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GREATEST HITS FESTIVAL FÜR ZEITGENÖSSISCHE MUSIK 1. – 4.11.2017

GREATEST HITS 2017 - · PDF fileWILLKOMMEN! Wie entsteht gute, im besten Falle hitverdächtige Musik? Das Festival Greatest Hits hat darauf seine ganz eigenen Antworten parat, die

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2017

GREATEST HITSFESTIVAL FÜR ZEITGENÖSSISCHE MUSIK 1. – 4.11.2017

WILLKOMMEN!

Wie entsteht gute, im besten Falle hitverdächtige Musik? Das Festival Greatest Hits hat darauf seine ganz eigenen Antworten parat, die es in gleich drei inhaltlichen Schwerpunkten präsentiert. Da wäre etwa der ungarische Komponist Peter Eötvös, dessen Opern zu den meistgespielten der Moderne zählen und der den Hörer durch seine Klangsinnlichkeit verzaubert. Wissenschaftlicher ging der Franzose Gérard Grisey in den 1970ern zu Werke, der Töne im Labor zerlegte und aus ihren Bestandteilen die kristalline »Spektralmusik« erschuf. Einen noch radikaleren Weg wählte einige Jahre zuvor Harry Partch, der gleich eigene Instrumente baute, um den beschränkten Tonvorrat der westlichen Musik zu sprengen.

So setzt auch die fünfte Ausgabe von Greatest Hits die Bandbreite und Origina-lität des erfolgreichen viertägigen Festivals für zeitgenössische Musik fort, das in bewährter Kooperation von Elbphilharmonie, Kampnagel und der Reihe NDR das neue werk gestaltet wird. Der überwiegende Teil der Konzerte findet wie gehabt auf Kampnagel statt; am letzten Tag zieht das Festival erstmals in die Elbphilhar-monie.

Auf spannende Hörerlebnisse freuen sich

Christoph Lieben-Seutter Amelie Deuflhard Achim DobschallGeneralintendant Intendantin Kampnagel Leitung Bereich Orchester,Laeiszhalle & Elbphilharmonie Chor und Konzerte des NDR

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TAG 1 | MI, 1.11.2017 | KAMPNAGEL S. 7

18:30 Uhr P1 Symphony Device S. 8

20:00 Uhr K6 Eröffnungskonzert: Klangforum Wien / Peter Eötvös S. 10

22:30 Uhr P1 Symphony Device S. 8

TAG 1 | DO, 2.11.2017 | KAMPNAGEL S. 19

18:30 Uhr K4 Tempus ex machina / Elbtonal Percussion S. 20

20:00 Uhr K2 Harry Partch / Ensemble Musikfabrik S. 22

TAG 3 | FR, 3.11.2017 | KAMPNAGEL S. 29

17:30 Uhr P1 Klangradar 3000 – Schüler komponieren S. 31

18:30 Uhr K6 NDR Chor S. 32

20:00 Uhr KMH Composer Slam S. 38

22:00 Uhr K2 Monophonie / Ensemble Musikfabrik S. 40

TAG 4 | SA, 4.11.2017 | ELBPHILHARMONIE S. 43

18:30 Uhr Kl. Saal Ensemble Resonanz S. 46

20:00 Uhr Gr. Saal Les espaces acoustiques / NDR Elbphilharmonie Orchester S. 50

22:30 Uhr Kl. Saal Quatre chants / Ensemble Aisthesis S. 54

FESTIVALÜBERSICHT

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TAG 1 | MITTWOCH, 1.11.2017

18:30 & 22:30 | P1SYMPHONY DEVICE

Tempo Reale

Symphony Device / Klangtheater für GeräteEine Live-Soundinstallation

20:00 | K6ERÖFFNUNGSKONZERT

Klangforum Wien Vera Fischer Flöte Olivier Vivarès Klarinette Dirigent Peter Eötvös

Peter Eötvös:Shadows (2015) Sonata per sei (2006) Chinese Opera (1986) Gefördert durch die Ernst von Siemens Musikstiftung

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SYMPHONY DEVICE

Symphony Device

Sinfoniegerät? Sinfonievorrichtung? Oder gar »Mittel zur Sinfonie«? Schon der Versuch, den englischen Titel dieser Performance ins Deutsche zu übersetzen, scheitert kläg- lich. Aber mit einer Sinfonie im traditionellen Sinn hat dieses »Teatro sonoro per dispositivi« (Klangtheater für Geräte) sowieso recht wenig zu tun. Entwickelt von Mitgliedern des Florentiner Musikforschungszentrum Tempo Reale und uraufgeführt auf der Biennale Musica 2016 in Venedig, vereint es elektrische Haushaltsgeräte zu einem klingenden »Geräteorchester«.

Das Institut Tempo Reale wurde 1987 vom Komponisten Luciano Berio gegründet – mit dem Ziel, mögliche Inter- aktionen zwischen akustischen Instrumenten und digitalen Systemen auszuloten. In Symphony Device wird alles Hör- und Sichtbare von vier Mitgliedern des Instituts live am Computer gesteuert.

Neben den Klängen, die dabei erzeugt werden, spielen auch visuelle Aspekte eine Rolle: Türme aus alten Röhrenfern-sehern, die teils extra für die 60-minütige Aufführung repariert wurden, bilden das Bühnenbild. Davor tummeln sich im Kabelsalat mehrere Standmixer, ein nostalgisches Telefon mit Wählscheibe und weitaus exotischere Gerät-schaften, deren ursprünglicher Nutzungszweck sich nicht von selbst erklärt: Sind das Scanner, Kopierer, Mischpulte? Über die Bildschirme flimmern in Synchron-Choreografie Standbilder oder zitternde Querstreifen, diffus Bewegtes und Miniszenen wie der Flug eines Vogelschwarms, ein Raketenstart oder der Monolog eines Horrorclowns. Ein Staubsauger lässt gelbe Bänder in der Luft flattern – was leise raschelt, aber vor allem optisch gut wirkt. Ein alt- modischer Nadeldrucker fiept synthetisch und feuert dazu kaltweiße Lichtsignale ab. Auch die vier Standmixer, befüllt mit buntem Wasser, stimulieren Auge und Ohr zugleich. Und wie in einem echten Sinfonieorchester treten die Geräte immer wieder als Solisten hervor.

TEMPO REALE

Francesco Canavese, Francesco Casciaro, Francesco Giomi, Damiano Meacci Dramaturgie, Komposition, Technik Leonardo Rubboli, Francesco Perissi Mitarbeit

Produktion La Biennale di Venezia & Tempo Reale Symphony Device / Klangtheater für GeräteEine Live-Soundinstallation ca. 60 Min.

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MI, 1.11.2017 | 18:30 & 22:30 | P1

Bei der Entwicklung der Perfomance haben auch Gedan-ken der Philosophen Michel Foucault und Giorgio Agam-ben sowie das Prinzip des Recyclings eine Rolle gespielt. Dennoch gleicht Symphony Device eher einem klingenden Spielzeugladen für Erwachsene, durchdrungen von Tüftler- ehrgeiz und einer diebischen Freude an der Welt der Technik: freakig, bunt, laut und lustig und irgendwie auch ein bisschen Retro. Die erzeugten Klänge erinnern an Presslufthammer und Rüttelmaschine, an experimentelle Elektromusik oder an das monströse Malmen einer In- dustriehalle. Doch auch weite Klanglandschaften tun sich

auf, die sich meditativ übereinanderschieben oder nur in Zeitlupe verändern. Symphony Device gipfelt nach einer äußerst unterhaltsamen Stunde voller Abwechslung in einem dramatisch effektvollen Finale – und ist hier eben doch ganz klassische Sinfonie.

KATJA TSCHIRWITZ

Symphony Device

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ERÖFFNUNGSKONZERT

KLANGFORUM WIEN Vera Fischer Flöte Olivier Vivarès Klarinette Dirigent Peter Eötvös Peter Eötvös (*1944) Shadows / Neue Fassung (2015) 1. Satz2. Satz3. Satzca. 20 Min. Peter EötvösSonata per sei (2006) ca. 20 Min. Pause Peter EötvösChinese Opera (1986) Vorspiel und Vorhänge (für Peter Brook) Erste Szene in E und Gis (für Luc Bondy) Zweite Szene in F und G (für Klaus Michael Grüber) Dritte Szene in Fis und C, Vorhänge (für Patrice Chéreau) ca. 35 Min. Gefördert durch die Ernst von Siemens Musikstiftung

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MI, 1.11.2017 | 20:00 | K6

Peter Eötvös Dirigent

Komponist, Dirigent und Lehrer: Der Ungar Peter Eötvös, aktueller Residenzkünstler der Elbphilharmonie, vereint diese drei Rollen zu einer außergewöhnlichen Karriere. Seine Opern zählen zu den meistgespielten des zeitgenös-sischen Kanons; an der hiesigen Staatsoper feierte 2016 Senza Sangue eine umjubelte Premiere. Seine Instrumental- werke wie das Zweite Violinkonzert DoReMi oder das Schlag- werkkonzert Speaking Drums werden von so bedeutenden Orchestern wie den Berliner oder Wiener Philharmonikern gespielt. Am 10. Oktober dirigierte er das Royal Concertge-bouw Orchesta Amsterdam in der Elbphilharmonie in der Uraufführung seines neuesten Werkes Multiversum.

Als Dirigent leitet Peter Eötvös musikalische Projekte rund um den Globus. Seine Karriere ist geprägt von langen Beziehungen zu den renommiertesten europäischen Orchestern und Opernhäusern. Er war unter anderem Erster Gastdirigent des BBC Symphony Orchestra, des Budapest Festival Orchestra, der Göteborger Symphoniker und zuletzt des Radio-Symphonieorchesters Wien (2009–2012) sowie von 1994 bis 2005 Chefdirigent beim Radio- Kammerorchester Hilversum. In der aktuellen Saison dirigiert er zahlreiche Programme mit eigenen Werken und solchen des 20. und 21. Jahrhunderts. Dabei steht er am Pult von so renommierten Klangkörpern wie dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, dem SWR Symphonieorchester, dem hr-Sinfonieorchester (innerhalb einer dreijährigen Residenz) und dem Orchestre de la Suisse Romande. Die weiteren Termine seiner Hamburger Residenz finden Sie auf der nächsten Seite.

Peter Eötvös begann im Alter von 14 Jahren bei Zoltán Kodály in Budapest Komposition zu studieren. Später ließ er an der Musikhochschule Köln das Dirigentendiplom fol- gen. Als einer der führenden Interpreten zeitgenössischer Musik trat er häufig mit dem Stockhausen Ensemble auf; zudem arbeitete er am Studio für elektronische Musik des

Peter Eötvös

WDR in Köln. Auf Einladung von Pierre Boulez wurde er 1978 Leiter des Ensemble intercontemporain. Daneben unterrichtete er an den Musikhochschulen in Karlsruhe und Köln. 1991 gründete er das International Eötvös Institute und eine dazugehörige Stiftung für junge Dirigen-ten und Komponisten.

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INTERVIEW PETER EÖTVÖS

Es braucht Erfahrung, bis man das Bild aus der Partitur in eine innere Klangvorstellung übersetzen kann. Ich kom- poniere in Echtzeit. Das heißt, ich beginne am Anfang und arbeite die Partitur Takt für Takt vertikal durch. Das ist mein Versuch, das innere Hören schriftlich festzuhalten. Dabei ist meine Klangvorstellung ähnlich konkret wie bei einem Filmemacher, der genau weiß, wie seine Bilder später aussehen sollen. Ich arbeite auch nicht am Klavier, sondern nur mit dem Bleistift am Schreibtisch – mit viel Radiergummi.

Wissen Sie am Anfang schon, wohin die Reise geht?

Nicht unbedingt. Meistens gibt es einen Keim, aber ich weiß nicht genau, was daraus entsteht, wie hoch diese Blume oder dieser Baum sein wird. Ich sehe nur den Keim, und der entwickelt sich langsam. Ich folge dabei einem Fluss von Gedanken, die sich aus dem Stoff ergeben, den ich vor mir habe.

Wie verhält es sich, wenn Sie Ihre eigenen Werke dirigieren?

Das ist eine schwierige Situation, zumindest am Anfang der ersten Probe. Während des Komponierens entsteht wie gesagt ein innerer Klang, eine Vorstellung, wie das Stück klingen sollte. Die erste Berührung mit dem tatsächlichen Klang ist daher etwas ganz Besonderes: der Abgleich meiner Idee mit der Realität. Die Musiker spielen das Stück ja auch zum ersten Mal. Wenn dann irgendetwas nicht stimmt, ist es manchmal schwierig zu unterschei-den, ob das mein Fehler ist oder ob wir im Probenprozess einfach noch nicht so weit sind, die Vorstellung genau umzusetzen. In diesem Moment bin ich ganz Dirigent, da lerne ich meine eigenen Stücke genauso wie die Werke anderer Komponisten. Es klingt merkwürdig, aber sobald ein Stück gedruckt ist, wird es mir fremd: Ich sehe die Partitur dann nicht mehr als Komponist, sondern nur noch als Dirigent.

Peter Eötvös im Interview

Das heutige Eröffnungskonzert von »Greatest Hits« ist das zweite Konzert von Peter Eötvös’ diesjähriger Hamburger Residenz, die sich über die gesamte Spielzeit erstreckt und bei der der ungarische Komponist nicht nur Werke von Komponisten dirigiert, die ihn maßgeblich beeinflusst haben, sondern auch mehrere Eigenkompositionen vorstellt. Im Interview gibt er Auskunft über seine künstlerische Doppel-begabung.

Herr Eötvös, das Publikum in Hamburg wird Sie als Komponist und Dirigent erleben. In welcher Rolle sehen Sie selbst sich eher?

Peter Eötvös: Ich bin fifty-fifty, auch zeitlich gesehen. Ich versuche, etwa sechs Monate im Jahr die Zeit fürs Kompo-nieren zu finden, der Rest entfällt aufs Dirigieren. Das ist natürlich nicht streng voneinander getrennt, sondern ver- mischt sich. Genau das ist die Herausforderung, denn für das Komponieren, für schöpferische Ideen brauche ich Zeit, Konzentration und Ruhe – für das Dirigieren hingegen brauche ich viel Vorbereitung. Aber diese beiden sehr ver- schiedenen Tätigkeiten ergänzen sich gegenseitig auch gut.

Nämlich wie?

Was ich als Dirigent vom Komponisten lerne – das kompo-sitorische Denken, das Strukturieren und Farben suchen –, kann ich in die Tätigkeit des Dirigenten hineinprojizieren, und das funktioniert natürlich auch anders herum. Denn meine Erfahrung als Dirigent spiegelt sich in meinen Partituren wider. In der letzten Zeit hatte ich einige Ur- aufführungen und habe in den Proben gemerkt, dass ich fast nichts zu korrigieren brauchte.

Sie haben also eine ziemlich genaue Vorstellung vom Klang der Partitur. Wie schaffen Sie es, die Noten auf dem Papier für Ihr inneres Ohr zum Klingen zu bringen?

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Sind Sie denn der ideale Dirigent für Ihre eigenen Stücke? Oder entdecken andere Interpreten unter Umständen sogar Facetten, die selbst Ihnen als Schöpfer verborgen waren?

Auf diese Frage gibt es zwei Antworten: Wenn ich selbst dirigiere, kann ich am eigenen Leib ausprobieren, ob alles stimmt. Man sollte nicht unterbrechen und etwas erklären müssen – dann stimmt meistens etwas nicht. Daher ist es besser, wenn ich das selbst erlebe, dann kann ich sofort korrigieren. Darüber hinaus bin ich glücklicher, wenn andere meine Stücke dirigieren – auch bei der Urauffüh-rung. Weil ich dann im Saal zuhören und das Resultat besser beurteilen kann. Außerdem hilft die Viel fältigkeit der verschiedenen Dirigenten bei der Beurteilung, ob ein Stück lebensfähig ist oder nicht: Der eine macht es schnell, der andere viel langsamer. Ein gutes Stück muss das aushalten können, erst dann lebt es.

Hans Werner Henze, dessen skandalträchtiges Oratori-um »Floß der Medusa« Sie ebenfalls im Rahmen Ihrer Residenz dirigieren werden, sagte einmal, dass er für den »schönheitsbedürftigen« Menschen schreiben wolle. Können Sie sich mit dieser ästhetischen Maxime identifizieren?

Als ich in den Sechziger- und Siebzigerjahren mit Stock-hausen in Köln gearbeitet habe, gab es zwei unterschied-liche Lager: die Darmstädter Schule um Stockhausen und Boulez – und auf der anderen Seite stand Henze. Schon damals habe ich versucht, in dieser teils heftigen Diskus-sion unabhängig zu bleiben, und ich bin froh, dass ich als Komponist nie zu einer Schule gehört habe. Dieser ästhe tische Konflikt hat mich damals sehr gestört, auch weil es eine in Teilen künstliche Debatte war. Ich habe bei Bernd Alois Zimmermann in Köln studiert, der ja auch eine Art Gegenentwurf zu Stockhausen war. Für mich war aber beides wichtig, ich fand beide Welten interessant. Heute ist diese Ära zum Glück vorbei, heute zählt nur noch das

Individuum, dass die Komponisten eigene Welten anbieten. In meinem Fall wechselt das von Stück zu Stück. Es ist für mich sehr wichtig, dass ich mich nicht wiederhole.

Ist das auch Ihr Ansinnen, wenn Sie sagen, dass Sie für ein Publikum und nicht für die Schublade schreiben möchten?

Für mich ist es sehr wichtig, dass schon der erste Ton eine Einladung an das Publikum ist. Ich möchte die Menschen mitnehmen: Sie sollen nicht bloß zuhören, sondern teil- nehmen. Am Anfang meiner Laufbahn habe ich viel im Theater gearbeitet, und dort merkt man sofort, ob die Musik mit einem Publikum funktioniert oder nicht. Und wenn es funktioniert, erzeugt die Musik in der Vorstellung Bilder. Klangtheater bedeutet also, dass wir etwas sehen, obwohl wir »nur« Musik hören. Das ist meine Musik: eine bildhafte Sprache.

INTERVIEW: BJØRN WOLL

RESIDENZ PETER EÖTVÖS

SWR SYMPHONIEORCHESTERFr, 17.11.2017 | 20 Uhr | Elbphilharmonie Großer SaalHans Werner Henze: Das Floß der Medusa

PETER EÖTVÖS: SENZA SANGUESo, 25.2. / Mi, 28.2. / Sa, 3.3. / Fr, 9.3.2018 | jeweils 19:30 UhrStaatsoper Hamburg

PETER EÖTVÖS’ UNIVERSUMDi, 27.2.2018 | Elbphilharmonie Kleiner Saal

STOCKHAUSEN-PROJEKTSo, 6.5.2018 | KampnagelInternationales Musikfest Hamburg

MI, 1.11.2017 | 20:00 | K6

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DIE MUSIK

Shadows

Ein »ziemlich genaues Selbstbildnis« nennt Peter Eötvös sein Werk Shadows, komponiert 1996 für Soloflöte, Solo- klarinette und Ensemble. Er hat das Stück seinem Sohn gewidmet, der sich zwei Jahre zuvor das Leben genommen hatte: »Mein gerade erwachsen gewordener Sohn ent-schied, dass das Leben nicht lebenswert sei. Drei Jahre lang versuchte ich ihn in Gesprächen immer wieder vom Gegenteil zu überzeugen, auch weil für mich, trotz Schwierigkeiten, das Leben immer interessant ist.«

Bei der Aufführung sitzen die Ensemblemusiker in vier Stimmgruppen auf dem Podium. So entstehen einzelne Klanginseln, zwischen denen sich die Klänge wie Objekte im Raum hin- und herbewegen, mal hell, mal schatten-haft. Das Stück hat eine naturhafte, archaische Kraft, wirkt aber auch sehr zart und zerbrechlich: Schwebende und flatternde Flötenklänge treffen auf erdverbundene Perkussion, ruhige Phasen auf plötzliche Ausbrüche. Beim Hören dieser Zaubermusik darf die Fantasie exotische Blüten treiben, sich in Dschungeln und Wüsten wiederfin-den oder die Rufe seltsamer Frösche und Vögel hören.

Doch Shadows zeigt noch einen weiteren persönlichen Bezug: Geboren 1944, musste Eötvös seine Heimat Trans- silvanien (damals Ungarn, heute Rumänien) schon als Säugling mit seiner Familie verlassen. Er war seitdem nie wieder dort, doch der Traum von Transsilvanien und die Leidenschaft für die dortige Musikkultur leben in ihm weiter. Im dritten Satz (»sehr langsam«) verbeugt sich der Komponist vor den unendlich langsamen Tänzen seiner Ur-Heimat: »Der letzte Satz kommt aus der transsilvani-schen Tanzmusik, doch ich habe ihn als einen Trauertanz aufgefasst. Das hat mich besonders ergriffen damals: Wenn sie langsam sind, dann sind sie sehr langsam, das ist unglaublich.« Im Dialog von Flöte und Klarinette beschwört Peter Eötvös hier eine unheimliche, aber auch versöhnlich-abgeklärte Schattenwelt herauf, die von

Glockenspiel und anderen Instrumenten sparsam kom-mentiert wird – Erinnerungen an ein verloren geglaubtes Paradies.

Sonata per sei

Leider konnten sich die beiden Männer niemals kennen-lernen: Peter Eötvös kam 1944 zur Welt, Béla Bartók starb 1945 im amerikanischen Exil. Trotzdem wurde Eötvös von der Musik seines ungarischen Komponistenkollegen enorm beeinflusst, so sehr, dass er diesem in seiner Sonata per sei (Sonate für sechs) explizit die Ehre erweist. Zuvor hatte Eötvös ein Klavierkonzert geschrieben, in dem er Bartóks Eigenheiten weiterentwickelt, etwa die Vorliebe für Perkussives oder parallel geführte Oktaven und Sexten. Von diesem Klavierkonzert im »Bartók-Sound« fertigte er dann noch zwei weitere Versionen an, neben einem Konzert für zwei Klaviere auch die Sonata per sei für zwei Klaviere, Sampling-Keyboard und drei Schlagzeuger.

Die fünf Abschnitte der 2006 entstandenen »Sonate« folgen dicht aufeinander – wer die Übergänge mitverfolgen will, muss also höllisch aufpassen. Drei einander »störende« Snaredrums eröffnen das Stück, der zweite Block klingt wie eine rasante Bartók-Toccata für zwei Klaviere inklusive kurzer Kadenz, der dritte dann launisch und nervös. Im vierten Satz (»Bartók überquert den Ozean«) bezieht sich Eötvös auf Bartóks Nachtmusik-Stil. Bartók setzte diesen magischen Stil, dessen unheimliche Klangreibungen an Laute aus der Natur erinnern, vor allem in langsamen Sätzen von Orchester- oder Ensemblestücken ein. Bei Eötvös veranstalten Große Trommel und die mit Metall- kügelchen gefüllte »Ocean Drum« (Meerestrommel) dazu einen beeindruckenden Lärm, der dem Tosen des Meeres erstaunlich nahekommt. Ein knackiges Schlussplädoyer beschließt das Stück.

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Chinese Opera

Um es gleich vorweg zu sagen: der Titel Chinese Opera führt in die Irre. Eine chinesische Oper hat Eötvös hier nämlich keineswegs komponiert. Weder ist die Musik chinesisch, noch handelt es sich um eine Oper; es treten auch keine Schauspieler, Tänzer oder Akrobaten auf. Chinese Opera ist ein reines Orchesterstück für großes Ensemble. Vieles erinnert aber tatsächlich an rituelle chinesische Musik, etwa die Glocken und das rasselnde Metall, die Pauken-Glissandi, die Gong- und Becken- schläge und wirbelnden Holzblöcke. Die Musik dieser Nicht-Oper ist nervös und meistens schnell. Es bleibt kaum Zeit zum Durchatmen, nicht für die Musiker und nicht für den Hörer.

Eher durch Zufall wurde das Stück zu einem Eckpfeiler in Eötvös’ Laufbahn: »Ende der 1980er-Jahre hat mich Kent Nagano gefragt, ob er meine Chinese Opera an der Oper in Lyon spielen könne. Ich sagte ihm, dass das ein Orchester-stück sei und keine Oper. Daraufhin fragte er mich, ob ich nicht eine Oper schreiben könne. Durch dieses Missver-ständnis ging meine Opernkarriere überhaupt erst los.« Mittlerweile hat Peter Eötvös elf »echte« Opern kompo-niert.

Der Beginn ist schrill, für einige Sekunden, dann verteilen sich metallische und zappelige Perkussionsklänge, gehen über in eine Art stockendes Sprechen in gedämpfter At- mosphäre. Musik wird zum Rollenspiel der Instrumental-gruppen, das sich oft in Zwischenwelten von tonaler und atonaler Gestaltung bewegt, in der zweiten Szene der Chinese Opera auch in Verknüpfungen von Ostinato-Linien und Klangschichtungen. Schließlich erzeugen Becken-schläge und glissandierende Pauken zu harten Akkord- blöcken des Orchesters die Illusion fernöstlichen Theaters.

KATJA TSCHIRWITZ

MI, 1.11.2017 | 20:00 | K6

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KLANGFORUM WIEN

Klangforum Wien

24 Musiker aus zehn Ländern verkörpern eine künstleri-sche Idee und eine persönliche Haltung, die ihrer Kunst zurückgeben, was ihr im Verlauf des 20. Jahrhunderts allmählich und fast unbemerkt verloren gegangen ist: einen Platz in ihrer eigenen Zeit, in der Gegenwart und in der Mitte der Gemeinschaft, für die sie komponiert wird und von der sie gehört werden will.

Seit seinem ersten Konzert im Palais Liechtenstein unter der musikalischen Leitung seines Gründers Beat Furrer – noch unter dem Namen »Société de l’Art Acoustique« – hat das Klangforum Wien unversehens ein Kapitel Musik- geschichte geschrieben: An die 500 Kompositionen von Komponisten aus drei Kontinenten hat das Ensemble uraufgeführt und so zum ersten Mal ihre Notenschrift in Klang übersetzt. Auf eine Diskografie von mehr als 70 CDs, auf eine Reihe von Preisen und Auszeichnungen und auf gut 2000 Auftritte in den besten Konzert- und Opernhäu-sern Europas, Amerikas und Japans und bei den großen Festivals könnte das Klangforum Wien zurückblicken, wenn das Zurückblicken denn seine Sache wäre.

Die Mitglieder des Klangforum Wien stammen aus Australien, Bulgarien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Italien, Österreich, Schweden und der Schweiz. Sylvain Cambreling, Friedrich Cerha und Beat Furrer sind die drei herausragenden Musiker, denen das Klangforum Wien im Verlauf seiner 25-jährigen Geschichte durch jeweils einstimmigen Beschluss aller Musiker die Ehrenmitgliedschaft des Ensembles verliehen hat. Seit 1997 ist Sylvain Cambreling erster Gastdirigent des Klangforum Wien.

Besetzung

Vera Fischer, Thomas Frey Flöte

Markus Deuter, Barbara Gatschlhofer Oboe, Englischhorn

Olivier Vivarès, Theresia Schmidinger, Scott Lygate Klarinette

Maria Gstättner-Heckel, Edurne Santos Fagott

Gerald Preinfalk Saxophon

Christoph Walder, Reinhard Zmölnig Horn

Anders Nyqvist, David Schmidt Trompete

Kevin Fairbairn, Mikael Rudolfsson Posaune

Joszef Bazsinka jr. Tuba

Björn Wilker, Lukas Schiske, Adam Weisman Schlagwerk

Virginie Tarrête Harfe

Florian Müller Klavier, Celesta

Joonas Ahonen Klavier, Synthisizer

Hsin-Huei Huang Sampler

Gund Jäch-Micko, Annette Bik, Annelie Gahl, Sophia Goidinger-Koch Violine

Rafal Zalech, Geneviève Strosser Viola

Benedikt Leitner, Andreas Lindenbaum Violoncello

Nikolaus Feinig, Timothy Dunin Kontrabass

Peter Böhm, Markus Urban Klangregie

Das Klangforum Wien spielt mit freundlicher Unterstützung von

Klangforum Wien, Peter Eötvös

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18:30 | K4TEMPUS EX MACHINA

Elbtonal Percussion Gérard Grisey: Tempus ex machina (1979) und weitere Hits von Johann Sebastian Bach bis Radiohead

20:00 | K2HARRY PARTCH

Ensemble Musikfabrik

Werke für Harry-Partch-Instrumente und andere unkonventionelle Klangerzeuger

Harry Partch: Ring Around the Moon – A Dance Fantasm for Here and Now (1949–1952)

Simon Steen-Andersen: Korpus (2015)

Helge Sten: Sow Your Gold in the White Foliated Earth (2015)

Phillip Sollmann: Monophonie (2017)

TAG 2 | DONNERSTAG, 2.11.2017

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TEMPUS EX MACHINA

Elbtonal Percussion

Wie kaum eine andere Formation beherrschen die Hamburger Schlagwerker von Elbtonal Percussion den kreativen Crossover aus Klassik, Jazz und Weltmusik, Neuer Musik, Rock und Drum’n’Bass. Mit ihrem allein schon optisch beeindruckenden Instrumentarium aus Trommeln, Becken und Gongs aus aller Welt – harmonisch bereichert durch Marimba- und Vibrafone – begeistert die Gruppe durch mitreißende Dynamik und stilistische Vielfalt, wovon bereits sieben CDs und zwei DVDs zeugen. Auf vielen weiteren Alben ist Elbtonal Percussion als Gast vertreten. Die präzis-virtuosen »Klangspiele, die in immer wieder neuen Farben leuchten« (Hamburger Morgenpost) verwandeln den Konzertort in einen Erlebnisraum. Neben der Kammermusik liegen dem Ensemble Kinder- und Schulprojekte besonders am Herzen. In Tom der Trommler begleiten die Musiker kleine Schlagzeuger von Morgen durch die Klangwelt der Alltagsgegenstände. Elbtonal Percussion war bei zahlreichen international re- nommierten Festivals zu Gast; Konzertreisen führten das Ensemble durch ganz Europa und wiederholt nach Asien, unter anderem zum größten Perkussion-Festival Chinas in das Nationaltheater Peking und nach Shanghai, wo es auf der Expo 2010 die Stadt Hamburg als Kulturbotschafter repräsentierte. Seine individuelle wie unkonventionelle Klangästhetik veranlasste immer wieder andere Künstler, die Zusammenarbeit mit ihnen zu suchen. Dazu zählen die Marimba-Virtuosin Keiko Abé, Stewart Copeland (The Police), der indische Schlagzeuger und Perkussionist Trilok Gurtu, der Schauspieler und Synchronsprecher Christian Brückner sowie John Neumeier mit seinem Hamburg Ballett. Wie sensibel sich die Musiker in andere Genres einfinden, belegt auch ihre Mitwirkung bei Film- produktionen, darunter Doris Dörries Drama Kirschblüten – Hanami, Bernd Eichingers Baader-Meinhof-Komplex und Christian Alvards Science -Fiction-Thriller Pandorum.

ELBTONAL PERCUSSION Jan-Frederick Behrend Schlagwerk Andrej Kauffmann Schlagwerk Stephan Krause Schlagwerk Sönke Schreiber Schlagwerk Francisco Manuel Anguas Rodriguez Schlagwerk Olaf Koep Schlagwerk Gérard Grisey (1946–1998) Tempus ex machina (1979) Jan-Frederick Behrend (*1976) Afrock Casey Cangelosi Bad touch Johann Sebastian Bach / Elbtonal Percussion Allemande aus der Suite Nr. 5 c-moll BWV 1011 für Cello solo

Johann Sebastian Bach / Elbtonal Percussion Präludium c-Moll BWV 999

Thierry De Mey (*1956) Musiques de Tables (1982) Radiohead / Jan-Frederick Behrend Daydreaming

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Minimal-Musik-Pionier Steve Reich. Minutiös variierte Rhythmen durchziehen das Stück, überlagern und ver- schieben sich allmählich gegeneinander. Die ersten und letzten Töne gebühren dem warmen Klang des Balafons, dem westafrikanischen Urahnen des Marimbafons, dessen Klanghölzer auf ausgehöhlten Kürbissen ruhen.

Casey Cangelosis Bad Touch sorgt für einen weiteren ge- nialen Effekt, indem es das Musizieren mittels Pantomime vom klanglichen Ergebnis entkoppelt.

Welche Bedeutung der Klang für ein Musikstück hat, lässt sich am besten herausfinden, indem man ihn ändert und das Stück probehalber mit einem anderen Instrument spielt. Diesem einfachen, aber höchst aufschlussreichen Rezept folgen die Musiker in zwei Adaptionen von Bach- Werken.

Handfester geht es dann in den Musiques de Tables des Belgiers Thierry De Mey zu, die den einen oder anderen womöglich an Szenen vom heimischen Esstisch erinnern: Drei Schlagzeuger zu Tisch, sechs benachbarte Hände im Dialog. Das Stück beschränkt sich dabei ganz auf die Mög- lichkeiten der bloßen Hände und ihrer Klangerzeugung durch Klatschen, Wischen oder Gestikulieren. So ist diese Tischmusik nicht nur klanglich, sondern auch optisch höchst unterhaltsam.

Ein Meer aus pulsierenden Klängen erzeugt zum Abschluss Jan-Frederick Behrends Version des Songs Daydreaming der britischen Artrock-Band Radiohead. Wie ein unendlich kreisendes Perpetuum mobile überlagern sich Marimba, Glockenspiel und Melodika zu einem atmosphärischen Klangteppich, über dem sich die schwebende Melodie des Tagträumers entfaltet, dem der Song gewidmet ist.

CLEMENS MATUSCHEK / LAURA ETSPÜLER

Zum Programm

Ein Schwerpunkt der diesjährigen »Greatest Hits« ist dem französischen Komponisten und Klangmagier Gérard Grisey gewidmet; am vierten Tag des Festivals erklingen in der Elbphilharmonie fast ausschließlich seine Werke. Einen Vorgeschmack darauf geben heute die Schlagwerker von Elbtonal Percussion mit seinem Stück Tempus ex machina.

Grisey war als Komponist nicht an herkömmlichen Melodien oder Harmonien interessiert. Er interessierte sich vielmehr für den Klang an sich, den er mit Hilfe von Computern analysierte (mehr dazu ab Seite 44). Ergo bestehen seine Werke aus dem langsamen Auf- und Abbau von Klang, was ein sehr spezielles, gedehntes Zeitempfinden erzeugt. Diesem Nebenaspekt seines Stils ging er gezielt in Tempus ex machina nach, einer Studie über den Aufbau und Zerfall von Rhythmen und unsere Wahrnehmung von Zeitdauern. Dafür legt er verschiedene Rhythmen und Tempi überein-ander, kombiniert sie zu Pattern und verdichtet sie zu Trillern, bis das Ohr sie schließlich nur noch als Fläche wahrnimmt.

Der Titel selbst ist übrigens ein hintersinniges Wortspiel: In der Barockoper war ein »Deus ex machina« eine mittels raffinierter Bühnenmaschinerie unvermittelt auftauchender göttlicher Retter, der in der größten Not auftauchte und das Happy End herbeiführte. Im Fall von Tempus ex machina wird die Gottheit durch die Zeit ersetzt – und gleichzeitig lässt sich das Schlagzeug-Instrumentarium durchaus als Apparatur begreifen, das die Zeit mit maschinenhafter Präzision herstellt, einteilt und so beherrscht.

Im weiteren Programm des Abends haben die sechs Schlag- zeuger Werke versammelt, die bestimmte Aspekte von Tempus ex machina oder anderen Grisey-Stücken oder -Vorbildern aufgreifen und weiterspinnen. So erweist Jan-Frederick Behrend in seinem Afrock nicht nur der Wildnis und Weite Afrikas Reverenz, sondern auch dem

DO, 2.11.2017 | 18:30 | K4

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HARRY PARTCH

Harry Partch

Während ihn Sound-Avantgardisten als einen der unab-hängigsten und visionärsten Komponisten des 20. Jahr-hunderts verehren, ist er auf den großen Bühnen ein Unbekannter: Harry Partch, der wohl größte Außenseiter unter den Pionieren Neuer Musik, schuf revolutionäre Klangwelten und Instrumente.

Den Mann in wenigen Worten zu beschreiben, ist schier unmöglich. Partch, 1901 in Kalifornien geboren und Mitte der Siebziger gestorben, war ein Universalist – Komponist, Musiktheoretiker, Vagabund und ein begnadeter Bastler und Erfinder. Um seine Vision von Musik zu realisieren, entwarf er ein völlig neues Ton- und Stimmungssystem. Dafür baute er eine ganze Reihe außergewöhnlicher Instrumente. Nach seinem Tod drohte Partchs Erbe jedoch in Vergessenheit zu geraten. Dem stellte sich jüngst das Kölner Ensemble Musikfabrik mit einem abenteuerlichen Projekt entgegen: Zum ersten Mal wurden Partchs Instrumente nachgebaut, neu erlernt und seine Musik in Europa aufgeführt. Nun sind die Musiker damit zu Gast bei »Greatest Hits«.

Sie würdigen damit einen Individualisten, der an den Grundfesten der europäischen Musik rüttelte und sich schließlich ganz von ihr abwandte. Seine eigene Musik unterwandert Gesetze, die tief in den mitteleuropäischen Hörgewohnheiten verankert sind. Wie ein roter Faden zieht sich dieses fundamentale Anderssein durch Harry Partchs Biografie und Werk: Schon als Heranwachsender be-herrscht er mehrere Instrumente, komponiert eigene Werke. Fasziniert von den Nuancen und Zwischentönen menschlichen Sprechens will er diese Feinheiten auch in seiner Musik abbilden, empfindet aber die zwölf Halbtöne einer Oktave als viel zu ungenau und grobschlächtig. Partchs Vision ist eine subtilere Musik mit viel kleineren Tonabständen, als die Klaviertastatur sie abbildet. Er studiert die Zusammensetzung von Tönen und ihre

ENSEMBLE MUSIKFABRIK PAUL JEUKENDRUP Klangregie THOMAS WEGNER Assistenz Klangregie LUKAS BECKER Lichtregie MICHAEL KLEINE Lichtregie Harry Partch (1901–1974) Ring Around the Moon – A Dance Fantasm for Here and Now (1949–1952)

für Partch-Instrumente und Stimme ca. 10 Min. Simon Steen-Andersen (*1976)

Korpus (2015)

für neun Spieler an Partch-Instrumentenca. 10 Min. Helge Sten (*1971)

Sow Your Gold in the White Foliated Earth (2015)

für Partch-Instrumente ca. 30 Min. Pause Phillip Sollmann (*1974)

Monophonie (2017)

für Harry-Partch-Instrumente, Bertoia-Klangskulpturen und Hermann von Helmholtz’ Doppelsirene ca. 65 Min. Gefördert durch die Kunststiftung NRW im Rahmen von Campus

Musikfabrik. Phillip Sollmanns »Monophonie« wurde gefördert mit

Mitteln des Hauptstadtkulturfonds Berlin und ist eine Koproduktion

mit der Ruhrtriennale.

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physikalischen Schwingungsverhältnisse, verschlingt die Ausführungen des Universalgelehrten Hermann von Helmholtz über Obertöne, Klangfarben und Schwingungen. Und sträubt sich zunehmend gegen das etablierte »gleichstufige« Stimmungssystem, wie wir es heute nennen, in dem alle Tonabstände gleich groß, dafür aber unrein sind.

1930 trifft der ambitionierte Komponist eine radikale, geradezu ideologische Entscheidung: In einem symboli-schen Akt verbrennt er alle seine bisherigen Werke. Und

betritt mit Ende zwanzig komplett neues musikalisches Terrain: Er entwickelt ein ausgeklügeltes Tonsystem mit 43 Mikrotönen statt der üblichen 12 Töne pro Oktave. Alle folgenden Werke komponiert er auf dieser Grundlage. Um sein Theoriegebäude zum Klingen zu bringen, fehlen ihm jedoch geeignete Instrumente – die herkömmlichen sind für seine Musik nicht zu gebrauchen. Also tüftelt Partch unzählige Stunden und baut schließlich sein erstes Instrument: Die »Adapted viola« – eine Bratsche, an die er das viel längere Griffbrett eines Cellos schraubt, um mehr tonale Abstufungen zu erhalten.

DO, 2.11.2017 | 20:00 | K2

Harry Partch und

seine Instrumente

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HARRY PARTCH

In den folgenden Jahrzehnten kommt ein ganzer Zoo exoti-scher Klangobjekte hinzu. Manche klingen wie die Ge- schwister afrikanischer oder asiatischer, bekannter oder altertümlicher Orchesterinstrumente. Sie tragen geheimnis- volle Namen wie Blue Rainbow, Crychord, Drone Devils und Cloud-Chamber Bowls, Gubagubi oder Diamond Marimba. Sie dröhnen, rauschen, säuseln und donnern in 43 feinsten Abstufungen und sehen dabei aus wie ein Weinregal, ein Baum voller Kuhglocken oder auch mal wie ein Kon-Tiki-Floß. Das ist kein Zufall: Partchs über vierzig Instrumente sollen nicht nur klanglich, sondern auch optisch und haptisch inspirieren. Sein Credo: Musik als ganzheitliches Erlebnis, das sich mit allen Sinnen erfahren lässt. »Dies ist meine Dreieinigkeit«, so der Komponist, »Klangmagie, visuelle Schönheit, Erfahrungs-Ritual«. Harry Partch schreibt irritierend-schöne Musik, drama-tisch und spirituell. Ein Kosmos für sich.

Zurück in die Dreißiger Jahre: Harry Partchs Arbeit erregt Aufmerksamkeit. Durch eine Förderung der Carnegie Corporation kann er nach London reisen und sich dort dem Studium antiker Musiktheorie widmen. Das Ende seines Stipendiums 1935 fällt jedoch in die Jahre der »Great Depression«, der Wirtschaftskrise in den USA. Partch beginnt ein Vagabundenleben, reist ohne festes Zuhause illegal auf Güterzügen durch die Lande und hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Wie seine Musik findet auch er selbst keinen Platz in der Gesellschaft. Als Sohn presbyterianischer Missionare interessiert Partch sich zeitlebens für andere Kulturen – die seines eigenen Landes hingegen bleibt ihm fremd. Während der langen Zugfahrten sinniert und tüftelt er weiter an seinem Ton- system, setzt Briefe, Bahnhofsgraffitis oder die Sprech- melodie anderer »Hobos« in Musik. Schließlich findet der

mittellose Komponist auf einer Ranch in Kalifornien Unter-schlupf – ein Freund lässt ihn eine alte Schmiede zur Musikwerkstatt umbauen, wo Partch weiter an seinen Instrumenten bastelt.

Er gilt als Sonderling, eckt an. Und doch verblüffen und inspirieren seine Studien und Instrumente andere Forscher und Musiker: Universitäten bieten ihm an, zu lehren, seine Musik einzustudieren und Projekte zu verwirklichen. Trotzdem bleibt Harry Partch zeitlebens, fernab des Establishments, ein Nonkonformist. Dass ihn auch heute kaum jemand kennt, ist Resultat eines Dilemmas, das er sich mit seiner Musik selbst schuf: Partchs Klangwelt erschließt er sich nur mithilfe seiner Instrumente – die gab es bis vor Kurzem aber nur genau einmal; nach seinem Tod wurden sie dann an der Universi-tät in New Jersey und später in Seattle aufbewahrt. Dort wurden zwar Aufführungen realisiert, doch an internatio-naler Verbreitung scheiterte es.

Das änderte sich erst, als sich die Musiker vom Kölner Ensemble Musikfabrik kühn an Partchs Vermächtnis wagten. In mühsamer Tüftelarbeit bauten sie sein Instrumentarium binnen drei Jahren nach und brachten sich das Spielen bei. Die Ergebnisse waren 2013 erstmals in Europa auf der Ruhrtriennale zu hören; Die Zeit kom-mentierte: »Das Ensemble Musikfabrik hat mit seinem Oberbastler Thomas Meixner die Instrumente persönlich nachgebaut, inklusive des mikrotonalen Kleingedruckten, einer Arbeit zwischen Selbstverleugnung, angewandter Physik und akustischer Himalaya-Expedition. Das Ergebnis ist sensationell, Partchs Musik haut das Publikum beinahe um.«

LAURA ETSPÜLER

Die Instrumente von Harry Partch lassen sich per Mausklick selbst spielen unter: musicmavericks.publicradio.org/features/feature_partch.html

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Simon Steen-Anderson: Korpus

Simon Steen-Andersen, geboren 1976, ist Komponist, Performer und Installationskünstler. Seine vielfach aus- gezeichneten Werke bewegen sich zwischen Instrumental-musik, Elektro, Video und Theater. Um Klänge auch sicht- und fühlbar zu machen, arbeitet der dänische Künstler mit überdimensionalen Projektionen, Alltagsgegenständen wie Joysticks, Luftschlangen oder einem Puppentheatervorhang. Für seine Stücke findet er immer neue, kreative Formate: Als Grundlage für sein Klavierkonzert etwa ließ er einen Flügel aus sieben Metern Höhe abstürzen und zeichnete den Prozess haargenau in Bild und Ton auf, bevor er mit den Aufnahmen weiterkomponierte. Im wahrsten Sinne körperlich erlebbar ist auch sein Werk Korpus, bei dem neun Spieler drei Partch-Instrumente zum Leben erwecken. Die gigantische »Marimba eroica« und ihre bis zu zwei Meter langen Klanghölzer stehen dabei im Mittelpunkt. »Damit kann man auf ›natürliche‹ Art jene körperlich spürbaren Sub-Frequenzen erzeugen, die sonst nur in der elektroni-schen Musik anzutreffen sind«, freut sich Steen-Anderson.

Helge Sten: Sow your Gold in the White Foliated Earth

»Elektronik ist wie ein eigenes Instrument«, meint der norwegische Musiker und Produzent Helge Sten, der durch seine Improvisationen mit der Band Supersilent bekannt wurde und auch unter den Pseudonymen »Deathprod« und »Audio-Virus« veröffentlicht. Vor allem im Jazz, Rock und Ambient fühlt sich der 1971 geborene Künstler zu Hause. Mit Unmengen an elektronischem Equipment, alten Synthesizern und selbstgebautem Material zeichnet er freie musikalische Improvisation auf und bastelt aus diesen Samples verfremdete, winterlich-dunkle Klang-landschaften. In seiner sphärischen Musik, die eine stoische Ruhe und Weite ausstrahlt, spiegelt sich auch seine norwegische Heimat: »Wahrscheinlich würde ich nicht diese Art von Musik machen, wenn ich auf den Bahamas leben würde.«

Phillip Sollmann: Monophonie

In der internationalen Clubszene kennt man den DJ und Techno-Produzenten Phillip Sollmann vor allem als »Efdemin«. Unter diesem Pseudonym legt er in angesag-ten Berliner Clubs auf und veröffentlicht Platten. Doch Sollmann ist vor allem auch ein leidenschaftlicher Tüftler – und wagt sich für seine Klangexperimente immer wieder auf unbekanntes Terrain. In einem New Yorker Platten- laden stieß er 2003 zufällig auf ein Cover, das Harry Partchs Instrumente zeigte. Zehn Jahre später erlebte er sie im Konzert des Ensemble Musikfabrik erstmals live. Soll-mann war begeistert: »Es war eines meiner intensivsten musikalischen Erlebnisse«, meint er im Rückblick, »die Mischung aus traditionellen Orchesterinstrumenten, asiatischen und afrikanischen Einflüssen und dieser mikroskopische, zeitlose Klang waren überwältigend für mich. Danach war der Wunsch umso größer, nicht nur mit den Instrumenten, sondern auch mit dem Ensemble zu arbeiten.« Sollmann begann, sich mit Harry Partch ausein-anderzusetzen. Es war der Beginn von Monophonie.

In seinem Stück verwendet der Berliner Musiker neben Partchs Instrumenten auch eine Doppelsirene des Klangforschers Hermann von Helmholtz sowie eigens für dieses Stück gebaute Klangskulpturen des Bastlers Val Bertoia. Um mit den verschiedenen Instrumenten arbeiten zu können, nahm Sollmann sie einzeln auf und legte sie als Sample auf seinem Computer ab. Mit den so gewonne-nen Files begann er direkt am Rechner zu komponieren. Im nächsten Schritt wurden seine Kompositionen wieder zurück in eine Partitur übersetzt, die nun vom Ensemble Musikfabrik gespielt werden konnte. Monophonie ist somit, obwohl elektronisch komponiert, rein akustische, »mikro-tonale, polyrhythmische Musik«, wie Sollmann selbst sagt. Und dennoch: Spätestens, wenn auf der Bühne der tiefe Bass von Partchs Riesen-Marimba einsetzt, fühlt man sich ein wenig wie im Club.

LAURA ETSPÜLER

DO, 2.11.2017 | 20:00 | K2

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ENSEMBLE MUSIKFABRIK

Ensemble Musikfabrik

Seit seiner Gründung 1990 zählt das demokratisch orga- nisierte Ensemble Musikfabrik zu den führenden Klang-körpern der zeitgenössischen Musik. Dem Anspruch des eigenen Namens folgend, ist das Ensemble Musikfabrik in besonderem Maße der künstlerischen Innovation verpflichtet. Neue, unbekannte, in ihrer medialen Form ungewöhnliche und oft erst eigens in Auftrag gegebene Werke sind sein eigentliches Produktionsfeld. Interdisziplinäre Projekte unter Einbeziehung von Live-Elektronik, Tanz, Theater, Film, Literatur und bildender Kunst erweitern dabei die herkömmliche Form des Ensemblekonzerts. Die Ergebnis-se dieser häufig in enger Kooperation mit den Komponis-ten geleisteten Arbeit präsentiert das in Köln beheimatete internationale Solistenensemble in jährlich etwa 80 Kon- zerten im In- und Ausland, auf Festivals, in der eigenen Aboreihe »Musikfabrik im WDR« und in regelmäßigen Audioproduktionen für den Rundfunk und die eigene CD-Reihe Edition Musikfabrik, deren erste CD Sprech- gesänge 2011 einen ECHO Klassik gewann.

Dank seines außergewöhnlichen inhaltlichen Profils und der künstlerischen Qualität ist das Ensemble Musikfabrik ein weltweit gefragter und verlässlicher Partner bedeuten-der Dirigenten und Komponisten. Die Gästeliste reicht von Mark Andre über Sir Harrison Birtwistle, Unsuk Chin, Peter Eötvös, Brian Ferneyhough, Toshio Hosokawa, Mauricio Kagel und Helmut Lachenmann bis zu Mouse on Mars, La Fura dels Baus, Emilio Pomàrico, Enno Poppe, Wolfgang Rihm, Peter Rundel, Rebecca Saunders, Karlheinz Stockhausen, Ilan Volkov und Sasha Waltz.

Ensemble Musikfabrik wird vom Land Nordrhein-Westfalen

unterstützt.

Mitwirkende

Helen BledsoeChristine ChapmanBruce CollingsDaniel EichholzJohannes FischerFlorentin GinotBenjamin KoblerUlrich LöfflerThomas MeixnerMelvyn PooreAxel PorathCarl RosmanDirk RothbrustPhillip SollmannHannah WeirichDirk Wietheger

Die Partch-Instrumente

Adapted GuitarsAdapted ViolaBass MarimbaBoo BloboyChromelodeon I + IICloud-Chamber BowlsGourd Tree mit Cone GongsHarmonic CanonsKithara I + IIMarimba EroicaQuadrangularis ReversumSpoils of WarSurrogate Kithara

sowie:Hermann-von-Helmholtz-DoppelsireneHarry-Bertoia-Klangskulpturen

Ensemble Musikfabrik

Elbtonal Percussion

Phillip Sollmann

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17:30 | P1KLANGRADAR 3000

Klangwelle – Schüler der Otto-Hahn-Stadtteilschule komponieren

18:30 | K6NDR CHOR

Adrian Tully Baritonsaxofon Sebastian Breuing Klavier, Orgelpositiv Leitung Philipp Ahmann Johann Sebastian Bach: Choräle für Chor a cappellaMauricio Kagel: Chorbuch für Tasteninstrumente und Kammerchor (1978)

Mauricio Kagel: Burleske für Baritonsaxofon und Chor (2000)

20:00 | KMHCOMPOSER SLAM

Der große Wettstreit der KomponistenMit Nick Acorne, Miako Klein, Julia Reidy, Lenka Župková und Simon Kluth (Moderation)

22:00 | K2MONOPHONIE

Ensemble Musikfabrik Phillip Sollmann: Monophonie (2017)

für Harry-Partch-Instrumente, Bertoia-Klangskulpturen und Hermann von Helmholtz’ Doppelsirene

TAG 3 | FREITAG, 3.11.2017

IMPRESSUM

Herausgeber: HamburgMusik gGmbHGeneralintendanz: Christoph Lieben-SeutterGeschäftsführung: Jack F. Kurfess

Redaktion: Clemens Matuschek, Simon Chlosta, Fränz Kremer, Laura EtspülerMitarbeit: Ann-Paulin Steigerwald, Iris KnackLektorat: Ferdinand LeopoldAlle Werkeinführungstexte sind Originalbeiträge für dieses Festivalprogrammbuch.

Gestaltung: Mehmet Alatur / breeder designDruck: Flyer-Druck, Hamburg

Das Filmen oder Fotografieren während der Konzerte ist nicht gestattet. Es ist untersagt, während der Konzerte Tonträgeraufnahmen zu machen.

BildnachweisTempo Reale: Symphony Device (Andrea Avezzu); Peter Eötvös (Marco Borggreve); Klangforum Wien (Lukas Beck); Peter Eötvös (Klaus Rudolph); Harry Partch (unbe-zeichnet); Elbtonal Percussion (2Vista Hamburg); Ensemble Musikfabrik (Jonas Werner-Hohensee); Phillip Sollmann (Yasmina Haddad); NDR Chor (Marcus Höhn); Philipp Ahmann (Klaus Westermann); Nick Acorne (Mariya Donska); Miako Klein (Carolin Röckelein); Julia Reidy (unbezeichnet); Lenka Zupkova (J. Puppel); Phillip Sollmann (Yasmina Haddad); Gérard Grisey (Guy Vivien); Ensemble Resonanz (Tobias Schult); Emilio Pomàrico (Astrid Ackermann); NDR Elbphilharmonie Orchester (Michael Zapf); Stefan Asbury (Eric Richmond ); Sophia Burgos (Kate Lemmon); Walter Nußbaum (KeskinArts)

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FR, 3.11.2017 | 17:30 | P1

Klangradar 3000

16 Jahre besteht es bereits, das Musikvermittlungsprojekt »Klangradar 3000«, in dessen Rahmen Komponisten in die Schulen kommen, um Schülerinnen und Schüler mit zeitgenössischer Musik bekannt zu machen. Diese Stücke dienen dann wiederum als Ausgangspunkt für eigene experimentelle Kompositionen, die die Jugendlichen im Rahmen ihres Schulalltags erschaffen. So erhalten sie einen aktiven Zugang zur Musik des 21. Jahrhunderts und entdecken und entwickeln ihre eigene musikalische Ausdrucksfähigkeit und Kreativität. Indem die Jugend- lichen ihr Projekt von der Konzeption bis zur heutigen Uraufführung eigenständig verwirklichen und verfeinern, lernen sie zudem viel über dynamische Prozesse in Gruppen. Entwickelt wurde das Format vom Komponisten Burkhard Friedrich.

Für das aktuelle Projekt besuchte der Komponist Sergio Vasquez den Musikkurs 11 der Otto-Hahn-Stadtteilschule.Als Inspirationsquelle diente ihnen die Musik und die Instrumente von Harry Partch, die das Ensemble Musik- fabrik bereits gestern vorstellte und die heute im Late- Night-Konzert um 22 Uhr nochmals zu hören sind.

Klangradar 3000 – Schüler komponieren wird gefördert durch die

Behörde für Schule und Berufsbildung und die Stiftung Feldtmann

Kulturell unter dem Dach der Hamburgischen Kulturstiftung.

Weitere Informationen: www.klangradar3000.de

Ledono Hurricane

So mysteriös wie der Name klingt, so ist auch das Stück. Schließen Sie Ihre Augen und begeben Sie sich an einen Ort der düsteren Kälte …

Bevor wir angefangen haben zu komponieren, haben wir einige Übungen zum Thema Geräusche und Wahrnehmung gemacht. So haben wir beispielsweise ausprobiert, wie man nur mit einem Stück Alu-Folie den akustischen Eindruck eines Regenschauers oder eines Sturms erzeugen kann.

Dann haben wir ein eigenes Stück zum Thema »Kälte« komponiert. Es sollte zwei bis drei Minuten lang sein und so notiert, dass es sich mehrfach aufführen lässt. Zur Verfügung standen uns dafür alle Instrumente, die es in unserem Musikraum gibt.

Wir hatten eine Menge Spaß beim Komponieren unserer Stücke. Trotzdem haben wir die Aufgabe sehr ernst genommen – und wir wollen beim Vortragen der Stücke auch konzentriert und ernst bei der Sachen sein.

Schülerinnen und Schüler des Musikkurses 11 der Otto-Hahn-StadtteilschuleNancy Amoah, Nastran Rahimzei, Vanessa Jozelic, Philip Hoffmann, Said Mohammadi

Sergio Vasquez Komponist

Daniel Merten Lehrer

Burkhard Friedrich Künstl. Leitung & Moderation

KLANGRADAR 3000

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NDR CHOR

NDR CHOR ADRIAN TULLY Baritonsaxofon SEBASTIAN BREUING Klavier, Orgelpositiv Leitung PHILIPP AHMANN Johann Sebastian Bach (1685–1750)

Choräle für Chor a cappella(Auswahl) Mauricio Kagel (1931–2008) Chorbuch für Tasteninstrumente und Kammerchor (1978) (Auswahl) Mauricio KagelBurleske für Baritonsaxofon und Chor (2000)

Im Rahmen des Konzerts werden zwei kurze Ausschnitte aus Mauricio Kagels Film »Ludwig van« (WDR 1970) gezeigt.Unterlegt sind sie mit dem Beginn aus Beethovens Neunter Sinfonie (in Kagels eigener Salonorchester-Fassung) sowie Ausschnitten aus Proben mit dem Männerchor des WDR (Chorfinale aus Beethovens Neunter Sinfonie und Gefangenen- chor aus »Fidelio«).

Zum Programm

Bei der Beschreibung seiner Musik können Verehrern schon mal die Superlative ausgehen: Ob nun »genial«, »überiridisch« oder sogar »göttlich« – viel Platz nach oben ist nicht mehr. Johann Sebastian Bach ist der musikali-sche Urvater, der die Werke unzähliger Komponisten nach ihm beeinflusst, oft überhaupt erst denk- und komponierbar gemacht hat. Für viele Menschen stellen vor allem die Choräle, die Bach für vier Stimmen gesetzt hat, das Nonplusultra der Chor- und Kirchenmusik dar, weil sie zwei vermeintliche Gegensätze vereinen: Das Erhabene und Spirituelle mit dem Schlichten und Alltagstauglichen.

Ihre rhythmische Einfachheit war für Bach Mittel zum Zweck: Man sollte den Text problemlos singen und verstehen können, denn im Prinzip stellte ein Choral im 18. Jahrhundert nichts anderes dar als ein gesungenes Gebet. Innere Einkehr und religiöse Empfindung hatten also Vorrang vor äußerer Kunstfertigkeit und Virtuosität. Diese gelungene Synthese machte und macht Bachs Choräle ungemein beliebt, bei Kennern genauso wie beim Volk, der singenden Kirchengemeinde. Die einzelnen Gesangsstimmen sind organisch miteinander verwoben, und jede einzelne – auch der stützende Bass, dem sonst oft unmelodiöse Tonsprünge zugemutet werden – gleitet geschmeidig dahin. Gute Singbarkeit war für Bach oberstes Gebot, denn so konnte die göttliche Botschaft die Herzen ohne Umwege erreichen.

In seinem Konzertprogramm verschränkt der NDR Chor mehrere dieser Bach-Choräle mit den entsprechenden Bearbeitungen von Mauricio Kagel: einmal Bach, einmal Kagel, einmal Bach und so weiter … Mauricio Kagel, ein Argentinier mit russisch-jüdischen Wurzeln, ist einer der bedeutendsten Komponisten der Neuen Musik. Er hat oft ungewöhnliche Wege eingeschlagen: Immer wieder mischte er den heiligen (zuweilen eher verbissenen) Ernst des Neue-Musik-Betriebs mit musikalischen Clownerien

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FR, 3.11.2017 | 18:30 | K6

Neben seinem Sinn für Humor war es vielleicht die pure Liebe zum Menschen, die ihn im Jahr 2000 zu seiner Burleske für gemischten Chor und Baritonsaxofon veranlasst hat. Das abwechslungsreiche Stück in der ungewöhnlichen Besetzung – vermutlich einzigartig in der Musikgeschichte – verspricht gute Unterhaltung mit einfachsten Mitteln, nämlich der menschlichen Stimme. »Burleske« kommt aus dem Italienischen, wo »burla« etwa Scherz oder Spaß bedeutet. In der Musik steht der Begriff für ein heiteres Instrumentalstück – ein gefunde-nes Fressen für den komponierenden Spaßmacher.

In seiner 20-minütigen Burleske widmet sich Kagel ergo genüsslich menschlichen Laut- und Sprachäußerungen wie Kuss- und Atemgeräuschen, Seufzern, Zungeschnalzen, Summen und Pfeifen. Die Sinnlichkeit des ausgewählten Materials ist ihm dabei wichtiger als dessen »Sinn« – eine Heransgehensweise an Sprache, die in der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts zwar nicht neu ist, aber selten so ungezwungen und natürlich klingt wie hier. Die Choristen staunen, leiden, scherzen oder ängstigen sich, deklamieren lustvoll oder ungerührt Zauberformeln und lautmalerische Silben wie »Tick-tack, »Klick-klack« oder »Zick-zack«.

Das Bariton saxofon, dessen biegsamer, warmer Klang der menschlichen Stimme durchaus nahe kommt, fügt sich dabei organisch ein. Hin und wieder lässt Kagel den Saxonfonisten mit Klappenspiel und Zungenslaps experi-mentieren, vor allem aber ist er Unterstützer, Begleiter, Intonationshelfer und Gefährte des Chores. Wenn er gegen Ende ein dumpfes »Abrakadabra« in sein Instrument hineinspricht, klingt das so lustig wie eine singende Gießkanne.

KATJA TSCHIRWITZ

und Theatereien auf, was natürlich nicht bei allen Kollegen gut ankam. Obwohl seine Musik oft so lustig daherkommt, ist sie doch alles andere als leichtgewichtig, denn Kagels Humor geht immer Hand in Hand mit Tiefgang und Radikalität.

Seinem Chorbuch für Tasteninstrumente und Kammerchor, uraufgeführt 1978, liegen 53 originale Bach-Choräle zu Grunde, die in Harmonium und Klavier zwar verfremdet, aber deutlich erkennbar zu hören sind. Der Klang des Orgelpositivs passt dabei besonders gut in den ursprüng-lich kirchlichen Kontext, den Kagel hier auf seine Weise entheiligt, ohne dadurch zum Ketzer zu werden. Die Partie des Chores, der die Choraltexte wortwörtlich singt, steht musikalisch in keinem Zusammenhang mit den Original- Chorälen: Hier wird gejault, gesungen, gesummt, gepfiffen und deklamiert, es gibt Flatterhaftes, aber auch Surreales und ergreifend Schwarzhumoriges. So etwa das zehnte Stück, das Kagel auf seiner letzten CD-Aufnahme, kurz vor seinem Tod im Jahr 2008, noch selbst eingespielt und -gesungen hat: Christus, der uns selig macht.

Mit dem Klavier verband Kagel ein inniges Verhältnis. In seinen Augen stellte es ein absolut zeitloses Instrument dar – im Gegensatz etwa zu elektronischen Klängen, die sich seiner Meinung nach »ziemlich schnell verbrauchen«. Vor allem in seiner Klaviermusik hat er sich, wie hier in seinem Chorbuch, immer wieder mit musikalischen Traditionen auseinandergesetzt: »Vergangenheit war und ist für mich nie etwas Abgeschlossenes. Ebenso betrachte ich das Zeitgenössische nicht als etwas speziell Modernes. Im Gegenteil. Oft habe ich den Eindruck, dass die Gegen-wart besonders kurzlebige Musik hervorbringt, also längst vergangene Vergangenheit.« Mal kritisch, mal humorvoll nutzte Kagel verschiedene Musikstile, Gattungen und Formen als musikgeschichtliche Folie, »die man unter-schiedlich ausfüllen kann und die sich wiederum selbst immer wieder verändern können.« Dabei setzte er gerne auf Irritationen, Brüche und ironische Verfremdungen.

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NDR CHOR

Adrian Tully Baritonsaxofon

Der australische Saxofonist Adrian Tully lebt nach seinen Studien in Brisbane, Paris und Amsterdam seit 2010 in Berlin. Er ist Mitglied des sonic.art Saxophonquartetts und des Ensembles Selmer Saxharmonic. Mit sonic.art war er zu Gast bei zahlreichen Kammermusikfestivals in Europa, Russland, Paraguay, Brasilien, Algerien und Australien. Als Solist spielte er mit den Nürnberger Symphonikern und dem Aachener Sinfonieorchester. Außerdem führte er Thierry Escaichs Saxofonkonzert Le Chant des Ténèbres im Concertgebouw Amsterdam auf. Adrian Tully hat zudem mit Orchestern wie dem Mahler Chamber Orchestra, dem Konzerthausorchester Berlin und dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin gespielt und dabei mit Dirigenten wie Sir Simon Rattle, Riccardo Chailly, Andris Nelsons, Vladimir Jurowski und Teodor Currentzis zu- sammengearbeitet. 2011 war er am Waldbühnen-Konzert der Berliner Philharmoniker beteiligt.

Sebastian Breuing Klavier, Orgelpositiv

Sebastian Breuing ist seit vielen Jahren gleichermaßen gefragt als Dirigent, Chorleiter, Korrepetitor und Pianist. Er studierte Dirigieren mit dem Schwerpunkt Chorleitung in Köln bei Marcus Creed. Sein Repertoire umfasst die Chorliteratur von Renaissance bis Moderne; besonders intensiv befasst er sich mit der Musik des Barock und deren Aufführungspraxis. Als Dirigent und Pianist ist er regelmäßig bei verschiedenen Rundfunkchören und der Zürcher Singakademie sowie dem ChorWerk Ruhr zu Gast. Schon während seines Studiums widmete sich Sebastian Breuing auch der Oper; es folgten Engagements bei verschiedenen Festivals wie dem Opernfestival Aix-en-Pro-vence, der Ruhrtriennale und den Händelfestspielen in Halle. Er arbeitete mit zahlreichen namhaften Dirigenten, Komponisten und Regisseuren, darunter Peter Sellars, Thomas Hengelbrock, Hans Zender und René Jacobs. Er unterrichtet an der Musikhochschule in Nürnberg.

Philipp Ahmann Leitung

Philipp Ahmann ist seit 2008 Chefdirigent des NDR Chores in Hamburg. Unter seiner Leitung wurde eine eigene Abonnementreihe des Chores gegründet, die seither bei Publikum und Kritik begeisterten Anklang findet.

Neben der Erarbeitung der A-cappella-Literatur aller Epochen hat Philipp Ahmann sich auch einen Namen mit Interpretationen oratorischer Werke vom Barock bis zur Moderne gemacht. Dabei arbeitete er zusammen mit Orchestern der Alten Musik wie B’Rock, Concerto con Anima, Concerto Köln und dem Elbipolis Barockorchester Hamburg und Spezialensembles der Neuen Musik wie dem Raschèr Saxophone Quartet und dem Ensemble Resonanz sowie dem Gürzenich-Orchester Köln, dem MDR Sinfonieorchester und der NDR Radiophilharmonie. Produktionen mit der NDR Bigband und NDR Brass sowie die Leitung des NDR Mitsingprojektes SINGING! mit über 600 Sängerinnen und Sängern unterstreichen seine Vielseitigkeit.

Philipp Ahmann ist regelmäßig zu Gast bei renommierten Festivals wie dem Rheingau Musik Festival, dem Schles-wig-Holstein Musik Festival, den Festspielen Mecklen-burg-Vorpommern und den Internationalen Händel-Fest-spielen Göttingen. Seine CD-Veröffentlichungen mit dem NDR Chor und dem MDR Rundfunkchor stießen bei der Kritik auf große Zustimmung.

Geboren wurde Philipp Ahmann 1974. Er studierte in Köln Dirigieren bei Marcus Creed. Seit 2005 war er zu Gast bei den Rundfunkchören des SWR, WDR sowie beim Rund-funkchor Berlin. 2013 ernannte ihn der MDR Rundfunkchor für drei Jahre zum Ersten Gastdirigenten. Höhepunkte der aktuellen Saison sind unter anderem das Eröffnungskon-zert des Usedomer Musikfestivals und Auftritte in der Frauenkirche Dresden sowie in der Elbphilharmonie.

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FR, 3.11.2017 | 18:30 | K6

NDR Chor

Der NDR Chor gehört zu den international führenden professionellen Kammerchören. Im August 2008 über-nahm Philipp Ahmann die künstlerische Leitung und hat seitdem das Profil des 1946 gegründeten Chores kontinu-ierlich weiterentwickelt. Das Repertoire des Chores erstreckt sich über alle Epochen von Alter Musik bis hin zu Uraufführungen. Mit seiner reich nuancierten Klangfülle und seinem stilistischem Einfühlungsvermögen in die verschiedenen Musikepochen liegt der Schwerpunkt der Arbeit des NDR Chores heute besonders auf der Auseinan-dersetzung mit anspruchsvoller A-cappella-Literatur.

Die musikalische Bandbreite des NDR Chores spiegelt sich in der von Philipp Ahmann gegründeten Abonnement- reihe wider: Die Zuhörer erleben in thematisch konzipier-ten Konzerten eine Reise durch die Musikgeschichte. Die Musikvermittlung ist dem NDR Chor generell ein wichtiges Anliegen. Mit vielfältigen Projekten richtet sich der Chor an Schüler und Gesangsstudierende ebenso wie an gesangsbegeisterte Laien.

Als fester Partner der Orchester und Konzertreihen des NDR kooperiert der NDR Chor außerdem häufig mit anderen Ensembles der ARD und führenden Ensembles der Alten wie der Neuen Musik ebenso wie mit internatio-nalen Sinfonieorchestern. Dirigenten wie Daniel Baren-boim, Marcus Creed, Paul Hillier, Mariss Jansons, Paavo Järvi, Andris Nelsons und Sir Roger Norrington geben dem Chor künstlerische Impulse.

Regelmäßig zu Gast ist der NDR Chor bei Festspielen wie dem Schleswig-Holstein Musik Festival, den Festspielen Mecklenburg-Vorpommern und den Internationalen Händel-Festspielen Göttingen und in internationalen Konzerthäusern wie dem Théâtre des Champs-Elysées in Paris. Zahlreiche Konzerte werden im Rundfunk ausge-strahlt oder als CDs publiziert.

Besetzung

SopranRegine AdamNatasha HogarthRaphaela MayhausBettina Podjaski Elisa RabanusKatharina SabrowskiStephanie StillerCatherina Witting

AltChrista DiwiakGesine GrubeAlexandra HebartIna JaksLivia KretschmannAlmut PessaraTiina Zahn

TenorJoachim BuhrmannDantes DiwiakJoachim DuskeKeunhyung LeeAram MikaelyanHitoshi Tamada

BassDávid CsizmárAndreas HeinemeyerFabian HemmelmannFabian KuhnenChristoph LieboldRudolf PreckwinkelAndreas PruysManfred Reich

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GESANGSTEXTE

Ach Gott, vom Himmel sieh dareinBach Nr. 7* / Kagel Nr. 4+

Das wollst du Gott bewahren rein vor diesem arg’n Geschlechte, und lass uns dir befohlen sein, dass sich’s in uns nicht flechte.Dein Wort man lässt nicht haben wahr, der Glaub’ ist auch verloren,der gottlos’ Hauf’ sich umher find’t,wo solche lose Leute sindin deinem Volk erhaben.

O großer Gott von TreuKagel Nr. 39

O großer Gott von Treu,weil vor Dir niemand giltals dein Sohn Jesus Christ,der deinen Zorn gestillt.So sieh doch an die Wunden sein, sein Marter, Angst und schwere Pein,um seinetwillen schone, uns nicht nach Sünden lohne.

Herzliebster Jesu, was hast du verbrochenKagel Nr. 27 / Bach Nr. 167

Wie wunderbarlich ist doch diese Strafe!Der gute Hirte leidet für die Schafe,die Schuld bezahlt der Herre, der Gerechte,für seine Knechte.

* Nummerierung nach Bach: Choralgesänge (Edition Breitkopf)+ Nummerierung nach Kagel: Chorbuch

O Haupt voll Blut und WundenBach Nr. 162 / Kagel Nr. 40

O Haupt voll Blut und Wunden,voll Schmerz und voller Hohn,o Haupt, zum Spott gebundenmit einer Dornenkron.O Haupt, sonst schön gezieretmit höchster Ehr’ und Zier,jetzt aber höchst schimpfieret:gegrüßet sei’st du mir!

Christ lag in TodesbandenKagel Nr. 7

Hier das Osterlamm, davon Gott hat geboten;das ist des Kreuzes Stammin heißer Lieb gebrachten, das Blut zeichnet uns’re Tür,das hält der Glaub dem Tode für,Der Würger kann uns nicht schaden. Halleluja!

Erschienen ist der herrlich TagKagel Nr. 23 / Bach Nr. 84

Drum wir auch billig fröhlich sein, singen das Halleluja fein,und loben dich, Herr Jesu Christ zu Trost du uns erstanden bist. Halleluja!

Gelobet seist du, Jesu ChristKagel Nr. 26

Das hat er Alles uns getan,uns sein groß Lieb zu zeigen an.Des freu sich alle Christenheitund dank ihm des in Ewigkeit.Kyrie eleis!

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In allen meinen TatenBach Nr. 211 / Kagel Nr. 32

In allen meinen Taten lass ich den Höchsten raten, der alles kann und hat; er muss zu allen Dingen, soll’s anders wohl gelingen,selbst geben Rat und Tat.

Die Nacht ist kommenKagel Nr. 17 / Bach Nr. 64

Die Nacht ist kommen, Drin wir ruhen sollen; Gott walts zu Frommen Nach seim Wohlgefallen, Dass wir uns legen, In seim G’leit und Segen Der Ruh zu pflegen.

Vater unser im HimmelreichBach Nr. 319 / Kagel Nr. 48

Leit’ uns mit deiner rechten Hand, und segne unser’ Stadt und Land; gib uns allzeit dein heil’ges Wort,behüt’ vor Teufels List und Mord,verleih’ ein sel’ges Stündelein,auf dass wir ewig bei dir sein!

Christus, der ist mein LebenKagel Nr. 9 / Bach Nr. 47

Christus, der ist mein Leben,Sterben ist mein Gewinn;dem tu ich mich ergeben,mit Freud’ fahr’ ich dahin.

Du, o schönes WeltgebäudeBach Nr. 72 / Kagel Nr. 19

Komm, o Tod, du Schlafes Bruder,komm und führe mich nur fort;löse meines Schiff’leins Ruder,bringe mich an sichern Port.Es mag, wer da will, dich scheuen,du kannst mich vielmehr erfreuen;denn durch dich komm ich hinein zu dem schönsten Jesulein.

Wer nur den lieben Gott lässt waltenBach Nr. 372 / Kagel Nr. 53

Wer weiß wie nahe mir mein Ende, hin geht die Zeit, her kommt der Tod.Ach, wie geschwinde und behendekann kommen meine Todesnot.Mein Gott, ich bitt’ durch Christi Blut:mach’s nur mit meinem Ende gut!

Es ist genug! So nimm, Herr meinen GeistKagel Nr. 24

Es ist genug, Herr, wenn es dir gefällt,so spanne mich doch aus.Mein Jesus kommt; nun gute Nacht, o Welt!Ich fahr ins Himmels Haus,mein großer Jammer,es ist genug.

Gott sei uns gnädig und barmherzigBach Nr. 120 / Kagel Nr. 35

Gott sei uns gnädig und barmherzigund geb’ uns seinen göttlichen Segen.

FR, 3.11.2017 | 18:30 | K6

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COMPOSER SLAM

Composer Slam / Simon Kluth

Willkommen zum Composer Slam! Heute Abend liegt es in Ihrer Hand, also in den Händen des Publikums, eine Komponistin oder einen Komponisten bis ins Finale zu klatschen.

Ausgedacht hat sich dieses vom Poetry Slam entlehnte Kon- zept Simon Kluth, der den Abend auch selbst moderiert. 1986 in Hamburg geboren, studierte er Violine in Detmold, Hannover und Paris. Er war langjähriges Mitglied in der Jungen Deutschen Philharmonie und nahm an der Lucerne Festival Academy teil. Derzeit spielt er u.a. als Stimmführer in der Hamburger Camerata sowie in der Band »Milou&Flint«.

Den Komponistenwettstreit »Composer Slam« organisiert Simon Kluth mittlerweise in verschiedenen Städten in ganz Deutschland. Es haben sogar Schüler-Composer-Slams stattgefunden; ein Konzept, das mit dem Förderpreis Mu- sikvermittlung der Niedersächsischen Sparkassenstiftung ausgezeichnet wurde und für den »Junge Ohren Preis« nominiert war.

SIMON KLUTH Konzept und Moderation

NICK ACORNE Komposition, Sound-Design MIAKO KLEIN Komposition, Blockflöte JULIA REIDY Komposition, Gitarre LENKA ŽUPKOVÁ Komposition, Violine

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Nick Acorne

Der Komponist, Sound-Designer und Medienkünstler Nick Acorne wurde 1987 geboren und studierte Komposition an der Kunstuniversität Charkiw in der Ukraine. 2014 schloss er die Universität für Darstellende Kunst und Musik in Graz ab, in diesem Jahr folgte der Master in Sound-Design an der FH Joanneum in Graz. Seit 2010 nahm er an Festivals wie der Ars Electronica in Linz, Make Munich, Sci-Fiction Festival in München, Lendwirbel in Graz und bei Next Generation am ZKM in Karlruhe teil. Nick Acorne ist zudem Mitglied und Mitgründer von Projekten wie dem Verein für interaktive Medienkunst Some Designers oder der Band Elektrichka. Seit 2016 kuratiert er zwei internati-onale Kollaborationsprojekte: Sex Dialogues in Kharkiv, Ukraine, sowie In Between in Graz.

Miako Klein

Die Blockflötistin und Geigerin Miako Klein widmet sich der Neuen, Alten und improvisierten Musik. Als gefragte Solistin und Kammermusikerin interpretierte sie zahlreiche Uraufführungen und wirkt an verschiedenen interdiszi- plinären Projekten mit; stets auf der Suche nach neuen Verbindungen unterschiedlicher Disziplinen und Themen. Sie arbeitet zudem mit Klanginstallationen und als Kom- ponistin und setzt sich in ihren Projekten mit Aspekten japanischer Kultur auseinander. Sie gastierte beim Ensemble Modern, dem International Contemporary Ensemble NYC sowie der Tanzkompanie Dorky Park und war unter anderem Musikerin beim Cirque du Soleil. Darüber hinaus erhielt sie Einladungen zu Festival wie Ultraschall Berlin und das Festival Aix-en-Provence. Sie ist Preisträgerin verschiedener nationaler und internationaler Wettbewerbe und studierte am Konservatorium in Amsterdam sowie an der UdK Berlin.

Julia Reidy

Die künstlerische Tätigkeit der 1993 in Australien geborenen Musikerin Julia Reidy umfasst Komposition, Performance- Kunst, Arrangements und Produktion. Sie erhielt ihre Aus- bildung an der Newtown High School of the Performing Arts sowie am Konservatorium in Sydney und tritt mit akustischer und E-Gitarre sowohl solistisch als auch im Ensemble auf. Ihre Arbeiten wurden unter anderem vom Ensemble Offspring, dem Berlin Splitter Orchestra und dem Berliner Kammerensemble Small Room aufgeführt. Weitere aktuelle Projekte führen sie nach Australien und durch Europa. Auch ihre Aktivitäten bei Festivals lassen sie zwischen diesen beiden Kontinenten pendeln; so trat sie bereits beim Berlin Jazz Festival, beim österreichischen Ulrichsberg Jazz Festival und beim australischen Now- Now-Festival auf. 2011 wurde sie mit dem Jann Rutherford Memorial Award for Young Women in Jazz ausgezeichnet.

Lenka Župková

Lenka Župková schloss ihr Violinstudium an der Janáček- Akademie im tschechischen Brünn und an der Hochschule für Musik und Theater Hannover mit Diplom ab. Zwischen 1995 und 2000 war sie als Aushilfe bei deutschen Orchestern aktiv, etwa bei der NDR Radiophilharmonie in Hannover. Sie tritt als Solistin an der Geige und Bratsche sowie an der fünfsaitigen E-Violine auf und leitet seit 2007 das inter- disziplinäre Musikensemble Megaphon in Hannover. Ferner schuf sie Bühnenmusik für Theater in Zürich, Nürnberg, Hannover, Berlin und Aachen sowie multimediale Projekte an besonderen Orten. Durch Präparation der Violine ent- wickelt sie neue Spieltechniken, so entstanden in enger Zusammenarbeit mit Komponisten mehrere Werke für Solovioline, Live Elektronik und für Kammerensemble, die ihr gewidmet wurden. Ihre Debüt-CD Prague–Hannover wurde von der Presse für ihr »Wagnis zu klanglichen Experimenten« und für ihre Virtuosität gelobt.

FR, 3.11.2017 | 20:00 | KMH

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MONOPHONIE FR, 3.11.2017 | 22:00 | K2

ENSEMBLE MUSIKFABRIK PAUL JEUKENDRUP Klangregie THOMAS WEGNER Assistenz Klangregie MICHAEL KLEINE Lichtregie Phillip Sollmann (*1974)

Monophonie (2017)

für Harry-Partch-Instrumente, Bertoia-Klangskulpturen und Hermann von Helmholtz’ Doppelsirene ca. 65 Min. Gefördert durch die Kunststiftung NRW im Rahmen von Campus

Musikfabrik. Phillip Sollmanns »Monophonie« wurde gefördert mit

Mitteln des Hauptstadtkulturfonds Berlin und ist eine Koproduktion

mit der Ruhrtriennale.

Informationen zum Ensemble Musikfabrik finden Sie auf Seite 26.

Phillip Sollmann: Monophonie

In der internationalen Clubszene kennt man den DJ und Techno-Produzenten Phillip Sollmann vor allem als »Efdemin«. Unter diesem Pseudonym legt er in angesag-ten Berliner Clubs auf und veröffentlicht Platten. Doch Sollmann ist vor allem auch ein leidenschaftlicher Tüftler – und wagt sich für seine Klangexperimente immer wieder auf unbekanntes Terrain. In einem New Yorker Platten- laden stieß er 2003 zufällig auf ein Cover, das die erstaunli-chen Instrumente von Harry Partch zeigte (alles weitere dazu lesen Sie ab Seite 22). Zehn Jahre später erlebte er sie im Konzert des Ensemble Musikfabrik erstmals live. Sollmann war begeistert: »Es war eines meiner intensivs-ten musikalischen Erlebnisse«, meint er im Rückblick, »die Mischung aus traditionellen Orchesterinstrumenten, asiatischen und afrikanischen Einflüssen und dieser mikroskopische, zeitlose Klang waren überwältigend für mich. Danach war der Wunsch umso größer, nicht nur mit den Instrumenten, sondern auch mit dem Ensemble zu arbeiten.« Es war der Beginn von Monophonie.

In seinem Stück verwendet der Berliner Musiker neben Partchs Instrumenten auch eine Doppelsirene des Klangforschers Hermann von Helmholtz sowie eigens für dieses Stück gebaute Klangskulpturen des Bastlers Val Bertoia. Um mit den verschiedenen Instrumenten arbeiten zu können, nahm Sollmann sie einzeln auf und legte sie als Sample auf seinem Computer ab. Mit den so gewonne-nen Files begann er direkt am Rechner zu komponieren. Im nächsten Schritt wurden seine Kompositionen wieder zurück in eine Partitur übersetzt, die nun vom Ensemble Musikfabrik gespielt werden konnte. Monophonie ist somit, obwohl elektronisch komponiert, rein akustische, »mikro-tonale, polyrhythmische Musik«, wie Sollmann selbst sagt. Und dennoch: Spätestens, wenn auf der Bühne der tiefe Bass von Partchs Riesen-Marimba einsetzt, fühlt man sich ein wenig wie im Club.

LAURA ETSPÜLER

MONOPHONIE FR, 3.11.2017 | 22:00 | K2

NDR Chor, Philipp Ahmann

Phillip SollmannNick Acorne, Miako Klein, Julia Reidy, Lenka Župková

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18:30 | ELBPHILHARMONIE KLEINER SAALENSEMBLE RESONANZ

Ensemble Resonanz Dirigent Emilio Pomàrico Giacinto Scelsi: Ohoi / Les principes créatifs (1966) Pierluigi Billone: Verticale muto (2009) Gérard Grisey: Talea (1986)

20:00 | ELBPHILHARMONIE GROSSER SAALLES ESPACES ACOUSTIQUES

NDR Elbphilharmonie Orchester Ensemble MusikfabrikGeneviève Strosser Viola

Dirigent Stefan Asbury

Gérard Grisey: Les espaces acoustiques (1974–1985)

22:30 | ELBPHILHARMONIE KLEINER SAALQUATRE CHANTS

ensemble aisthesis Sophia Burgos Sopran Dirigent Walter Nußbaum

Gérard Grisey: Quatre chants pour franchir le seuil (1996–1997)

TAG 4 | SAMSTAG, 4.11.2017

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GÉRARD GRISEY

Gérard Grisey

Der Abschlusstag von »Greatest Hits«, der erstmals in der Elbphilharmonie stattfindet, ist ganz dem französischen Komponisten Gérard Grisey gewidmet, dem Erfinder der sogenannten Spektralmusik. So erklingt im Großen Saal sein groß besetztes Hauptwerk Les espaces acoustiques, gerahmt von Talea und den Quatre chants zuvor und danach im Kleinen Saal.

Schon als 22-jähriger Student vertraute Gérard Grisey (geboren 1946 im Elsass) seinem Tagebuch an, welche künstlerische Vision ihn umtrieb: Hirn und Herz verbinden. Intellektuell sein, ohne dass es auffällt. Sprödigkeit ver- meiden und vor allem: natürlich bleiben. Lautstark propa- gierte er seine musikalische Mission wenige Jahre später im Paris der 1970er Jahre. Streng katholisch erzogen, wollte er den Menschen wie ein Gottgesandter eine neue und bessere Musik bringen. So viel Wirbel war vermutlich nötig, um in der von Pierre Boulez dominierten Musikstadt überhaupt Gehör zu finden. Nicht alles, was Grisey damals über Musik geschrieben hat, wird sofort verständlich, man- ches klingt zunächst sogar widersprüchlich. Aber schon ein einziger Satz aus seinem Text La musique: le devenir des sons (Die Musik: Die Entstehung der Klänge) von 1982 macht klar, worum es ihm ging: »Wir sind Musiker, und unser Modell ist der Klang und nicht die Literatur, der Klang und nicht die Mathematik, der Klang und nicht das Theater oder die Akupunktur.«

Es war also das Phänomen des Klanges, das den einstigen Weltklasse-Akkordeonisten derart faszinierte, dass er zu- sammen mit der Pariser Komponistengruppe »L’Itinéraire« (Der Weg) einen eigenen Kompositionsstil für ihn erfand: die Spektralmusik. Gemeinsam machte man sich auf den Weg zurück zum Klang, weg von außermusikalischen Einflüssen, weg von übersteigertem Formdenken und einem technisch-konstruierten Zusammensetzen von Tönen. Denn genau das heißt Komponieren ja wörtlich:

zusammensetzen. »Nicht mehr mit Noten, sondern mit Tönen« wolle er arbeiten, sagte Grisey, der nicht nur ein scharfsinniger Musiker, sondern ganz universell interes-siert und gebildet war. Er war enorm sprachbegabt und kannte sich in der Kunst des 15. Jahrhunderts und der Kultur des alten Ägyptens bestens aus. Seiner Ansicht nach hatten abendländische Komponisten seit dem Mittelalter am Wesen der menschlichen Wahrnehmung vorbeikomponiert. Es seien Dinge komponiert worden, die unser Ohr überhaupt nicht wahrnehmen könne.

Mit Hilfe von Computerprogrammen, wie sie am Pariser IRCAM (Institut de Recherche et Coordination Acoustique / Musique – Forschungsinstitut für Akustik / Musik) entwickelt wurden, analysierte Grisey den inneren Aufbau von Harmo-nien, ihr Obertonspektrum. Daraus entwickelte er ein glitzerndes, irisierendes Alternativmodell zur Musik der Nachkriegsavantgarde, einen Ensembleklang, der von der jahrhundertelang akzeptierten wohltemperierten Stimmung nichts mehr wissen wollte. Griseys Welt lebt von feinsten Veränderungen der Klangfarben und klingt rein gar nicht technisch. Nur ganz langsam bewegen und verändern sich seine üppigen Klänge, die wie ein Regenbogen in allen Farben changieren: Entschleunigung statt Hektik, Klang- sinn statt spröde Kleinteiligkeit. Grisey, der einst bei Olivier Messiaen studiert hatte, zelebriert den Klang, ohne dabei auf Dramatik und Ekstase zu verzichten. Man kann seine Musik genießen und emotional begreifen, ohne durch-schauen zu müssen, wie sie gemacht ist. Grisey einziges Gesetz war das Ohr.

Grisey selbst mochte den Begriff »Spektralmusik« übrigens nicht besonders und nannte seine Musik lieber »musique liminale«, »Schwellenmusik« – eine Musik, die sich immer an der Schwelle des Wahrnehmbaren orientiert. Bald stand Grisey nicht nur der Komponistengruppe der Spektralisten, sondern auch dem gleichnamigen Ensemble L’Itinéraire vor, dessen Aufgabe es sein sollte, eigene Werke auf hohem Niveau zu interpretieren.

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Mit derartigen Provokationen handelte sich Grisey hitzige Debatten mit älteren Kollegen wie Karlheinz Stockhausen ein, denen er blinde Geschichtsgläubigkeit vorwarf, und die ihn wiederum als unreflektierten Klangfetischisten brand- markten. Man kritisierte, dass seinen opulenten Klängen die musikalische Semantik und Gliederung fehle. Diese Diskussion, obwohl aufgeheizt und ein wenig hysterisch, deckte Wahrheiten auf beiden Seiten auf und wirkte ins- gesamt reinigend auf die Neue-Musik-Szene in Frankreich und darüber hinaus. Nachdem Grisey 1985 nach neun Jahren Arbeit sein abendfüllendes Riesenwerk Les espaces acoustiques (Die akustischen Räume) vollendet hatte, einen Zyklus von sechs Stücken für verschiedene Beset-zungen, stürzte er zunächst in eine Krise: Er erkannte, dass es kein ideales Hören, sondern sehr unterschiedliche Formen und Typen der Wahrnehmung gibt. Denn jeder Mensch ist ja mit unterschiedlichen Hörerfahrungen und -mustern »vorbelastet« und hört so mitunter ein völlig anderes Stück (oder gar ein völlig anderes Konzert) als sein Sitznachbar.

Doch bald ging es für Grisey wieder aufwärts: Schon seit 1982 Dozent in Berkeley an der University of California, wurde er im Jahr 1986 als Professor für Instrumentation und Komposition ans Pariser Konservatorium berufen. Im selben Jahr entstand auch sein Stück Talea. Im Vorwort der Partitur räumt er gewisse Versäumnisse in seinem bisherigen Komponieren ein, namentlich das Vernachläs-sigen der Aspekte Geschwindigkeit und Kontrast, die er von nun an auszugleichen suchte. Griseys Hang zu Mystik und Todesnähe gipfelte 1998 in seinem Liedzyklus Quatre chants pour franchir le seuil (Vier Gesänge, um die Schwelle zu überschreiten). Sie sollten sein letztes Werk bleiben: Grisey starb unerwartet im Alter von 52 Jahren an einem Aneurysma. Die Londoner Welturaufführung seiner Vier Gesänge, dirigiert von seinem Freund George Benjamin, konnte er selbst nicht mehr miterleben.

KATJA TSCHIRWITZ

SA, 4.11.2017 | ELBPHLIHARMONIE

Gérard Grisey

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ENSEMBLE RESONANZ

Giacinto Scelsi: Ohoi / Les principes créatifs

Giacinto Scelsi hatte mehrere Leben – zumindest glaubte er daran. Seiner Meinung nach kam er zum ersten Mal als Assyrer in Mesopotamien im Jahr 2637 v. Chr. zur Welt, wo er am Euphrat lebte und zusammen mit seiner Frau im Alter von 27 Jahren getötet wurde. Seine zweite Geburt will er in der Zeit Alexanders des Großen erlebt haben. Scelsi glaubte an Reinkarnationen, machte aus seinem gegen-wärtigen Dasein allerdings ein großes Geheimnis. Er hat kaum Biografisches und nur wenige Fotos von sich preis- gegeben und sogar absichtlich Fälschungen in Umlauf gebracht. Journalisten schickte er anstelle verbaler Erläute- rungen gern sein persönliches Zeichen, einen Tuschekreis mit Strich darunter, das buddhistische Zeichen »Om«, verbunden mit dem Hinweis: »Es kann als ein Zen-Symbol interpretiert werden oder als Sonne über dem Horizont oder als große, unterstrichene Null. Wie man will.«

Geboren 1905 in La Spezia, gestorben 1988 in Rom, stammte Scelsi aus süditalienischem Adel und war ein »Conte«, also Graf – so viel ist sicher. Da er die faschistischen Rassen- gesetze nicht akzeptierte (in Rom führte er Musik des Juden Arnold Schönberg auf), zog er bis Kriegsende in die Schweiz. Seine Ehe mit einer englischen Adligen ging bald in die Brüche – er stürzte in eine Nervenkrise und verbrachte längere Zeit in einem Sanatorium. Nach dieser schweren, doch läuternden Krise hatte er mit Mitte 40 endlich seinen ureigenen Stil gefunden. Er interessierte sich für fernöstliche Philosophien, bereiste Indien und strebte nach sphärischen Klängen – eine ähnliche Vision wie bei Grisey also, doch wählte er dafür einen gänzlich anderen Weg.

Da er das Notenschreiben hasste, komponierte er viele seiner Werke durch intuitive Improvisationen auf dem Klavier oder der Ondioline, einem frühen elektronischen Musikinstrument. Die gemachten Tonbandmitschnitte, von denen sich nach seinem Tod über 900 Stück fanden, ließ er gegen Geld von anderen Komponisten niederschreiben und

ENSEMBLE RESONANZ Dirigent EMILIO POMÀRICO Giacinto Scelsi (1905–1988) Ohoi / Les principes créatifs (1966) ca. 10 Min. Pierluigi Billone (*1960) Verticale muto (2009) ca. 25 Min. Gérard Grisey (1946–1998) Talea (1986) ca. 15 Min. keine Pause

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instrumentieren. Seine adlige Herkunft erlaubte ihm diesen Luxus. Seine Musik erfuhr zunächst wenig Anerkennung, erregte in den Jahren vor seinem Tod aber immer größeres Interesse.

Sein Stück Ohoi / Les principes créatifs für 16 Streicher aus dem Jahr 1966 beeindruckt durch ein ungeheueres Energie- level. Scelsi schichtet zunächst säuberlich die Töne e, a und d übereinander, ein diamantfunkelnder Quartenklang, der sich aber bald verunklart. Die Töne verschieben sich und gleiten sirenenartig auf- und abwärts. Ohoi entwickelt einen Sog wie aus einem Urton, der in zehn Minuten ohne Melodie und Rhythmus zu einer alles verschlingenden Kraft anwächst und sich am Schluss wieder in sich selbst zurückzieht. Als Kind hat Scelsi am Klavier stundenlang denselben Ton angeschlagen. Später, während seiner Sinnkrise, hat er sich diese Erinnerung zu Nutze gemacht.

Pierluigi Billone: Verticale muto

Scelsis Ohoi und Pierluigi Billones Verticale muto – zu übersetzen mit »Stumme Senkrechte«, wobei »Verticale« auch »Kopfstand« heißen kann – lassen sich gut mit zwei Arten von Gemälden vergleichen: Scelsi malt seine Klänge mit meterbreitem Pinsel oder lässt die Farbe direkt aus dem Eimer auf die Leinwand fließen. Billones dünner Pinsel hingegen zuckt und zittert, die Farbe spritzt, kleckst und tröpfelt. Auch scheint er Papierschnipsel zu reißen und in die feuchte Farbe flattern zu lassen, wo sie zufällig kle- ben bleiben. Scelsi feiert den Klang, Billone das Geräusch.

Billone kam 1960 im norditalienischen Sondalo zur Welt und lebt heute in Wien. Auf überwiegend traditionellem Instrumentarium – auch mit der menschlichen Stimme experimentiert er gerne – entwickelt er neue Spieltechniken, die seinem Publikum unerhörte Klangwelten eröffnen. Was dabei herauskommt, ist oft erstaunlich: Seine Musik gleicht »kultischen Räumen« oder einem »Universum der Sakralität«, wie Journalisten treffsicher schrieben.

Verticale muto für gemischtes Ensemble aus dem Jahr 2009 stellt das Schlagwerk mit seinen vielfältigen ge-räuschlichen Möglichkeiten in den Vordergrund, die von wildem Trommeln und Klappern bis hin zu metallischem Rasseln und Fauchen reichen. Auch melodiefähige Instru- mente nutzt Billone eher als Geräuschmacher denn als Erzeuger »schöner« Klänge. Hier sind das Posaune, Streicher, E-Gitarre und Klavier, das – auf verschiedene Weise präpariert – mal furiose Streiflichter abfeuert, mal nur ein tonloses Pochen von sich gibt.

Gérard Grisey: Talea

Wie sein Vorbild Scelsi liebte auch Gérard Grisey den Klang (siehe Porträttext auf der vorigen Doppelseite). Ihm war es allerdings immer wichtig, die gefundenen Klänge selbst zu verschriftlichen. In seinem Stück Talea von 1986 kommt der spezifische Klang von fünf Instrumenten voll zur Geltung. Talea bedeutet auf lateinisch »Schnitt«. Dieser Begriff bezeichnet eine Kompositionsweise des Mittelalters, in der sich ein rhythmisches und ein melodisches Muster unab- hängig voneinander bewegen, weist aber auch einfach auf die zwei Teile des Stückes hin. In seinem Quintett stellt Grisey zwei Aspekte in den Vordergrund, die er während seiner Oberton-Forschungen nach eigener Aussage stark vernachlässigt hatte: die Geschwindigkeit und den Kontrast. Zwar gehen die beiden Teile des Stücks nahtlos ineinander über, sie sind aber trotzdem sehr verschieden: Nach zögerlichem Anfang beginnen die Instrumente im ersten Teil wie eine Maschine in Tonleitern und Skalen auf- und abwärtszurasen, wild über- und untereinander, immer unerbittlicher, lauter und schneller. Viel dunkler, weicher und freier klingt der zweite Teil, der »durchlöchert ist von irrationalen Erscheinungen«, wie Grisey meinte. Der Kom- ponist findet hier ein schönes Bild: In den Hohlräumen der Maschine beginnen sich Unkraut und wilde Blumen auszu- breiten, bis sie schließlich wie Parasiten alles überwuchern.

KATJA TSCHIRWITZ

SA, 4.11.2017 | 18:30 | ELBPHILHARMONIE KLEINER SAAL

ENSEMBLE RESONANZ

Emilio Pomàrico Dirigent

Der Dirigent und Komponist Emilio Pomàrico wurde als Sohn italienischer Eltern in Buenos Aires geboren. Er studierte in Mailand und bildete sich bei Franco Ferrara und Sergiu Celibidache weiter. 1982 debütierte er als Dirigent mit einer erfolgreichen Konzertserie in Italien und Südamerika.

Seither arbeitete er mit den wichtigsten italienischen Orchestern in Rom, Mailand, Turin und Bozen sowie mit Theaterorchestern wie dem Orchester der Mailänder Scala. Darüber hinaus dirigierte er in Berlin, Paris, Zürich und vielen anderen europäischen Städten. Er gastierte unter anderem bei den Salzburger Festspielen, dem Edinburgh Festival und La Biennale Musica di Venezia. Als Operndirigent stellte er sich bei der Münchener Biennale, dem Teatro La Fenice in Venedig und dem Teatro Nacional de São Carlos in Lissabon vor.

Zeitgenössische Musik bildet einen wichtigen Schwerpunkt seiner Tätigkeit. So arbeitet er als Dirigent und Komponist regelmäßig mit dem Ensemble Modern, dem Klangforum Wien, dem Remix Ensemble, dem Ensemble intercontem-porain und dem Ensemble recherche zusammen und wurde zu Festivals wie Wien Modern oder den Donaueschinger Musiktagen eingeladen und führte bedeutende Werke wie Nonos Prometeo oder Luciano Berios Coro auf.

Emilio Pomàrico ist Professor für Dirigieren an der Civica Scuola di Musica in Mailand. Seit der Saison 2016 / 17 ist er Artist in Residence des Ensemble Resonanz.

Nächste Termine: 15. November 2017 mit Niko Paech und Michael Maierhof18. Januar 2018 mit Kit Armstrong und Prof. Dr. Beate Rößlerwww.ensembleresonanz.com

Mit offenen Ohren denken – Musik,

Wein und Philosophie im resonanzraum

St. Pauli

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Ensemble Resonanz

Mit seiner außergewöhnlichen Spielfreude und künstleri-schen Qualität zählt das Ensemble Resonanz zu den führenden Kammerorchestern weltweit. In innovativen Programmen spannen die Musiker den Bogen von der Tradition zur Gegenwart. Die lebendige Interpretation alter Meisterwerke im Dialog mit zeitgenössischen Kompositio-nen führt dabei zu oft überraschenden Bezügen.

Das Streichorchester ist demokratisch organisiert und arbeitet ohne festen Dirigenten, holt sich aber immer wieder künstlerische Partner wie die Bratschistin Tabea Zimmermann, den Cellisten Jean-Guihen Queyras oder den Dirigenten Riccardo Minasi an Bord. Aktuell begleitet der argentinische Dirigent und Komponist Emilio Pomàrico das Ensemble als Artist in Residence. Konzerte und Pro- duktionen führen die Musiker weltweit an die führenden Konzerthäuser und zu Festivals und lassen stets ein be- geistertes Publikum zurück. Als Ensemble in Residence der Elbphilharmonie präsentieren die Musiker hier im Kleinen Saal von Hamburgs neuem Konzerthaus ihre Konzertreihe »Resonanzen«. Darüber hinaus ist das Ensemble hier mit gemeinsam entwickelten Produktionen in diversen Festivals und Education-Projekten zu erleben.

Die Heimat des Ensemble Resonanz bleibt der 2014 eröff- nete resonanzraum im Bunker an der Feldstraße. Hier haben die Musiker nicht nur die monatliche Konzertreihe »urban string« etabliert, die Klassik und Klub auf einzig- artige Weise miteinander verbindet, sondern veranstalten auch »Ankerangebote«, die das Publikum zu neuen Er- fahrungsräumen rund um die Resonanzen-Konzerte laden. Für seine einzigartige Architektur wurde der resonanzraum mit dem AIT Architektur-Award sowie dem Publikumspreis des BDA ausgezeichnet. Sein innovatives Programm führte zur Auszeichnung als Musikclub des Jahres 2017. Als Kammermusiksaal steht er weiteren Künstlern und Ver- anstaltern für eigene Konzerte offen.

Besetzung

ViolineBarbara Bultmann**Gregor Dierck*Tom GlöcknerDavid-Maria GramseHulda JónsdóttirJuditha Haeberlin**Christine KrappRebecca Beyer

ViolaJustin Caulley*Tim-Erik Winzer*David SchlageDonata Böcking

VioloncelloSaerom Park*Jörn KellermannTatiana HimmelsbachAndreas Müller*

KontrabassMio Tamayama

FlöteAlina Weidlich

Klarinette Sebastian Borsch

Posaune Kevin Fairbairn

Schlagwerk Michael WeilacherJens Ruland

E-Gitarre Johannes Öllinger

KlavierPer Rundberg

** Konzertmeisterin* Stimmführer / in

SA, 4.11.2017 | 18:30 | ELBPHILHARMONIE KLEINER SAAL

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LES ESPACES ACOUSTIQUES

Gérard Grisey: Les espaces acoustiques

In seinem Hauptwerk Les espaces acoustiques (Die akus- tischen Räume) zelebriert Gérard Grisey die Kunst des Übergangs: Die Musik steigert sich langsam vom anfäng- lichen Bratschensolo bis hin zum riesigen Orchester mit vier Solohörnern. Der mit gut 90 Minuten Länge abend- füllende Zyklus gleicht einer kompositorischen Langzeit-studie – vom Stapel gelaufen in den Jahren von 1974 bis 1985. In jedem der sechs einzelnen Stücke erweitert Grisey die akustische Dimension des vorherigen. So entsteht ein gewaltiges Klangkontinuum; der akustische Raum wird immer größer.

Zwar betrachtete sich Grisey immer als Pionier, vielleicht sogar als Revolutionär der Neuen Musik, schoss sich dadurch aber niemals wirklich ins Abseits. Zu den Alt- vorderen wie Stockhausen und Boulez stand er in engem, wenn auch oft streiterischem Kontakt – sei es in Paris oder in Darmstadt. Während der Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik 1972 sprang Grisey auch der entscheidende Innovations-Funke an: Der ungarische Komponist György Ligeti riet ihm, sich aufmerksam mit der bis heute maß- stäblichen Instrumentations- und Orchestrierungslehre des großen französischen Romantikers Hector Berlioz zu befassen. Gesagt, getan. Zwei Jahre später nahm Grisey die Arbeit an Les espaces acoustiques auf und schrieb zunächst seine Périodes. Berlioz’ Lehrbuch war zu einer bedeutsamen Inspirationsquelle für eine ganz neue Musik geworden.

Gemeinsam mit ähnlich denkenden Komponisten, vereint in der Gruppe »L’Itinéraire« (Der Weg), strebte Grisey einen Gesamtklang an, in dem die einzelnen Instrumente be- dingungslos aufgehen sollten, anstatt isoliert für sich zu stehen. Der Gruppe ging es nicht um althergebrachte Vor- stellungen von Melodie, Harmonie und Zeit – es ging um den Klang selbst (mehr dazu im Porträttext über Gérard Grisey auf S. 44).

NDR ELBPHILHARMONIE ORCHESTER ENSEMBLE MUSIKFABRIKGENEVIÈVE STROSSER Viola

Dirigent STEFAN ASBURY Gérard Grisey (1946–1998) Les espaces acoustiques (1974–1985)

I. Prologue für Viola solo

II. Périodes für sieben Musiker Musiker des Ensemble Musikfabrik: Helen Bledsoe Flöte

Carl Rosman Klarinette

Kevin Austin Posaune

Hannah Weirich Violine

Axel Porath Viola

Dirk Wietheger Violoncello

Florentin Ginot Kontrabass

III. Partiels für 18 Musiker

Pause

IV. Modulations für 33 Musiker

V. Transitoires für großes Orchester

VI. Epilogue für vier Solo-Hörner und großes Orchester Jens Plücker Horn

Tobias Heimann Horn

Amanda Kleinbart Horn

Mercedes Gutiérrez Domínguez Horn

Ende gegen 22 Uhr

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In seinen Espaces acoustiques verführt Grisey uns zu einer Reise in den Klang hinein und durch ihn hindurch, regt uns an, über ihn nachzudenken und ihn vor allem körper-lich zu erleben. Seine Musik ermöglicht es, Zeit und Raum ungewohnt intensiv zu empfinden.

Zu dieser körperlichen Form der Musik hatte der Komponist auf überraschend technischen Umwegen gefunden: An den Computern des Pariser IRCAM, des berühmten Forschungs- instituts für Akustik und Musik, analysierte und sezierte er Harmonien und Klänge, setzte er sich haarklein mit deren Beschaffenheit auseinander: Warum klingt ein kleines »c« auf dem Klavier ganz anders als auf der Klarinette, dem Cello oder der Flöte? Wie hängt ein Grundton mit seinen Obertönen zusammen? Aus dieser engen Vertrautheit mit der Innenwelt der Klänge, mit ihren kleinsten Bausteinen, ihrem »Spektrum«, entwickelte Grisey eine ganz neue, or- ganische Klangwelt. Er setzte die Obertöne neu zusammen, etwa so, wie es auch Synthesizer machen.

Das mag etwas konstruiert klingen, doch das Gegenteil war der Fall: Grisey war es sehr wichtig, dass seine Musik den Hörer unmittelbar berührt – ohne lange Umwege über das intellektuelle Verständnis. In seinen Espaces acoustiques, in denen er die Erkenntnisse der Spektralistengruppe beispielhaft umsetzt, zieht er Parallelen zur menschlichen Existenz: In den tiefen Tonrepetitionen und fahlen hohen Tönen des 20-minütigen Prologs für Solobratsche etwa hört er »Herzschlag und Echo«. Die ziehenden, pfeifenden, knarzenden und reißenden Klänge der darauf folgenden Périodes für sieben Musiker verband er mit dem menschli-chen Atem. An Atemgeräusche und -bewegungen dachte Grisey auch in den schimmernden, schillernden Partiels, einem einzigen schnaufenden Riesenleib mit 18 Köpfen. Teil des Ganzen sind etwa das atmende Akkordeon, tiefe Blasinstrumente wie Bassklarinette und Tenorposaune, bauchig tönende Gongs und eine Hammond-Orgel, die sich unauffällig ins große Ganze einfügt.

Um die tatsächlich wahrgenommene psychologische Zeit ging es Grisey in den tickenden, später organisch pulsie-renden Modulations, gespielt von mittlerweile 33 Musikern. In den Transitoires für großes Orchester rührt er an große Menschheitsthemen wie Erinnerungen und Aufbruch. Im Epilog gesellen sich dem nun auf 80 Musiker angewachse-nen Orchester als rauschhafte Schlusssteigerung noch vier Solohörner hinzu.

Alle sechs Stücke waren ursprünglich Auftragswerke für und von verschiedenen Institutionen und Ensembles. Je nach Besetzungsgröße hat sie Grisey Formationen wie L’Itinéraire (das Pariser Hausensemble der Spektralisten), dem Ensemble intercontemporain, dem Sizilianischen Sinfonieorchester oder dem Sinfonieorchester der BBC gewidmet.

KATJA TSCHIRWITZ

SA, 4.11.2017 | 20:00 | ELBPHILHARMONIE GROSSER SAAL

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LES ESPACES ACOUSTIQUES

Stefan Asbury Dirigent

Der englische Dirigent Stefan Asbury studierte in Oxford sowie am Royal College of Music in London. Mit dem Leonard-Bernstein-Stipendium konnte er seine Ausbil-dung am Tanglewood Music Center in den USA fortsetzen. Dort wurde er 1995 als Dozent verpflichtet und von 1999 bis 2005 mit der Leitung des Bereichs »Neue Musik« betraut; parallel leitete er für fünf Jahre das portugiesische Remix Ensemble für zeitgenössische Musik. Von 2011 bis 2015 war er Chefdirigent des Noord Nederlands Orkest in Groningen, dessen Ehrendirigent er mittlerweile ist.

Stefan Asbury gilt als einer der führenden Dirigenten für zeitgenössische Musik und arbeitet regelmäßig mit den großen deutschen Rundfunkorchestern von NDR, WDR, hr, SWR und BR sowie mit dem RSO Wien. Weiterhin dirigierte er große Orchester weltweit, etwa das Royal Concertgebouw Orchestra Amsterdam, das Gewandhausorchester Leipzig, das Boston Symphony Orchestra und das Los Angeles Philharmonic und trat bei bedeutenden Festivals wie den Salzburger Festspielen, der Münchner Biennale und Wien Modern auf.

Regelmäßig dirigiert er die namhaften Spezialensembles für Neue Musik: Ensemble Modern, Klangforum Wien, Musikfabrik, Ensemble intercontemporain und London Sinfonietta. Eine enge Zusammenarbeit verbindet Asbury mit zeitgenössischen Komponisten wie Oliver Knussen, Steve Reich, Wolfgang Rihm und Unsuk Chin. Zudem dirigierte er die Uraufführung von Harrison Birtwistles Klavierkonzert mit Pierre-Laurent Aimard und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Seine CD mit Werken von Jonathan Harvey mit dem Ensemble intercontemporain wurde mit einem Choc du Monde de la Musique ausgezeichnet; seine Gesamteinspielung von Les espaces acoustiques mit dem WDR Sinfonieorchester gewann den Preis der Deutschen Schallplattenkritik.

Ensemble Musikfabrik

Seit seiner Gründung 1990 zählt das demokratisch orga- nisierte Ensemble Musikfabrik zu den führenden Klang- körpern der zeitgenössischen Musik. Dem Anspruch des eigenen Namens folgend, ist das Ensemble Musikfabrik in besonderem Maße der künstlerischen Innovation verpflichtet. Neue, unbekannte, in ihrer medialen Form ungewöhnliche und oft erst eigens in Auftrag gegebene Werke sind sein eigentliches Produktionsfeld. Interdisziplinäre Projekte unter Einbeziehung von Live-Elektronik, Tanz, Theater, Film, Literatur und bildender Kunst erweitern dabei die herkömmliche Form des Ensemblekonzerts. Die Ergebnis-se dieser häufig in enger Kooperation mit den Komponis-ten geleisteten Arbeit präsentiert das in Köln beheimatete internationale Solistenensemble in jährlich etwa 80 Kon- zerten im In- und Ausland, auf Festivals, in der eigenen Aboreihe »Musikfabrik im WDR« und in regelmäßigen Audioproduktionen für den Rundfunk und die eigene CD-Reihe Edition Musikfabrik, deren erste CD Sprech- gesänge 2011 einen ECHO Klassik gewann.

Das Ensemble Musikfabrik wird vom Land Nordrhein-Westfalen

unterstützt.

Geneviève Strosser Viola

Geneviève Strosser studierte in Straßburg sowie bei Serge Collot und Jean Sulem am Conservatoire de Paris. Eine Vielzahl von Meisterkursen mit den renommiertesten Bratschisten der Gegenwart schloss ihre Ausbildung ab. Heute wird sie regelmäßig von den wichtigen Ensembles der zeitgenössischen Musik eingeladen, so etwa vom Ensemble intercontemporain, der London Sinfonietta und dem Klangforum Wien. Stefano Gervasoni und Hugues Dufourt widmeten ihr Solokonzerte; zudem brachte sie mehrere Werke von Georges Aperghis zur Uraufführung. Seit 2004 unterrichtet Geneviève Strosser als Professorin für Viola an der Musikhochschule Basel.

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2004 folgte ihm Christoph von Dohnányi nach. Als Chef- dirigent des designierten Residenzorchesters hat Dohnányi als früher Unterstützer ganz wesentlich die Entscheidung der Hamburger Bürgerschaft für den Bau der Elbphilhar-monie befördert.

Seit 2011 verantwortet Thomas Hengelbrock als Chefdiri-gent die Fortschreibung der Geschichte des Orchesters. Interpretatorische Experimentierfreude und unkonventio-nelle Programmdramaturgie zeichnen seine Arbeit aus. Er bringt einen frischen, inspirierenden Musiziergeist ins Orchester und ist zudem ein begeisterter Musikvermittler. Gemeinsam mit dem jungen und dynamischen polnischen Dirigenten Krzysztof Urbański als Erstem Gastdirigenten prägt er das Profil des NDR Elbphilharmonie Orchesters als eines der führenden Konzertorchester des 21. Jahrhun-derts.

Das NDR Elbphilharmonie Orchester unterhält eigene Konzertreihen in Hamburg, Lübeck und Kiel und spielt eine tragende Rolle bei den großen Festivals in Nord-deutschland. Seinen internationalen Rang unterstreicht es auf Tourneen durch Europa, nach Nord- und Südamerika sowie regelmäßig nach Asien. Darüber hinaus engagiert sich das Orchester im Education-Bereich und der Nach-wuchsförderung. Auch dabei geht der Blick über nationale Grenzen hinaus. So wurde 2015 eine mehrjährige Koopera-tion mit dem Shanghai Symphony Orchestra vereinbart, in deren Mittelpunkt ein groß angelegtes Ausbildungsprojekt in China steht.

NDR Elbphilharmonie Orchester

Mit dem Einzug in die Elbphilharmonie hat das NDR Elb- philharmonie Orchester sieben Jahrzehnte nach seiner Gründung eine zeitgemäße künstlerische Heimat gefunden und ein neues Kapitel seiner Geschichte aufgeschlagen. Das glanzvolle Eröffnungskonzert am 11. Januar 2017 wurde im Fernsehen, Radio und Internet live übertragen und fand weltweit große Beachtung. Chefdirigent Thomas Hengel-brock und das NDR Elbphilharmonie Orchester spannten den programmatischen Bogen von der Renaissance bis zur Gegenwart und loteten zugleich die Möglichkeiten des neuen Saals konsequent aus. Damit steckten sie den Weg für die Zukunft ab. Als Residenzorchester prägt das NDR Elbphilharmonie Orchester das musikalische Profil von Hamburgs neuem Konzerthaus maßgeblich mit. Und die räumlichen und akustischen Möglichkeiten der Elbphilhar-monie beeinflussen entscheidend die weitere Entwicklung der Klangkultur des Orchesters. Klänge und Bilder aus der Elbphilharmonie sind heute – vermittelt auch über die Programme des NDR – in ganz Norddeutschland und weit darüber hinaus präsent.

Gegründet wurde das NDR Elbphilharmonie Orchester 1945 als Sinfonieorchester des Nordwestdeutschen Rundfunks. Seine Gründung stand im Zeichen des geistigen und kultu- rellen Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg. Von 1956 bis 2016 trat es unter dem Namen NDR Sinfonieorchester auf. Über ein Vierteljahrhundert lang prägte Hans Schmidt- Isserstedt als erster Chefdirigent das künstlerische Profil des Ensembles; später erreichte die 20-jährige intensive Zusammenarbeit mit Günter Wand eine ähnlich herausra-gende Bedeutung. Wand, seit 1982 Chefdirigent und seit 1987 Ehrendirigent auf Lebenszeit, festigte das internatio-nale Renommee des Orchesters. Insbesondere seine Maßstab setzenden Interpretationen der Sinfonien von Brahms und Bruckner wurden dabei zur künstlerischen Visitenkarte des Ensembles. 1998 wurde Christoph Eschenbach in die Position des Chefdirigenten berufen,

SA, 4.11.2017 | 20:00 | ELBPHILHARMONIE GROSSER SAAL

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QUATRE CHANTS

Sophia Burgos Sopran

Die puertoricanisch-amerikanische Sopranistin Sophia Burgos ist eine passionierte Interpretin von Vokalwerken unterschiedlicher Gattungen – vom Konzertrepertoire über Kammermusik bis hin zu zeitgenössischer Oper. Erst im vergangenen Mai war sie in der Elbphilharmonie zu Gast, um gemeinsam mit Teodor Currentzis und dem Mahler Chamber Orchestra Claude Viviers Lonely Child aufzufüh-ren. Zudem debütierte sie am Münchner Prinzregenten- theater, war an der Uraufführung von Zesses Seglias’ To the Lighthouse bei den Bregenzer Festspielen beteiligt und übernahm die Hauptrolle in der neuen Kinderoper To the Moon and Back von Andrew Norman, aufgeführt von den Berliner Philharmonikern und dem London Symphony Orchestra, jeweils unter der Leitung von Sir Simon Rattle.

Ihr Operndebüt in Europa gab Sophia Burgos in der Saison 2015 / 16 in der Titelrolle von François Paris’ Maria Republica an der Oper Angers-Nantes, die mit dem Kritikerpreis »Meilleure Création Musicale« ausgezeichnet wurde. Ihr Debüt in der Carnegie Hall feierte sie 2015 in Henri Dutilleux’ Correspondances mit dem American Symphony Orchestra. Zudem gab sie Liederabende und Konzerte mit zeitgenös-sischer Musik in New York City und Umgebung.

Sophia Burgos studierte an der Eastman School of Music in New York. Ihren Master-Abschluss legte sie am Bard College ab, wo sie unter anderem in Händels Oratorium Esther und Haydns Die Schöpfung zu hören war. Wesent- liche Impulse erhielt sie von ihren Mentorinnen Dawn Upshaw und Barbara Hannigan. Neben ihrer künstlerischen Tätigkeit engagiert sich Sophia Burgos sehr für Musikver-mittlung und legte auch einen Abschluss in Music Education ab. Geboren in Chicago, sind ihre frühesten musikalischen Einflüsse spanische Volkslieder und Tänze, die von ihren puertoricanischen Wurzeln herrühren. Derzeit lebt sie in Basel, um ihren Master in Zeitgenössischer Musik an der dortigen Hochschule zu absolvieren.

ENSEMBLE AISTHESIS SOPHIA BURGOS Sopran Dirigent WALTER NUSSBAUM Gérard Grisey (1946–1998) Quatre chants pour franchir le seuil (1996–1997) Prélude La mort de l’ange (nach Christian Guez-Ricord) Interlude La mort de la civilisation (nach Inschriften auf altägyptischen Sarkophagen) Interlude La mort de la voix (nach Erinna von Telos, ca. 350 v. Chr.) Faux Interlude La mort de l’humanité. Berceuse (nach dem altbabylonischen Gilgamesch-Epos) ca. 40 Min.

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Ensemble Aisthesis

Klangwelten mit den Sinnen verstehen: Das Ensemble Aisthesis, spezialisiert auf die Musik des 20. und 21. Jahrhunderts, trägt die umfassende Wahrnehmung imgriechisch inspirierten Namen. Unter der künstlerischen Leitung des Gründers Walter Nußbaum erarbeiten die bis zu 20 Instrumentalistinnen und Instrumentalisten ihr Repertoire, das von Klassikern der Moderne wie Arnold Schönberg, Anton Webern, Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen und Helmut Lachenmann bis hin zu exem- plarischen Werken der Romantik von Richard Wagner oder Gustav Mahler reicht. Die Auftragskompositionen entste-hen stets in direkter Zusammenarbeit mit den Komponis-tinnen und Komponisten.

Das Ensemble Aisthesis pflegt eine rege Konzerttätigkeit, nicht nur in seiner Heimat Heidelberg, sondern auch bei Festivals wie musica viva in München, den Festspielen Zürich, der Romanischen Nacht in Köln, dem Tongyeong International Music Festival in Südkorea, den Kasseler Musiktagen oder dem Basler Musikforum.

2013 würdigte man den 100. Geburtstag des Komponisten René Leibowitz mit einer Einspielung, die auch viele Erst- veröffentlichungen enthält, auf ein großes Echo stieß und schon jetzt Referenzcharakter hat.

Brigitte Sauer Flöte

Patrick Stadler, Raphael Camenisch Saxofon

Udo Grimm, Winfried Rager Bassklarinette

Markus Schwind Trompete

Jean Daufresne Euphonium

Francois Thuillier, Gérard Buquet Tuba

Ekki Windrich Violine

Peter Sigl Violoncello

John Eckhard Kontrabass

Eva Curth Harfe

Boris Müller, Julian Belli, Raphael Nick Schlagwerk

Walter Nußbaum Dirigent

Walter Nußbaum studierte Kirchenmusik und Dirigieren. Bis 1992 war er Kantor an der Johanneskirche Heidelberg und lehrte danach bis 2015 Chorleitung und Dirigieren an der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover. Im Jahr 1992 gründete er die Schola Heidelberg und das Ensemble Aisthesis.

Seine Schwerpunkte umspannen das Repertoire von der frühen Vokalmusik bis zu Vokal- und Instrumentalwerken zeitgenössischer Komponisten, darunter regelmäßig Uraufführungen unter anderen am Nationaltheater Mannheim sowie Dirigate bei der Biennale Venedig, den Luzerner Festspielen, der Salzburg Biennale, dem Steirischen Herbst, bei Milano Musica, musica viva München, Ultraschall Berlin, den Wittener Tagen für neue Kammermusik, den Schwetzinger Festspielen, dem Tongyeong International Music Festival in Südkorea und bei weiteren Musikereignissen.

Für seine Einspielungen erhielt Walter Nußbaum mehrere internationale Auszeichnungen wie den Diapason d’or und den Choc du Monde de la Musique.

SA, 4.11.2017 | 22:30 | ELBPHILHARMONIE KLEINER SAAL

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DIE MUSIK | GESANGSTEXTE

der schrecklichste von allen, denn ihm sind unsere Träume anvertraut«, befand Grisey. Die Sopranistin gibt sich hier einem beängstigenden wie verführerischen Flirt mit dem Tod hin: Stammelnd trägt sie das Gedichtfragment Les heures de la nuit (Die Stunden der Nacht) von Griseys Künstler-freund Christian Guez Ricord vor, der sich 1988 im Alter von 40 Jahren das Leben genommen hatte. Sobald sie das Wort »ange« (Engel) singt, tritt eine Trompete hinzu und verstärkt ihre Stimme, als wolle sie das Ende der Zeit ausrufen.

Der Tod der Zivilisation hebt mit dem Mantra einer einsamen Harfe an, der sich bald ein Saxofon anschmiegt. Dieser Gesang rezitiert ägyptische Sarkophag-Inschriften, die sich aus einer Ziffer und einem kurzen Fatum zusammen-setzen. Wie in einer traurigen Jazzballade irrt die Musik scheinbar verloren umher, von einer unsichtbaren Macht weiter und weiter gezogen.

Ein leise raschelndes, dann mächtig anschwellendes Schlagzeug-Solo leitet über zum Gesang Der Tod der Stimme, der einige Zeilen der altgriechischen Dichterin Erinna von Telos aufgreift. Nervös und flatterhaft spricht, singt und ruft die Sopranistin den kurzen Text. Wie still es doch plötzlich im Totenreich ist! Auch hier greifen die Instrumente die emotionale Gestik der Sängerin auf, verstärken und spiegeln ihre Stimmung.

Auszüge aus dem altbabylonischen Gilgamesch-Epos liegen dem Gesang Tod der Menschheit zugrunde; ein Text von archaischer Wort- und Bildkraft, der die überwältigen-de Schönheit der Welt nach der Sintflut besingt. Auf leisen Sohlen führt der letzte Abschnitt in einen kurzen fünften Gesang (Berceuse). Dieses zarte Wiegen- oder Gondellied ist laut Grisey »nicht zum Einschlafen gedacht, sondern für das Erwachen einer Menschheit, die endlich von ihrem Albtraum befreit ist«. Mit der Vortragsbezeichnung »Sehr weich und expressiv« schaukelt uns ein kleines Boot end- gültig über den Hades.

KATJA TSCHIRWITZ

Gérard Grisey: Quatre chants pour franchir le seuil

Er konnte sie gerade noch vollenden, bevor er selbst die Schwelle ins Jenseits überschritt: Am 11. November 1998 starb Gérard Grisey, Erfinder der Spektralmusik, überra-schend an einem Gehirnschlag – er war erst 52 Jahre alt. So sollte seine »musikalische Meditation über den Tod«, wie er seinen vierzigminütigen Zyklus Quatre chants pour franchir le seuil (Vier Gesänge, um die Schwelle zu über- schreiten) nannte, zu seinem künstlerischen Vermächtnis werden. Seit seinem frühen Tod hat sich Griseys Ruf als einer der größten französischen Komponisten nach Pierre Boulez mehr und mehr verbreitet. Dies ist nicht zuletzt seinen späten Werken zu verdanken, die zunehmend expressiver werden und sich auch für die melodische Line öffnen. In Griseys letztem Werk, einem überwältigenden Liedzyklus für Solosopran und 15-köpfiges Ensemble, rücken die Ergebnisse seiner jahrelangen Klang- und Obertonforschungen in den Hintergrund, oder besser: gehen auf in einem metaphysischen Ganzen. In vier Texten über das Sterben, die aus verschiedenen Epochen und Kul- turkreisen stammen und durch instrumentale »Interludes« sanft voneinander abgepuffert werden, erforscht Grisey nun den Übergang vom Leben zum Tod.

Die Musik bewegt sich dabei meist nur langsam vorwärts, wie unter Wasser, aber immer mit kristallener Klarheit. Besonders sinnliche Instrumente wie Vibrafon und Harfe betonen die spirituelle Färbung des Werks. Seine Klänge liegen offen und bloß, scheinen sich bereitwillig auszulie-fern. So wie sich die Texte auf dem schmalen Grat zwischen Leben und Tod bewegen, schillern und schimmern auch die Emotionen der Musik in vielen Facetten. Auf der einen Seite weich und nachgiebig, wirken Griseys Chants gleich- zeitig stark und tröstend, immer getragen von einer un- erschütterlichen Gelassenheit.

Der erste Gesang, Der Tod des Engels, reflektiert über das göttliche und das eigene Sterben. »Der Tod des Engels ist

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La mort de l’angenach Christian Guez-Ricord

De qui se doit de mourir comme ange …comme il se doit de mourir comme un angeje me doisde mourirmoi mêmeil se doit son mourir son ange de mourir comme il s’est mort comme un ange

La mort de la civilisationnach Inschriften auf altägyptischen Sarkophagen

no 811 et 812 (presque entièrement disparus) no 814: Alors que tu reposes pour l’éternité …no 809 (détruit)no 868 et 869 (presque entièrement détruits) no 870: J’ai parcouru …j’ai été florissant …je fais une déploration …Le lumineux tombe à l’intérieur de …no 961 et 963 (détruits)no 973: Qui fait le tour du ciel …jusqu’aux confins du ciel …jusqu’à l’étendue des bras …fais-moi un chemin de lumière, laisse-moi passer …no 903 (détruit)no 1050: formule pour être un dieu …

Der Tod des Engels

Von dem, dem auferlegt ist zu sterben wie ein Engel …Wie man sterben muss wie ein Engel,so muss ichsterben,ich selbst.Man muss sterben, seinen Engel zu sterben,da er gestorben ist wie ein Engel.

Der Tod der Zivilisation

811 und 812: (fast vollständig verloren)814: Nun, da du in Ewigkeit ruhest …809: (zerstört)868 und 869: (fast vollständig zerstört)870: Ich habe durchschritten …ich war in voller Blüte gewesen …ich führe Klage …Der Erleuchtete fällt ins Innere des …961 und 963 (zerstört)973: Wer den Himmel durchwandelt …bis an die Grenzen des Himmels …bis wohin die Arme reichen …mach mir einen Weg aus Licht, lass mich hinüberkommen … 903: (zerstört)1050: Spruch, um ein Gott zu sein …

SA, 4.11.2017 | 22:30 | ELBPHILHARMONIE KLEINER SAAL

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La mort de la voixnach Erinna von Telos, um 350 v. Chr.

Dans le monde d’en bas, l’écho en vain dérive.Et se tait chez les morts.La voix s’épand dans l’ombre.

La mort de l’humaniténach dem altbabylonischen Gilgamesch-Epos

Six jours et sept nuits, bourrasques, pluies battantes ouragans et déluge continuèrent de saccager la terre.

Le septième jours arrivé. Tempête, déluge et hécatombe cessèrent. Après avoir distribué leurs coups de hasard, comme une femme dans le douleurs, ca mer se calmaet s’immobilisa.Je regardai alentour:Le silence régnait!Tous les hommes étaient retransformés en argile, et la plaine liquide Semblait une terrasse.

[Berceuse]J’ouvris une fenêtreet le jour tombasur ma joue.Je tombai à genoux, immobile, et pleurai …Je regardai l’horizon de la mer, le monde …

Der Tod der Stimme

In der unteren Welt verhallt das Echo ungehört.Und es verstummt bei den Toten.Die Stimme breitet sich aus im Schattenreich.

Der Tod der Menschheit

Sechs Tage und sieben Nächte, Stürme, strömender Regen, Orkane und Sintflut hörten nicht auf, die Erde zu verwüsten.Als der siebte Tag anbrach, verstummten Gewitter, Sintflut und Blutbad. Nachdem sie ihre Schläge aufs Geratewohl ausgeteilt hatten, wie eine Frau, die in den Wehen liegt, beruhigte sich das Meer und wurde still.Ich blickte um mich:Es herrschte Stille!Alle Menschen waren wieder in Ton umgewandelt, und die flüssige Ebene erschien wie eine Terrasse.

Ich öffnete ein Fensterund der Tag fielauf meine Wangen.Ich fiel auf die Knie, regungslos und weinte …Ich betrachtete den Meereshorizont, die Welt …

GESANGSTEXTE

Stefan Asbury, NDR Elbphilharmonie OrchesterEnsemble Resonanz, Emilio Pomàrico

Sophia Burgos, Walter Nußbaum

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