gegen-wart beschäftigt, muss aufgenommen und in eine Bezie-hung gesetzt werden zu dem, was ihm nun als Antwort zuteil wird. Dies lässt sich nicht mehr als ein Vorgang von Mitteilen und Empfangen charakterisieren; existen-tielle Begegnung bedeutet vielmehr, dass der Fragende sich in dieser Begegnung verändert, dass sich ihm eine neue Sicht des Lebens, neue Lebensgewissheit auf-schließt – und es bedeutet ebenso, dass diese auch für den Antwortenden, also für Gott gilt. Denn es geht ja nicht um die Antwort eines Orakels, sondern um eine Beziehung. „Es gibt eine wechselseitige Abhängigkeit zwischen Gott für uns und Wir für Gott. Gottes Zorn und Gottes Gnade sind keine Gegensätze im Herzen Gottes (Luther), in der Tiefe seines Seins; sie sind Ge-gensätze in der Beziehung Gott-Mensch. Diese Bezie-hung zwischen Fragendem und Antwortendem nennt Tillich eine Korrelation. Er versteht darunter die Metho-de, die der Theologie – und das gilt ebenso für die Pre-digt wie für den Religionsunterricht – allein angemessen ist.

Der Mensch und die Dimension der Tiefe

Diese Methode setzt nun allerdings voraus, dass der Mensch überhaupt fragt und dass ihm die Frage nach Glaube, Gott oder einer religiösen Dimension seines Lebens nicht völlig gleichgültig geworden ist. Dies trifft weithin nicht sicher zu. Tillich gibt sich hier keinen Illu-sionen hin. Unser tägliches Leben in Beruf und Familie, mit Auto- und Flugreisen, bei Gesellschaften und Kon-ferenzen, beim Lesen von Unterhaltungsblättern und Reklamen, beim Fernsehen und am Radio ist ein einzi-ges großes Beispiel für ein Leben ohne Dimension der Tiefe, für ein Leben, das vergeht, indem es jeden einzel-nen Augenblick mit etwas ausfüllt, das getan, gesagt, gesehen oder geplant werden muss. Der Begriff Dimen-sion der Tiefe ist hierbei in einem doppelten Sinn zu verstehen. Er bezeichnet zunächst einmal die Qualität eines menschlichen Lebens. So wie ein Bild erst durch einen Hintergrund seine Tiefenwirkung bekommt, gilt auch für den Menschen, dass er ohne die Frage danach, woher er kommt, wohin er geht, was er tun und was er aus sich machen soll in der kurzen Spanne zwischen Ge-burt und Tod, ein flaches, vordergründiges und ein-dimensionales Leben führen würde. Tillich denkt aber auch an Erfahrungen seiner eigenen Lebenskrise im Ersten Weltkrieg. Die Tiefenpsychologie und die Psy-choanalyse decken auf, dass der Mensch nicht nur durch sein Bewusstsein bestimmt ist, sondern auch durch die Kräfte und Konflikte im Bereich des Unbewussten. Die Kunst des Expressionismus, mit der Tillich sich befass-te, sieht den Menschen als das Erhebendste und Kläg-lichste, wie es ein Expressionist in jener Zeit formulier-te. Der Mensch stößt also, ob er es will oder nicht, auf die Tiefe. Dies bezeichnet den Ort, wo sich der Mensch der Fraglichkeit seines Lebens bewusst wird. Es gehört deshalb für Tillich zum Menschsein hinzu, dass der Mensch sich nicht einfach mit der Vordergründigkeit des Lebens abfinden kann, sondern dass er darüber hin-aus fragt. Hier liegt genau der Punkt, der den Theologen interessieren muss: Die Frage von Paulus: Wie werde ich vom Gesetz befreit? oder die Frage von Luther: Wie finde ich einen gnädigen Gott? werden in unserer Zeit durch die Frage ersetzt: Wie kann ich einen Sinn in dieser sinnlosen Welt finden?

Hier ist es für Tillich wichtig, die Bedingung zu benen-nen, unter der sich eine Antwort als zureichend und ein-

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leuchtend erweist. Wenn der Sinn des Lebens von dem abhängt, was der Mensch selbst leisten muss (z.B. wenn ich meine Pflicht erfülle, oder wenn ich Fehler vermei-de, dann ...), oder wenn er von seinem Lebensgeschick abhinge (Wenn ich gesund bleibe, dann ...), so bleibt eine solche Antwort ungewiss, weil alle denkbaren Be-dingungen auch wieder fraglich werden können. Nur eine unbedingte, von keinen Bedingungen abhängige Antwort kann sich als tragfähig erweisen. Hier gewinnt der Ort der Tiefe nun für Tillich eine zweite Bedeutung. Es ist – so könnte man den von Schleiermacher verwen-deten Begriff aufnehmen – das Woher, der Ursprungsort einer tragfähigen Antwort. Für Tillich ist es die Aufgabe der Religion, dem Menschen zu helfen, seine verlorene Dimension wiederzugewinnen. Tiefe bedeutet, dass die religiöse Dimension auf dasjenige im menschlichen Geistesleben hinweist, das letztlich, unendlich, unbe-dingt ist. Religion ist im weitesten und tiefsten Sinn des Wortes das, was uns bedingt angeht. Religion wird damit zu einer ontologischen Bestimmung des Mensch-seins schlechthin, und zwar in dem Sinn, dass die Men-schen nicht nur die Frage nach ihrem Menschsein stel-len, sondern auch Antworten auf die Frage nach dem eigenen Sein erhalten und Fragen unter dem Eindruck dieser Antworten stellen.

Gott als Dimension des Unbedingten, als Grund des Seins

Wie aber ist der andere Bezugspunkt der Korrelation zu verstehen, der Gott für uns? Tillich bezieht jetzt seine Formulierung, die zunächst der Bestimmung der Reli-gion galten, auf Gott. Gott ist der Name ... der Name für das, was den Menschen unbedingt angeht. Das heißt nicht, dass es zunächst ein Wesen gibt, das Gott ge-nannt wird, und dann die Forderung, dass es den Men-schen unbedingt angehen soll. Es heißt, dass das, was einen Menschen unbedingt angeht, für ihn zum Gott (oder Götzen) wird, und es heißt, dass nur das ihn un-bedingt angehen kann, was für ihn Gott (oder Götze) ist. Es muss sich im Akt des Vertrauens erweisen, ob der einzelne für sich eine tragende Antwort findet, ob er also zurecht von Gott reden kann, oder ob sich dieser Gott als Götze erweist. Da der Mensch aber durch die Angst und die Bedrohung durch das Nichtsein bestimmt ist, müsste sich Gott als der unendliche Grund des Mutes und die unendliche Macht des Seins erweisen. Diese Antwort aber kann nicht aus der Existenzanalyse her-geleitet werden – sonst wäre Gott nur eine Projektion des Menschen. Unter welchen Bedingungen kann also von Gott geredet werden?

Ein Zugang über eine theistische Vorstellung von Gott (ein Wesen, das Gott genannt wird) lässt sich mit dem modernen Weltbild nicht vereinen. Tillich schließt ihn deshalb aus. Er wählt den Weg, die Formel was uns un-bedingt angeht, zu analysieren. Sie enthält zwei Elemen-te, die zueinander in Spannung stehen: Das Element der Universalität, das sich gegenüber aller Bedrohung durch das Nichtsein als größer und umfassender erweist, und das Element der Konkretheit, das sich auf die jeweilige konkrete Frage, auf das Moment der existentiellen Be-drohtheit bezieht.

Das Element der Universalität gewinnt Tillich von der Seinsphilosophie her. Diese hat ihre Wurzel in dem staunenden Wahrnehmen des Menschen, dass es das Sein gibt (sein eigenes Sein, das Sein dieser Welt usw.), und dass nicht nichts ist. Doch sie kennt auch die angst-volle Ahnung, dass alles Sein vom Nichtsein bedroht ist.

Tillich setzt nun Gott mit diesem Sein im umfassenden Sinn gleich: Gott ist die Seins-Mächtigkeit, die dadurch, dass sie ist, auch das Nichtsein negiert. Er ist das Sein-Selbst.

Damit erweist sich auch jede theistische Vorstellung von Gott als unzureichend. Denn wenn man von Gott als einem himmlischen Wesen redet und ihn z.B. als Vater im Himmel ansieht, so wäre er nur ein Teil der Wirklich-keit und nicht das Sein-Selbst. Andererseits lässt sich das Moment der Konkretheit nur so gewinnen, dass der Glaube eine Sprache findet, in der ebenso die existen-tielle Sorge des Menschen wie die väterliche Fürsorge, die in der Vorstellung vom Vater im Himmel liegt, aus-gedrückt werden kann. Dies ist für Tillich nur möglich in der Sprache der Symbole.

Symbole sind nicht Zeichen. Zeichen, z.B. Verkehrs-zeichen, gehen auf Absprachen zurück und sind durch neue Absprachen veränderbar; sie sind austauschbar. Symbole sind dagegen nicht beliebig austauschbar; sie verweisen vielmehr auf eine Wirklichkeit, an der sie gleichsam partizipieren (wie etwa Staatssymbole die Souveränität eines Staates repräsentieren). Symbole er-schließen eine sonst verdeckte Dimension der Wirklich-keit. In diesem Sinn bedient sich die Sprache des Glau-bens des Symbols des himmlichen Vaters. Es müsste dem Glaubenden dabei allerdings bewusst sein, dass dieses Symbol nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit Gottes bezeichnet und so über sich hinausweist. So gilt, dass alle Aussagen über Gott symbolische Aussagen sind – bis auf den einen Satz, dass Gott das Sein-Selbst ist. Dieser Satz sagt direkt und eigentlich, was er meint.

Tillich hat bewusst neue Symbole in die Sprache der Theologie eingeführt, um dem Menschen der Gegenwart die theologischen Inhalte des Glaubens neu zu erschlie-ßen. So verwendet er für Gott das Symbol der Tiefe, weil die Rede vom Gott in der Höhe für viele nichts-sagend oder missverständlich ist, oder er bezeichnet Jesus Christus als das Neue Sein: Eine Neue Schöpfung ist geschehen, ein Neues Sein ist erschienen, und wir alle sind aufgefordert, daran teilzuhaben. Soll jedoch der Satz, dass Gott angesichts aller Lebensangst der unendliche Mut, der Grund des Mutes ohne theistische Aussagen und Bilder zum Ausdruck gebracht werden, so beschreibt Tillich diesen Glauben als das Bejahen des Bejahtseins ohne jemanden oder etwas, das uns bejaht. Der Glaubende bezieht damit den entscheidenden Akt des Glaubens, dass er sein Aufgenommensein und seine Lebensgewissheit nicht sich selbst verdankt, auf Gott als die Macht des Sein-Selbst, die uns bejaht und den Mut zum Sein verleiht.

Kritische Würdigung

Die Theologie Paul Tillichs hat auf viele Menschen be-freiend gewirkt. Hier sahen sie ihre existentiellen Fragen als Ausgangs- und Bezugspunkt theologischen Redens und Denkens ernst genommen, und hier fanden sie die Synthese von Glauben und Denken, Vernunft und Of-fenbarung. Tillich hat – ähnlich wie Schleiermacher bei seinen Reden über die Religion – die Leser vor Augen, die dem christlichen Glauben kritisch und zweifelnd gegenüberstehen und eine Antwort suchen, die ihnen plausibel erscheint und die sie überzeugt. Hinzu kommt, dass die Methode der Korrelation und die Symbolspra-che als Sprache des Glaubens große Bedeutung für die Verkündigung der Kirche und für die Religionspädago-gik gewonnen haben. Tillich denkt in einem theologisch-

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hermeneutischen Zirkel, der dadurch entsteht, dass die existentiellen Fragen als religiöse Fragen identifiziert werden und die Frage nach dem, was den Menschen unbedingt angeht, unausweichlich als Frage nach Gott entschlüsselt wird. Wie aber kann dies Menschen über-zeugen, die außerhalb dieses Zirkels stehen? Dies sind auf der einen Seite Philosophen, die es bestreiten, dass man das Ganze des Seins einfach mit Gott gleichsetzen und auf dem Denkweg zu einer Einsicht des Glaubens kommen kann, und es sind auf der anderen Seite die Menschen, die von sich sagen: Ich sehe meine eigenen existentiellen Erfahrungen keineswegs als religiöse Er-fahrungen an. Was konstituiert Glauben als christlichen Glauben? Wo findet solcher Glaube seinen Anhalt? Für viele reicht der Verweis auf den Christus, der das Neue Sein gebracht hat, nicht aus. Für sie ist das Leben, das Jesus gelebt hat, neu bedeutsam geworden. Sie fragen nicht in erster Linie: Wie verstehe ich den Glauben?, sondern: Wie sieht dieser Glaube konkret aus? Wie kann er gelebt werden?

Quelle: H. Freudenberg / K. Goßmann, Sachwissen Religion, Göttingen 1995, 164-168

hermeneutischer Zirkel, das Ausgangsproblem allen Verstehens und somit der Hermeneutik: Um damit beginnen zu können, eine geistige Gegebenheit, z.B. eine Dichtung, zu verstehen, müsste man eigentlich schon das Ganze kennen; dieses wiederum kann man aber nur aus dem Gesamt der Einzelheiten verstehen.

Hermeneutik [griechisch], die Praxis und die Theorie des Auslegens und Ver-stehens (von Texten); allgemein besteht das Ziel der Hermeneutik darin, fremde Vorstellungen in den Horizont des eigenen Geistes zu übertragen.Die Hermeneutik lässt sich auf Traditionen allegorischer Interpretation homeri-scher Epen in der Sophistik sowie jüdischer Auslegungen des Alten Testaments zurückführen. In der Spätantike ist unter Hermeneutik insbesondere die juristi-sche Auslegung der Gesetze, die theologische oder philologische Interpretation von heiligen oder klassischen Texten zu verstehen. Renaissance und Reformation rückten von der dogmatisch ausgerichteten Überlieferungstradition ab und waren bemüht, einen unterstellten ursprünglichen, jedoch verschütteten Sinn der origina-len Texte durch Hermeneutik neu zu erschließen.F. E. D. Schleiermacher konzipierte die Hermeneutik als eine universale Lehre des Verstehens und der Interpretation, getragen von der Idee eines gedanklichen Nachvollzugs fremden Sinnes (im Gegensatz zum bloßen Erklären).W. Dilthey baute die Hermeneutik zur spezifischen Methodenlehre der Geistes-wissenschaften aus: Das Verstehen eines sprachlich und historisch bedingten Individuellen setzte er gegen die naturwissenschaftliche Erklärung aus allge-meinen Gesetzen.H.-G. Gadamer entwickelte einen neueren Begriff der Hermeneutik, nach dem Verstehen nicht nur eine bestimmte Methode (die der Geisteswissenschaften) sei, sondern ein sinnstiftendes Geschehen, in das jedes Subjekt angesichts der Über-lieferung von Kunst, Religion, Recht und anderen normativen Ansprüchen hinein-gestellt ist und das durch den Zusammenhang von Sprache und Kultur aufrecht-erhalten wird (die „Wirkungsgeschichte“).Neben einer um weitergehende Erkenntnis bemühten allgemeinen Hermeneutik gibt es fachspezifische Hermeneutiken, die sich mit der Anwendung akzeptierter Auslegungsregeln auf den Einzelfall befassen, besonders in Theologie und Rechtswissenschaft aber auch in der geisteswissenschaftlichen Didaktik.

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