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 1 Publiziert: 28.07.2015 (18:10), aktualisiert: 28.07.2015 /18:10) von Jens Wernicke auf le-Bohemien.net, Original: http://wck.me/9Dz INTERVIEW N eulich stimmte der Bundes- tag gegen die Stimmen der Linken für ein weiteres „Hilfspro- gramm“ für Griechenland. Aller- dings ist die Haltung einiger Bun- destagslinker hierzu reichlich ver- wirrend. Denn sie hätten, so sa- gen etwa Gregor Gysi und Katja Kipping, in Griechenland selbst schweren Herzens mit „Ja“ für ein Paket gestimmt, das sie voll und ganz ablehnen. Jens Werni- cke sprach mit dem Kabarettisten und Liedermacher Prinz Chaos II., der sich in Griechenland selbst ein Bild gemacht hat und nun ein igen Mythen in der deutschen Debatte entschieden widerspricht. So habe es beispielsweise sehr wohl einen Plan B gegeben, der Syriza aus dem Dilemma, dem sie schließ- lich erlag, hätte befreien können.  JENS WERNICKE:  Prinz Chaos, Du bist vor einigen Tag en nach Athen aufgebrochen, um Dir jenseits der Berieselung durch die hiesi- gen Medien ein eigenes Bild der Situation zu machen. Wie ist die  Lage vor Ort ? PRINZ CHAOS: Als wir die Flüge buchten, waren wir noch elekt- risiert von den 61 ,5 Prozent Oxi beim Referend um. Wir erwart e- ten eine Stadt im Siegestaumel und eine Linke voller Selbstbe- wusstsein. Als wir in Athen anka men, hat- te Tsipras aber bereits kapituliert und das dritte Memorandum war beschlossen worden. Dementsprechend herrschte un- ter den Aktivisten Ratlosigke it und blankes Entsetzen. Ganz Athen schien am Tag unserer Ankunft wie gelähmt. Und in den Stra- ßencafés waren deutlich weniger Leute als sonst. Wir waren auch in der Syriza- Zentrale. Der Genosse, den wir in- terviewen wollten, w ar aber nicht bereit, vor laufend er Kamera zu re- den. Er war nämlich für das Büro von Alexis Tsipras tätig gew esen, hatte jedoch kurz vor u nserem Ter- min seinen Rücktritt erklärt, weil er den neuen Kurs total ablehnt. Danach sind wir zu einer I nter- nationalen Konferenz an der Uni in Athen gefahren. Deren Titel „De- mocracy Rising“ klang geradezu zynisch im Lichte der neuesten Entwicklungen. Da kam es dann zu wütenden Debatten zwischen Befürwortern und Gegnern des neuen Kurses, wobei die Gegner hier deutlich üb erwogen. Die Parlamentspräsidentin Zoe Konstantopoulou sagte uns off the record, wie schock iert sie von Tsi- pras 180-Grad-W endung sei. Sie hat auch im Parlament gegen den neuen Kurs gestimmt und eine knallha rte Rede dagegen gehalten. Costas Lapavitsas von der Syri- za-Linken warb für einen gut vor- bereiteten Grexit. Er machte vor allem deutlich, dass dieses dritte Memorandum eine absolute Ga- rantie für eine rasch zunehmen- de Verelendung und ein ökono- misches Desaster darstellt.  JW : Was bedeutet das, „zuneh- mende Verelendung“? Hast Du ein, zwei Beispiele für unsere Le- ser parat, was man sich darunter konkret vorzustellen hat? PRINZ CHAOS:  Wir haben das Krankenhaus Elpis besucht, was auf Deutsch „Hoffnung“ bedeutet. Dieses Krankenhaus hat vor fünf Jahren begonnen, alle Patienten anzunehmen, auch die Unversi- cherten, Obdachlosen, Flüchtlin- ge. Und auch völlig abgebrannte deutsche Rucksackto uris. Was wir in der Notaufnahme gesehen haben, war schon krass. Die Pegekräfte tun, was sie kön - nen. Aber Du siehst vielen Pati- enten die bittere Armut und die Unterernährung deutlich an. 3,5 Millionen von 11 Millionen Grie- chen haben auch gar keine Kran- kenversicherung mehr. Oberärz- te bekommen teilweise nur 3,50 Euro Stundenlohn. In einer Ärzte- zeitung haben wir von Fällen ge- lesen, in denen Müttern ihre Ba- bies erst herausgegeben wurden, nachdem sie die Rechnung für die Entbindung beglichen hatten. Griechische Mythen  und ein Dilemma, das keines ist“ Der Künstler und Historiker Prinz Chaos II. war auf Griechenland-Reise. Ein Gespräch über Tsipras, Syriza und die EU als  „Völkerknast“. von Jens Wernicke Bild: DonkeyHotey, CC BY-SA 2.0 Prinz Chaos II (2014)

Griechische Mythen und ein Dilemma, das keines ist

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Griechische Mythen undein Dilemma, das keines ist,Der Künstler und Historiker Prinz Chaos II. war auf Griechenland-Reise. Ein Gespräch über Tsipras, Syriza und die EU als „Völkerknast“. von Jens Wernicke

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  • 1Publiziert: 28.07.2015 (18:10), aktualisiert: 28.07.2015 /18:10) von Jens Wernicke auf le-Bohemien.net, Original: http://wck.me/9Dz

    INTERVIEW

    Neulich stimmte der Bundes-tag gegen die Stimmen der Linken fr ein weiteres Hilfspro-gramm fr Griechenland. Aller-dings ist die Haltung einiger Bun-destagslinker hierzu reichlich ver-wirrend. Denn sie htten, so sa-gen etwa Gregor Gysi und Katja Kipping, in Griechenland selbst schweren Herzens mit Ja fr ein Paket gestimmt, das sie voll und ganz ablehnen. Jens Werni-cke sprach mit dem Kabarettisten und Liedermacher Prinz Chaos II., der sich in Griechenland selbst ein Bild gemacht hat und nun einigen Mythen in der deutschen Debatte entschieden widerspricht. So habe es beispielsweise sehr wohl einen Plan B gegeben, der Syriza aus dem Dilemma, dem sie schlie-lich erlag, htte befreien knnen.

    JENS WERNICKE: Prinz Chaos, Du bist vor einigen Tagen nach Athen aufgebrochen, um Dir jenseits der Berieselung durch die hiesi-gen Medien ein eigenes Bild der Situation zu machen. Wie ist die Lage vor Ort?PRINZ CHAOS: Als wir die Flge buchten, waren wir noch elekt-risiert von den 61,5 Prozent Oxi beim Referendum. Wir erwarte-ten eine Stadt im Siegestaumel und eine Linke voller Selbstbe-wusstsein.

    Als wir in Athen ankamen, hat-te Tsipras aber bereits kapituliert und das dritte Memorandum war beschlossen worden.

    Dementsprechend herrschte un-ter den Aktivisten Ratlosigkeit und blankes Entsetzen. Ganz Athen schien am Tag unserer Ankunft wie gelhmt. Und in den Stra-encafs waren deutlich weniger Leute als sonst.

    Wir waren auch in der Syriza-Zentrale. Der Genosse, den wir in-

    terviewen wollten, war aber nicht bereit, vor laufender Kamera zu re-den. Er war nmlich fr das Bro von Alexis Tsipras ttig gewesen, hatte jedoch kurz vor unserem Ter-min seinen Rcktritt erklrt, weil er den neuen Kurs total ablehnt.

    Danach sind wir zu einer Inter-nationalen Konferenz an der Uni in Athen gefahren. Deren Titel De-mocracy Rising klang geradezu zynisch im Lichte der neuesten Entwicklungen. Da kam es dann zu wtenden Debatten zwischen Befrwortern und Gegnern des neuen Kurses, wobei die Gegner hier deutlich berwogen.

    Die Parlamentsprsidentin Zoe Konstantopoulou sagte uns off the record, wie schockiert sie von Tsi-pras 180-Grad-Wendung sei. Sie hat auch im Parlament gegen den neuen Kurs gestimmt und eine knallharte Rede dagegen gehalten.

    Costas Lapavitsas von der Syri-za-Linken warb fr einen gut vor-bereiteten Grexit. Er machte vor

    allem deutlich, dass dieses dritte Memorandum eine absolute Ga-rantie fr eine rasch zunehmen-de Verelendung und ein kono-misches Desaster darstellt.JW: Was bedeutet das, zuneh-mende Verelendung? Hast Du ein, zwei Beispiele fr unsere Le-ser parat, was man sich darunter konkret vorzustellen hat?PRINZ CHAOS: Wir haben das Krankenhaus Elpis besucht, was auf Deutsch Hoffnung bedeutet. Dieses Krankenhaus hat vor fnf Jahren begonnen, alle Patienten anzunehmen, auch die Unversi-cherten, Obdachlosen, Flchtlin-ge. Und auch vllig abgebrannte deutsche Rucksacktouris.

    Was wir in der Notaufnahme gesehen haben, war schon krass. Die Pflegekrfte tun, was sie kn-nen. Aber Du siehst vielen Pati-enten die bittere Armut und die Unterernhrung deutlich an. 3,5 Millionen von 11 Millionen Grie-chen haben auch gar keine Kran-

    kenversicherung mehr. Oberrz-te bekommen teilweise nur 3,50 Euro Stundenlohn. In einer rzte-zeitung haben wir von Fllen ge-

    lesen, in denen Mttern ihre Ba-bies erst herausgegeben wurden, nachdem sie die Rechnung fr die Entbindung beglichen hatten.

    Griechische Mythen und ein Dilemma, das keines istDer Knstler und Historiker Prinz Chaos II. war auf Griechenland-Reise. Ein Gesprch ber Tsipras, Syriza und die EU als Vlkerknast. von Jens Wernicke

    Bild: DonkeyHotey, CC BY-SA 2.0

    Prinz Chaos II (2014)

  • 2 Publiziert: 28.07.2015 (18:10), aktualisiert: 28.07.2015 /18:10) von Jens Wernicke auf le-Bohemien.net, Original: http://wck.me/9Dz

    INTERVIEW

    JW: Und das alles kam durch die sogenannten Rettungsma-nahmen der Troika in den letz-ten Jahren soweit? Was lief da schief?PRINZ CHAOS: Ich habe ein Inter-view mit Leonidas Vatikiotis ge-fhrt. Er ist konomieprofessor an der Uni Zypern und Journalist. Er war auch Mitglied der Wahr-heitskommission ber die grie-chischen Staatsschulden. Diese Kommission hatte Zoe Konstan-topoulou ins Leben gerufen. Sie wurde unter anderem geleitet von Eric Toussaint, der die Entschul-dung Argentiniens, Osttimor und Ecuadors bereits erfolgreich be-gleitet hat und auch fr die Afri-kanische Union ttig gewesen ist.

    Diese Kommission hat sich die griechischen Schulden sehr genau angesehen. 80 Prozent davon sind Schulden bei der Troika. Ein hoher Prozentsatz der zugrundeliegen-den Vertrge verstt aber gegen griechisches oder internationales Recht. Es sind also illegale Schul-den, deren Rckzahlung man mit guten juristischen Grnden ableh-nen kann.

    Die Spur der Korruption in Griechenland, die immer wieder angeprangert wird, fhrt auer-dem zu Siemens und zu Krauss-Maffei-Wegmann.

    Insofern ist es eine reine Klas-senfrage. Die griechischen Olig-archen haben im Verein mit deut-schen Konzernen, mit Banken und der EU-Brokratie den Staat aus-geplndert und das Volk ins Elend gestrzt. Und die Korruption, die hier ablief, war Teil eines konzer-tierten Angriffs, den Yanis Varouf-akis vollkommen zurecht ko-nomischen Terrorismus nennt.JW: Nun lesen wir aber ja berall, die Regierung Tsipras htte gar nicht anders gekonnt, die Kritiker htten selbst nicht anders zu han-deln vermocht und sollten schwei-gen daherPRINZ CHAOS : TINA, TINA, TINA: There is no alternative! Dieses Mantra wird nicht dadurch richtiger, dass es jetzt auch von Linken gesungen wird. Es werden auch allerhand Stories aufgetischt, die dem Land der antiken Mythen zwar sozusagen alle Ehren ma-

    chen, die aber ganz einfach keine Grundlage in der Realitt haben. Etwa diese Idee, es htte keiner-lei Plan B gegeben. Das ist falsch.

    Es gab sogar vier Kommissi-onen, die eine selbstbestimmte Exit-Strategie entwickelten. Ers-tens die besagte Wahrheitskom-mission des griechischen Parla-ments, international hochkartig besetzt. Dazu gab es ein geheimes Fnfer-Komitee im Finanzminis-terium von Varoufakis. Drittens hat der linke Syriza-Flgel um den Wirtschaftsprofessor Costas Lapavitsas, der seit dreiig Jah-ren ber Geld forscht, einen Fnf-Punkte-Plan entwickelt, wie man einen Grexit durchfhren knn-te. Und schlielich gibt es noch die Delphi-Initiative, wo alterna-tive Geldtheoretiker wie David Graeber, Michael Hudson und der Weltbankdissident Peter Knig zu-sammenkamen.

    Die Akteure dieser vier Grup-pen, die allesamt an einem Exit-plan gearbeitet haben, kennen sich zum Teil untereinander, haben Kontakt. Htte man diese Vorar-beiten und Planungsstbe zusam-mengefhrt, htte man sehr schnell einen detaillierten und hochwerti-gen Plan B entwickeln knnen und auch exzellentes Personal fr des-sen Durchfhrung gehabt.

    Dummerweise hatten alle vier Kommissionen eine wesentliche GemeinsamkeitJW: Die da wre?PRINZ CHAOS: Alexis Tsipras hat sich nie fr ihre Arbeit interes-siert.JW: Was httest Du denn am Ende an seiner Stelle getan? Nicht unterschrieben, sondern was?

    PRINZ CHAOS: Lassen wir uns ein-mal auf folgendes Gedankenspiel ein: Am Tag nach dem Referen-dum stellt sich Tsipras hin und er-klrt den Leuten: Passt auf, ich fahre jetzt nach Brssel. Und ich werde alles tun, um Euer Oxi dort durchzusetzen. Aber das wird nicht einfach werden. Wenn ich zurckkomme, lege ich Euch dann die Ergebnisse vor und falls die-se Ergebnisse dem Referendum widersprechen einen Alterna-tivplan.

    Wenn das Volk dann abge-stimmt htte, ber ein neues Aus-terittsprogramm oder fr einen gut vorbereiteten Grexit was wre da wohl herausgekommen?

    Htte Tsipras sich dann erneut an das Volk gewandt und gesagt: Ihr msst wissen, dass die nchs-ten Monate oder auch ein, zwei Jahren unendlich schwierig wer-den, aber wir bauen jetzt unseren Binnenmarkt wieder auf und neh-men unser Schicksal in die eigenen Hnde! was denkst Du, wre da passiert? Ich denke, wir htten eine Explosion massenhafter Selbstor-ganisation erlebt.JW: Womglich aber auch nicht Nach einer Umfrage wollen im-merhin 70 Prozent der Griechen unbedingt im Euro bleiben.PRINZ CHAOS: Ich bitte Dich! Diese berall zitierte Umfrage ist reine Propaganda. Auf so einer Grund-lage kann man nicht ernsthaft dis-kutieren. Dass diese Umfrage dann berall als ein echtes Argu-ment daherkommt, zeigt lediglich den Zustand der deutschen Debat-te.

    Fakt ist: Die Griechen haben Sparmanahmen, die weitaus we-niger schlimm waren als das jet-

    zige Memorandum, mit 61,5 Pro-zent abgelehnt. Und sie taten das im vollen Wissen, dass bereits dieses Nein einen Grexit bedeuten knn-te. Denn das hatte ihnen Schub-le ja bereits detailliert erklrt und die griechischen Mainstreamme-dien haben das vor dem Referen-dum zu einer riesigen Drohkulisse aufgebaut. Die Leute haben trotz-dem mit Oxi gestimmt.JW: Warum hat das Oxi der Bevl-kerung, das Du erwhnst, Syriza denn nicht davon abgehalten, das nchste Memorandum zu unter-schreiben? Wie erklrst Du das?PRINZ CHAOS: Syriza hat dem Me-morandum gar nicht zugestimmt. Syriza wurde gar nicht gefragt und das Zentralkomitee der Syriza hat sich mit einer Mehrheit von 109 aus 201 Mitgliedern auch klar ge-gen Tsipras neuen Kurs ausgespro-chen.JW: Wieso, denkst Du, hat Tsipras die Partei dann ignoriert?PRINZ CHAOS: Er war subjektiv si-cherlich berzeugt, gar keine an-dere Wahl zu haben. Tsipras hat nie daran geglaubt, dass ein wirk-licher Systembruch mglich sei und ist auch nicht bereit dazu. Das hat ihn am Ende maximal erpress-bar gemacht, weil die Gegenseite das natrlich wusste. Schuble hat folglich die Drohung mit einem forcierten Grexit kunstvoll aufge-baut und gleichzeitig die griechi-sche Wirtschaft stranguliert.

    Die Grundfrage ist nur: Wo ver-ortet man die Quelle seiner Macht? Und vor welcher Klasse frchtet man sich am meisten?

    Die Fhrung um Tsipras ist regelrecht in Panik verfallen an-gesichts der elektrisierten Mas-senstimmung nach dem Oxi. Va-roufakis erzhlt, wie er am Abend des Referendums in den Maxi-mo kam, in den Prsidentenpalast. Ganz Athen, ganz Griechenland lag sich jubelnd in den Armen, tanzte, sang und platzte vor Kampfgeist und Selbstbewusstsein aber rund um Tsipras herrschte eisige Stim-mung als Varoufakis mit seinem Wow, this is great! zur Tr her-einkam. Dieses Ergebnis war weder erwartet noch gewnscht worden.

    Am nchsten Morgen war Va-roufakis dann nicht mehr Finanz-

    Alexis Tsipras (Foto: Joanna, flickr.com, CC BY 2.0)

  • 3Publiziert: 28.07.2015 (18:10), aktualisiert: 28.07.2015 /18:10) von Jens Wernicke auf le-Bohemien.net, Original: http://wck.me/9Dz

    INTERVIEW

    minister. Stattdessen bestellte Tsipras die Chefs der alten, abge-halfterten Austerittsparteien zu sich, um vorzubereiten, wie er mit diesen, aber gegen den eigenen lin-ken Flgel, einen Deal mit der EU durchziehen knne.

    Es gab also eine Alternative und es gab eine goldene Gelegenheit, diese Option zu whlen. Aber es htte fr diese alternative Strategie einer mutigen und entschlossenen Fhrung bedurft, die an das eige-ne Volk glaubt, die vor der Kon-frontation mit dem Kapital nicht am entscheidenden Punkt zurck-zuckt und die auf die Selbstaktivi-tt der Menschen setzt.JW: Du sagtest vorhin, da wrden nun viele Mythen gesponnen. In-wiefern denn das?PRINZ CHAOS: Nun, das betrifft ers-tens, wie schon gesagt, diese Be-hauptung, es habe keinen Plan B gegeben, nur weil Tsipras nichts davon wissen wollte. Dann diese ganzen Horrorszenarios, was bei einem Grexit passieren wrde. Diese apokalyptischen Prophezei-ungen wurden vor dem Referen-dum von der Oligarchenpresse in Griechenland verzapft. Und jetzt hat Tsipras PR-Abteilung diese Textbausteine bernommen und halb Europa plappert es nach. Da-bei sind das reine Spekulationen, konomische Horrorstories ohne jede empirische Grundlage.

    Im Gegenteil gibt es gute Grn-de anzunehmen, dass Griechenland bei einem selbstbestimmten Grexit und einer Rckeroberung des eige-nen Binnenmarkts besser dastnde als mit dieser absehbaren Katast-rophe des dritten Memorandums.

    Dazu htte man in einem ersten Schritt die Banken verstaatlichen mssen, um die Kontrolle ber den Kapitalverkehr zu sichern. Nach-dem der Staat bei den wichtigs-ten Banken ohnehin starke An-teile oder sogar die Mehrheit hlt und angesichts der griechischen Rechtslage wre das sogar durch einen einfachen Parlamentsbe-schluss mglich gewesen und ist es immer noch.JW: Das heit in Summe, die Re-gierung Tsipras hatte also zu-mindest eine lange Zeit ber durchaus andere Optionen als

    klein beizugeben, hat sie aber schlicht nicht vorbereitet, stark gemacht, ausgebaut und genutzt? Tat sie das absichtlich oder wie schtzt Du das ein?PRINZ CHAOS: Versteh mich nicht falsch. Alexis Tsipras ist durch und durch ein Gewchs der ra-dikalen Linken. Er ist im roten Stadtteil Exarchia aufgewachsen. Er war als Jugendlicher bei der Kommunistischen Jugendorgani-sation. Er hat in Genua 2001 im Trnengasnebel gestanden. Und er hat ein Leben lang daran gearbei-tet, die Linke in Griechenland auf-zubauen. Insofern ist er auch kein Feind, sondern eher vergleichbar mit einem Freund, der unter den Angriffen des Feindes blutend zu-sammengebrochen ist. Oder viel-leicht mit einem, der unter der Fol-ter gestanden und die Namen sei-ner Freunde preisgegeben hat.

    Der Bericht von Varoufakis ber die Zustnde in der Euro-gruppe ist ja sehr aufschlussreich. Wir sollten das wirklich an uns heranlassen, mit welcher diktato-rischen Struktur wir es da zu tun haben. Das ist Mafiastyle und es gibt kaum etwas, was ich ausschlie-en wrde, auch nicht persnliche Drohungen gegen Tsipras.

    Er hat also sozusagen vor lauter Verzweiflung Selbstmord began-gen, denn sein politisches Schick-sal ist besiegelt, sobald ihn die Oli-garchen der EU und Griechenlands nicht mehr bentigen. Dummer-weise ist der Preis fr Millionen Griechen am Ende noch wesent-lich hher.JW: Was geschieht denn nun ge-rade in Griechenland, nachdem eine radikal linke Regierung sich freiwillig einem Sozialabbau

    nie geahnten Ausmaes gefgt und untergeordnet hat? Meinst Du, Tsipras und Co. werden nun auch noch dem letzten, der noch einen hat, den Grtel wegneh-men, den er gar nicht mehr enger schnallen kann, und dann wo-mglich mit Polizei oder Militr gegen Erwerbsttige und Arme vorgehen? Was befrchtest Du?PRINZ CHAOS: Ein Aktivist aus Bangladesch, den wir in Athen ge-troffen haben, hat uns erzhlt, wie die streikenden Textilarbeiter dort, aber auch die starken Arbeiterbe-wegungen in Indien und China mit glhenden Herzen nach Grie-chenland schauen. In Bangladesch wissen die Leute nmlich schon, wie ein Land aussieht, wenn die Finanzterroristen fertig sind da-mit. Und Griechenland droht jetzt genau das.

    Am Tag nach unserer Abrei-se wurde die Mehrwertsteuer auf einen Schlag um 10 Prozent er-hht. Whrend wir sprechen, wird in Athen ein 900-Seiten-Papier durchs Parlament gejagt, das Kr-zungen in allen erdenklichen Be-reichen beinhaltet. Die Troika for-dert von Tsipras auerdem massive Eingriffe ins Streikrecht.

    Dass auf diesen konomischen und gesellschaftlichen Terrorma-nahmen nie dagewesener Ausmae nun der Stempel Syriza klebt, ist eine Katastrophe fr die grie-chische wie internationale Linke. Denn was da beschlossen wird, widerspricht allem, wofr Syriza gegrndet und aufgebaut wurde, allem, wofr das Volk Syriza ge-whlt hat. Diese Beschlsse treten das Parteiprogramm von Thessa-loniki und das Ergebnis des Refe-rendums in den Dreck.

    Es wird deshalb zweifellos Um-gruppierungsprozesse geben in Griechenland. Wie die aussehen, kann momentan niemand sagen. Eine Spaltung von Syriza wre tra-gisch. Aber man darf die Einheit der Partei auch nicht zum gttli-chen Gesetz erheben. Ich denke, innerhalb von Syriza kann sich nur eine Seite durchsetzen, die Kluft ist zu gro. Und die andere wird dann gehen mssen.

    Tsipras selbst geht in diesem Fraktionskampf brigens mit ma-ximaler Hrte vor und in Koor-dination mit der Oligarchenpresse, die Tsipras neuerdings feiert und die die Syriza-Linke wst diffa-miert. Dass Tsipras bereit ist, die Polizei oder auch die Kampftrup-pen DELTA, die Syriza eigentlich auflsen wollte, gegen die Gegner der neuen Austeritt einzusetzen, hat er bereits am Abend der Ab-stimmung ber das Memorandum bewiesen. Denn da hat er genau das bereits getan.JW: Und welche Optionen hat es Deiner Meinung nach denn nun das griechische Volk?PRINZ CHAOS: In Griechenland wurde in den letzten Jahren un-glaublich gekmpft. ber 30 Ge-neralstreiks, die Bewegung der Platzbesetzungen und so weiter. Da hat sich eine Fhrung an der Basis entwickelt, Leute, die ge-nau wissen, wie man einen Streik, eine Demo, eine Besetzung orga-nisiert. Und bei der gigantischen Jugendarbeitslosigkeit gibt es auch viele Jugendliche, die sehr viel Zeit haben, zu lesen und sich und andere zu organisieren.

    Aber es gibt auch das Elend, den krftezehrenden Kampf ums tgliche Dasein und ein riesiges Drogenproblem. Ich denke, die Handlanger der Finanzterroris-ten fluten das Land mit Absicht mit Unmengen an Drogen, um den Willen der Bevlkerung zu brechen. Das ist ein Klassiker und das kennen wir schon aus dem Kampf gegen die schwarze Br-gerrechtsbewegung in den USA, aus Sdafrika und anderen Ln-dern. Das ist jedenfalls das Ziel: die strkste Linke und die strks-te Arbeiter- und Jugendbewegung in Europa gnadenlos zu brechen.

    100.000 Menschen in Athen protestieren gegen das Spardiktat ihrer Regie-rung, 29 Mai 2011 (Foto: Kotsolis/CC BY-SA 3.0)

  • 4 Publiziert: 28.07.2015 (18:10), aktualisiert: 28.07.2015 /18:10) von Jens Wernicke auf le-Bohemien.net, Original: http://wck.me/9Dz

    INTERVIEW

    Es ist wie der Kampf Thatchers gegen die Bergarbeitergewerk-schaft National Union of Mine-workers in den 80er Jahren. Wenn Griechenland gefallen, ausgepln-dert und demoralisiert ist, geht es dem nchsten Land an den Kra-gen. Man muss dieses Muster klar erkennen.JW: Und was genau wrdest Du im Moment den Leuten in Griechen-land empfehlen, die nicht mehr bereit sind, noch mehr Elend zu ertragen?PRINZ CHAOS: Ich empfehle von hier aus den Griechen erst einmal gar nichts. Ich versuche, die Situ-ation zu analysieren und alles was ich bisher erzhlt habe, also vor al-lem die Kritik an Tsipras, wird von vielen Griechen mit sehr viel gr-erer Hrte formuliert, als ich das hier getan habe.

    Ansonsten mssen wir uns fra-gen, was wir selber zu tun haben in dieser Lage. Griechenland ist im Moment das entscheidende Schlachtfeld im weltweiten Krieg um Gerechtigkeit und Demokratie.

    Das kann speziell fr uns hier in Deutschland nur bedeuten, dass wir den griechischen Kampf zu unse-rem eigenen machen mssen. Dass wir Solidaritt organisieren ms-sen. Echte, praktische Solidaritt und nicht nur irgendwelche Likes auf Facebook.

    KenFM beispielsweise hat be-reits 100.000 Euro fr medizini-sche Nothilfe gesammelt. Und ich versuche, Solid und den SDS zu berzeugen, dass sie Geld sam-meln, um 100 Megaphone fr so-zialistische Jugendorganisationen zu kaufen, um damit die Stimme der rebellischen griechischen Ju-gend ganz praktisch zu verstrken. Ich rede auch mit Knstlern, dass wir fr nach Griechenland fah-

    ren, um dort fr die Leute auf der Strae zu spielen. Aber wir sollten auch noch mehr griechische Knst-ler und Aktivisten nach Deutsch-land holen. Denn das Niveau der Debatte dort kannst Du mit dem ewigen Mobbing in Deutschland nicht vergleichen. Wir knnen un-endlich viel von den griechischen Aktivisten lernen.

    Solidaritt bedeutet aber auch, der Griechenlandhetze der deut-schen Medien etwas entgegenzu-setzen und die Angriffe der Bun-desregierung auf Griechenland wtend zu bekmpfen. Wir sind es den Griechen schuldig, dass wir hier nicht bei einer lendenlahmen Pseudosolidaritt stehen bleiben. Ich finde, dass die LINKE das im Bundestag sehr ordentlich macht zur Zeit. Das ist gut und wichtig. Aber auch die LINKE sitzt in der strategischen Falle, wenn wir uns nicht endlich von den Illusionen verabschieden, die viele immer noch ber den Charakter der Eu-ropischen Union haben.JW: ... das meint?PRINZ CHAOS: Dass wir die Konse-quenzen ziehen mssen aus dem, was wir jetzt ber die EU erkannt haben. Schau, wo war denn eigent-lich das Europaparlament in die-ser ganzen griechischen Tragdie?

    Das wird alles innerhalb einer so-genannten Eurogruppe abgewi-ckelt, die keiner gewhlt hat und die es offiziell gar nicht gibt! Aber das Parlament hat whrenddessen immerhin in einer Nacht- und Ne-belaktion fr TTIP gestimmt. Und das nennen Sie dann soziales Eu-ropa oder gar Demokratie.

    Ich jedenfalls werde bei der nchsten Wahl zum Europapar-lament zum ersten Mal in mei-nem Leben ungltig whlen. Und wre ich Englnder, wrde ich beim kommenden Referendum auf je-den Fall gegen die EU-Mitglied-schaft stimmen, so wie das auch Tariq Ali, Owen Jones und andere jetzt fordern. Denn diese EU, das ist ein Vlkerknast. Und der Euro ist die konomische Peitsche, mit der man uns in die Zellen treibt.JW: Noch ein letztes Wort?PRINZ CHAOS: Ja. Als mich ein jun-ger Aktivist in Griechenland mit hoffnungsfrohen Augen ber un-sere Kmpfe in Deutschland aus-fragen wollte, musste ich heulen vor Scham. Denn die Wahrheit ist, dass die deutsche Linke mehrheit-lich berhaupt nicht mehr kmpft. Schon gar nicht fr Griechenland, wobei ich damit natrlich nicht je-den und alles meine. Aber ein re-levanter Teil von uns verliert sich

    in absurden, praxisfernen Schein-debatten, etwa darber, ob man fr Tsipras das Wort Verrter sagen darf oder nicht, so als ob das ir-gendwie eine Bedeutung htte. Das ist unfassbar kindisch und unernsthaft.

    Aber ich bemerke, dass sich eine gewisse Bewegung abzeich-net. Viele merken allmhlich, dass wir uns von einer labernden, zyni-schen Pseudolinken verabschieden mssen, wenn wir auf einen grnen Zweig kommen wollen. Deshalb sollten die, die an Vernderung von unten und an die Selbstorganisation der Menschen glauben, sich zusam-mentun und gemeinsam nach vor-ne gehen. Aktivisten beweisen sich in ihrer Praxis. Und Griechenland braucht dringend handfeste, prakti-sche Solidaritt. Und die deutsche Regierung braucht handfesten, ak-tiven Widerstand. Auch dringend.JW: Ich bedanke mich fr das Ge-sprch.

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    Im Interview:Prinz Chaos IIFlorian Ernst Kirner alias Prinz Chaos II. arbeitet als Ka-barettist, Lie-dermacher und Blogger. Er ist seit seiner frhen Jugend po-litisch aktiv, vor allem in den Bereichen Antifaschismus, Friedensbewegung und inter-nationale Solidaritt. 2013 verfasste er mit Konstantin Wecker den Aufruf zur Revol-te. Er lebt in Sdthringen, wo er auf Schloss Weitersro-da ein Kultur- und Gemein-schaftsprojekt entwickelt.

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