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Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit Diplomarbeit zur Erlangung des akademischen Grades eines Magisters der Rechtswissenschaften an der Johannes Kepler Universität Linz, Rechtswissenschaftliche Fakultät Betreuer: Vizerektor Univ. Prof. DDr. Herbert Kalb Eingereicht von Heinrich Schaur Kopalstraße 14/11 4070 Eferding Eferding im April 2015

Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

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Page 1: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

Diplomarbeit zur

Erlangung des akademischen Grades eines

Magisters der Rechtswissenschaften

an der

Johannes Kepler Universität Linz,

Rechtswissenschaftliche Fakultät

Betreuer: Vizerektor Univ. Prof. DDr. Herbert Kalb

Eingereicht von

Heinrich Schaur

Kopalstraße 14/11

4070 Eferding

Eferding im April 2015

Page 2: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

2

Eidesstattliche Erklärung

Ich erkläre an Eides stattt, dass ich die vorliegende Diplomarbeit selbstständig und

ohne fremde Hilfe verfasst, andere als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel nicht

benutzt und die – aus den angegebenen Quellen - wörtlich oder sinngemäß

entnommenen Textstellen als solche kenntlich gemacht habe.

Die vorliegende Diplomarbeit ist mit dem elektronisch übermittelten Textdokument

identisch.

Eferding im April 2015

Heinrich Schaur

Page 3: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

3

INHALTSVERZEICHNIS 01. Der Begriff des Rechts

1.1 Eine Kurzbiografie: Hans Kelsen (1881 – 1973) 005

1.2 Reine Rechtslehre 009

1.2.1 Die „Reinheit“ der „Reinen Rechtslehre“ 011

1.2.2 Natürliches Recht und Positives Recht 011

1.2.3 Definitionen des Begriffs „Recht“ 012

1.2.4 Der Akt, sein Sinn und die Norm 013

1.2.5 Grundnorm 018

1.2.6 Geltung 023

1.2.7 Der Stufenbau der Rechtsordnung 024

1.2.8 Arten von Rechtsnormen 026

1.2.9 Formelles und materielles Recht 027

1.2.10 Selbstständige und unselbstständige Rechtsnormen 028

1.2.11 Die Struktur der Rechtsnorm als Zwangsnorm 029

1.2.12 Recht und Un-Recht 031

1.2.13 Recht und Staat 033

1.2.14 Staat und Rechts-Staat 036

1.2.15 Die physische und juristische Person 036

1.2.16 Das subjektive Recht 038

1.2.17 Objektives Recht und subjektives Recht 038

1.2.18 Subjektives Recht und Rechtspflicht 039

1.2.19 Spielarten des subjektiven Rechts 041

1.2.19.1 Rechtlich negativ erlaubt 042

1.2.19.2 Rechtlich positiv erlaubt 042

1.2.19.3 Das subjektive Recht als bloßes Reflexrecht 043

1.2.19.4 Das rechtlich geschützte Interesse 044

1.2.19.5 Das subjektive Recht als Rechtsmacht 045

1.2.19.6 Das subjektive Recht als politisches Recht 047

1.2.20 Stellvertretung und Organschaft 050

1.2.21 Rechtsnorm und Rechtssatz 051

1.2.22 Kausalität und Zurechnung 054

1.2.23 Recht und Moral 055

Page 4: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

4

1.3 Wichtige Aufsätze über die „Reinen Rechtslehre“ 062

1.3.1 Rudolf Thinel, Wien:

„Recht und Staat aus der Sicht der Reinen Rechtslehre“ 062

1.3.2 Gabriele Kucsko-Stadelmayer, Wien:

„Rechtsnormbegriff und Arten der Rechtsnormen“ 066

1.3.3 Heinz Mayer, Wien:

„Die Theorie des rechtlichen Stufenbaus“ 071

1.4 Kritik der „Reinen Rechtslehre“ 074

1.4.1 Geltung und Wirksamkeit 074

1.4.2 Die Theorie der Grundnorm 077

1.4.3 Das Recht und sein Inhalt 080

1.4.4 Identität von Recht und Staat 082

1.4.5 Die Wissenschaft und ihr Gegenstand 084

02. Der Begriff der Gerechtigkeit 2.1 Hans Kelsen und die Gerechtigkeit 087

2.1.1 Die metaphysischen Gerechtigkeitsnormen 089

2.1.1.1 Die Gerechtigkeit nach Platon 089

2.1.1.2 Die Gerechtigkeit nach Jesus 090

2.1.2 Die rationalen Gerechtigkeitsnormen 091

2.1.2.1 Die Formel des „suum cuique“ (Jedem das Seine) 091

2.1.2.2 Die Goldene Regel 092

2.1.2.3 Der Kategorische Imperativ von Immanuel Kant 093

2.1.2.4 Tue das Gute, meide das Böse 096

2.1.2.5 Die Lehre der „Mesotes“ 097

2.1.2.6 Das Prinzip der Vergeltung 098

2.1.2.7 Jedem nach seiner Leistung 098

2.1.2.8 Jeder nach seinen Fähigkeiten 099

2.1.2.9 Das Prinzip der Freiheit 101

2.1.2.10 Das Prinzip der Gleichheit 102

2.2 Horst Dreier über Hans Kelsen und die Gerechtigkeit 104

2.3 Zusammenfassung 106

03. Literaturverzeichnis 108 04. Internetquellen und Internetadressen 111

Page 5: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

5

1 Der Begriff des Rechts 1.1 Eine Kurzbiografie: Hans Kelsen (1881-1973) Die Daten der nun folgenden Kurzbiografie sind der Homepage des „Hans Kelsen-Instituts“1 entnommen. Eine ausführliche Biografie kann an dieser Stelle nicht

geboten werden. Diesbezüglich sei auf die autobiografischen Texte Kelsens

„Selbstdarstellung“2 und „Autobiographie“3 sowie vor allem auf die umfassende

Biografie von Rudolf Aladár Métall mit dem Titel „Hans Kelsen, Leben und Werk“4

verwiesen.

Zur Entstehung des „Hans Kelsen-Instituts“:

Die österreichische Bundesregierung hat aus Anlass des 90. Geburtstages von Hans

Kelsen beschlossen, eine Stiftung zu errichten. Ihre Tätigkeit hat die Stiftung mit

dem Namen „Hans Kelsen-Institut“ am 30. Oktober 1972 aufgenommen. Der Stiftbrief

verlangt als Organe einen „Präsidenten“, ein „Kuratorium“, einen „Vorstand“ und

einen „Geschäftsführer“. „Präsident“ der Stiftung ist der amtierende Bundskanzler.

Aktuell somit (wir schreiben das Jahr 2015) „Werner Faymann“. Geschäftsführer ist

zur Zeit Thomas Olechowski, der im Übrigen auch – das sei nur zusätzlich

angemerkt - an einer neuen, umfassenden Biografie Kelsens arbeitet. Beispielhaft für

die vielfältigen Aktivitäten des Hans Kelsen-Instituts sei die Herausgabe einer

speziellen Schriftenreihe5 hervorgehoben. Band 01 der genannten Schriftenreihe ist

im Jahre 1974 erschienen. Auch soll die Kooperation mit der „Hans Kelsen Forschungsstelle“6 der Universität Freiburg unter der Leitung von Matthias Jestaedt

nicht unerwähnt bleiben. Jestaedt betreibt seit 2003 in enger Zusammenarbeit mit

dem Hans Kelsen-Institut das ehrgeizige Projekt einer historisch-kritischen Gesamtausgabe der Werke Hans Kelsens (Hans Kelsen Werke, HKW). 1 Vgl. <http://www.univie.ac.at/staatsrecht-kelsen> Datum des letzten Abrufs: 24. April 2015. 2 Kelsen, Selbstdarstellung (1927), in: Hans Kelsen, Werke, Band 01. Herausgegeben von Matthias Jestaedt in Kooperation mit dem Hans Kelsen-Institut (2007). 3 Kelsen„ Autobiographie (1947), in: Hans Kelsen, Werke, Band 01. Herausgegeben von Matthias Jestaedt in Kooperation mit dem Hans Kelsen-Institut (2007). 4 Vgl. Métall, Hans Kelsen, Leben und Werk (1969). 5 Vgl. <http://www.univie.ac.at/staatsrecht-kelsen/schriftenreihe.php> Datum des letzten Abrufs: 24. April 2015. In Bezug auf die „Reine Rechtslehre“ seien folgende Bände hervorgehoben: Stanley L. Paulson / Robert Walter (Hrsg.), Untersuchungen zur Reinen Rechtslehre, Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts Band 11 (1986); Walter (Hrsg.), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre, Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts Band 18 (1992). 6 Vgl. <http://www.hans-kelsen.org> Datum des letzten Abrufs: 24. April 2015

Page 6: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

6

Wichtige Stationen auf der sehr ereignisreichen, 92 Jahre währenden Lebensreise

von Hans Kelsen:7

1881: Hans Kelsen wird am 11. Oktober 1881 in Prag als Sohn einer

deutschsprachigen jüdischen Familie geboren. Vater

Adolf Kelsen stammt aus Brody in Galizien (liegt heute

in der Ukraine). Mutter Auguste Löwy stammt aus Neuhaus

in Böhmen (liegt heute in Tschechien).

1885: Umzug der Familie nach Wien.

1900: Matura am angesehenen Akademischen Gymnasium in Wien.

Nach der Matura beginnt Kelsen ein Jusstudium an der Wiener

Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät.

1906: Promotion zum Doktor iuris.

1911: Habilitation für Staatsrecht und Rechtsphilosophie an der Wiener

Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät.

Veröffentlichung des Werkes „Hauptprobleme der Staatsrechtslehre“.

1912: Ehe mit Margarete Bondi. Aus der ehelichen Verbindung gehen

zwei Töchter hervor.

1914 – 1918: Erster Weltkrieg: Kriegsdienst. Rechtsberater des Kriegsministers.

1918 – 1919: 1918 wird Kelsen Außerordentlicher, 1919 Ordentlicher

Professor für Staats- und Verwaltungsrecht in Wien. Im

Studienjahr 1920/21 wird er Dekan.

7 Zum beruflichen Werdegang von Hans Kelsen sei insbesondere auf folgende Schriften verwiesen: T. Olechowski / K. Staudigl-Ciechowicz, Allgemeines und österreichisches Staatsrecht, Verwaltungslehre und österreichisches Verwaltungsrecht, in: T. Olechowski / T. Ehs / K. Staudigl-Ciechowicz (Hrsg.), Die Wiener Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät 1918–1938 (2014) 465-521. T. Olechowski, Hans Kelsen und die Berufungen nach Graz, Czernowitz und Wien 1916-1919, in: Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs (BRGÖ 2014) 254-265.

Page 7: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

7

1918 – 1921: Parallel zu seinen Verpflichtungen an der Universität ist Kelsen

als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Staatskanzlei tätig.

(Ab 1920 trägt die bisherige „Staatskanzlei“ den

Namen „Bundeskanzleramt“.)

Die Hauptaufgabe von Kelsen besteht in der

Ausarbeitung einer Verfassung für die Republik Österreich.

Kelsen wird damit zum „Schöpfer“ des Bundes-Verfassungs-

Gesetzes von 1920 (B-VG 1920). Diese Verfassung ist in ihren

Grundbausteinen noch heute (2015) in Kraft!

1919 – 1930: Tätigkeit als Richter am Verfassungsgerichtshof.

1930: Kelsen verlässt Wien und Österreich (in Reaktion auf seine

Abberufung als Verfassungsrichter) und nimmt eine Berufung

an die Universität Köln an. Für das Studienjahr 1932/33 wird

er zum Dekan gewählt.

1933: Kelsen wird aus rassistischen Gründen als Dekan zum

Rücktritt gezwungen und als Professor beurlaubt.

Der Familie gelingt –mit viel Glück- die Flucht aus dem

nationalsozialistischen Deutschland. In der Folge nimmt

Kelsen eine befristete Lehrtätigkeit in Genf an.

1934: Erste Auflage des Werkes „Reine Rechtslehre“.

1936 – 1938: 1936 wird Kelsen an die Deutsche Universität Prag berufen.

1938 kehrt er jedoch –aufgrund der politischen Entwicklung-

nach Genf zurück.

1940: Emigration in die USA. Gemeinsam mit seiner Frau und

den beiden Töchtern.

Page 8: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

8

1940 – 1945: Kelsen arbeitet zunächst als „lecturer“ an der „Harvard Law School“ und am “Political Science Department”

der “University of California”. 1945 wird Kelsen zum

„full professor” ernannt. Gleichzeitig erlangt er die US-Staatsbürgerschaft.

1945: Das Werk „General Theory of Law an State“ erscheint.

1960: Zweite Auflage des Werkes „Reine Rechtslehre“.

1973: Kelsen stirbt am 19. April 1973 in Orinda, in der Nähe von

Berkeley, Kalifornien, USA. Seine Asche wird über dem

Pazifik verstreut. Auch die Asche seiner vorverstorbenen Frau

ist über dem Pazifik verstreut worden. Mit dieser Form der

Bestattung ist dem ausdrücklichen Wunsch des Ehepaares

Kelsen entsprochen worden.

1979: Das „Hans Kelsen-Institut“ veröffentlicht aus dem Nachlass

das -unvollendet gebliebene- Werk „Allgemeine Theorie der Normen“8.

1985: Das „Hans Kelsen-Institut“ veröffentlicht aus dem Nachlass

das Werk „Die Illusion der Gerechtigkeit“9.

Das wissenschaftliche Werk von Hans Kelsen –in der Kurzbiografie sind der

Übersichtlichkeit wegen nur 5 zentrale Werke genannt- umfasst 400 Titel.10 Darunter

Zeitungsartikel, Aufsätze, Vorträge und viele –mitunter sehr umfangreiche- Bücher.

Die „Hans Kelsen Forschungsstelle“ der Universität Freiburg spricht von „deutlich

mehr als 17.000 publizierten Seiten“.11 Der wissenschaftliche Nachlass soll sich –so

die Forschungsstelle- „nach ersten Schätzungen auf rund 58.000 Seiten belaufen“.12

8 Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen (1979). 9 Kelsen, Die Illusion der Gerechtigkeit (1985). 10 Vgl. <http://www.univie.ac.at/staatsrecht-kelsen/arbeiten.php> Datum des letzten Abrufs: 24. April 2015. 11 Vgl. <http://www.hans-kelsen.org/hkw_projekt.html> Datum des letzten Abrufs: 24. April 2015. 12 Vgl. <http://www.hans-kelsen.org/hkw_projekt.html> Datum des letzten Abrufs: 24. April 2015.

Page 9: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

9

Nicht wenige Arbeiten wurden in zahlreiche Sprachen –in insgesamt bislang 29-

übersetzt. Kelsen befasste sich mit verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen. So werden seine Schriften und Bücher den universitären Fächern

„Verfassungsrecht“, „Völkerrecht“, „Rechtstheorie“ („Allgemeine Rechtslehre“),

„Politische Theorie“ („Staatslehre“), „Soziologie“ und „Rechtsphilosophie“

(„Gerechtigkeitslehre“) zugeordnet.13 Der Einfluss der Lehre Kelsens war –und ist-

gewaltig. Kaum zu überschätzen. Und das weltweit. Seine Wirk- und Strahlkraft

erstreckt sich von Europa über die USA und –vor allem auch- über Südamerika bis

nach Japan, Korea, China und Australien.14 So lässt sich –zum Beispiel- die

weltweite Rezeption des Werkes „Reine Rechtslehre“ in der –oben angesprochenen-

Schriftenreihe des „Hans Kelsen-Instituts“ sehr gut nachvollziehen.15 Hans Kelsen ist

vor dem Hintergrund seiner Schaffenskraft und seiner Werke immer wieder als

„Jurist des Jahrhunderts“16 bezeichnet worden. Auch der Titel „größter

Rechtsphilosoph des Jahrhunderts“17 ist ihm verliehen worden.

1.2 Reine Rechtslehre

In dem rechtstheoretischen Werk mit dem Titel „Reine Rechtslehre“18 stellt Hans

Kelsen ein revolutionäres Gedankengebäude dar. Die Begriffe „Recht“, „Staat“, und

„Rechts-Staat“, werden einer umfassenden Analyse unterzogen. Der Begriff der

„Gerechtigkeit“ wird in einem Anhang zur „Reinen Rechtslehre“ mit dem Titel „Das

Problem der Gerechtigkeit“19 (und zudem in den Werken „Was ist Gerechtigkeit?“20

und „Die Illusion der Gerechtigkeit“21) behandelt.

Die „Reine Rechtslehre“ umfasst –ohne den Anhang „Das Problem der

Gerechtigkeit“- 354 Seiten und gliedert sich in 8 Hauptkapitel und insgesamt 47

Unterkapitel. Das Werk ist sehr komprimiert und präzise geschrieben. Es ist

bereits –wenn man so möchte- eine „Zusammenfassung“. Nicht eine einzige der

genannten Seiten ist überflüssig. Vor diesem Hintergrund wäre es nun abwegig, das 13 Vgl. <http://www.univie.ac.at/staatsrecht-kelsen/arbeiten.php> Datum des letzten Abrufs: 24. April 2015. 14 Vgl. <http://www.univie.ac.at/staatsrecht-kelsen/werk.php> Datum des letzten Abrufs: 24. April 2015. 15 Es sind die Bände 02, 08, 12, 22 und 33 der Schriftenreihe des „Hans Kelsen-Instituts“. 16 Vgl. Winkler/Antoniolli/ Raschauer (Hrsg.), in: Weinberger/Krawietz (Red.), Reine Rechtslehre im Spiegel ihrer Fortsetzer und Kritiker (1988) 1. 17 Vgl. Hoerster, Drei Standpunkte der Gerechtigkeitsbegründung, in: Siller/Keller (Hrsg.),Rechts-philosophische Kontroversen der Gegenwart (1999) 124. 18 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960). 19 Kelsen, Das Problem der Gerechtigkeit, in: Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960). 20 Kelsen, Was ist Gerechtigkeit? (1953). 21 Kelsen, Die Illusion der Gerechtigkeit (1985).

Page 10: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

10

Ziel zu verfolgen, das gesamte Werk und alle seine Inhalte darstellen zu wollen. Das

wäre weder sinnvoll noch möglich und würde jeden vernünftigen Rahmen sprengen.

Vielmehr kann es in der gegenständlichen (Diplom-)Arbeit nur darum gehen, das Gedankengebäude von Hans Kelsen – in einer ersten Annäherung - kurz

vorzustellen. Zentrale Gedanken und Begriffe sollen ausgewählt und in einer

möglichst einfachen, klaren und verständlichen Sprache dargestellt werden.

In methodischer Hinsicht ist anzumerken, dass auf den kommenden Seiten zunächst

ausschließlich Hans Kelsen und seine Rechtstheorie zu Wort kommen werden. In der

Folge sollen ausgewählte Aufsätze über die „Reine Rechtslehre“ vorgestellt werden.

Eine Kritik – und damit eine Darstellung eigener Gedanken über die „Reine

Rechtslehre“ - wird in einem gesonderten Kapitel erfolgen. Es wird keine

Vermischung der Gedanken von Hans Kelsen mit anderen Gedanken geben.

In Bezug auf die Organisation des Textes ist zu sagen, dass die 8 Hauptkapitel und 47 Unterkapitel der „Reinen Rechtslehre“ nicht direkt übernommen werden. Die

zahlreichen Unterkapitel würden sich wegen deren Detailgenauigkeit für eine

Kurzdarstellung ohnehin nicht eignen. Aber auch die 8 Hauptkapitel können eine

Kurzdarstellung nicht sinnvoll organisieren. Ziel ist, eine gut lesbare und auf Kelsen

neugierig machende Systematisierung und Logik zu finden. Dennoch sollen an

dieser Stelle – gewissermaßen als Einstimmung auf die Gedankenwelt von Hans

Kelsen - die Titel der 8 Hauptkapitel angeführt werden:

Hans Kelsen gliedert die „Reine Rechtslehre“ in folgende 8 Hauptkapitel:

01) Recht und Natur

02) Recht und Moral

03) Recht und Wissenschaft

04) Rechtsstatik

05) Rechtsdynamik

06) Recht und Staat

07) Staat und Völkerrecht

08) Die Interpretation

Page 11: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

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1.2.1 Die „Reinheit“ der „Reinen Rechtslehre“ Der erste Satz im Werk von Hans Kelsen heißt: „Die Reine Rechtslehre ist eine

Theorie des positiven Rechts; des positiven Rechts schlechthin, nicht einer

speziellen Rechtsordnung“22. Unter dem Begriff des „positiven Rechts“ ist das vom

Menschen –durch Gewohnheit oder Gesetzgebung- geschaffene und in diesem

Sinne „gesetzte Recht“ zu verstehen (lat. ponere = setzen, positum = gesetzt). Die

„Reine Rechtslehre“ will das „positive Recht an sich“ –und nicht eine konkret

vorliegende Rechtsordnung eines bestimmen Landes- erkennen und beschreiben.

Gegenstand der Erkenntnis ist nicht –zum Beispiel- die österreichische oder

deutsche Rechtsordnung. Gegenstand der Erkenntnis ist „das positive Recht an sich“. Das positive Recht „schlechthin“23. Die „Reine Rechtslehre“ will die Frage

beantworten, „was und wie das Recht ist“24. Diese – und nur diese - Frage will sie

beantworten. Gegenstand der Erkenntnis ist – ausschließlich - das Recht. Das

„positive Recht“. Alles andere wird aus dem exakt abgegrenzten und bewusst beschränkten Erkenntnisgegenstand ausgeschieden. Die „Reine Rechtslehre“ will

die Rechtswissenschaft von allen ihr fremden Elementen befreien.25

1.2.2 Natürliches Recht und positives Recht Hans Kelsen bekennt sich an mehreren Stellen in seinem Werk zum sogenannten

„Rechtspositivismus“.26 Die „Reine Rechtslehre“ versteht er als eine

„positivistische Rechtstheorie“.27 Wichtig ist ihm dabei vor allem, sich von jeder Form

einer „Naturrechtslehre“28 abzugrenzen.29 Die Annahme natürlicher, dem

Menschen angeborener Rechte, die jeder positiven Rechtsordnung vorausgehen,

wird –mit Nachdruck- abgelehnt. Ausschließlich das vom Menschen geschaffene und

damit „gesetzte Recht“ wird als Recht anerkannt.30 Nur dieses „gesetzte“, dieses

„positive Recht“ wird als Gegenstand der rechtswissenschaftlichen Erkenntnis 22 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 1. 23 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 1. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 24 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 1. 25 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 1. 26 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 80, 112, 118, 134, 208, 209, 215, 223 ff., 226, 320, 329. Zu den verschiedenen Arten des Rechtspositivismus vgl. Detlef Horster, Rechtsphilosophie (2002) 55 ff. 27 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 224. 28 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 80, 118, 134, 208, 224ff., 226, 320. 29 Zum Thema „Naturrecht versus Rechtspositivismus“ vgl. Dietmar von der Pfordten, Rechtsethik (2011) 107-230. 30 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 134f.

Page 12: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

12

definiert. Die Konsequenzen der „positivistischen Selbstbeschränkung“ sind

weitreichend. Beispielhaft sei an dieser Stelle nur genannt, dass das vom Menschen

gesetzte, „positive Recht“ jeden beliebigen Inhalt haben kann.31 Oder dass die

Suche nach dem sogenannten „Geltungsgrund“32 des Rechts nicht in einen Bereich

führt und führen kann, der außerhalb des Rechts liegt. Vielmehr wird der Grund der

Geltung des Rechts in der Annahme einer „Grundnorm“33 gefunden. Als eine

„positivistische Theorie“ lehnt es die „Reine Rechtslehre“ vehement ab, den

Geltungsgrund des Rechts in Gott, in der Natur oder in der menschlichen Vernunft zu

suchen und zu finden. In diesem Sinne positioniert sie sich selbst als Widerlegung und Entlarvung jeder Form einer „Naturrechtslehre“.34 Die „Reine Rechtslehre“

bezieht sich nicht auf Normen, die von übermenschlichen, transzendenten Instanzen

ausgehen. Sie schließt jede metaphysische (und damit übernatürliche, jede mögliche

Erfahrung überschreitende) Spekulation aus (gr. metá = danach, hinter, jenseits; gr.

phýsis = Natur). Für die „Reine Rechtslehre“ kommen nur Normen in Betracht, die

durch menschliche Akte gesetzt sind.35

1.2.3 Definitionen des Begriffs „Recht“

„Denn das Recht, das den Gegenstand dieser Erkenntnis bildet, ist eine normative

Ordnung menschlichen Verhaltens, und das heißt, ein System von menschliches

Verhalten regelnden Normen.“36

„Denn wenn wir die Objekte, die bei den verschiedensten Völkern und zu den

verschiedensten Zeiten als Recht bezeichnet werden, miteinander vergleichen, so

ergibt sich zunächst, dass sie alle sich als Ordnungen menschlichen Verhaltens

darstellen.“37

„Daher ist eine Definition des Rechtes, die dieses nicht als Zwangsordnung

bestimmt, abzulehnen.“38

31 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 201. 32 Zum Begriff der „Geltung“ siehe unten. 33 Zum Begriff der „Grundnorm“ siehe unten. 34 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 224f. 35 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 82. 36 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 4. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 37 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 32. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 38 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 55. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.)

Page 13: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

13

„Daher kann jeder beliebige Inhalt Recht sein. Es gibt kein menschliches

Verhalten, das als solches, kraft seines Gehalts, ausgeschlossen wäre, Inhalt einer

Rechtsnorm zu sein.“39

Die ausgewählten Zitate ergeben folgendes Bild: Das Recht ist ein „System von

Normen“, die das menschliche Verhalten regeln. Es besteht nicht bloß aus einer

einzigen Norm, sondern aus sehr vielen Normen. Die zahlreichen Normen des

Rechts, die sogenannten „Rechtsnormen“, stellen kein sinnloses Chaos dar.

Vielmehr stehen alle Rechtsnormen in einem ganz bestimmten Zusammenhang. Sie

bilden eine Ordnung. Und diese Ordnung der Normen wird mit dem Begriff der

„Rechtsordnung“ oder, wie Kelsen auch sagt, „Zwangsordnung“40 beschrieben.

Wobei die Normen, aus denen die Rechtsordnung besteht, vor dem Hintergrund der

Ablehnung einer „Naturrechtslehre“ jeden beliebigen Inhalt haben können. Das Recht wird – bewusst - ohne Bezugnahme auf einen bestimmten Inhalt definiert. Es kann daher – zum Beispiel - auch ein „ungerechtes Recht“ geben. Sehr

wohl aber wird das „Zwangsmoment“ in den Rechtsbegriff aufgenommen.

1.2.4 Der Akt, sein Sinn und die Norm

Wenn das Recht oder die Rechtsordnung als ein „System von Normen“ definiert wird,

so ist zunächst und vor allem der zentrale Begriff der „Norm“ einer Klärung

zuzuführen. Mehrere Gesichtspunkte sind in diesem Zusammenhang von

Bedeutung. Noch vor der Frage nach der Normentstehung ist in einem ersten

gedanklichen Schritt von einer bereits vorhandenen Norm auszugehen. Diese

Vorgehensweise ermöglicht, sich Schritt für Schritt dem Wesen und der Funktion des

intellektuell nur schwer zu fassenden „Phänomens der Norm“ anzunähern: Eine Norm ist nicht Teil der Natur. Sie besitzt keine Seinswirklichkeit. Keine

Naturwirklichkeit. So gesehen ist der Begriff der „Rechtswirklichkeit“ irreführend.41

Das Recht – und damit auch die Norm - darf mit dem Begriff der Wirklichkeit – der

Seinswirklichkeit oder der Naturwirklichkeit - nicht gleichgesetzt oder verwechselt

werden. Die Norm bezieht sich zwar auf die Wirklichkeit. Sie kommt – letztlich - aus

der Wirklichkeit. Und wirkt auch auf diese Wirklichkeit – aus der sie kommt - zurück.

39 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 201. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 40 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 34ff. 41 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 111ff.

Page 14: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

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Sie ist aber nicht Teil derselben. Sie ist kein Teil der Wirklichkeit. Eine Norm und mit ihr das Recht gibt es somit – wenn man so möchte - „gar nicht wirklich“. Eine

Norm ist etwas Geistiges. Und ihr Wesen ist ein „Sollen“. Die Trennung zwischen „Sein“ und „Sollen“ ist eine tragende Säule im Gedankengebäude von Hans

Kelsen.42 Aber dazu später mehr. An dieser Stelle soll zunächst die Funktion der

Norm beleuchtet werden:

„Die Norm fungiert als Deutungsschema.“43 Damit ist gemeint: Eine Norm ist eine

gedankliche Kategorie – eine geistige Brille, wenn man so möchte - mit der die

Wirklichkeit gedeutet wird. Eine Norm verleiht der Wirklichkeit eine bestimmte -

rechtliche - Bedeutung. Ein reales, in Raum und Zeit ablaufendes, sinnlich

wahrnehmbares Geschehen – ein Stück Natur, ein Sein - „ist nicht Gegenstand

spezifisch juristischer Erkenntnis und sohin überhaupt nichts Rechtliches“44.

Zwischen bestimmten Akten, die in der äußeren Wirklichkeit gesetzt werden, und der

Frage, ob diesen Akten eine rechtliche Bedeutung zukommt oder nicht, muss immer

klar unterschieden werden. Der Akt an sich, der in der Wirklichkeit gesetzt wird, ist kein rechtliches Phänomen. Er ist und bleibt Natur. Ein Vorgang in der Welt des

Seins. Wenn ihm eine rechtliche Bedeutung zukommen sollte, dann nur, weil er „im Lichte einer Norm“ rechtlich – normativ - gedeutet wird. Weil eine bestimmte

Norm diesem „Akt der Wirklichkeit“ eine bestimmte rechtliche Bedeutung verleiht.

Und diese rechtliche Bedeutung verleiht ihm eine Norm dann, wenn sie sich mit

ihrem Inhalt auf ihn bezieht. Folgende Beispiele45 sollen diesen Gedanken

veranschaulichen: Wenn in einem Saal Menschen zusammenkommen, Reden halten

und ihre Hände heben, dann kann dieser äußere Vorgang rechtlich bedeuten, dass

ein Gesetz beschlossen wird. Diese rechtliche Bedeutung ist aber keinesfalls

zwingend. Sie hängt von der Frage ab, ob es eine Norm gibt, die sich mit ihrem Inhalt

auf den genannten äußeren Vorgang bezieht. Gibt es eine solche Norm, dann

verleiht sie dem genannten äußeren Vorgang – und damit einem sinnlich

wahrnehmbaren Geschehen, einem Sein, einem Stück Natur - eine rechtliche Bedeutung. Wenn ein Kaufmann einem anderen Menschen einen Brief mit einem

bestimmten Inhalt schreibt und in der Folge dieser andere Mensch mit einem

42 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 5ff., 16, 19, 102, 196, 215ff. 43 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 3. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 44 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 3. 45 Vgl Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 3ff.

Page 15: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

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Gegenbrief antwortet, der exakt denselben Inhalt hat, dann kann dieser äußere Vorgang rechtlich bedeuten, dass ein Vertrag abgeschlossen wird. Die rechtliche

Bedeutung eines Vertragsabschlusses kommt dem genannten äußeren Vorgang

aber nur dann zu, wenn sie ihm von einer Norm verliehen wird. Und diese rechtliche Bedeutung wird ihm dann – und nur dann - verliehen, wenn es eine entsprechende

Norm gibt, die sich mit ihrem Inhalt auf ihn bezieht. Wenn ein Mensch getötet wird, so

hat dieser – furchtbare - äußere Vorgang dann eine rechtliche Bedeutung, wenn

es Normen gibt, die sich auf diesen äußeren Vorgang beziehen. Die Tötung eines

Menschen kann ein Ereignis des Zufalls und damit, wie man sagt, „ein Unfall“ sein. In

diesem Fall gibt es – vielleicht - in einer Rechtsordnung keine Norm, die dieser

zufälligen Tötung eines Menschen eine rechtliche Bedeutung verleihen würde. Die

Tötung eines Menschen kann aber auch bewusst und absichtlich herbeigeführt

werden. In diesem Fall gibt es – sehr wahrscheinlich - in einer Rechtsordnung

Normen, die sich mit ihrem Inhalt auf das genannte äußere Ereignis beziehen. Es

kann eine Norm geben, die den genannten äußeren Vorgang der absichtlichen

Tötung eines Menschen als „Mord“ deutet. Es kann aber auch eine Norm geben, die

exakt denselben äußeren Vorgang nicht als Mord, sondern als „Exekution eines

Todesurteils“ deutet. Der äußere Vorgang, der als sinnlich wahrnehmbares

Geschehen – als ein „Sein“, als ein „Stück Natur “- immer ein und derselbe bleibt,

erhält seine rechtliche Qualität und Bedeutung erst durch einen Denkprozess: Die

Wirklichkeit wird mit dem Recht konfrontiert. Sie wird „mit den Augen des Rechts“

gedeutet. Der Jurist setzt sich „die geistige Brille des Rechts“ auf und betrachtet die Wirklichkeit „durch die Normen hindurch“, die er als objektiv gültig voraussetzt. Das Ergebnis dieses Denkprozesses und geistigen

Deutungsvorgangs ist, dass bestimmten Vorgängen in der Wirklichkeit diese,

anderen Vorgängen jene und wieder anderen Vorgängen in der Wirklichkeit

überhaupt keine rechtliche Bedeutung verliehen wird. Vorgänge in der Wirklichkeit

„haben“ keine rechtliche Bedeutung. Es wird ihnen nur – immer wieder - eine solche

verliehen. Es gibt somit – zum Beispiel - keinen „Mord an sich“. Es gibt nur den

äußeren Vorgang der absichtlichen Tötung eines Menschen. Und dieser Vorgang

wird – als sinnlich wahrnehmbares Geschehen - als Mord gedeutet. Den „Mord“ gibt

es somit – wenn man so möchte - „gar nicht wirklich“. Er ist nur das Ergebnis einer –

normativen - Deutung. Exakt derselbe Vorgang kann – im Lichte einer anderen Norm

- als Exekution eines Todesurteils gedeutet werden. Oder er kann sogar, wenn man

Page 16: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

16

zum Beispiel an die Tötung eines Sklaven in einer Sklavenhaltergesellschaft denkt,

rechtlich überhaupt nicht gedeutet werden.46

Die Funktion der Norm besteht in der Deutung äußerer Vorgänge in der

Wirklichkeit. Mit ihrer Hilfe wird das reale Geschehen - das „Sein “- gedeutet. „Die

Norm fungiert als Deutungsschema.“47 Damit ist jedoch noch nichts über das

„Wesen der Norm“ oder die „Normerzeugung“ ausgesagt. Kelsen versteht – sehr

vereinfacht gesagt - unter „Norm“ ein „Sollen“. Und unter einem „Sollen“ den „Sinn eines Willensaktes“. Er versteht daher unter „Norm“ den „Sinn eines Willensaktes“.

Und zwar einen ganz bestimmten Sinn eines ganz bestimmten Willensaktes: Kelsen

versteht unter „Norm“ den objektiven Sinn eines Willensaktes, der intentional

(bewusst, gezielt, zweckgerichtet) auf das Verhalten anderer gerichtet ist. Seine – ein

wenig kompliziert klingenden - Definitionen lauten:

„Mit Norm bezeichnet man: dass etwas sein oder geschehen soll. Das ist der Sinn,

den gewisse Akte haben, die intentional auf das Verhalten anderer gerichtet sind.“48

„Norm ist der Sinn des Aktes, mit dem ein Verhalten geboten oder erlaubt,

insbesondere ermächtigt wird. Dabei ist zu beachten, dass die Norm als der

spezifische Sinn eines intentional auf das Verhalten anderer gerichteten Aktes etwas

anderes ist als der Willensakt, dessen Sinn sie ist.“49

„Dann ist das Sollen, als objektives Sollen, eine geltende, den Adressaten bindende

Norm.“50

Aus einem „Sein“ kann ein „Sollen“ nicht abgeleitet werden. Diese Erkenntnis

ist für Kelsen fundamental. Mit der Aussage, dass etwas „ist“ – zum Beispiel, dass

der Baum im Garten schön ist - wird ein „Sein“ beschrieben. Mit der Aussage, dass

etwas „sein soll“ – zum Beispiel, dass sich ein anderer Mensch in bestimmter Weise

verhalten soll - wird ein „Sollen“ beschrieben. Sagt ein Mensch – zum Beispiel ein

Straßenräuber - zu einem anderen Menschen, dass er ihm sein Geld geben soll,

46 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 3f. 47 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 3. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H.S.) 48 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 4. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H.S.) 49 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 5. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H.S.) 50 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 7. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H.S.)

Page 17: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

17

befiehlt er ihm etwas. Der subjektive Sinn der Aussage des Straßenräubers ist ein

Befehl. Ein Gebieten. Und dieser Befehl - dieses Gebieten - wird seinem Sinn nach

ein „Sollen“ genannt. Nur beiläufig sei erwähnt, dass der Begriff des „juristischen

Sollens“ besonders weit ist und nicht bloß ein „Befehlen“ oder „Gebieten“, sondern

auch ein „Ermächtigen“ und ein „positives Erlauben“ bedeuten kann.

Entscheidend jedoch ist, dass unter einem „Sollen“ der Sinn eines Willensaktes zu

verstehen ist. Und zwar der Sinn eines Willensaktes, der intentional (bewusst,

gezielt, zweckgerichtet) auf das Verhalten eines anderen Menschen gerichtet ist. Der

Sinn oder die Bedeutung eines ganz bestimmten Willensaktes. Das ist ein „Sollen“.

Für das Verständnis der Rechtstheorie von Hans Kelsen ist es unerlässlich,

gedanklich eine scharfe Trennlinie zu ziehen zwischen einem bestimmten Akt -

einem bestimmten Willensakt - und dem Sinn dieses Aktes: In unserem Beispiel

stellt der Befehl des Straßenräubers den Willensakt dar, um dessen Deutung und

Sinnermittlung es geht: Der subjektive Sinn der Aussage des Straßenräubers ist ein

Befehl und damit ein „Sollen“. Aber ist damit der Befehl des Straßenräubers auch

eine Norm? Antwort: nein! Und zwar deswegen nicht, weil der bloß subjektive Sinn

eines (ganz bestimmten, oben definierten) Willensaktes – das bloß „subjektive

Sollen“ - nicht ausreicht, um von einer Norm sprechen zu können. Nur wenn ein

(ganz bestimmter) Willensakt nicht bloß subjektiv, sondern auch objektiv den Sinn eines „Sollens“ hat, nur wenn neben einem bloß „subjektiven Sollen“ auch ein

„objektives Sollen“ vorliegt, wird und kann von einer Norm gesprochen werden. Die

Definition der Norm lautet daher: Unter „Norm“ ist der objektive Sinn eines Willensaktes zu verstehen, der intentional (bewusst, gezielt, zweckgerichtet) auf

das Verhalten eines anderen Menschen gerichtet ist. Die entscheidende Frage, die

sich vor dem Hintergrund der genannten Definition der Norm aufdrängt, ist jedoch:

Auf welch eine geheimnisvolle Weise verwandelt sich ein zunächst bloß „subjektives

Sollen“, ein zunächst bloß subjektiver Sinn eines Willensaktes, in ein „objektives

Sollen“, in einen objektiven Sinn eines Willensaktes und damit in eine „Norm“? Die

Antwort lautet: Ein Willensakt, dessen subjektiver Sinn ein Sollen ist (was zum

Beispiel beim Befehl eines Straßenräubers der Fall ist), kann nur dann auch in objektiver Hinsicht ein Sollen und damit eine Norm sein, wenn diesem Willensakt

die Bedeutung einer Norm durch eine – andere - Norm verliehen wird (was zum

Beispiel beim Befehl eines Straßenräubers nicht der Fall ist): Nur eine Norm kann

Page 18: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

18

einem Willensakt die Bedeutung einer Norm verleihen! Was – konsequent zu

Ende gedacht - bedeutet, dass die Entstehung einer Norm immer eine bereits

existierende – andere - Norm voraussetzt. Ein Umstand, der schließlich – da es ein

unendliches gedankliches Weiterschreiten von Voraussetzung zu Voraussetzung

nicht geben kann - zur Annahme der sogenannten „Grundnorm“51 führt.52

1.2.5 Grundnorm

Kelsen definiert den für seine Rechtstheorie zentralen Begriff der „Grundnorm“ auf

mehrfache Weise: An mehreren Stellen der „Reinen Rechtslehre“ finden sich sowohl

positive als auch negative Definitionen des Begriffs der „Grundnorm“:

Positive Definitionen des Begriffs der Grundnorm:

„Schließlich ist zu bemerken, dass eine Norm nicht nur den Sinn eines Willensaktes,

sondern – als Sinngehalt - auch der Inhalt eines Denkaktes sein kann. Eine Norm

kann nicht nur gewollt, sie kann auch bloß gedacht sein, ohne gewollt zu sein. Dann

ist sie“ (die Grundnorm)53 „keine gesetzte, keine positive Norm. Das heißt: eine

Norm muss nicht gesetzt, sie kann bloß im Denken vorausgesetzt sein.“54

„Sofern nur durch die Voraussetzung der Grundnorm ermöglicht wird, den

subjektiven Sinn des verfassunggebenden Tatbestandes und der der Verfassung

gemäß gesetzten Tatbestände als deren objektiven Sinn, das heißt: als objektiv

gültige Rechtsnormen zu deuten, kann die Grundnorm in ihrer Darstellung durch die

Rechtswissenschaft – wenn ein Begriff der Kant´schen Erkenntnistheorie per

analogiam verwendet werden darf - als die transzendental-logische Bedingung

dieser Deutung bezeichnet werden.“55

51 Zum Begriff der Grundnorm siehe unten. 52 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 3ff. 53 Anmerkung des Verfassers, H. S. 54 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 9. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 55 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 204f. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.)

Page 19: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

19

„Die erkenntnistheoretische Antwort der Reinen Rechtslehre lautet: unter der

Bedingung, dass man die Grundnorm voraussetzt: man soll sich so verhalten, wie

die Verfassung vorschreibt.“56

„In diesem Sinne ist die Grundnorm die Einsetzung des Grundtatbestandes der

Rechtserzeugung und kann in diesem Sinne als Verfassung im rechtslogischen

Sinne zum Unterschied von der Verfassung im positiv-rechtlichen Sinne bezeichnet

werden.“57

Negative Definitionen des Begriffs der Grundnorm:

„Die Grundnorm ist nicht in einer positiven Rechtsordnung enthalten, denn sie ist

nicht eine positive, das heißt: gesetzte, sondern eine im juristischen Denken

vorausgesetzte Norm.“58

„Die Grundnorm schreibt dem positiven Recht ebenso wenig einen bestimmten

Inhalt vor, wie die transzendental-logischen Bedingungen der Erfahrung dieser

Erfahrung einen Inhalt vorschreiben.“59

„Die Grundnorm liefert nur den Geltungsgrund, nicht aber auch den Inhalt der

dieses System bildenden Normen.“60

„In der Voraussetzung der Grundnorm wird kein dem positiven Recht

transzendenter Wert bejaht.“61

Mit der Einführung der Grundnorm lassen sich zwei fundamentale Fragen

beantworten: Warum gilt eine Norm überhaupt? Was ist ihr Geltungsgrund?

Antwort: Der unmittelbare Geltungsgrund einer bestimmten Norm ist immer eine

andere – höhere - Norm. Aber der mittelbare, der über viele einzelne Normen

vermittelte und damit letzte und höchste Geltungsgrund einer bestimmten Norm ist

56 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 205. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 57 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 202. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 58 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 201. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 59 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 208. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 60 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 199f. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 61 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 204. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.)

Page 20: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

20

die „Grundnorm“.62 Doch nicht nur die Frage nach dem Geltungsgrund wird mit der

Einführung der Grundnorm beantwortet. Sie, die Grundnorm, liefert auch eine

Antwort auf die Frage: „Was begründet die Einheit einer Vielheit von Normen,

warum gehört eine bestimmte Norm zu einer bestimmten Ordnung?“63 Die Antwort

lautet: Alle Normen, die ihren Geltungsgrund aus ein und derselben Grundnorm

ableiten, bilden ein System von Normen. Aus diesem Grund – und nur aus diesem

Grund - gehören sie zu einer bestimmten Ordnung. Zu einer bestimmten

Rechtsordnung. Oder zu einer bestimmten Moralordnung. Bestimmte Normen bilden ein System und gehören zu einer bestimmten Ordnung, weil sie ihren

gemeinsamen Geltungsgrund aus der – gemeinsamen - Grundnorm ableiten.64

Eine bestimmte Grundnorm bezieht sich auf eine bestimmte, konkrete

Rechtsordnung. Sie bezieht sich auf eine tatsächlich vorhandene, „reale“ und damit

auf eine „gesetzte Rechtsordnung“. Dennoch ist sie selbst nicht gesetzt. Die

Grundnorm ist nicht Teil einer positiven Rechtsordnung. Vielmehr wird sie

vorausgesetzt. Im Denken vorausgesetzt. Sie ist eine – wie Kelsen in Anlehnung an

Kant schreibt - „transzendental-logische Voraussetzung“65. Die Grundnorm ist

eine Denkvoraussetzung, um bestimmte Phänomene als Recht deuten zu können.

Sie ist als eine erkenntnistheoretische Antwort zu begreifen. Insbesondere stellt sie

keinen Maßstab für die Beurteilung einer positiven Rechtsordnung dar. Auch soll

sie nicht einer ethisch-politischen Rechtfertigung des Rechts dienen.66 Kelsen

schreibt: „So wie Kant fragt: wie ist eine von aller Metaphysik freie Deutung der

unseren Sinnen gegebenen Tatsachen in den von der Naturwissenschaft

formulierten Naturgesetzen möglich, so fragt die Reine Rechtslehre: wie ist eine nicht

auf meta-rechtliche Autoritäten wie Gott oder Natur zurückgreifende Deutung des

subjektiven Sinns gewisser Tatbestände als ein System in Rechtssätzen

beschreibbarer objektiv gültiger Rechtsnormen möglich? Die erkenntnistheoretische

Antwort der Reinen Rechtslehre lautet: unter der Bedingung, dass man die

Grundnorm voraussetzt: man soll sich so verhalten, wie die Verfassung

vorschreibt, das heißt: wie es dem subjektiven Sinn des verfassungsgebenden

62 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 197. 63 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 196. 64 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 197. 65 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 204. 66 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 226.

Page 21: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

21

Willensaktes, den Vorschriften des Verfassungsgebers, entspricht.“67 Der Inhalt der

Grundnorm, die keine wirkliche, reale Norm, sondern eine bloße Denkvoraussetzung

ist und die Kelsen an anderer Stelle auch als „Verfassung im rechtslogischen Sinn“68

bezeichnet, lautet: Man soll sich so verhalten, wie die Verfassung – nun ist die

gesetzte Verfassung, die Verfassung im positiv-rechtlichen Sinn gemeint -

vorschreibt. Wichtig ist zu erkennen, dass in der – bloß im Denken vorgenommenen

- Voraussetzung der Grundnorm „kein dem positiven Recht transzendenter Wert

bejaht“69 wird. „Transzendental“ (die Grundnorm ist eine transzendental-logische

Denkvoraussetzung) darf in diesem Zusammenhang nicht mit „transzendent“

verwechselt werden: „Transzendent“ (lat. transcendere = hinübergehen) beschreibt

eine übersinnliche, übernatürliche, jenseits der Grenze der Erfahrung liegende

Welt.70 Aber genau in dieser „jenseitigen Welt“ ist die Grundnorm nicht zu Hause. Die

Grundnorm – auch wenn sie als bloße Denkvoraussetzung nicht Teil einer positiven

Rechtsordnung sein kann - ist durchaus unserer Welt der Erfahrung „immanent“.

Kelsen beschreibt die Grundnorm als eine „transzendental-logische Denkvoraussetzung“ in Anlehnung an Kant und dessen – wie sie genannt wird -

„Transzendentalphilosophie“: Kant meint in seiner Philosophie mit dem Ausdruck

„transzendental“ die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung und Erkenntnis.71 Die Grundnorm liefert nur – und das ist sehr wichtig - die Geltung

einer bestimmten Rechtsordnung. Aus ihr kann ein bestimmter Inhalt nicht abgeleitet

werden. Kelsen schreibt: „Daher kann jeder beliebige Inhalt Recht sein. Es gibt

kein menschliches Verhalten, das als solches, kraft seines Gehalts, ausgeschlossen

wäre, Inhalt einer Rechtsnorm zu sein.“72

Die Grundnorm ist eine Voraussetzung im Denken, die man vornehmen „muss“.

Genauer: Man muss die Grundnorm – so Kelsen - gedanklich voraussetzen, wenn es

möglich sein soll, den Sinn bestimmter äußerer Vorgänge, insbesondere den Sinn

bestimmter Willensakte, nicht nur in subjektiver Hinsicht – zum Beispiel - als Befehl

und damit als ein subjektives Sollen, sondern vor allem auch in objektiver Hinsicht als

67 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 205. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 68 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 202. 69 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 204. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 70 Vgl. Reiner Ruffing, Einführung in die Geschichte der Philosophie (2007) 173 ff. 71 Vgl. Reiner Ruffing, Einführung in die Geschichte der Philosophie (2007) 173 ff. 72 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 201. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.)

Page 22: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

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ein „objektiv verbindliches Sollen“ und damit als „Norm“ zu deuten.73 Als Norm zu

„erkennen“. Ohne die Voraussetzung der Grundnorm kann eine Deutung als „ein objektiv verbindliches Sollen“ – und damit als „Norm“ - nicht vorgenommen werden. Und gibt es keine Normen, kann es auch kein System von

Normen und damit keine Rechtsordnung geben. Ohne die Voraussetzung der Grundnorm ist die Erkenntnis von zusammengehörenden und ein System

darstellenden Rechtsnormen und damit die Erkenntnis einer – positiven -

Rechtsordnung nicht möglich. Wird die Grundnorm nicht vorausgesetzt, können

bestimmte Vorgänge zwischen Menschen nur – zum Beispiel - als

Machtbeziehungen und damit bloß „soziologisch“ und nicht juristisch gedeutet werden.74 So gesehen „muss“ man die Grundnorm nicht voraussetzen. Niemand

kann und soll zu einer bestimmten Deutung gezwungen werden. Die Voraussetzung der Grundnorm ist aber dann zwingend erforderlich, man „muss“ sie also sehr wohl voraussetzen, wenn es möglich sein soll, den Sinn bestimmter Phänomene

zwischen Menschen als Rechtsnormen und diese Rechtsnormen als ein System und

damit als Rechtsordnung zu deuten. Anders gewendet: Will ich das Recht und seine

Ordnung, will ich eine positive Rechtsordnung beschreiben und erkennen, muss ich die Grundnorm – als gedankliche Annahme - voraussetzen. Ohne die

Voraussetzung der Grundnorm ist – so Kelsen - eine Erkenntnis des Rechts und der

Rechtsordnung logisch nicht möglich. Die Grundnorm leistet – ausschließlich -

einen erkenntnistheoretischen Dienst.75 Sie liefert nur den letzten Geltungsgrund. Sie

fungiert nicht als Maßstab. Sie dient nicht der Rechtfertigung oder der Kritik. Sie

besitzt keinen bestimmten Inhalt. Im Gegensatz zu einer „Naturrechtslehre“76 sagt

die Grundnorm in ihrer Rolle als „Verfassung im rechtslogischen Sinne“77 nur, dass

man sich so verhalten soll, wie es die – künftige, positiv gesetzte, historisch erste -

Verfassung vorschreibt.78

73 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 6f. 74 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 224. 75 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 226. 76 Zum Begriff des „Naturrechts“ siehe oben. 77 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 229. 78 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 205.

Page 23: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

23

1.2.6 Geltung „Daraus, dass etwas ist, kann nicht folgen, dass etwas sein soll; sowie daraus, dass

etwas sein soll, nicht folgen kann, dass etwas ist.“79 Aus einem Sein kann ein Sollen

nicht abgeleitet werden. Nur aus einem Sollen kann ein Sollen abgeleitet werden. Eine Norm „gilt“, wenn sie ihr Sollen und damit ihre Geltung aus einer anderen –

„höheren“80 - Norm ableiten kann. Der Grund, warum eine Norm gilt, der sogenannte

„Geltungsgrund“, liegt in einer anderen – höheren - Norm. „Aber die Suche nach

dem Geltungsgrund einer Norm kann nicht, wie die Suche nach der Ursache einer

Wirkung, ins Endlose gehen. Sie muss bei einer Norm enden, die als letzte, höchste

vorausgesetzt wird.“81 Und diese letzte, höchste Norm, die vorausgesetzt wird,

bezeichnet Kelsen in seiner Rechtstheorie als „Grundnorm“:

„Mit dem Worte Geltung bezeichnen wir die spezifische Existenz einer Norm.“82 Da

eine Norm ein Sollen darstellt, kann ihre Existenzweise nicht mit dem Begriff des

Seins zum Ausdruck gebracht werden. Nur eine natürliche Tatsache kann „sein“.

Nicht eine Norm. Diese kann – da sie ein Sollen und kein Sein zum Inhalt hat - nur

gelten (oder nicht gelten). Aber niemals sein. Wenn gesagt wird, dass eine

bestimmte Norm „gilt“, so bedeutet dies, dass diese Norm – auf ihre spezifische

Weise - existiert. Der Begriff der „Geltung“ muss von dem Begriff der

„Wirksamkeit“ unterschieden werden: Eine wirksame Norm ist eine Norm, die in der

gesellschaftlichen Wirklichkeit auch tatsächlich angewendet und befolgt wird. Damit

zielt die Frage, ob eine bestimmte Norm wirksam ist, auf das tatsächliche, äußere

Sein. Und nicht auf ein Sollen und daher auch nicht auf das Recht, da dieses ein

System von Sollnormen darstellt. Der Begriff der „Wirksamkeit“ beschreibt die

„Seinstatsache“83 der tatsächlichen Anwendung und Befolgung von Normen. Die

Aussage, dass eine Norm gilt, beschreibt ein völlig anderes Phänomen als die

Aussage, dass eine Norm wirksam ist. Gilt eine Norm, so existiert sie. Als Norm. Sie existiert auf ihre spezifische Weise. Ist eine Norm wirksam, so wird sie

tatsächlich angewendet und befolgt. Sie wird – wie später noch zu zeigen sein wird -

zwangsweise durchgesetzt. Oder sie wird freiwillig befolgt. Doch darf aus dem

79 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 196. 80 Zum Stufenbau der Rechtsordnung siehe unten. 81 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 197. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 82 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 9. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 83 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 10.

Page 24: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

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Umstand, dass die Begriffe der „Geltung“ und der „Wirksamkeit“ sehr verschiedene

Phänomene beschreiben und aus diesem Grunde auch streng voneinander zu

unterscheiden sind, nicht der Schluss gezogen werden, „Geltung“ und „Wirksamkeit“

hätten nichts miteinander zu tun. Vielmehr gibt es einen Zusammenhang zwischen

den beiden wichtigen Begriffen:84 „Eine Rechtsnorm wird als objektiv gültig nur

angesehen, wenn das menschliche Verhalten, das sie regelt, ihr tatsächlich,

wenigstens bis zu einem gewissen Grade, entspricht.“85 „Ein Minimum an

sogenannter Wirksamkeit ist eine Bedingung ihrer Geltung.“86

1.2.7 Der Stufenbau der Rechtsordnung

Das Recht – die Rechtsordnung - besteht aus einem System von Rechtsnormen.

Zwischen den verschiedenen Rechtsnormschichten herrscht das Verhältnis einer

Über- und Unterordnung. Die Rechtsnormen stehen nicht gleichrangig – auf einer

Stufe - nebeneinander. Vielmehr steht auf der obersten Stufe einer positiven

Rechtsordnung die „Verfassung“. Zwar würde die Grundnorm auf einer noch

höheren Stufe und damit „über der Verfassung“ stehen, doch ist dies insofern nicht

der Fall, als die Grundnorm als bloße – erkenntnistheoretischen Zwecken dienende

- Denkvoraussetzung keine „reale Norm“ ist und damit nicht Teil einer positiven

Rechtsordnung sein kann.

Der Begriff „Verfassung“ beschreibt eine Summe von Rechtsnormen, die – in

positivrechtlicher Hinsicht - auf der höchsten Stufe stehen. Die

verfassungsrechtlichen Normen zeichnen sich durch eine besondere Qualität aus.

Mit Blick auf ihren (besonderen) Inhalt wird von „Verfassung im materiellen Sinn“,

mit Blick auf die Form ihrer (erschwerten) Erzeugung von „Verfassung im formellen Sinn“ gesprochen.

Auf der nächsten Stufe im Stufenbau der Rechtsordnung steht das „Gesetz“. Im

Vergleich zur Verfassung kann das „einfache Gesetz“ unter erleichterten

Bedingungen beschlossen, aufgehoben oder abgeändert werden. Auf welch eine

Weise das Gesetz zu beschließen ist, bestimmt die Verfassung. Sie regelt das

Gesetzgebungsverfahren. Auch kann sie – und macht das auch regelmäßig - dem

84 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 10. 85 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 10. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 86 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 10. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.)

Page 25: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

25

Gesetz in inhaltlicher Hinsicht Vorgaben machen. Als Beispiele für solche inhaltlichen

Vorgaben seien die sehr bedeutenden Grund- und Freiheitsrechte genannt. Das

Gesetz leitet seine Geltung aus der Verfassung ab. Oder anders gewendet: Die

Verfassung ist der unmittelbare Geltungsgrund des Gesetzes. Das gilt aber nur für

den Fall, dass das Gesetz den Rahmen nicht verlässt, der ihr durch die Verfassung –

sowohl in Bezug auf das Gesetzgebungsverfahren als auch in Bezug auf den

Gesetzesinhalt - vorgegeben ist. Verlässt das Gesetz diesen Rahmen, ist es

verfassungswidrig.

Auf einer weiteren Stufe finden wir die „Verordnung“. Für das Verhältnis zwischen

Gesetz und Verordnung gilt grundsätzlich das, was für das Verhältnis zwischen

Verfassung und Gesetz gilt: Die Verordnung darf den Rahmen nicht verlassen, der

ihr durch das Gesetz – sowohl in Bezug auf das Verfahren als auch in Bezug auf den

Inhalt - vorgegeben ist. Verlässt die Verordnung diesen Rahmen, ist sie gesetzwidrig.

Verfassung, Gesetz und Verordnung beschreiben „generelle Rechtsnormen“.

Damit ist gemeint, dass sich diese Rechtsnormen – aufgrund ihrer Allgemeinheit - an

viele mögliche Adressaten richten. Sie bedürfen noch der Konkretisierung durch

„individuelle Rechtsnormen“, die wir auf einer weiteren Stufe im Stufenbau der

Rechtsordnung finden.

„Individuelle Rechtsnormen“ beziehen sich bereits auf ganz bestimmte

Rechtssubjekte. Zu nennen sind – aus dem Bereich der Rechtsprechung - das

„Gerichtsurteil“ und – aus dem Bereich der Verwaltung - der „Verwaltungsakt“,

insbesondere der „Bescheid“.

Auf der untersten und letzten Stufe schließlich steht die individuelle Rechtsnorm der

„Anordnung der (Zwangs-)Vollstreckung“.87 Die (Zwangs-)Vollstreckung selbst

ist keine – neue - Norm mehr. Sie ist zwar ein Rechtsakt, aber kein

Rechtserzeugungsakt. Sie wendet eine Norm an, ohne selbst eine – neue, niedrigere

- Norm zu erzeugen.88

Ein Rechtsakt ist – grundsätzlich - immer zugleich ein Akt der Rechtserzeugung

und ein Akt der Rechtsanwendung: „Eine Norm, die die Erzeugung einer anderen

Norm bestimmt, wird in der von ihr bestimmten Erzeugung der anderen Norm 87 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 228 ff. 88 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960 240.

Page 26: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

26

angewendet.“89 Von der Regel, dass ein rechtserzeugender Akt immer zugleich auch

ein rechtsanwendender Akt ist, gibt es zwei Ausnahmen oder „Grenzfälle“90:

Der Rechtsprozess spielt sich ab zwischen der Voraussetzung der Grundnorm

(=höchste Stufe) einerseits und der Vollstreckung des Zwangsaktes (=niedrigste

Stufe) andererseits. Die Grundnorm bestimmt die Erzeugung der Verfassung, ohne dabei selbst – und das macht sie zu einem „Grenzfall“ - die Anwendung einer

höheren Norm zu sein. Die Vollstreckung des Zwangsaktes stellt die Anwendung

einer bestimmten individuellen Norm dar (und zwar jener individuellen Norm, die den

Zwangsakt anordnet), ohne selbst die Erzeugung einer Norm zu sein.

Von diesen zwei „Grenzfällen“ abgesehen (Voraussetzung der Grundnorm,

Vollstreckung des Zwangsaktes) stellt jeder Rechtsakt zugleich einen Akt der

Rechtserzeugung und einen Akt der Rechtsanwendung dar. In Abgrenzung von

der „Traditionellen Theorie“91 legt Kelsen großen Wert auf die Erkenntnis, dass

Rechtserzeugung und Rechtsanwendung keine gegensätzlichen Begriffe sind. Jeder

Rechtsakt ist die Anwendung einer höheren Norm und zugleich die – durch die

angewendete höhere Norm bestimmte - Erzeugung einer niedrigeren Norm. So

erfolgt die Erzeugung der generellen Normen durch die Gesetzgebung in

Anwendung der – aus höheren Normen bestehenden - Verfassung. Und die

Erzeugung der individuellen Normen durch die Gerichte und die

Verwaltungsbehörden erfolgt in Anwendung der – aus höheren und generellen

Normen bestehen - Gesetze.92

1.2.8 Arten von Rechtsnormen

Eine positive Rechtsordnung besteht aus sehr vielen Rechtsnormen. Diese

Rechtsnormen stehen nicht beziehungslos nebeneinander. Vielmehr hängen sie

direkt oder indirekt miteinander zusammen. Sie beziehen sich aufeinander. Die

Rechtsnormen einer Rechtsordnung bilden ein System. Die Rechtsordnung ist eine

Ordnung. Kein Chaos. Es gibt bedingende und bedingte Normen. Wie oben gezeigt,

ist ein Stufenbau verschiedener Schichten von Rechtsnormen erkennbar. Um

eine Rechtsordnung erkennen und beschreiben zu können, ist es sehr hilfreich und

89 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 240. 90 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 240. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 91 Unter dem Begriff der „Traditionelle Theorie“ versteht Kelsen alle rechtstheoretischen Bemühungen „vor seiner Zeit“. 92 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 240.

Page 27: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

27

letztlich unerlässlich, bestimmte Rechtsnormen zu Gruppen zusammenzufassen

und Kategorisierungen vorzunehmen. Wobei alle Rechtsnormen ausschließlich – und

zwar unabhängig davon, in welch einer Gruppe sie sich wiederfinden -

Rechtsnormen sind und Rechtsnormen bleiben. Es sind letztlich bloß - mehr oder

weniger zweckmäßige - Gesichtspunkte, unter denen bestimmte Rechtsnormen zu

Gruppen zusammengefasst und bestimmte Rechtsnormkategorien gebildet werden.

Wobei sich die auf diese Weise gebildeten Gruppen und Kategorien auf die

vielfältigste Weise überschneiden können. Nur Gruppen und Kategorien, die auf ein

und demselben Gesichtspunkt beruhen, schließen einander aus. Unter dem

Gesichtspunkt der Über- und Unterordnung ergibt sich der bereits erörterte

„Stufenbau der Rechtsordnung“. Es werden – zum Beispiel - „Verfassungsnormen“

von „einfachen Gesetzesnormen“ unterschieden. Oder einfache Gesetzesnormen

von „Verordnungsnormen“. Unter dem Gesichtspunkt des Adressatenkreises und

somit der Frage, an wen sich bestimmte Rechtsnormen richten, ergibt sich die

Unterscheidung zwischen „generellen“ und „individuellen Rechtsnormen“. Es wird –

zum Beispiel - den generellen Gesetzesnormen das „individuelle Gerichtsurteil“ oder

der „individuelle Verwaltungsakt“ gegenübergestellt.93

1.2.9 Formelles und Materielles Recht

Von besonderer Bedeutung und für die Erkenntnis des Rechts sehr hilfreich ist die

Unterscheidung zwischen dem „materiellen“ und dem „formellen Recht“: Vereinfacht

könnte man sagen: Das „materielle Recht“ kümmert sich um das „Was“. Um den Inhalt. Das „formelle Recht“ um das „Wer“ und das „Wie“. Um die Organisation und das Verfahren.94 Bloß materielles Recht anzuwenden wäre nicht möglich. Wird

materielles Recht angewendet, wird – logisch zwingend - gleichzeitig auch formelles

Recht angewendet. „Materielles Recht und formelles Recht sind untrennbar

miteinander verbunden. Nur in ihrer organischen Verbindung bilden sie das seine

eigene Erzeugung und Anwendung regelende Recht.“95 Es muss immer klar sein,

„wer“ das materielle Recht „wie“ anzuwenden hat. Klar ist dies nur dann, wenn die

Rechtsordnung nicht nur das materielle Recht festgelegt, sondern gleichzeitig auch

bestimmt hat, „wer“ – welch ein Organ - dieses materielle Recht „wie“ – nach welch

93 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 228 ff. 94 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 236 f. 95 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 237. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.)

Page 28: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

28

einem Verfahren - anzuwenden hat. Kelsen schreibt: „Diese rechtsanwendenden

Organe müssen von der Rechtsordnung bestimmt werden, das heißt: es muss

bestimmt werden, unter welchen Bedingungen ein bestimmter Mensch als Gericht

oder Verwaltungsbehörde fungiert. Es muss aber auch das Verfahren bestimmt

werden, in dem seine Funktion, das ist die Anwendung genereller Normen,

auszuüben ist.“96

1.2.10 Selbstständige und unselbstständige Rechtsnormen

Kelsen unterscheidet in seiner Rechtstheorie zwischen selbstständigen und

unselbstständigen Rechtsnormen. Eine „selbstständige Rechtsnorm“ ist eine

Rechtsnorm, die einen Zwangsakt statuiert. Das kann eine generelle oder auch

eine individuelle Rechtsnorm sein. Fehlt die Statuierung eines Zwangsaktes, wird

von einer „unselbstständigen Rechtsnorm“ gesprochen. Eine „selbstständige

Rechtsnorm“ lässt sich mit dem Rechtssatz97 beschreiben, dass unter bestimmten Bedingungen ein bestimmter Zwangsakt gesetzt werden soll. So bestimmt –

zum Beispiel - die selbstständige Rechtsnorm des § 127 StGB (Diebstahl)98, dass

unter bestimmten Bedingungen gegen den Dieb eine bestimmte Strafe verhängt

(=ein bestimmter Zwangsakt gesetzt) werden soll. Selbstständige Rechtsnormen

werden von Kelsen auch – wegen des Zwangsaktes, den sie statuieren - als

Zwangsnormen bezeichnet. Und die Rechtsordnung als Ganzes wird – unter

anderem - als „Zwangsordnung“99 definiert.

Zu beachten ist, dass nicht alle und letztlich sogar die Mehrzahl der Normen keine

Zwangsnormen und damit keine selbstständigen Rechtsnormen sind. Die – auf den

ersten Blick überraschende - Definition der Rechtsordnung als Zwangsordnung findet

ihre Erklärung darin, dass alle Normen, die selbst keine Zwangsakte statuieren (und

daher unselbstständige Rechtsnormen sind), nur in Verbindung mit einer selbstständigen Rechtsnorm Sinn machen. Eine selbstständige Rechtsnorm

besteht aus einer Bedingung und einem Zwangsakt (der bei Erfüllung der Bedingung

96 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 236. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 97 Zum Begriff des „Rechtssatzes“ siehe unten. 98 § 127 StGB lautet: „Wer eine fremde bewegliche Sache einem anderen mit dem Vorsatz wegnimmt, sich oder einen Dritten durch deren Zueignung unrechtmäßig zu bereichern, ist mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder mit Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen zu bestrafen.“ 99 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 34 ff., 39, 45ff., 52 ff., 59, 64 f., 114 ff., 150, 244.

Page 29: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

29

gesetzt werden soll). Eine unselbstständige Rechtsnorm (der die Statuierung eines

Zwangsaktes fehlt) ist nun dahingehend zu verstehen, dass sie – letztlich - nur einen

„legistischen Baustein“ darstellt und mit einer selbstständigen Rechtsnorm eine

Einheit bildet. Unselbstständige Rechtsnormen können als „bloße Bedingungen“

verstanden werden: Soll ein bestimmter Zwangsakt gesetzt werden, so müssen

zunächst die Bedingungen erfüllt sein, die in einer bestimmten selbstständigen

Rechtsnorm angeführt sind. Daneben müssen aber auch all jene Bedingungen erfüllt

sein, die sich in den zahlreichen unselbstständigen Rechtsnormen finden. Vor

diesem gedanklichen Hintergrund stellen nicht nur „derogierende Normen“100,

„überflüssige Verdoppelungen“ (derselbe Gedanke wird in einer Norm positiv und in

einer anderen negativ formuliert), „Begriffsdefinitionen“ (=Legaldefinitionen) und

„authentische Interpretationen“ unselbstständige Rechtsnormen dar, sondern vor

allem auch alle „Ermächtigungsnormen“ und alle „Erlaubnisnormen“ und damit fast

alle Verfassungsnormen, das Organisationsrecht und das Verfahrensrecht.101

1.2.11 Die Struktur der Rechtsnorm als Zwangsnorm

Von Besonderheiten wie den „unselbstständigen Rechtsnormen“102 abgesehen lässt

sich sagen: Eine Rechtsnorm ist eine Zwangsnorm. Dies bedeutet: Unter einer

bestimmten Bedingung soll ein bestimmter Zwangsakt gesetzt werden. Genauer:

Unter einer von der Rechtsordnung bestimmten Bedingung soll ein von der

Rechtsordnung bestimmter Zwangsakt gesetzt werden. Eine Rechtsnorm als

Zwangsnorm lässt sich daher unterteilen in eine Bedingung und in den Zwangsakt, der bei Erfüllung der Bedingung als Reaktion gesetzt werden soll. Folgende

Begriffspaare haben sich in diesem Zusammenhang herausgebildet, wobei jedoch zu

beachten ist, dass Umfang und Inhalt der einzelnen Begriffe voneinander abweichen:

Bedingung und Folge. Tatbestand und Rechtsfolge. Unrecht und Unrechtsfolge. Delikt und Sanktion.

100 Eine „derogierende Norm“ hebt die Geltung einer anderen Norm völlig auf. 101 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 55 ff. 102 Zum Begriff der „unselbstständigen Rechtsnorm“ siehe oben.

Page 30: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

30

Um begriffliche Verwirrungen zu vermeiden, müssen – noch vor einer genauen

Begriffsbestimmung - Oberbegriffe und deren Untergliederungen voneinander

unterschieden werden: Die beiden Begriffspaare „Tatbestand und Rechtsfolge“ und

„Bedingung und Zwangsakt“ können als – grundsätzlich gleichberechtigte -

Oberbegriffe festgelegt werden. Dem Begriffspaar „Bedingung und Zwangsakt“ ist

aber der Vorzug zu geben, weil mit diesen beiden Begriffen die Struktur der

Rechtsnorm als Zwangsnorm deutlich zum Ausdruck gebracht wird. Der Begriff des

„Unrechts“ (und auch der gleichbedeutende Begriff des „Delikts“) ist eine

Untergliederung des Begriffs der „Bedingung“. Der Begriff der „Unrechtsfolge“ (und

auch der gleichbedeutende Begriff der „Sanktion“) ist eine Untergliederung des

Begriffs des „Zwangsaktes“.103

„Zwangsakte sind Akte, die auch gegen den Willen der davon Betroffenen und, im

Falle von Widerstand, unter Anwendung von physischer Gewalt zu vollstrecken

sind.“104 Es gibt zwei Arten von Zwangsakten: Zwangsakte, die als allgemeine

Zwangsakte keine Sanktionen sind. Und Zwangsakte, die als besondere Zwangsakte „Sanktionen“ sind. Der Begriff der Sanktion wird seinerseits unterteilt

in „Strafe“ und „Exekution“. Besteht der Zwangsakt – zum Beispiel - in der

zwangsweisen Internierung von Individuen, die mit einer gemeingefährlichen

Krankheit behaftet sind, so besitzt dieser Zwangsakt nicht den Charakter einer

Sanktion. Entscheidend für die begriffliche Unterscheidung ist, dass der Zwangsakt in

diesem Fall nicht gegen ein bestimmtes Verhalten gerichtet ist. Besteht hingegen

der Zwangsakt in einer Strafe (Geldstrafe, Freiheitsstrafe) oder in einer

Zwangsvollstreckung in ein Vermögen (=Exekution), so wird dieser Zwangsakt als

„Sanktion“ bezeichnet. Mit dem „Begriff der Sanktion“ soll zum Ausdruck gebracht

werden, dass der Zwangsakt der Strafe oder der Exekution eine bestimmte Reaktion auf ein bestimmtes Verhalten darstellt.105

In rechtstechnischer Hinsicht erfüllt die „Sanktion“ eine sehr wichtige Funktion: Das

von der Rechtsordnung angestrebte Verhalten der Menschen (zum Beispiel das

Verhalten, keinen Diebstahl und keinen Mord zu begehen), wird nicht wie in den

„Zehn Geboten“ unmittelbar und direkt angeordnet, sondern indirekt: Die (moderne)

103 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 114 ff. 104 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 114. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 105 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 114 ff.

Page 31: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

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Rechtsordnung gebietet oder verbietet ein bestimmtes Verhalten, indem sie an das gegenteilige Verhalten eine Sanktion knüpft. Die (moderne) Rechtsordnung will

das angestrebte Verhalten der Menschen indirekt – auf umgekehrtem Wege,

sozusagen - herbeiführen. Sie sagt nicht: Du sollst nicht stehlen. Du sollst nicht töten.

Sondern sie sagt: Wenn Du einen Diebstahl oder einen Mord begehst, dann soll ein

bestimmter Zwangsakt gegen dich gesetzt werden.106

1.2.12 Recht und Un-Recht

„Wie alles, so kann auch das Un-Recht juristisch nur als Recht begriffen

werden.“107

„Die Kette des Rechts fesselt auch den das Recht brechenden Menschen.“108

Der Begriff des „Unrechts“, der exakt dasselbe meint wie die Begriffe „Delikt“ oder

„verbotenes Verhalten“, ist irreführend: Der genannte Begriff bringt – und nichts

anderes gilt für die Begriffe „Rechts-Widrigkeit“, „Rechts-Bruch“ und „Rechts-

Verletzung“ - eine „Negation des Rechts“ zum Ausdruck.109 Das Un-Recht oder das,

was damit bezeichnet wird (das Delikt, das verbotene Verhalten), ist aber nicht

„etwas, das außerhalb des Rechts und gegen dieses steht“110, etwas, „das die

Existenz des Rechts bedroht, unterbricht oder gar aufhebt.“111 Das „Un-Recht“, das

ein Verhalten beschreibt, bei dessen Vorliegen ein bestimmter Zwangsakt gesetzt

werden soll, ist eine Bedingung des Rechts. Nicht seine Negation. Ein bestimmtes

Verhalten wird als „Unrecht“ oder als „Delikt“ bezeichnet, weil es mit einem

bestimmten Zwangsakt verknüpft ist. Und nicht umgekehrt, wie die „Traditionelle

Theorie“112 annimmt. Es ist ein Denkfehler zu sagen, dass ein bestimmtes Verhalten

deswegen mit einem Zwangsakt (mit einer Unrechtsfolge) verknüpft wird, weil es ein

Unrecht ist. Vielmehr wird ein bestimmtes Verhalten – von der Rechtsordnung, auf

indirekte Weise - deswegen zu einem „Unrecht“ erklärt, weil es mit einem

106 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 56. 107 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 119. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 108 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 119. 109 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 118. 110 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 118. 111 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 118. 112 Kelsen versteht unter dem Begriff der „Traditionelle Theorie“ alle rechtstheoretischen Bemühungen „vor seiner Zeit“.

Page 32: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

32

Zwangsakt (einer Unrechtsfolge) verknüpft ist. Der Gedanke, dass ein

bestimmtes Verhalten „an sich“ ein Unrecht darstellt (und das deswegen, weil es ein

Unrecht darstellt, mit einer Unrechtsfolge verknüpft werden muss), beruht auf „naturrechtlicher Anschauung“113. Der genannte – naturrechtliche - Gedanke setzt

voraus, „dass die Qualität des Unrechts, der negative Wert, gewissen Tatbeständen

immanent ist und Bestrafung seitens des positiven Rechts fordert“114.

Ein bestimmtes Verhalten ist aber nicht „an sich“ ein Unrecht, sondern es ist dann –

und nur dann - als ein Unrecht anzusehen, wenn es mit einem Zwangsakt verknüpft

ist. Es ist die – durch die positive Rechtsordnung vorgenommene - Verknüpfung mit einem Zwangsakt, die ein bestimmtes Verhalten – auf indirekte Weise - zu einem

„Un-Recht“ erklärt. Der Begriff des „Unrechts“ beschreibt daher – nicht anders als der

Begriff des „Delikts“ - jenes verbotene Verhalten, das, wenn es gesetzt wird, einen

Zwangsakt auslösen soll. Das „Un-Recht“ ist – so wie der gleichbedeutende Begriff

des „Delikts“ - eine Bedingung des Rechts. Es ist daher – wenn der Gedanke

konsequent zu Ende gedacht wird - auch „Recht“. Das „Un-Recht“ ist –auch- Recht. Es ist ein bestimmter Teil des Rechts. Das „Un-Recht“ ist der

„Bedingungsteil“. Es ist nicht etwas, das außerhalb des Rechts oder gegen dieses

steht. So gesehen kann es ein „Un-Recht“ oder eine „Rechts-Widrigkeit“ –

verstanden als Negation des Rechts - gar nicht geben.115

Kelsen schreibt unter Bezugnahme auf die Theologie und das Problem der

sogenannten „Theodizee“116:

„Da alles, was ist, von Gott gewollt begriffen werden muss, entsteht die Frage: wie

kann das Böse als von dem guten Gott gewollt begriffen werden? Die Antwort einer

konsequent monotheistischen Theologie ist: Indem das Böse als eine notwendige

Bedingung zur Verwirklichung des Guten gedeutet wird.“117

113 Zur Abgrenzung des Rechtspositivismus von jeder Form einer „Naturrechtslehre“ siehe oben. 114 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 118. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 115 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 116 ff. 116 Zum philosophischen Problem der sogenannten „Theodizee“ vgl. insbesondere Felix Heidenreich, Theorien der Gerechtigkeit (2011) 41 ff. 117 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 119. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.)

Page 33: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

33

1.2.13 Recht und Staat

„Der Staat ist eine relativ zentralisierte Rechtsordnung.“118

„Das Staatsvolk ist der personale Geltungsbereich der staatlichen

Rechtsordnung.“119

„Das sogenannte Staatsgebiet kann nur als der räumliche Geltungsbereich einer

staatlichen Rechtsordnung definiert werden.“120

„Die sogenannte Staatsgewalt ist die Geltung einer effektiven staatlichen

Rechtsordnung.“121

„Der Staat ist eine Rechtsordnung.“ Es gibt eine „Identität von Staat und Recht“122. Kaum eine Erkenntnis von Hans Kelsen ist wirkungsmächtiger. Der Staat

hat keine Rechtsordnung. Er ist eine Rechtsordnung. Er ist die Rechtsordnung

selbst. Der Staat und seine Rechtsordnung sind ein und dasselbe. Das bedeutet

aber nicht, dass auch jede Rechtsordnung ein Staat wäre. Nur eine Rechtsordnung,

die arbeitsteilig funktioniert und über zentrale Organe verfügt, ist ein Staat.

„Weder die vorstaatliche Rechtsordnung der primitiven Gesellschaft noch die über-

(oder zwischen-) staatliche Völkerrechtsordnung stellen einen Staat dar.“123

Der traditionelle „Dualismus von Staat und Recht“124 – den die „Reine Rechtslehre“

auflösen will - „leistet eine ideologische Funktion von außerordentlicher, gar nicht zu

überschätzender Bedeutung125. Der Staat wird als eine vom Recht verschiedene

„Person“ gedacht. Man stellt sich ein „meta-rechtliches Wesen“126 vor. Einen

„machtvollen Makroanthropos“127, der bereits vor dem Recht existiert und als etwas

Wesensverschiedenes von diesem unabhängig ist. „Der Staat muss als eine vom

118 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 289. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 119 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 291. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 120 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 291. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 121 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 292. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 122 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 289. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 123 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 289. 124 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 288. 125 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 288. 126 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 288. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 127 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 288.

Page 34: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

34

Recht verschiedene Person vorgestellt werden, damit das Recht den – dieses Recht

erzeugenden und sich ihm unterwerfenden - Staat rechtfertigen könne.“128 Die

„Traditionelle Theorie“129 versucht den Staat zu legitimieren und zu rechtfertigen,

indem sie ihn zum „Rechtsstaat“130 erklärt. Sie spricht in diesem Zusammenhang von

einer sogenannten – von Kelsen abgelehnten - „Selbstverpflichtung des Staates“:

Der Staat wird zunächst als eine soziale Realität gedacht, die bereits vor dem Recht – und damit unabhängig vom Recht - existiert. In der Folge erzeugt er das

Recht, um sich in weiterer Folge diesem von ihm selbst erzeugten (positiven) Recht –

freiwillig - zu unterwerfen. „Ein Vorgang, in dem ein dem Recht in seiner Existenz

vorangehender Staat das Recht schafft und sich dann dem Recht unterwirft, findet

nicht statt und kann nicht stattfinden.“131 Der Staat existiert nur in Staatsakten. Unter

„Staatsakten“ sind von Menschen gesetzte Akte zu verstehen, die dem Staat – der

„juristischen Person des Staates“132 - zugeschrieben werden. Und eine solche

„Zuschreibung“133 ist ohne – bereits vorhandene - Rechtsnormen nicht möglich. Der Staat ist eine – und zwar seine eigene - Rechtsordnung. Der Begriff der

„juristischen Person des Staates“ stellt in diesem Zusammenhang nichts anderes als

die Personifikation dieser Rechtsordnung dar. Unter dem Begriff der

„Zuschreibung“ ist – wie unten näher dargestellt - eine Hilfskonstruktion der Erkenntnis zu verstehen, eine bloße Gedankenoperation, die möglich, aber

keinesfalls notwendig ist. „Zuschreibung“ ist letztlich immer eine Fiktion, „da es in

Wahrheit nie der Staat als juristische Person, sondern ein ganz bestimmter Mensch

ist“134, der handelt und Akte setzt. Entscheidend ist, dass die Akte, die ein

bestimmter Mensch setzt und die dem Staat als juristischer Person zugeschrieben

werden, nicht irgendwelche zufälligen und willkürlichen, sondern von der Rechtsordnung bestimmte Akte sind. Der Begriff der „Zuschreibung“ bringt nur die

Beziehung der gesetzten Akte zu der Einheit der Rechtsordnung zum Ausdruck, von

der sie bestimmt sind.135 „Was als Gegenstand der Erkenntnis existiert, ist nur das

128 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 288. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 129 Kelsen versteht unter dem Begriff der „Traditionellen Theorie“ alle rechtstheoretischen Bemühungen „vor seiner Zeit“. 130 Zum Begriff des „Rechtsstaates“ siehe unten. 131 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 314. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 132 Zum Begriff der „juristischen Person“ siehe unten. 133 Zum Begriff der „Zuschreibung“ siehe unten. 134 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 306. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 135 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 288 ff.

Page 35: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

35

Recht.“136 Wenn die „Traditionelle Theorie“137 dennoch meint, am Dualismus von

Staat und Recht festhalten zu müssen, so macht sie dies aus ideologischen

Gründen: Sie will den Staat – als „Rechts-Staat“138 - rechtfertigen und legitimieren.

Von – in Wahrheit nicht zu übersehenden - Widersprüchen lässt sie sich dabei nicht

beirren, da „Widersprüche für ideologische Theorien, denen sie notwendig anhaften,

kein ernstliches Hindernis bedeuten.“139

Der Staat ist eine relativ zentralisierte Zwangsordnung und damit eine

Rechtsordnung. Der „Staat als juristische Person“ ist die Personifikation dieser

Rechtsordnung. Jede – wissenschaftliche - Erkenntnis strebt nach der Einheit ihres

Gegenstandes. Der Begriff der „Person“ stellt zunächst bloß einen Einheitsausdruck

dar. Eine Verdoppelung des Erkenntnisgegenstandes und damit ein – zu überwindender - Dualismus von Staat und Recht entsteht, wenn eine bloße

Gedankenoperation, eine Hilfskonstruktion der Erkenntnis, „hypostasiert“ wird. Der

rechtswissenschaftliche Dualismus von Staat und Recht lässt sich vergleichen mit

dem theologischen Dualismus von Gott und Welt: „So wie die Theologie die

Transzendenz Gottes gegenüber der Welt und doch zugleich seine Immanenz in

der Welt, so behauptet die dualistische Staats- und Rechtslehre die Transzendenz

des Staates gegenüber dem Recht, seine meta-rechtliche Existenz und doch

zugleich seine Immanenz im Recht.“140 Der Weg zu einer „echten Naturwissenschaft“

wird durch den „Pantheismus“ frei gemacht (griech. pan = alles, griech. theós = Gott).

Gott wird mit der Welt – mit der Ordnung der Natur - identifiziert. In diesem Sinne

setzt eine „echte Rechtswissenschaft“ die Identifikation des Staates mit dem Recht voraus.141

136 Kelsen, Reine Rechtlsehre2 (1960) 314. 137 Kelsen versteht unter dem Begriff der „Traditionellen Theorie“ alle rechtstheoretischen Bemühungen „vor seiner Zeit“. 138 Zum Begriff des „Rechtsstaats“ siehe unten. 139 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 289. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 140 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 319. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 141 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 319 f.

Page 36: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

36

1.2.14 Staat und Rechts-Staat

„Ist der Staat als eine Rechtsordnung erkannt, ist jeder Staat ein Rechts-Staat.“142

Der Begriff des „Rechts-Staates“ stellt – jedenfalls in seinem grundsätzlichen und

weiteren Sinn - einen „Pleonasmus“ dar. Jeder Staat ist ein Rechts-Staat, da jeder

Staat eine – arbeitsteilig funktionierende, über gemeinsame Organe verfügende -

Rechtsordnung darstellt. Der Begriff des Rechtsstaates wird aber auch – in einem

engeren Sinn - zur Bezeichnung eines bestimmten Staatstypus verwendet.143

„Rechtsstaat in diesem spezifischen Sinne ist eine relativ zentralisierte

Rechtsordnung, der zufolge Rechtsprechung und Verwaltung durch Gesetze, das ist

generelle Normen gebunden sind, die…… …gewisse Freiheitsrechte der Bürger,

insbesondere Glaubens- und Gewissensfreiheit und Freiheit der Meinungsäußerung

gewährleistet sind.“144

Wenn jeder Staat ein Rechtsstaat – in einem weiteren Sinne - ist, dann enthüllt sich

der Versuch, den Staat als „Rechts-Staat“ legitimieren zu wollen, als völlig

untauglich. Auch eine relativ zentralisierte Zwangsordnung, die autokratischen

Charakter hat und keine Rechtssicherheit bietet, ist eine Rechtsordnung und daher

ein (autokratischer) Staat. Ein politisches Werturteil ist mit dieser Aussage nicht verbunden.“145

1.2.15 Die physische und juristische Person

Die „Traditionelle Theorie“146 versteht unter einer „Person“ ein Rechtssubjekt, das

Träger von Rechten und Pflichten sein kann. Der physischen oder natürlichen Person

stellt sie eine juristische oder künstliche Person gegenüber. Die „Reine Rechtslehre“,

die sich als eine möglichst exakte und von jedem ethisch-politischen Werturteil

befreite Strukturanalyse des positiven Rechts versteht,147 kommt zu grundlegend

anderen Ergebnissen: Die physische Person und die juristische Person sind –

jedenfalls unter den entscheidenden Gesichtspunkten - ein und dasselbe. Auch die 142 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 314. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 143 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 314 f. 144 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 314 f. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 145 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 320. 146 Kelsen versteht unter dem Begriff der „Traditionellen Theorie“ alle rechtstheoretischen Bemühungen „vor seiner Zeit“. 147 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 195.

Page 37: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

37

physische Person ist eine künstliche und damit eine juristische Person. Und: Beide

Personen stellen weder soziale Realitäten dar noch sind sie Schöpfungen des

Rechts. Es handelt sich sowohl bei der physischen als auch bei der juristischen

Person um eine Konstruktion der Rechtswissenschaft.148

Der Sachverhalt, den die „Traditionelle Theorie“149 vor Augen hat, wenn sie sagt, sie

würde bestimmten Menschen oder anderen – künstlichen - Wesenheiten

Rechtspersönlichkeit – die Qualität, Person zu sein - verleihen, besteht

ausschließlich darin, dass die Rechtsordnung bestimmten Menschen Pflichten

auferlegt und Rechte einräumt. Sie macht das Verhalten von bestimmten – durch die

Rechtsordnung bestimmten - Menschen zum Inhalt von Pflichten und Rechten.

Person zu sein oder Rechtspersönlichkeit zu haben bedeutet, Rechtspflichten und

subjektive Rechte zu haben.150 „Die Person als Träger von Rechtspflichten und

subjektiven Rechten ist nicht etwas von den Rechtspflichten und subjektiven

Rechten Verschiedenes, als deren Träger die Person dargestellt wird.“151

Wenn die „Traditionelle Theorie“152 sagt, die physische oder juristische Person sei

der „Träger“ von Rechtspflichten und subjektiven Rechten, so ist dieses Bild

irreführend. Eine positive Rechtsordnung kennt keinen „Träger“ und es gibt auch

keine rechtlichen Objekte, die „getragen“ werden würden. Eine physische oder

juristische Person „trägt“ keine Rechtspflichten oder subjektiven Rechte. Vielmehr ist

sie mit ihnen identisch. Die physische oder juristische Person stellt – ausschließlich -

einen Komplex von Rechtspflichten und subjektiven Rechten dar. Der Begriff der

Person soll bloß die Einheit dieser Rechtspflichten und subjektiven Rechte figürlich zum Ausdruck bringen.153

148 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 178 ff. 149 Kelsen versteht unter dem Begriff der „Traditionellen Theorie“ alle rechtstheoretischen Bemühungen „vor seiner Zeit“. 150 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 177 ff. 151 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 177. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 152 Kelsen versteht unter dem Begriff der „Traditionellen Theorie“ alle rechtstheoretischen Bemühungen „vor seiner Zeit“. 153 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 177 ff.

Page 38: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

38

1.2.16 Das subjektive Recht Es ist der hohe Anspruch der „Reinen Rechtslehre“, das „Wesen des subjektiven Rechts“154 zu ergründen. Zu diesem Zweck unterzieht sie die Deutung dieses –

fundamentalen - Begriffes durch die „Traditionelle Theorie“155 einer besonders

tiefgreifenden Analyse. Die dadurch gewonnenen Erkenntnisse zeigen ein

überraschendes Bild: Das subjektive Recht wird – ebenso wie die „Rechtspflicht“156 -

als Rechtsnorm erkannt und damit auf das „objektive Recht“157 zurückgeführt. Es

kommt zu einer „Aufhebung des Dualismus von Recht im objektiven und Recht im subjektiven Sinn“158. Die Begriffsbestimmung der „Traditionellen Theorie“, die

von einem „Rechtssubjekt als dem Träger des subjektiven Rechts“ spricht, wird als

ideologisch motiviert entlarvt. Die „Reine Rechtslehre“ schafft den Begriff des

subjektiven Rechts nicht ab. Sie verleiht ihm jedoch neue Bedeutungen. Zudem

wird das subjektive Recht nicht selten – und zwar vor allem in jenen Fällen, die für

die „Traditionelle Theorie“ eine große Bedeutung haben - als „bloßes Reflexrecht“159 erkannt.160 Im Einzelnen:

1.2.17 Objektives Recht und subjektives Recht Der Begriff des „objektiven Rechts“ bezeichnet die Rechtsordnung in ihrer

Gesamtheit. Es ist die Summe aller geltenden Rechtsnormen gemeint. Das System

von Normen, das die Rechtsordnung darstellt. Demgegenüber ist das „subjektive

Recht“ – wie auch das logische Gegenstück, die „Rechtspflicht“ - einem bestimmten

Subjekt zugeordnet. Der Begriff des subjektiven Rechts lässt sich – in einem ersten Schritt - als „Berechtigung“ definieren. Für die „Traditionelle Theorie“161

steht das subjektive Recht oder die Berechtigung – ganz im Gegensatz zur „Reinen

Rechtslehre“ - im Vordergrund. Sie rückt das „Recht“ an die erste Stelle und spricht

von „Rechten und Pflichten“ und nicht – wie das im Bereich der Moral üblich ist - von

154 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 131. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 155 Kelsen versteht unter dem Begriff der „Traditionellen Theorie“ alle rechtstheoretischen Bemühungen „vor seiner Zeit“. 156 Zum Begriff der „Rechtspflicht“ siehe sogleich. 157 Zum Begriff des „objektiven Rechts“ siehe sogleich. 158 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 194. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 159 Zum Begriff des „bloßen Reflexrechtes“ siehe sogleich. 160 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 130 ff. 161 Kelsen versteht unter dem Begriff der „Traditionellen Theorie“ alle rechtstheoretischen Bemühungen „vor seiner Zeit“.

Page 39: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

39

„Pflichten und Rechten“. Es ist kein Zufall, dass in der deutschen und französischen Rechtssprache mit „Recht“ und „droit“ ein und dasselbe Wort sowohl für die (subjektive) Berechtigung als auch für das (objektive) Recht, für die Rechtsordnung als Ganzes, verwendet wird. Deswegen wird auch, wenn eine

Berechtigung gemeint ist, von einem „subjektiven Recht“ gesprochen, um

Verwechslungen mit der Rechtsordnung – dem „objektiven Recht“ - auszuschließen.

Die englische Rechtssprache kennt diese terminologischen Probleme nicht: Ist eine

Berechtigung gemeint, steht das Wort „right“ zur Verfügung. Soll hingegen die

Rechtsordnung – das objektive Recht - bezeichnet werden, wird das Wort „law“

verwendet.162 Die Begriffsbildung der „Traditionellen Theorie“ ist ideologisch

motiviert.163

1.2.18 Subjektives Recht und Rechtspflicht

Für die „Reine Rechtslehre“ steht – im Gegensatz zur „Traditionellen Theorie“, die

aus ideologischen Gründen das „subjektive Recht“ in den Vordergrund rückt - der Begriff der Rechtspflicht im Vordergrund. Zunächst ist entscheidend, dass es ein

„subjektives Recht“ und eine „subjektive Pflicht“ nicht gibt und auch nicht geben

kann, wenn damit – wie das sehr häufig der Fall ist - etwas zum objektiven Recht

Gegensätzliches oder Wesensverschiedenes gemeint ist. Sowohl das subjektive

Recht als auch die Rechtspflicht sind Verhaltensbeschreibungen, die sich als Inhalte von Rechtsnormen wiederfinden. Die „Reine Rechtslehre“ liefert die Erkenntnis,

dass der Begriff der „Rechtspflicht“ – und dasselbe gilt für das „subjektive Recht“ -

nichts anderes meint und darstellt als der Begriff der „Rechtsnorm“. Es geht immer

um einen Inhalt, der aus einem menschlichen Verhalten besteht. Zwischen den

Begriffen der „Rechtspflicht“ und der „Rechtsnorm“ besteht eine Identität.164

Kelsen schreibt: „Man pflegt zwar Rechtsnorm und Rechtspflicht zu differenzier

……aber die Rechtspflicht zu einem bestimmten Verhalten ist nicht ein von der

dieses Verhalten gebietenden Rechtsnorm verschiedener Sachverhalt; sie ist diese

Rechtsnorm selbst.“165

162 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 130 f. 163 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 175 f. 164 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 120 ff. 165 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 120 f. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.)

Page 40: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

40

Die Rechtsordnung ist sowohl als eine Gesellschaftsordnung als auch als eine

Zwangsordnung zu verstehen. Als eine Gesellschaftsordnung insofern, als es im

Recht immer um ein Verhalten eines Menschen geht, „das – unmittelbar oder

mittelbar - einem anderen Individuum gegenüber stattzufinden hat“166. Und als eine

Zwangsordnung, weil das rechtlich gebotene (und gesellschaftlich erwünschte)

Verhalten dadurch herbeigeführt wird, dass an das gegenteilige Verhalten ein

Zwangsakt als Sanktion geknüpft wird.

Die Rechtsordnung regelt das Verhalten von Menschen, indem sie an ein bestimmtes

Verhalten einen Zwangsakt als Sanktion knüpft. Das Verhalten, an das ein

Zwangsakt als Sanktion geknüpft ist, ist – aus diesem Grunde - verboten. Geboten ist

das gegenteilige Verhalten. Erfüllt ein bestimmter Mensch die ihm von einer

Rechtsnorm auferlegte Pflicht, befolgt er die Rechtsnorm. Erfüllt er sie nicht, verletzt er die Rechtsnorm. Wird eine Rechtsnorm verletzt, liegt eine Pflichtverletzung vor. In

diesem Fall soll von einem anderen Menschen – einem sogenannten „Organ“167 - der

Zwangsakt als Sanktion gesetzt – und damit, wie man sagt, die Rechtsnorm

„angewendet“ - werden. „Sowohl die Befolgung der Rechtsnorm als auch ihre

Anwendung stellen ein der Rechtsnorm entsprechendes Verhalten dar.“168 Die

Frage der „Wirksamkeit“169 einer Rechtsordnung ist eine Frage der Befolgung und

Anwendung ihrer Rechtsnormen.170

So wie die „Traditionelle Theorie“ in Bezug auf das „subjektive Recht“ von einem

„Rechtssubjekt“ oder einem „Träger“ spricht, so verwendet sie auch in Bezug auf die

Rechtspflicht den Begriff des Rechtssubjektes. Genaugenommen müsste sie aber in

diesem Fall von einem „Pflicht-Subjekt“ sprechen. Entscheidend jedoch ist, dass die

„Traditionelle Theorie“ unter einem Rechtssubjekt – oder einem „Pflicht-Subjekt“ -

den Träger der von der Rechtsordnung statuierten Rechte und Pflichten versteht.

„Als Subjekt oder Träger der Pflicht wird normalerweise das Individuum bezeichnet,

dessen Verhalten den Inhalt der Pflicht bildet. Aber dieses Individuum ist nicht

166 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 120. 167 Zum Begriff des „Organs“ siehe unten. 168 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 122. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 169 Zum Begriff der „Wirksamkeit“ siehe oben. Die „Wirksamkeit“ darf mit dem Begriff der „Geltung“ nicht verwechselt oder gleichgesetzt werden. Sie stellt – nur - eine Bedingung der „Geltung“ dar. 170 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 120 ff.

Page 41: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

41

etwas, das die Pflicht als einen von ihm verschiedenen Gegenstand trägt.“171 Geht

es um das Verständnis des Begriffs der Rechtspflicht, muss die Vorstellung

überwunden werden, ein bestimmtes Individuum würde eine bestimmte Pflicht

„tragen“. Eine Rechtspflicht ist ein bestimmtes Verhalten. Im Vordergrund steht das

Verhalten. Dieses Verhalten wird – von der Rechtsordnung - einem bestimmten

Individuum zugeordnet.

Das Individuum, dem ein bestimmtes Verhalten zugeordnet wird, ist nur das

personale Element dieses Verhaltens. Das Verhalten selbst, ohne Bezug zu einem

bestimmten Individuum, stellt das materiale Element dar. Das personale und das

materiale Element eines bestimmten Verhaltens sind miteinander untrennbar verbunden und stellen den Inhalt einer Rechtspflicht dar.172

1.2.19 Spielarten des subjektiven Rechts

Die „Reine Rechtslehre“ versteht unter dem Begriff des subjektiven Rechts – und

nichts anderes gilt für den Begriff der Rechtspflicht - den Inhalt einer Rechtsnorm.

Dies bedeutet, dass sie letztlich in einem subjektiven Recht – auch in einem

subjektiven Recht - das objektive Recht sieht. Die „Reine Rechtslehre“ lehnt die

subjektivistische und advokatorische Einstellung zum Recht ab. Es geht ihr nicht um

das Parteiinteresse und die Frage, was dem Einzelnen nützt oder schadet. Die Haltung der „Reinen Rechtslehre“ ist eine objektivistisch-universalistische.173

Doch auch wenn die „Reine Rechtslehre“ im subjektiven Recht – letztlich - das objektive Recht erkennt, sieht sie keinen Grund, diesen (rechtswissenschaftlichen)

Begriff abzuschaffen. Das wäre auch gar nicht möglich, da er eine lange Tradition

besitzt und vielfach verwendet wird. Es ist nicht entscheidend, welche Begriffe

Verwendung finden. Entscheidend ist, was bestimmte Begriffe – in einem bestimmten Zusammenhang - beschreiben und zum Ausdruck bringen wollen. Rechtswissenschaftliche Begriffe beschreiben das Recht. Sie stellen den Inhalt von

Rechtsnormen dar. Der Begriff des subjektiven Rechts stellt jedoch insofern eine

besondere Herausforderung dar, als „mit diesem Worte mehrere voneinander sehr

171 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 122. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 172 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 122. 173 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 195.

Page 42: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

42

verschiedene Sachverhalte bezeichnet werden“174. Im Folgenden werden daher

mögliche Inhalte des Begriffs des subjektiven Rechts – und damit seine

verschiedenen Arten - kurz dargestellt:

1.2.19.1 Rechtlich negativ erlaubt, weil nicht verboten Die Aussage, ein bestimmter Mensch habe das Recht, sich in einer bestimmten

Weise zu verhalten, kann die Bedeutung haben, dass das in Frage stehende

Verhalten rechtlich nicht verboten ist. Das Verhalten ist – bloß - nicht verboten. Die

Rechtsordnung erlaubt ein bestimmtes Verhalten, indem sie es nicht – nur nicht -

verbietet. Sie setzt keinen positiven Akt. Sie schweigt. Die Rechtsordnung erlaubt

das in Frage stehende Verhalten in einem bloß negativen Sinne. Ein bestimmter

Mensch kann eine bestimmte Handlung vornehmen oder auch unterlassen. Dies

deswegen, weil sie nicht verboten ist. Bloß nicht verboten ist. Weil sie in einem

negativen Sinne erlaubt ist.175

1.2.19.2 Rechtlich positiv erlaubt, weil behördlich zugestanden

Die Aussage, ein bestimmter Mensch habe das Recht, sich in einer bestimmten

Weise zu verhalten, kann die Bedeutung haben, dass ein bestimmter Mensch eine bestimmte Tätigkeit – ausnahmsweise - verrichten darf, obwohl diese –

grundsätzlich - verboten ist. Ein bestimmter Mensch, das berechtigte Individuum, darf

die – grundsätzlich - verbotene Tätigkeit nur auf der Grundlage einer ausdrücklich erteilten behördlichen Erlaubnis verrichten. Die behördliche Erlaubnis, die auch als

„Konzession“ oder als „Lizenz“ bezeichnet wird, besteht in einem positiven (Genehmigungs-)Akt der Behörde und darf nicht mit der bloß negativen Tatsache

eines Nichtverbotenseins gleichgesetzt werden. Als Beispiele für ein subjektives

Recht, das in einer positiven behördlichen Erlaubnis besteht, können der Betrieb

eines Unternehmens oder auch der Verkauf alkoholischer Getränke oder von

Medikamenten angeführt werden.176

174 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 131. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 175 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 131. 176 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 142 f.

Page 43: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

43

1.2.19.3 Das subjektive Recht als bloßes Reflexrecht

Mit der Aussage, ein bestimmter Mensch habe ein subjektives Recht, einen

Anspruch, kann gemeint sein, dass ein bestimmter anderer Mensch verpflichtet ist, sich diesem Menschen gegenüber in einer bestimmten Weise zu verhalten. Hat –

zum Beispiel - ein bestimmter Mensch das subjektive Recht auf Erfüllung einer

Forderung, so bedeutet dies, dass ein bestimmter anderer Mensch verpflichtet ist,

die Forderung zu erfüllen. Oder ist – zum Beispiel - ein bestimmter Mensch

Eigentümer einer Sache, so bedeutet dies, dass alle anderen Menschen verpflichtet

sind, das Eigentumsrecht zu achten. Sie dürfen den Eigentümer in der Ausübung

seines Eigentumsrechtes – in seinem „Rechtsgenuss“ - nicht stören. Insbesondere

haben sie den Gebrauch, den Konsum oder auch die Zerstörung der Sache durch

den Eigentümer zu dulden. Dem subjektiven Recht des berechtigten Individuums

steht die Rechtspflicht des verpflichteten Individuums gegenüber. Zu einem bestimmten Verhalten verpflichtet zu sein bedeutet,177 dass bei einem

gegenteiligen Verhalten der Zwangsakt als Sanktion gesetzt werden soll.178 Im

Beispiel des Forderungsrechts spricht die „Traditionelle Theorie“179 von einem

„relativen Recht“, im Beispiel des Eigentumsrechts von einem „absoluten Recht“.

Diese Begriffsbildung ist aber insofern nicht sehr glücklich, als „ja auch die

sogenannten absoluten Rechte nur relativ sind, weil sie nur in der Relation der

Vielen zu dem Einen bestehen“180.

Dem Verhalten des verpflichteten Individuums steht das – korrespondierende - Verhalten des berechtigten Individuums gegenüber. Der Inhalt der Pflicht bestimmt – auch - das Verhalten des berechtigten Individuums. „Das heißt: das dem

verpflichteten Verhalten korrespondierende Verhalten des Individuums, dem

gegenüber die Pflicht besteht, ist in dem Verhalten schon mitbestimmt, das den

Inhalt der Pflicht bildet.“181 Es gibt eine wechselseitige Entsprechung von „Pflicht“

und „Recht“. Die von der „Traditionellen Theorie“ getätigte Annahme, dass das

subjektive Recht des berechtigten Individuums etwas von der Rechtspflicht des

177 Zum Begriff der „Rechtspflicht“ siehe oben. 178 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 130 ff. 179 Kelsen versteht unter dem Begriff der „Traditionellen Theorie“ alle rechtstheoretischen Bemühungen „vor seiner Zeit“. 180 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 137. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 181 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 132. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.)

Page 44: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

44

verpflichteten Individuums Verschiedenes wäre, ist als falsch abzulehnen. Vielmehr

besteht eine Identität zwischen dem subjektiven Recht (in dem hier erörterten

Sinne) und der Rechtspflicht. „Bezeichnet man die Beziehung eines Individuums,

dem gegenüber ein anderes Individuum zu einem bestimmten Verhalten verpflichtet

ist, zu diesem anderen Individuum als Recht, ist dieses Recht nur ein Reflex dieser

Pflicht.“182 Das subjektive Recht – in dem hier erörterten Sinne - ist damit als bloßer

Reflex einer Pflicht – als Reflexrecht - erkannt. Der Begriff des Reflexrechtes ist als

– rechtswissenschaftlicher - Hilfsbegriff zu verstehen, der die Darstellung des rechtlichen Sachverhalts erleichtern mag.183

Ist ein bestimmter Mensch nicht einem anderen Menschen gegenüber, sondern –

zum Beispiel - Tieren, Pflanzen oder leblosen Gegenständen gegenüber zu einem

bestimmter Verhalten verpflichtet, so nimmt die „Traditionelle Theorie“ keine

subjektiven Rechte oder Reflexrechte dieser Tiere, Pflanzen oder leblosen Gegenstände an. Aber das Argument, „die so geschützten Tiere, Pflanzen, leblosen

Gegenstände seien nicht Subjekte von Reflexrechten, weil diese Objekte keine

Personen seien, trifft nicht zu.“184 Die Meinung der „Traditionellen Theorie“, dass das

subjektive Recht etwas von der Rechtspflicht Verschiedenes – ein selbstständiger

Gegenstand der Rechtserkenntnis - wäre, beruht auf der von der „Reinen

Rechtslehre“ abgelehnten und bekämpften „Naturrechtslehre“.185

6.2.19.4 Das subjektive Recht als rechtlich geschütztes Interesse Die „Traditionelle Theorie“186 definiert das subjektive Recht als „rechtlich geschütztes

Interesse“ (=Interessentheorie). Diese Definition ist abzulehnen, weil sie einen – nicht zutreffenden - Dualismus zum Ausdruck bringt: Dem Recht in einem

objektiven Sinn wird das Recht in einem subjektiven Sinn gegenübergestellt. Eine

Gegenüberstellung, die einen unlösbaren Widerspruch in sich schließt.187 Der

Widerspruch eines Dualismus von Recht im objektiven und Recht im subjektiven Sinn lässt sich auch nicht durch das Eingeständnis einer Beziehung 182 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 132 f. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 183 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 133 f. 184 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 133 f. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 185 Zu den Begriffen „Naturrechtslehre“ und „Rechtspositivismus“ siehe oben. 186 Kelsen versteht unter dem Begriff der „Traditionellen Theorie“ alle rechtstheoretischen Bemühungen „vor seiner Zeit“. 187 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 137.

Page 45: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

45

zwischen diesen beiden „Rechtsbereichen“ auflösen. Zum Beispiel dadurch, dass

gesagt wird, dass das Recht im subjektiven Sinne – das subjektive Recht - ein

Interesse sei, das vom objektiven Recht beschützt werde.188

1.2.19.5 Das subjektive Recht als Rechtsmacht

Die „Traditionelle Theorie“ definiert zwar das subjektive Recht einerseits als „rechtlich

geschütztes Interesse“189 (=Interessentheorie). Andererseits – und gleichzeitig -

definiert sie es aber auch als „Willensmacht“ (=Willenstheorie). Das Geheimnis

dieser beiden Definitionen oder Theorien ist, dass jeweils unterschiedliche

Gegenstände beschrieben werden. Die – widersprüchliche - Definition des

subjektiven Rechts als „rechtlich geschütztes Interesse“ bezieht sich auf ein Recht,

das als bloßes Reflexrecht mit der Rechtspflicht identisch ist. Zu denken ist –

zum Beispiel - an das subjektive Recht des Gläubigers, das keinen anderen Inhalt

hat als die Rechtspflicht des Schuldners. In diesem Fall besteht eine Identität zwischen dem subjektiven Recht und der Rechtspflicht. Ganz anders gelagert ist

jedoch jener rechtliche Sachverhalt, auf den sich die „Willenstheorie“ bezieht:

Ist die Durchsetzung einer Rechtspflicht – zum Beispiel eines Schuldners - von der Erhebung einer „Klage“ abhängig, so bedeutet dies, dass die

Rechtsverwirklichung an eine Bedingung geknüpft ist. Das rechtsanwendende

Organ kann eine bestimmte generelle Rechtsnorm nur anwenden (und damit die

entsprechende individuelle Rechtsnorm nur setzen), wenn das berechtigte

Individuum eine Klage erhebt und auf diese Weise das (Gerichts-)Verfahren in

Bewegung setzt. Dies wiederum bedeutet, konsequent zu Ende gedacht, dass die

Verwirklichung des objektiven Rechts in die Hände einer bestimmten –

berechtigten - Person gelegt ist. Die Rechtsordnung verleiht – der berechtigten

Person - eine echte Rechtsmacht. Eine Rechtsmacht, die darin besteht, die

Nichterfüllung einer Pflicht durch Klage geltend zu machen. Das „subjektive

Recht“ des Gläubigers auf Erfüllung der Pflicht durch den Schuldner ist ein bloßes Reflexrecht. Sein Inhalt ist mit dem Inhalt der Rechtspflicht identisch. Hingegen ist

das subjektive Recht des Gläubigers, die Nichterfüllung der schuldnerischen Pflicht

188 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 138 f. 189 Zu der –von der „Reinen Rechtslehre vehement abgelehnten- Definition des subjektiven Rechts als „rechtlich geschütztes Interesse“ siehe oben.

Page 46: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

46

durch Klage geltend zu machen, nicht mit der Rechtspflicht des Schuldners

identisch. Das damit angesprochene subjektive Recht stellt einen anderen rechtlichen Sachverhalt dar. Der Begriff des Reflexrechtes vermag diesen

Sachverhalt nicht erschöpfend zu beschreiben. Wird einer bestimmten – berechtigten

- Person das Recht oder die Rechtsmacht verliehen, die Nichterfüllung einer Pflicht durch Klage geltend zu machen, macht es Sinn, den Begriff des

„subjektiven Rechts“ zu verwenden. Die „Reine Rechtslehre“ spricht in diesem

Zusammenhang – um begriffliche Verwirrungen zu vermeiden - von einem

„subjektiven Recht im technischen Sinne“.190 „Denn das wesentliche Moment ist

die dem letzteren von der Rechtsordnung verliehene Rechtsmacht, die

Nichterfüllung der Pflicht des ersteren durch Klage geltend zu machen.“191

Das subjektive Recht – verstanden als Rechtsmacht - steht dem objektiven Recht

nicht als etwas von ihm Unabhängiges gegenüber. Diesbezügliche Annahmen der

„Traditionellen Theorie“ sind als falsch abzulehnen. Vielmehr ist das subjektive Recht – so wie die Rechtspflicht - eine Rechtsnorm192. Es ist eine besondere

Rechtsnorm – eine ermächtigende Rechtsnorm - mit einem besonderen Inhalt:

Einem bestimmten Menschen – dem berechtigten Individuum - wird eine spezifische Rechtsmacht verliehen. Es wird ihm die Rechtsmacht verliehen, die Nichterfüllung

einer Pflicht durch Klage geltend zu machen. Die Rechtsmacht, ein (Gerichts-) Verfahren in Bewegung zu setzen und eine (Gerichts-)Entscheidung zu

erzwingen.193

Auch ist die Meinung der „Traditionellen Theorie“ verfehlt, die Statuierung von

subjektiven Rechten, von subjektiven Rechten im technischen Sinne, wäre – so

wie die Statuierung von Rechtspflichten - eine wesentliche Funktion des objektiven

Rechts. Vielmehr ist die Statuierung von subjektiven Rechten und damit die Verleihung einer Rechtsmacht nur eine mögliche, keine in inhaltlicher Hinsicht

notwendige Gestaltung des objektiven Rechts. Subjektive Rechte stellen (nur) eine bestimmte Technik dar, deren sich das Recht bedienen kann, aber nicht bedienen

muss. Es ist zweifellos kein Zufall, dass in kapitalistischen Rechtsordnungen

190 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 139 ff. 191 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 139 f. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 192 Zum Begriff und zur Struktur der „Rechtsnorm“ siehe oben. 193 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 140 f.

Page 47: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

47

regelmäßig subjektive Rechte zu finden sind. Die Erklärung liegt darin, dass eine

kapitalistische Rechtsordnung die Institution des Privateigentums garantieren und

ganz allgemein das Individualinteresse besonders berücksichtigen will.194

1.2.19.6 Das subjektive Recht als ein politisches Recht

Ein politisches Recht wird von der „Traditionellen Theorie“ definiert als die Befugnis, an der Bildung des Staatswillens teilzunehmen. Die „Reine Rechtslehre“ macht in

ihren vielfältigen Untersuchungen deutlich, dass mit dem Ausdruck „Staatswille“

letztlich nichts anders als die – auf diese Weise personifizierte - Rechtsordnung

gemeint ist und gemeint sein kann. Der Staatswille ist die Rechtsordnung. Für die

Definition des politischen Rechts bedeutet dies, dass es als Befugnis verstanden

werden kann, an der Erzeugung der Rechtsordnung mitzuwirken. Diese

Mitwirkung kann unmittelbar und direkt, aber auch mittelbar und indirekt erfolgen.

Eine Rechtsordnung besteht aus sehr vielen – sehr unterschiedlichen - Normen und

Normarten. Unter anderem besteht sie aus generellen und individuellen Normen.195

Der Begriff des politischen Rechts wird grundsätzlich – in einem engeren Sinn, wenn

man so möchte - nur dann verwendet, wenn einem bestimmten Menschen die

Rechtsmacht verliehen ist, an der Erzeugung von generellen Rechtsnormen

mitzuwirken. Ist einem Menschen bloß die Rechtsmacht verliehen, an der Erzeugung einer individuellen Rechtsnorm mitzuwirken (zu denken ist an die

Rechtsmacht der Einbringung einer Klage),196 wird nicht von einem politischen Recht

gesprochen. Dieser – letztlich nicht konsequente - Sprachgebrauch ändert aber

nichts daran, dass auch die Mitwirkung an der Erzeugung einer individuellen Rechtsnorm (zum Beispiel die Mitwirkung an der Erzeugung eines Gerichtsurteils)

insofern eine Teilnahme an der Bildung des Staatswillens ist, als dieser

Staatswille - und damit die Rechtsordnung - nicht nur aus generellen, sondern vor

allem auch aus individuellen Rechtsnormen besteht. In diesem – weiteren - Sinn ist

auch das subjektive Privatrecht oder das Recht, eine Klage einzubringen, ein

politisches Recht.197

194 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 141. 195 Zu der begrifflichen Unterscheidung zwischen „generellen“ und „individuellen Normen“ siehe oben. 196 Zu der Definition des „subjektiven Rechts“ als Rechtsmacht, die Nichterfüllung einer Pflicht geltend zu machen (zum Beispiel durch Einbringung einer Klage), siehe oben. 197 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 143 f.

Page 48: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

48

Die Beteiligung der Normunterworfenen an der Gesetzgebung – an der Erzeugung

von generellen Rechtsnormen - ist ein wesentliches Merkmal der demokratischen Staatsform. Demgegenüber kennt eine autokratische Staatsform eine solche

Beteiligung nicht. Hat der Einzelne das Recht, an einer gesetzgebenden

Versammlung des Volkes teilzunehmen, um in dieser Versammlung Reden zu halten

und über Gesetzesvorschläge abzustimmen, wird von einer direkten oder

unmittelbaren Demokratie gesprochen. Im antiken Stadtstaat hat es zu bestimmten

Zeiten eine – auf Männer und Freie eingeschränkte - direkte oder unmittelbare

Demokratie gegeben. Im heutigen (Flächen-)Staat sprechen wir hingegen von einer

indirekten oder mittelbaren Demokratie. Damit ist gemeint, dass der Prozess der staatlichen Willensbildung (die Erzeugung von generellen Rechtsnormen) in zwei

Stadien zerfällt: Zunächst wählen die Mitglieder der Rechtsgemeinschaft – die

Rechtsunterworfenen - eine gesetzgebende Körperschaft. Sie wählen ein Parlament. In der Folge werden die Gesetze (die generellen Rechtsnormen) von den

Mitgliedern des Parlaments diskutiert und beschlossen.198

Zu den politischen Rechten werden auch die im Verfassungsrang stehenden

sogenannten „Grundrechte“ gezählt. Sie zielen fast immer auf die Verwirklichung

eines größtmöglichen Maßes an „Gleichheit“ und „Freiheit“. Einschränkend muss

angemerkt werden, dass die Begriffe „Gleichheit“ und „Freiheit“ in ihrer Allgemeinheit

– zunächst - bloße Leerformeln darstellen, die der – rechtlichen - Konkretisierung

bedürfen. Wichtige Grundrechte sind der Gleichheitssatz, die Unverletzlichkeit des

Eigentums, die Persönliche Freiheit, die Meinungsfreiheit, die Religionsfreiheit, die

Vereins- und Versammlungsfreiheit, die Kunstfreiheit oder die Wissenschaftsfreiheit.

Die „Reine Rechtslehre“ analysiert Natur und Wesen der Grundrechte und kommt

zu – überraschenden - Ergebnissen: Sie liefert die Erkenntnis, dass die verfassungsrechtliche Garantie eines Grundrechtes an sich noch kein

subjektives Recht verleiht. Ein Grundrecht ist weder ein bloßes Reflexrecht noch ein subjektives Privatrecht im technischen Sinn. Es gibt keine Rechtspflicht eines

bestimmten Menschen (zum Beispiel eines Schuldners), mit dem ein Grundrecht

identisch wäre. Auch stellt ein Grundrecht kein Recht dar, mit dem die Nichterfüllung

einer Rechtspflicht durch Klage geltend gemacht werden könnte.199

198 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 143. 199 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 143 ff.

Page 49: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

49

Unter einem Grundrecht ist eine verfassungsrechtliche Norm zu verstehen, die

den Inhalt von künftig zu erlassenden Gesetzen in (bloß) negativer Hinsicht festlegt und beschränkt. Gleichzeitig mit dieser materiellen Verfassungsnorm (dem

Grundrecht) wird eine formelle Verfassungsnorm geschaffen, die ein Verfahren zur Vernichtung eines grundrechtswidrigen Gesetzes vorsieht. Wird ein Grundrecht

durch einen individuellen Rechtsakt verletzt, zum Beispiel durch einen

Verwaltungsakt oder durch eine Gerichtsentscheidung, so stellt diese

Verfassungsverletzung insofern keine Besonderheit dar, als ein individueller Rechtsakt auch bereits dann aufgehoben und vernichtet werden kann, wenn er

ohne jede gesetzliche Grundlage gesetzt worden ist.200

Die „Reine Rechtslehre“ analysiert das Grundrecht der Gleichheit – den sogenannten

„Gleichheitssatz“ - und kommt zu dem Ergebnis, dass mit dem Begriff der Gleichheit

entweder eine „Gleichheit im Gesetz“ oder eine „Gleichheit vor dem Gesetz“ gemeint ist:

Ist eine „Gleichheit im Gesetz“ gemeint, so versteht es sich zunächst von selbst, dass

eine Verfassung nicht vorschreiben kann, der Gesetzgeber müsse in den von ihm zu

erlassenden Gesetzen alle Menschen in jeder Hinsicht völlig gleich behandeln.201

„Eine solche Gleichheit kann nicht gemeint sein, da es absurd wäre, ohne

irgendwelche Unterschiede ……………. allen Individuen die gleichen Pflichten aufzuerlegen und die gleichen Rechte zu verleihen.“202 Verlangt die Verfassung

vom Gesetzgeber eine „Gleichheit im Gesetz“, so bedeutet dies, dass

Unterscheidungen sehr wohl gemacht werden dürfen und auch gemacht werden

müssen, dass aber ganz bestimmte Unterscheidungen – in bestimmten

Zusammenhängen - nicht erlaubt sind. Die Verfassung listet einen Katalog von verbotenen Kriterien der Unterscheidung auf. Sie legt – zum Beispiel - fest, dass

auf Grund der Hautfarbe, der Rasse, des Geschlechtes, des Alters, des Vermögens,

der Religion, der Weltanschauung oder der Parteizugehörigkeit – in bestimmten

Zusammenhängen - keine Unterscheidungen gemacht werden dürfen.203

Enthält die Verfassung demgegenüber bloß eine allgemein gehaltene Formel, die

allen Individuen eine umfassende Gleichheit verspricht, erklärt sie somit nicht

200 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 143 ff. 201 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 145 f. 202 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 146. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 203 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 143 ff.

Page 50: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

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bestimmte Unterscheidungen für unzulässig und listet sie auch keinen Katalog von

verbotenen Kriterien der Unterscheidung auf, „bedeutet diese verfassungsmäßig

garantierte Gleichheit kaum etwas anderes als Gleichheit vor dem Gesetz.“204

Wird von der Verfassung ein Grundrecht gewährt und gleichzeitig bestimmt, dass

dieses „Grundrecht“ nur insoweit als garantiert gilt, als es nicht durch Gesetze

eingeschränkt wird, liegt kein subjektives politisches Recht vor. Vielmehr weist die

„Reine Rechtslehre“ nach, dass es sich in diesem Falle um eine bloße Scheingarantie handelt.205

Ein echtes politisches subjektives Recht stellt ein Grundrecht nur dann dar,

„wenn die Rechtsordnung den Individuen, die durch ein verfassungswidriges Gesetz

betroffen sind, die Rechtsmacht verleiht, durch Antrag das Verfahren zu initiieren,

das zur Aufhebung des verfassungswidrigen Gesetzes führt.“206 Das subjektive

politische Recht stellt die Rechtsmacht dar, an der Erzeugung von Rechtsnormen mitzuwirken. Die erzeugten Normen können – ausschließlich - den Sinn haben,

andere Normen aufzuheben. Im Vergleich mit dem subjektiven Privatrecht im technischen Sinn fällt eine Gemeinsamkeit und ein Unterschied auf: In beiden

Fällen wird bestimmten, berechtigten Personen von der Rechtsordnung eine Rechtsmacht verliehen. Diese Rechtsmacht besteht – in beiden Fällen - darin, an der Erzeugung von Rechtsnormen mitzuwirken. Das subjektive politische Recht

dient jedoch – im Gegensatz zum subjektiven Privatrecht im technischen Sinn - nicht

der Geltendmachung der Nichterfüllung einer Rechtspflicht.207

1.2.20 Stellvertretung und Organschaft

Die „Reine Rechtslehre“ legt dar, dass die Begriffe der (gesetzlichen)

„Stellvertretung“ und der „Organschaft“ eine innere Verwandtschaft aufweisen: Beide

Begriffe beruhen auf einer „Zuschreibung“. Dies bedeutet: Sie stellen eine Fiktion,

eine bloße Gedankenoperation dar. Der Stellvertreter und das Organ – und nicht der

Handlungsunfähige und die Gemeinschaft - legen das rechtlich relevante Verhalten an den Tag.208 „Die vielfach erörterte Frage nach dem Unterschied

204 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 146. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 205 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 147. 206 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 148. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 207 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 148. 208 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 166.

Page 51: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

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zwischen Organschaft und Stellvertretung ist eine Frage der Zuschreibung.“209 Die

Fiktion der Zuschreibung, die eine Gedankenoperation der Rechtswissenschaft und keine Schöpfung des Rechts ist, führt dazu, dass der Handlungsunfähige als

handlungsfähig und die Gemeinschaft als handelnde Person angesehen werden.

Tatsächlich und in Wahrheit wird jedoch die von der Rechtsordnung bestimmte

Funktion vom Stellvertreter (und nicht vom Vertretenen) und vom Organ (und nicht

von der Gemeinschaft) geleistet. „Zuschreibung“ ist nicht verboten. Wichtig ist nur,

sich dessen bewusst zu sein, dass es sich dabei um eine gedankliche Operation –

und damit um eine Fiktion - handelt. Jeder rechtliche Sachverhalt, der in Form einer

– immer fiktiven - Zuschreibung dargestellt wird, lässt sich auch anders – ohne

Zuschreibung - darstellen.210

1.2.21 Rechtsnorm und Rechtssatz

Gegenstand der Rechtswissenschaft ist das Recht, das – unter anderem - als ein

„System von Normen“ definiert wird.211 Die Rechtswissenschaft richtet ihre

Erkenntnis auf „Rechtsnormen“212. Das menschliche Verhalten als solches ist kein

Gegenstand der Rechtswissenschaft. Es ist dann – und nur dann - von Bedeutung,

wenn es als Inhalt von Rechtsnormen in Erscheinung tritt. Die Aufgabe von

Rechtsnormen besteht darin, menschliches Verhalten zu regeln. Dieses wird – durch

die Struktur der Rechtsnorm - als Bedingung oder als Folge bestimmt. Die

Rechtswissenschaft beschäftigt sich sehr wohl – und das sogar in einem besonders

starken Maße - mit menschlichem Verhalten. Doch handelt es sich dabei

ausschließlich um ein Verhalten, das von Rechtsnormen bestimmt ist. Nur die

Rechtsnormen und deren Inhalt stellen den Erkenntnisgegenstand der

Rechtswissenschaft dar. Verlässt die Rechtswissenschaft ihren Gegenstand,

indem sie ihn überschreitet und sie Aussagen jenseits des Rechts trifft, verlässt sie

sich selbst und verliert sie ihren Charakter als Wissenschaft.213

Die Rechtswissenschaft erkennt und beschreibt das Recht. Die Sätze, mit denen die

Rechtswissenschaft das Recht – und damit die Rechtsnormen - beschreibt, werden

209 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 193. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 210 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 166 ff. 211 Zu den Definitionen des Begriffs des „Rechts“ siehe oben. 212 Zum Begriff und zu der Struktur der „Rechtsnorm“ siehe oben. 213 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 72 ff.

Page 52: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

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als „Rechtssätze“ bezeichnet. Anders gewendet: Die von einer Rechtsautorität

geschaffenen Rechtsnormen werden von der Rechtswissenschaft und deren

Rechtssätzen beschrieben. Rechtssätze stellen eine Beschreibung, Rechtsnormen

eine Vorschreibung dar. Rechtssätze sind hypothetische Urteile über eine

bestimmte Rechtsordnung und deren Rechtsnormen. Sie sagen aus, dass unter

bestimmten Bedingungen bestimmte Folgen eintreten sollen. Diese Urteile können –

als Aussagen über einen Gegenstand - wahr oder falsch sein. Rechtsnormen

hingegen können nur gelten214 oder nicht gelten. Sie können nicht wahr oder falsch

sein.215

Die Funktion der Rechtswissenschaft besteht in der Erkenntnis und der

Beschreibung des Rechts. Die Rechtswissenschaft besitzt Erkenntnisfunktion. Die

Funktion der Rechtsautorität besteht in der Schaffung und Erzeugung des Rechts.

Die Rechtsautorität besitzt Willensfunktion. Es ist für die „Reine Rechtslehre“ von

großer Bedeutung, dass zwischen „Recht“ und „Rechtswissenschaft“ streng unterschieden wird. Sie lehnt eine Vermengung dieser beiden Begriffe als

unzulässig ab. Die einzige Gemeinsamkeit zwischen der „Rechtswissenschaft“ und

dem „Recht“ als ihrem Gegenstand besteht darin, dass auch die beschreibenden

wissenschaftlichen Sätze der Rechtswissenschaft – die „Rechtssätze“ - Sollsätze

sind. Die Rechtssätze sind deswegen Sollsätze, weil sie Sollnormen beschreiben.

So wäre es – zum Beispiel - falsch zu sagen, dass nach einer bestimmten

Rechtsnorm ein Mensch, der einen Diebstahl begeht, mit Gefängnis bestraft wird. Es

ist nicht klar, ob der Diebstahl tatsächlich aufgeklärt wird und der Dieb daher bestraft

werden kann. Richtig ist es zu sagen, dass nach einer bestimmten Rechtsnorm ein

Mensch, der einen Diebstahl begeht, mit Gefängnis bestraft werden soll. Eine

Aussage, die davon spricht, dass etwas sein wird, besitzt einen völlig anderen

Inhalt als eine Aussage, die davon spricht, dass etwas sein soll.216 Auch ein

Rechtssatz ist – so wie die Rechtsnorm - ein Sollsatz. Zu beachten ist jedoch, dass

das Sollen des Rechtssatzes nicht wie das Sollen der Rechtsnorm einen

vorschreibenden, sondern bloß einen beschreibenden Sinn hat.217

214 Zum Begriff der „Geltung“ siehe oben. 215 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 73 ff. 216 Zu der – zwingend notwendigen - Unterscheidung zwischen einem „Sein“ und einem „Sollen“ siehe oben. 217 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 75 ff.

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Der Sprachgebrauch identifiziert – wogegen sich die „Reine Rechtslehre“ heftig

wendet - das Recht mit der sie beschreibenden Rechtswissenschaft. Dasselbe

geschieht mit den Begriffen „Moral“218 und „Ethik“: Die Moral als normative Ordnung

wird mit der sie beschreibenden Wissenschaft – der „Ethik“ - gleichgesetzt. Derartige

Identifizierungen und Vermengungen sind als unzulässig abzulehnen. „Der Ethiker ist

nicht die moralische Autorität, die die Normen setzt, die er in Sollsätzen

beschreibt.“219 Denkbar ist nur, dass er sich eine solche Autorität anmaßt. Macht er

dies, nimmt er sich das Recht heraus, die moralischen Vorschriften, die er bloß erkennen und beschreiben soll, selbst zu setzen, so „überschreitet er seine

Kompetenz als Repräsentant einer Wissenschaft und setzt sich der Frage aus, was

ihn zur Setzung von Moralnormen ermächtigt; eine Frage, auf die er kaum eine

hinreichende Antwort zu geben vermag.“220

Aufgabe der Rechtsautorität ist es, das Recht zu schaffen. Es zu erzeugen. Das

Recht stellt ein System von Normen dar. Die Rechtsautorität hat die Normen zu

erzeugen, die ein System und damit eine Ordnung – die Rechtsordnung - bilden.

Normen zu erzeugen bedeutet, bestimmte – intentional auf das Verhalten eines

anderen gerichtete - Willensakte zu setzen, deren subjektiver und objektiver Sinn ein Sollen und damit eine Norm ist. Unter dem „rechtlichen Sollen“ wird vor allem ein

Gebieten, aber auch ein Ermächtigen und ein positives Erlauben verstanden.221 Die

Rechtswissenschaft hat demgegenüber nicht – so wie die Rechtsautorität - das

Recht zu schaffen. Es zu erzeugen. Die Rechtswissenschaft hat das Recht zu erkennen und zu beschreiben. Gleichzeitig bleibt jedoch „richtig, dass, im Sinne

der Kantschen Erkenntnistheorie, die Rechtswissenschaft als Erkenntnis des Rechts,

so wie alle Erkenntnis, konstitutiven Charakter hat und daher ihren Gegenstand

insofern erzeugt, als sie ihn als ein sinnvolles Ganzes begreift.“222

Die von Kelsen unter Bezugnahme auf Kant223 angesprochene „Erzeugung des

Wissenschaftsgegenstandes durch die Wissenschaft“ besitzt – ausschließlich -

erkenntnistheoretischen Charakter. Diese Form der „Erzeugung“ darf nicht mit dem –

218 Zum Begriff der „Moral“ und zur Abgrenzung des „Rechts“ von der „Moral“ siehe unten. 219 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 75. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 220 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 75. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 221 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 4 ff. 222 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 74. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 223 Immanuel Kant: *1724 Königsberg, †1804 Königsberg. Deutscher Philosoph.

Page 54: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

54

vertrauten und üblichen - Begriff der Erzeugung verwechselt werden, der eine

tatsächliche Hervorbringung meint. Es wäre ein schwerer gedanklicher Fehler,

eine erkenntnistheoretische „Erzeugung“ mit einer tatsächlichen Erzeugung – zum

Beispiel von Gegenständen durch menschliche Arbeit oder von Rechtsnormen durch

die Rechtsautorität - zu verwechseln.224

1.2.22 Kausalität und Zurechnung Gegenstand der Naturwissenschaft ist die Natur. Gegenstand der

Rechtswissenschaft ist das Recht. Unter dem Begriff „Natur“ wird ein System von

Elementen verstanden, die miteinander als Ursache und Wirkung verknüpft sind.

Das Ordnungsprinzip, das natürliche Elemente miteinander als Ursache und

Wirkung verknüpft, wird als „Kausalität“ bezeichnet. Die sogenannten

„Naturgesetze“, mit denen die Naturwissenschaft ihren Gegenstand – die Natur -

beschreibt, stellen Anwendungen des Ordnungsprinzips der Kausalität dar.225

Das Recht ist keine Natur. Es ist eine normative Ordnung menschlichen Verhaltens.

Das Recht stellt ein System von Normen dar, die das gegenseitige Verhalten der

Menschen regeln.226 Die Naturwissenschaft erkennt und beschreibt ihren

Gegenstand – die Natur - nach dem Prinzip der Kausalität. Für die Beschreibung des Rechts durch die Rechtswissenschaft ist jedoch das Ordnungsprinzip der

Kausalität nicht geeignet. Es würde zu falschen Aussagen führen. Die

Rechtswissenschaft findet ihr Prinzip, mit dem sie den Gegenstand des Rechts

beschreiben kann, im Begriff der „Zurechnung“: Das Ordnungsprinzip der Zurechnung, mit dem die Rechtswissenschaft – in ihren Rechtssätzen227 - das

Recht beschreibt, ist – aber nur unter einem bestimmten Gesichtspunkt - dem Prinzip

der Kausalität analog. „Die Analogie besteht darin, dass das in Rede stehende

Prinzip in den Rechtssätzen eine ganz ähnliche Funktion hat wie das

Kausalitätsprinzip in den Naturgesetzen, mit denen die Naturwissenschaft ihren

Gegenstand beschreibt.“228 Das Prinzip der Zurechnung ist dem Kausalitätsprinzip

insofern ähnlich, als im Rechtssatz nicht anders als im Naturgesetz zwei Elemente

224 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 74 ff. 225 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 78 f. 226 Zu den Definitionen des Begriffs des „Rechts“ siehe oben. 227 Zum Begriff des „Rechtssatzes“ siehe oben. 228 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 80. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.)

Page 55: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

55

miteinander verknüpft werden. „Aber die Verknüpfung, die im Rechtssatz zum

Ausdruck kommt, hat eine völlig andere Bedeutung als jene, die das Naturgesetz

beschreibt: die Kausalität.“229

Die Gemeinsamkeit zwischen Kausalität und Zurechnung liegt darin, dass beide

Begriffe eine Verknüpfung von Elementen zum Ausdruck bringen. Die Bedeutung

der Verknüpfung der Elemente im Rechtssatz ist jedoch verschieden von der

Bedeutung der Verknüpfung der Elemente im Naturgesetz. Im Rechtssatz wird ein

Element nicht als eine Ursache mit ihrer Wirkung verknüpft. „Im Rechtssatz wird

nicht, wie im Naturgesetz, ausgesagt, dass, wenn A ist, B ist, sondern, dass, wenn A

ist, B sein soll, auch wenn B vielleicht tatsächlich nicht ist.“230 Verknüpft wird im

Recht – zum Beispiel - das Verbrechen mit der Strafe, das Zivildelikt mit der

Zwangsvollstreckung, die ansteckende Krankheit mit der Internierung des Kranken.

Dabei wird nicht – definitiv nicht - ein Element als eine Ursache mit ihrer Wirkung verknüpft. Es findet keine naturwissenschaftliche oder kausale

Verknüpfung statt. Vielmehr kommt das Prinzip der Zurechnung zur Anwendung. Der

Rechtssatz allgemein formuliert lautet:

Unter bestimmten – von der Rechtsordnung bestimmten - Bedingungen soll ein

Zwangsakt als Folge – ein von der Rechtsordnung bestimmter Zwangsakt - gesetzt

werden.231

1.2.23 Recht und Moral

Das Recht wird als ein System von Normen definiert und damit von der Natur

abgegrenzt. Neben den Rechtsnormen gibt es auch andere Normen, die das gegenseitige Verhalten der Menschen regeln. Es sind Normen, die unter dem

Begriff der „Moral“ zusammengefasst werden. Rechtsnormen und Moralnormen sind

soziale Normen. Im Vordergrund steht die Regelung des Verhaltens der Menschen

anderen Menschen gegenüber. Das Verhalten eines Menschen sich selbst

gegenüber ist von nachrangiger Bedeutung. Unter „Normen“232 sind „Sinngehalte“

229 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 80. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 230 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 80. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 231 Zur Definition und zur Struktur der „Rechtsnorm“ siehe oben. 232 Zum Begriff und zur Struktur der „Norm“ siehe oben.

Page 56: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

56

zu verstehen. Rechtsnormen stellen den Sinn der das Recht setzenden,

Moralnormen den Sinn der die Moral setzenden Akte dar. Die Wissenschaft vom

Recht wird als Rechtswissenschaft, die Wissenschaft von der Moral als Ethik

bezeichnet.233 Die „Reine Rechtslehre“ legt vor dem Hintergrund ihres Strebens nach methodischer Klarheit auf bestimmte Unterscheidungen sehr großen Wert:

Zunächst ist wichtig, dass wissenschaftliche Gegenstände – wie die Natur, das

Recht, die Moral - nicht mit den sie erkennenden und beschreibenden

Wissenschaften – wie der Naturwissenschaft, der Rechtswissenschaft, der Ethik -

verwechselt werden. Mindestens ebenso wichtig ist die Abgrenzung der

Wissenschaftsgegenstände untereinander. Die Trennung des Rechts von der Moral ist der „Reinen Rechtslehre“ ein besonderes Anliegen. Die

Rechtswissenschaft und die Ethik sind keine Tatsachenwissenschaften und keine

Kausalwissenschaften. Sie sind Norm-Wissenschaften, weil sie Soll-Normen als Sinngehalte und keine Seinstatsachen zum Gegenstand haben. Gleichzeitig können

sowohl die Rechtswissenschaft als auch die Ethik als empirische Wissenschaften

bezeichnet werden.234

Das Recht und die Moral – oder die Rechtsnormen und die Moralnormen - weisen

sehr viele Gemeinsamkeiten auf. Dennoch – oder gerade deswegen - ist eine

Abgrenzung des Rechts von der Moral unerlässlich. Das gilt auch für das Verhältnis

zwischen Recht und „Gerechtigkeit“235. Der Begriff der Gerechtigkeit stellt im

Verhältnis zur Moral einen Unterbegriff dar. Die Gerechtigkeit ist ein besonderer

Anwendungsfall der Moral. Gerechtigkeit ist – wenn man so möchte - Moral im

engeren Sinn.236 „Insofern Gerechtigkeit eine Forderung der Moral ist, ist in dem

Verhältnis von Moral und Recht das Verhältnis von Gerechtigkeit und Recht

inbegriffen.“237

Das Kriterium der – zwingend notwendigen - Unterscheidung zwischen Recht und

Moral kann ausschließlich in der Antwort auf die Frage erkannt werden, wie, auf welch eine Art und Weise den Menschen ein Verhalten vorgeschrieben, geboten

233 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 60 ff. 234 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 60 f. 235 Zum Begriff der „Gerechtigkeit“ siehe unten. 236 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 60 ff. 237 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 60 f. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.)

Page 57: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

57

und verboten wird. Die Antwort auf die Frage, was geregelt, vorgeschrieben, geboten

und verboten wird, kann hingegen kein taugliches Abgrenzungskriterium sein. In

beiden sozialen Ordnungen, im Recht und in der Moral, sind alle nur denkbaren Regelungsinhalte zu finden. Auch ist die Meinung der „Traditionellen Theorie“ nicht

richtig, dass das Recht ein äußeres und die Moral (bloß) ein inneres Verhalten

vorschreiben würde. So kann – zum Beispiel - Selbstmord nicht nur von einer

Moralordnung, sondern auch von einer Rechtsordnung verboten sein.

Die berühmte Unterscheidung von Kant zwischen „Legalität“ und „Moralität“,

die in der „Reinen Rechtslehre“ ausführlich erörtert wird238, beruht auf dem

Gedanken, dass das Recht eine Regelung äußeren Verhaltens und die Moral eine

Regelung inneren Verhaltens – des Motivs eines Verhaltens - wäre. Die „Reine

Rechtslehre“ lehnt den Gedanken von Kant ab. Auch unterstützt sie nicht die

Unterscheidung von Kant zwischen einer Handlung, die „aus Pflicht“ und einer

Handlung, die (bloß) „aus Neigung“ gesetzt wird. Unter einer Handlung aus Pflicht versteht Kant eine Handlung, die in Übereinstimmung mit dem Gesetz erfolgt. Eine

Handlung (bloß) aus Neigung definiert er als eine Handlung, die deswegen gesetzt

wird, weil der Handelnde bei Vornahme seiner Handlung ein inneres Vergnügen

empfindet. Die „Reine Rechtslehre“ weist in Auseinandersetzung mit Kant darauf hin,

dass eine Handlung aus Pflicht insofern auch eine Handlung aus Neigung sein

kann, als es durchaus ein „inneres Vergnügen“ bereiten kann, in Übereinstimmung

mit dem Gesetz zu handeln. Die Frage nach dem Motiv erkennt die „Reine

Rechtslehre“ als eine psychologische Frage.239 Damit ist nachgewiesen, dass die

Antwort auf die Frage, ob eine bestimmte Handlung ein inneres Vergnügen bereitet

oder nicht, kein taugliches Abgrenzungskriterium zwischen Recht und Moral

darstellen kann. Aber auch in Bezug auf ihre Erzeugung lassen sich Rechtsnormen

und Moralnormen nicht deutlich voneinander unterscheiden. „So wie die Normen des

Rechts werden auch die Normen der Moral durch Gewohnheit und bewusste

Satzung (etwa seitens eines Propheten oder Religionsstifters wie Jesus) erzeugt.“240

Das Kriterium der Unterscheidung zwischen Recht und Moral findet sich nicht in

der Antwort auf die Frage, was den Menschen in inhaltlicher Hinsicht durch eine

238 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 63 f. 239 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 63 f. 240 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 64. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.)

Page 58: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

58

soziale Ordnung vorgeschrieben wird. Das Kriterium der Unterscheidung zwischen

Recht und Moral findet sich nicht in einem Was. Es findet sich in einem Wie. Es

findet sich in der Antwort auf die Frage, wie, auf welch eine Art und Weise den

Menschen das vorgeschrieben wird, was ihnen – in inhaltlicher Hinsicht -

vorgeschrieben wird. Die Unterscheidung zwischen Recht und Moral ist eine Frage

nach den Mitteln der Durchsetzung der Normen.241

Eine klare und verlässliche – und dringend gebotene - Trennung einer positiven

Rechtsordnung von einer positiven Moralordnung ist nur möglich, wenn die

Wissenschaft „das Recht als Zwangsordnung, das heißt als eine normative

Ordnung begreift, die …. einen gesellschaftlich organisierten Zwangsakt knüpft,

während die Moral eine gesellschaftliche Ordnung ist, die keine solchen Sanktionen

statuiert;“242

Das Recht und die Moral stellen verschiedene Arten von Normensystemen dar.

Die Gerechtigkeit ist als Teil der Moral zu verstehen. Sie stellt im Verhältnis zur

Moral einen Unterbegriff dar. Beide Normensysteme bestehen insofern aus sozialen Normen, als sie das Verhalten von Menschen gegenüber anderen Menschen

regeln. Die in der Rechtswissenschaft und Rechtstheorie heftig umstrittene Frage

nach dem Verhältnis von Recht und Moral – und damit gleichzeitig auch die Frage

nach Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit - beantwortet die „Reine Rechtslehre“

sehr eindeutig: Sie bekennt sich zur sogenannten „Trennungsthese“, die besagt,

dass das Recht von der Moral möglichst scharf abzugrenzen ist. Die „Reine

Rechtslehre“ legt sehr großen Wert darauf, dass das Recht ohne Bezugnahme auf die Moral definiert wird. In die Definition des Rechtsbegriffs243 darf kein Element

eines moralischen Inhalts aufgenommen werden. Der Grund für die aus der Sicht der

„Reinen Rechtslehre“ zwingend notwendige Trennung des Rechts von der Moral liegt darin, dass es eine absolute Moral, die zu allen Zeiten und an allen Orten

gelten würde, nicht gibt.244 Vielmehr gibt es nur eine relative Moral. Es gibt nur –

wenn man so möchte - viele verschiedene Moralen. Es gibt „nicht nur eine einzige

Moral, die Moral, sondern viele, von einander höchst verschiedene und vielfach

einander widersprechende Moralsysteme.“245 Gibt es aber viele verschiedene

241 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 64. 242 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 64 f. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 243 Zu den Definitionen des Begriffs des „Rechts“ siehe oben. 244 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 65 ff. 245 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 70. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.)

Page 59: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

59

Moralsysteme und damit keine absolute, sondern bloß eine relative Moral, kann es

auch keinen absoluten Maßstab für die Bewertung einer positiven Rechtsordnung

geben. Damit ist die von der „Traditionellen Theorie“ vertretene Auffassung widerlegt,

„dass das Recht seinem Wesen nach moralisch sein müsse, dass eine

unmoralische gesellschaftliche Ordnung nicht Recht sei“246. Die Bestimmung des

Rechtsbegriffs unter Bezugnahme auf die Moral würde eine absolute Moral voraussetzen. Da es aber keine absolute, sondern bloß eine relative Moral gibt, ist

eine Aufnahme eines Elements der Moral in den Rechtsbegriff nicht möglich. Die

Behauptung der „Traditionellen Theorie“, dass das Recht seinem Wesen nach

moralisch sein müsse, ist als nicht konsequent zu Ende gedacht – und damit als

falsch - abzulehnen.247

Es ist eine gesellschaftliche und geschichtliche Wahrheit (die wegen ihrer

Offensichtlichkeit keines Beweises bedarf), dass „zu verschiedenen Zeiten, bei

verschiedenen Völkern und selbst bei demselben Volke innerhalb verschiedener

Stände, Klassen und Professionen sehr verschiedene und einander

widersprechende Moralsysteme gelten“248. Vor dem Hintergrund der Tatsache,

dass es sehr viele und nicht selten einander widersprechende Moralsysteme gibt,

behauptet die „Traditionelle Theorie“249, dass die Moralnormen der verschiedenen

Moralsysteme „etwas enthalten müssen, das allen möglichen Moral- als

Gerechtigkeits-Systemen gemeinsam ist“250. Es wird argumentiert, dass es so etwas

wie ein „moralisches Minimum“ geben müsse und dass das Recht, wenn es als

Recht gelten und nicht als Nicht-Recht disqualifiziert werden wolle, auch diese

Minimalforderung der Moral erfüllen müsse. Nicht selten wird das Friedensideal als „moralisches Minimum“ und damit als eine – allen positiven Moralordnungen

gemeinsame - absolute Moral behauptet. Doch auch der Versuch der „Traditionellen

Theorie“, in den verschiedenen Moralsystemen einen als „moralisches Minimum“

bezeichneten gemeinsamen Inhalt zu finden, muss als gescheitert angesehen

werden.251

246 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 71. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 247 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 65 ff. 248 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 66. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 249 Kelsen versteht unter dem Begriff der „Traditionellen Theorie“ alle rechtstheoretischen Bemühungen „vor seiner Zeit“. 250 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 66. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 251 Vgl. Kelsen Reine Rechtslehre2 (1960) 65 ff.

Page 60: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

60

„Angesichts der außerordentlichen Verschiedenheit dessen, was die Menschen

tatsächlich zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten für gut und böse,

gerecht und ungerecht halten, lässt sich aber kein den Inhalten der verschiedenen

Moralordnungen gemeinsames Element feststellen.“252 Insbesondere stellt das

Friedensideal keinen Inhalt dar, der allen Moralsystemen gemeinsam wäre. Es gibt

zahlreiche Moralsysteme, die sich für den Frieden und gegen den Krieg und die

Gewalt aussprechen. Doch gilt das nicht für alle Moralsysteme. Und exakt darauf

kommt es bei der Frage an, ob es eine absolute oder doch nur eine relative Moral gibt. Das Friedensideal stellt keine absolute – sondern nur eine relative - Moralnorm

dar. Es sind durchaus Moralnormen aufzufinden, die im Krieg einen sittlichen Wert erkennen, „weil er die Betätigung von Tugenden, die Verwirklichung von Idealen

ermöglicht, die höher stehen als die Werte des Friedens“253.

Die „Reine Rechtslehre“ verweist – als Beispiel - auf den berühmten Ausspruch von

Heraklit254, dass „der Krieg von allem der Vater und von allem der König“ sei. Die

Ethik von Heraklit stellt eine Art Naturrechtslehre dar: „Daraus, dass die Wirklichkeit

der Natur Krieg und Streit als ein allgemeines Phänomen aufweist, folgt, dass Krieg

und Streit gerecht sind.“255

Die Forderung nach einer Trennung des Rechts von der Moral – und damit auch

die Forderung nach einer Trennung des Rechts von der Gerechtigkeit - bedeutet

„nicht etwa, dass Recht mit Moral, Recht mit Gerechtigkeit nichts zu tun habe“256.

Vielmehr erkennt die „Reine Rechtslehre“ ausdrücklich an, dass eine positive

Rechtsordnung „den moralischen Anschauungen einer bestimmten, insbesondere

der herrschenden Gruppe oder Schichte innerhalb der ihr unterworfenen

Bevölkerung entsprechen kann und tatsächlich auch in der Regel entspricht,

zugleich aber den moralischen Anschauungen einer anderen Gruppe oder

Schichte widerspricht;“257

252 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 66. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 253 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 67. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 254 Heraklit: *550 v. Chr. Ephesos, †480 v. Chr. Ephesos. Griechischer Philosoph. 255 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 66.(Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 256 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 68. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 257 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 70 f. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.)

Page 61: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

61

Die „Reine Rechtslehre“ liefert die Erkenntnis, dass es keine absolute, sondern nur eine relative Moral gibt. Es ist aber – selbstverständlich - möglich, eine bestimmte

Rechtsordnung unter moralischen Gesichtspunkten zu bewerten. Es ist möglich zu

sagen, eine bestimmte Rechtsordnung – oder auch nur eine bestimmte Rechtsnorm -

sei moralisch. Oder zu sagen, sie sei unmoralisch. Eine moralische Bewertung einer

positiven Rechtsordnung ist möglich. Wichtig ist nur zu erkennen, dass für eine

solche Bewertung kein absoluter Maßstab zur Verfügung steht. Es steht nur ein

relativer Maßstab zur Verfügung.258 „Jedes Moralsystem kann als ein solcher

Maßstab dienen.“259

Eine bestimmte Rechtsordnung kann moralisch bewertet werden. Als Maßstab dafür

kann jede auffindbare – immer bloß relativ gültige und relativ verbindliche -

Moralordnung dienen. Doch ist es nicht die Aufgabe der Rechtswissenschaft, eine

derartige moralische Bewertung vorzunehmen. Ihre Aufgabe ist es vielmehr, den

Wissenschaftsgegenstand – das positive Recht - zu erkennen und zu beschreiben.260

Die Funktion der Rechtswissenschaft ist „in keinem Sinne eine Wertung oder

Bewertung, sondern eine wertfreie Beschreibung ihres Gegenstandes.“261

258 Vgl. Kelsen Reine Rechtslehre2 (1960) 68 f. 259 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 69. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 260 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 69 f. 261 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 70. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.)

Page 62: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

62

1.3 Wichtige Aufsätze über die „Reine Rechtslehre“

1.3.1 Rudolf Thinel, Wien:

„Recht und Staat aus der Sicht der Reinen Rechtslehre“262

Am Beginn seiner Abhandlung über das Begriffspaar „Recht und Staat“ macht

Thienel deutlich, dass mit dem Begriff „Staat“ sehr Verschiedenes gemeint sein kann:

Es kann die gesamte Gesellschaft gemeint sein. Es können bestimmte Teile der

Gesellschaft gemeint sein. Es kann sogar nur – wenn vom „Staat Österreich“ oder

vom „Staat Italien“ gesprochen wird - eine bestimmte Landfläche gemeint sein.

Denkbar ist auch, dass mit dem Begriff „Staat“ jene „Staatsorgane“ bezeichnet

werden sollen, mit denen wir als Staatsbürger zu tun haben.263

In der Folge stellt Thienel den von der traditionellen Staats- und Rechtslehre

vertretenen Dualismus von Staat und Recht dar: Traditionell wird einem als „Staat“

bezeichneten sozialen Gebilde das „Recht“ als ein normatives Gebilde

gegenübergestellt. Der „Staat“ steht – als soziales Phänomen - hinter dem Recht. Er,

der „Staat“, wird als soziale Macht gedacht, die das „Recht“ mit Zwangsgewalt

durchsetzt. Üblich ist auch das Bild, dass eine bestimmte Rechtsordnung von einem

bestimmten Staat als faktische Macht „getragen“ wird.264

Die „Reine Rechtslehre“ lehnt den traditionellen Dualismus von „Staat und Recht“

vehement ab. Sie erkennt den Staat als normative Ordnungseinheit und damit als

Norm. Staat und Rechtsordnung sind ein und dasselbe. Ist die Identität von „Staat

und Recht“ erkannt, stellt sich die Frage nach einem wechselseitigen Verhältnis nicht

mehr.265

Die wissenschaftsgeschichtliche Frage, warum die traditionelle Staats- und

Rechtslehre einen Dualismus von Staat und Recht behauptet, lässt sich wie folgt

beantworten: Das menschliche Denken besitzt die Tendenz, abstrakte Gebilde zu

262 Vgl. Thienel, Recht und Staat aus der Sicht der Reinen Rechtslehre, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992). 263 Vgl. Thienel, Recht und Staat aus der Sicht der Reinen Rechtslehre, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 71. 264 Vgl. Thienel, Recht und Staat aus der Sicht der Reinen Rechtslehre, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 72. 265 Vgl. Thienel, Recht und Staat aus der Sicht der Reinen Rechtslehre, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 75 f.

Page 63: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

63

personifizieren. Der Staat als Summe von Rechtsnormen wird als Einheit erfasst. In

weiterer Folge neigt das menschliche Denken dazu, die Personifikation eines

abstrakten Gebildes zu „hypostasieren“: Die unter einem Begriff

zusammengefassten Einzelgegenstände (die einzelnen Rechtsnormen) werden als

eigener, selbstständiger Gegenstand begriffen und einem Einzelgegenstand (einer

einzelnen Rechtsnorm) gegenübergestellt. Auf diese Weise wird der Gegenstand der Betrachtung verdoppelt.266

Für den traditionellen Dualismus von Staat und Recht gibt es aber auch einen

ideologischen Grund: Werden Staat und Recht einander als zwei verschiedene

Phänomene gegenübergestellt, ist es möglich, bestimmte Handlungen auch im Falle

ihrer Rechtswidrigkeit zu Staatsakten zu erklären. Auf diese Weise findet auch ein

rechtswidriger Akt – als Staatsakt - seine Rechtfertigung. Für ein ideologisches

Denken ist es – ganz im Gegensatz zu einem rechtswissenschaftlichen Denken -

problemlos möglich, von einem Staatshandeln selbst dann noch zu sprechen, wenn

es sich bei den zu deutenden Akten um ermächtigungslose Akte handelt und die

Grenzen rechtlicher Bindung längst überschritten sind.267

Staat und Recht sind identisch. Der Staat ist ein normatives Phänomen. Er ist kein –

wie die traditionelle Staats- und Rechtslehre meint - „soziales Gebilde“. Er ist auch

kein „reales Faktum“. Der Staat ist ausschließlich eine Rechtsordnung. Er besteht

aus Normen. Beschrieben werden diese Normen von der „normativen

Rechtswissenschaft“. Die Soziologie hingegen kann keine Normen beschreiben. Als

„erklärende Sozialwissenschaft“ ist es ihre Aufgabe, menschliche Handlungen – und

damit Fakten - zu beschreiben und zu erklären. Der Gegenstand der Soziologie

unterscheidet sich fundamental vom Gegenstand der (normativen)

Rechtswissenschaft. Auch Methoden und Zielsetzungen der beiden Wissenschaften

unterscheiden sich grundlegend.268

Es ist wichtig zu verstehen, dass eine „staatliche Handlung“ nicht sinnlich

wahrgenommen werden kann. Die „Staatsqualität“ einer Handlung ist immer das

Ergebnis eines – vorangehenden - Deutungsvorgangs: Bestimmte menschliche

266 Vgl. Thienel, Recht und Staat aus der Sicht der Reinen Rechtslehre, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 75 f. 267 Vgl. Thienel, Recht und Staat aus der Sicht der Reinen Rechtslehre, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 76. 268 Vgl. Thienel, Recht und Staat aus der Sicht der Reinen Rechtslehre, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 77 f.

Page 64: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

64

Handlungen, deren Realität als menschliche Handlungen unbestritten ist,

„verwandeln“ sich nur dadurch in Staatshandlungen, dass sie auf Grund einer

effektiven normativen Ordnung als „staatlich“ gedeutet werden.269

Das Problem des Staates ist ein Problem der Zurechnung. Der Staat ist nicht sinnlich

wahrnehmbar. Sichtbar und greifbar sind nur menschliche Handlungen. Zu

„staatlichen Handlungen“ werden (manche) menschliche Handlungen nur insofern,

als sie dem Phänomen „Staat“ – anhand einer Rechtsordnung - zugerechnet werden.

Der Staat ist immer nur die Personifikation einer Rechtsordnung. Wird ein

bestimmtes menschliches Verhalten dem „Staat“ zugerechnet, setzt dies eine

geltende Rechtsordnung voraus. Ohne eine Rechtsordnung – ohne ein juristisches

Kriterium - ist eine Zurechnung nicht möglich.270

Es ist ein folgenschwerer Fehler der traditionellen Staats- und Rechtslehre, das

abstrakte Gebilde „Staat“ zu hypostasieren und damit als ein „übermenschliches

Gebilde“ zu begreifen. Wird von „Rechten“ und „Pflichten“ gesprochen, so muss klar

sein, dass nur Menschen Rechte und Pflichten haben können. Der „Staat“, der eine

Rechtsordnung ist, kann keine Rechte und Pflichten haben: Staatliche Handlungen

sind immer menschliche Handlungen. Es existiert kein „übernatürliches Wesen

Staat“. Der Ausdruck, dass der Staat „Träger von Rechten und Pflichten“ sei, ist

daher missverständlich. Es gibt nur Menschen mit bestimmten Rechten und

Pflichten. Manche Menschen sind – und das ist ihre besondere Stellung - zur

Ausübung der Organfunktionen ermächtigt.271

Die traditionelle Staats- und Rechtslehre begreift den Staat als ein „soziales Gebilde“,

das – so nimmt sie an - aus den Elementen „Staatsgebiet“, „Staatsvolk“ und

„Staatsgewalt“ bestehe. Eine Auffassung, die als verfehlt bezeichnet werden muss,

weil der „Staat“ – ausschließlich - eine Rechtsordnung darstellt:272

Das „Staatsgebiet“ ist nicht – wie die traditionelle Staats- und Rechtslehre meint -

eine geographische Einheit. Es kann nicht durch sinnliche Wahrnehmung geklärt

269 Vgl. Thienel, Recht und Staat aus der Sicht der Reinen Rechtslehre, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 78. 270 Vgl. Thienel, Recht und Staat aus der Sicht der Reinen Rechtslehre, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 78 f. 271 Vgl. Thienel, Recht und Staat aus der Sicht der Reinen Rechtslehre, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 79 f. 272 Vgl. Thienel, Recht und Staat aus der Sicht der Reinen Rechtslehre, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 81.

Page 65: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

65

werden, ob ein bestimmtes Stück Land zu einem Staat gehört oder nicht. Vielmehr

lässt sich erst nach einer juristischen Betrachtung – einer Deutung anhand einer Rechtsordnung - sagen, wie weit ein bestimmtes Staatsgebiet reicht. Das

sogenannte „Staatsgebiet“ ist nichts anderes als der räumliche Geltungsbereich

einer staatlichen Rechtsordnung.273

Das „Staatsvolk“ ist – ebenso wie das „Staatsgebiet - nicht sinnlich wahrnehmbar.

Nur einzelne Menschen und Gruppen von Menschen können sinnlich

wahrgenommen werden. Die Beantwortung der Frage, ob ein bestimmter Mensch zu

einem bestimmten „Staatsvolk“ gehört, setzt eine Deutung anhand einer Rechtsordnung voraus: Ob ein bestimmter Mensch – zum Beispiel - Österreicher

ist, ergibt sich nicht aus körperlichen oder geistigen Eigenschaften dieses Menschen.

Vielmehr entscheidet die österreichische Rechtsordnung, ob ein bestimmter Mensch

dem österreichischen „Staatsvolk“ angehört oder eben nicht angehört. Das

sogenannte „Staatsvolk“ ist damit nichts anderes als der persönliche Geltungsbereich einer staatlichen Rechtsordnung.274

Schließlich nimmt die traditionelle Staats- und Rechtslehre die „Staatsgewalt“ als

drittes und letztes Element des Staates an. Die „Staatsgewalt“ wird ihrerseits

untergliedert in die Unterformen „Legislative“, „Exekutive“ und „Judikative“. Die

traditionelle Vorstellung, dass die sogenannte „Staatsgewalt“ eine reale Macht sei,

die dem Staatsvolk gegenüber ausgeübt werde, ist verfehlt. Vielmehr ist die

„Staatsgewalt“ nichts anderes als die normative Geltung einer staatlichen Rechtsordnung. Zwang soll von den Organen dann – und nur dann - ausgeübt

werden, wenn die Rechtsordnung die Ausübung von Zwang gebietet. Die traditionelle

Auffassung, die „Gewalt des Staates“ bestünde in den faktischen

Zwangsmaßnahmen, die gegenüber den Rechtsunterworfenen gesetzt würden,

verkennt das wahre Wesen der „Staatsgewalt“. Sie, die sogenannte „Staatsgewalt“,

ist keine faktische Gewalt. Vielmehr stellt sie – ausschließlich - die Geltung einer staatlichen Rechtsordnung dar.275

273 Vgl. Thienel, Recht und Staat aus der Sicht der Reinen Rechtslehre, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 81. 274 Vgl. Thienel, Recht und Staat aus der Sicht der Reinen Rechtslehre, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 83. 275 Vgl. Thienel, Recht und Staat aus der Sicht der Reinen Rechtslehre, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 85 f.

Page 66: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

66

1.3.2 Gabriele Kucsko-Stadlmayer, Wien:

„Rechtsnormbegriff und Arten der Rechtsnormen“276 Kucsko-Stadlmayer zeigt, dass der Begriff der „Rechtsnorm“ für das Theoriegebäude

der „Reinen Rechtslehre“ ein Zentralbegriff ist. Kelsen definiere, so Kucsko-

Stadlmayer, den Begriff des Rechts als „Ordnung menschlichen Verhaltens“.

Gegenstand des Rechts sei das „menschliche Verhalten“. Wobei das Recht

menschliches Verhalten nur insoweit regeln würde, als es sich auf andere Menschen

beziehe. Damit stelle das Recht eine Gesellschaftsordnung dar.277

Eine Rechtsordnung stellt eine besondere Form einer Gesellschaftsordnung dar. Sie

ist eine Zwangsordnung: Damit ist gemeint, dass ein bestimmtes (sozial

erwünschtes) Verhalten insofern „geboten“ ist, als an das entgegengesetzte (sozial

unerwünschte) Verhalten ein Zwangsakt geknüpft wird. Das Zwangselement ist für

das Recht von sehr großer Bedeutung. Zu beachten ist, dass es bei der rechtlichen

Zwangsandrohung – im Gegensatz zur Drohung eines Straßenräubers - nicht um die

Aussage geht, dass Zwang ausgeübt werden wird. Vielmehr ist gemeint, dass – bei

Vorliegen der Voraussetzungen - Zwang ausgeübt werden soll. Das Recht beschreibt

kein Sein. Es beschreibt ein Sollen. Genauer: Das Recht stellt ein Sollen dar. Eine

strikte Unterscheidung zwischen einem „Sein“ und einem „Sollen“ ist in diesem

Zusammenhang unverzichtbar.278

Die „Reine Rechtslehre“ definiert das Recht als ein System von Rechtsnormen.

Rechtsnormen stellen ein Sollen dar. Doch ist nicht jedes Sollen ein „rechtliches

Sollen“: Der Befehl des Straßenräubers, den Beraubten niederzuschlagen, stellt

auch ein „Sollen“ dar. Bei diesem „räuberischen Sollen“ handelt es sich jedoch

insofern um kein „rechtliches Sollen“, als es nicht Teil einer Rechtsordnung ist. Das

„räuberische Sollen“ beruht auf keiner rechtlichen Ermächtigung. Es lässt sich nicht

auf einen gemeinsamen Geltungsgrund zurückführen, der den einzelnen

Rechtsnormen ihre Geltung verleiht und sie zu einer Einheit – einer einheitlichen

276 Vgl. Kucsko-Stadlmayer, Rechtsnormbegriff und Arten der Rechtsnormen, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992). 277 Vgl. Kucsko-Stadlmayer, Rechtsnormbegriff und Arten der Rechtsnormen, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 21. 278 Vgl. Kucsko-Stadlmayer, Rechtsnormbegriff und Arten der Rechtsnormen, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 22 f.

Page 67: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

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Rechtsordnung - verbindet. Der gemeinsame Geltungsgrund aller Rechtnormen einer

Rechtsordnung wird von der „Reinen Rechtslehre“ als „Grundnorm“ bezeichnet.279

Die „Reine Rechtslehre“ unterscheidet, so Kucsko-Stadlmayer, 4 Arten von Rechtsnormen: Die „Zwangsnorm“ (die auch als „Verhaltensnorm“ oder als

„Gebotsnorm“ oder als „Verbotsnorm“ bezeichnet wird). Die „Ermächtigungsnorm“

(die sich ihrerseits in „Erzeugungsnorm“ und „Vollzugsnorm“ unterscheiden lässt).

Die „erlaubende Norm“ (gemeint ist die „positiv erlaubende Norm“). Und die

„derogierende Norm“. Die zentrale und herausragende Gestalt der Rechtsnorm ist

die „Zwangsnorm“. Alle anderen Normtypen sind auf die „Zwangsnorm“ bezogen und

insofern Teile einer „normativen Zwangsordnung“.280

Der spezifische Charakter der Zwangsnorm besteht in der Unentbehrlichkeit des

Zwangselements: Wer einen Diebstahl oder einen Mord begeht, soll bestraft werden.

Das sozialschädliche (sanktionsauslösende) Verhalten stellt eine Bedingung für den

Zwangsakt dar. Das rechtliche Gebot, nicht zu stehlen oder nicht zu morden, ist nach

dem Konzept der „Reinen Rechtslehre“ noch keine Norm. Einem bloßen

Verhaltensgebot fehlt das für die Rechtsnorm wesentliche Zwangselement. Der

primäre Adressat der Norm ist das sanktionsverhängende Organ. Und nicht der

Einzelne. Dieser ist bloß sekundärer oder indirekter Adressat. Der Inhalt der

Zwangsnorm lautet: Wenn der Einzelne ein normwidriges Verhalten setzt, dann soll

ein bestimmter Zwangsakt gegen ihn – durch das zuständige Organ - gesetzt

werden. Die Rechtsnorm als Zwangsnorm, die definitionsgemäß eine Sanktion

enthält, wird auch als „primäre Norm“ bezeichnet. Wohingegen unter dem Ausdruck

der „sekundären Norm“ das Gebotensein des sozial erwünschten

(sanktionsvermeidenden) Verhaltens zu verstehen ist. Das Gebotensein eines

bestimmten Verhaltens ist – bei dieser Betrachtung - bloß indirekte Folge des Inhalts

einer Zwangsnorm.281

279 Vgl. Kucsko-Stadlmayer, Rechtsnormbegriff und Arten der Rechtsnormen, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 23. 280 Vgl. Kucsko-Stadlmayer, Rechtsnormbegriff und Arten der Rechtsnormen, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 23 ff. 281 Vgl. Kucsko-Stadlmayer, Rechtsnormbegriff und Arten der Rechtsnormen, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 23 ff.

Page 68: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

68

In einer Rechtsordnung sind jedoch nicht alle Normen als Zwangsnormen formuliert.

Nicht jede Norm gebietet ein bestimmtes Verhalten des Normunterworfenen unter

Sanktionsdrohung. Vielmehr gibt es zum Beispiel (auch) Normen, die zur Erlassung

von Gesetzen ermächtigen. Oder Normen, die ein bestimmtes rechtliches Verfahren

näher regeln. Oder Normen, die organisationsrechtliche Bestimmungen treffen. Wie

aber, so ist nun zu fragen, lässt sich der Rechtsnormbegriff der „Reinen Rechtslehre“

mit einer Normart vereinbaren, die kein Zwangselement enthält? Die „Reine

Rechtslehre“ löst dieses Problem dadurch, dass sie zwischen allen Normen und

Normarten einer Rechtsordnung einen Zusammenhang herstellt. Normen ohne ein

Zwangselement gelten als „unselbstständige Normen“ und werden auf Normen mit

einem Zwangselement – auf „Zwangsnormen“ und damit auf „selbstständige

Normen“ - zurückgeführt. Eine Norm ohne eine Zwangsandrohung ist nach dem

Konzept der „Reinen Rechtslehre“ keine selbstständige Rechtsnorm.282

„Ermächtigungsnormen“ werden in die Unterformen „Erzeugungsnormen“ und

„Vollzugsnormen“ zerlegt. Sie gelten als „unselbstständige Normen“, da sie kein

Zwangselement enthalten. Dies bedeutet: Das gesamte Verfassungsrecht, das

Organisationsrecht und das Verfahrensrecht sind in die Formulierung der

Zwangsnorm miteinzubeziehen. Alle Normen und Normarten finden ihre Auflösung in

der Definition der Zwangsnorm. Die „Reine Rechtslehre“ begründet diese, wie sie

sagt, „dynamische Normformulierung“ mit dem Umstand, dass für die Verhängung der Sanktion einer Zwangsnorm nicht nur der Verstoß gegen diese Norm, sondern

auch die Geltung dieser Norm eine Voraussetzung darstellt. Dies wiederum

bedeutet im Endergebnis: Alle Regeln über die Erzeugung und Anwendung von

Zwangsnormen (und damit alle „Ermächtigungsnormen“) stellen Bedingungen der Geltung von Zwangsnormen dar und sind mit ihnen untrennbar verbunden.283

Die zentrale Normkategorie im Konzept der „Reinen Rechtslehre“ ist die

„Zwangsnorm“: Wenn eine in der Norm genannte Bedingung erfüllt ist, dann soll

der in der Norm genannte Zwangsakt gesetzt werden. Eine „Ermächtigungsnorm“

mit ihren beiden Unterformen der „Erzeugungsnorm“ und der „Vollzugsnorm“ gilt als

282 Vgl. Kucsko-Stadlmayer, Rechtsnormbegriff und Arten der Rechtsnormen, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 27 ff. 283 Vgl. Kucsko-Stadlmayer, Rechtsnormbegriff und Arten der Rechtsnormen, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 28 ff.

Page 69: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

69

unselbstständige Norm. Sie entfaltet ihren normativen Sinn nur in Verbindung mit der

Zwangsnorm. Neben der Zwangsnorm und der Ermächtigungsnorm kennt die „Reine

Rechtslehre“ noch die beiden Normarten der „erlaubenden Norm“ und der

„derogierenden Norm“.284

Mit dem Begriff des „Erlaubt-Seins“ können zwei verschiedene rechtliche

Erscheinungen gemeint sein: Eine negative Erlaubnis meint, dass ein bestimmtes

Verhalten jedem Menschen freisteht, weil es ungeregelt ist. Es existiert keine

entsprechende Norm. Eine positive Erlaubnis meint, dass ein bestimmtes Verhalten

ausdrücklich – im Sinne einer Ausnahme - freigestellt wird, obwohl eine bestimmte

Verbotsnorm besteht. Rechtstechnisch gesehen wird bei einer positiven Erlaubnis

der Anwendungsbereich einer Norm eingeschränkt. Die „positiv erlaubende Norm“

als eigene Normkategorie zu begreifen, ist denkbar, aber nicht zwingend und auch

nicht wirklich nötig: Es handelt sich – in Wahrheit - um eine einzige Norm mit einem

eingeschränkten Anwendungsbereich.285

Unter dem Begriff der „Derogation“ wird eine Abänderung oder Aufhebung einer

alten Norm durch eine neue Norm verstanden. Von einer „materiellen Derogation“

wird gesprochen, wenn eine alte Norm abgeändert oder aufgehoben und gleichzeitig

eine neue Norm – mit einem anderen Inhalt - geschaffen wird. Von einer „formellen Derogation“ wird gesprochen, wenn eine alte Norm abgeändert oder aufgehoben

wird, ohne dass gleichzeitig eine neue Norm mit einem anderen Inhalt geschaffen

wird. Genauer: Eine „formell derogierende Norm“ ist eine Norm, deren Inhalt sich

ausschließlich in der Abänderung oder Aufhebung einer alten Norm erschöpft. Im

Gegensatz zu einer „positiv erlaubenden Norm“ lässt sich eine „formell derogierende

Norm“ nicht in den Begriff der Zwangsnorm integrieren. Es ist daher in diesem Fall –

ausnahmsweise - von einer eigenen, selbstständigen Normkategorie auszugehen.286

284 Vgl. Kucsko-Stadlmayer, Rechtsnormbegriff und Arten der Rechtsnormen, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 28 ff. 285 Vgl. Kucsko-Stadlmayer, Rechtsnormbegriff und Arten der Rechtsnormen, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 31 f. 286 Vgl. Kucsko-Stadlmayer, Rechtsnormbegriff und Arten der Rechtsnormen, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 33 f.

Page 70: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

70

Rechtsnorm und Rechtssatz

Für die „Reine Rechtslehre“ ist die Unterscheidung der Begriffe „Rechtsnorm“ und

„Rechtssatz“ von sehr großer Bedeutung: Rechtsnormen sind Sollensanordnungen.

Sie sind von der Rechtsautorität gesetzt, von den Rechtsunterworfenen zu befolgen

und von den Rechtsorganen anzuwenden. Es handelt sich um Vorschreibungen.

Rechtssätze hingegen sind Aussagen der Rechtswissenschaft über den Inhalt von

Rechtsnormen. Es handelt sich um bloße (wissenschaftliche) Beschreibungen. Und

eben nicht – wie bei den Rechtsnormen - um verbindliche Vorschreibungen. Ein

weiterer wichtiger Unterschied zwischen Rechtsnormen und Rechtssätzen besteht

darin, dass Rechtsnormen als Sollensanordnungen nicht wahr oder falsch sein können. Rechtsnormen können nur gelten oder nicht gelten. Wohingegen

Rechtssätze als wissenschaftliche Aussagen über den Inhalt von Rechtsnormen sehr

wohl wahr oder falsch sein können:

Geben Rechtssätze den Inhalt von geltenden Rechtsnormen richtig wieder, sind sie

wahr. Gegen sie diesen Inhalt nicht, unvollständig oder sinnentstellt wieder, sind sie

falsch. Abschließend sei darauf hingewesen, dass die „Reine Rechtslehre“ unter dem

Begriff der Rechtsnorm den „Sinn eines Willensaktes“ versteht. Sie hat dabei aber

nicht irgendeinen beliebigen, sondern einen ganz bestimmten Willensakt vor Augen:

Die „Reine Rechtslehre“ versteht unter dem Begriff der Rechtsnorm den „Sinn eines

Willensaktes, der intentional auf das Verhalten eines anderen Menschen gerichtet

ist“. Demgegenüber versteht die „Reine Rechtslehre“ unter einem Rechtssatz, der

eine Rechtsnorm bloß (wissenschaftlich) beschreibt, den „Sinn eines Denkaktes“.287

287 Vgl. Kucsko-Stadlmayer, Rechtsnormbegriff und Arten der Rechtsnormen, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 34 ff.

Page 71: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

71

1.3.3 Heinz Mayer, Wien:

„Die Theorie des rechtlichen Stufenbaus“288 Mayer zeigt, dass eine Strukturanalyse des Rechts sowohl unter dem Gesichtspunkt

des Inhalts als auch unter dem Gesichtspunkt der Form vorgenommen werden kann:

Stellt man die Frage, ob die einzelnen Rechtsvorschriften mit ihren verschiedenen

Inhalten in einem inhaltlichen Verhältnis zueinander stehen, fragt man nach dem Inhalt des Rechts. Stellt man hingegen die Frage, ob die einzelnen Rechtsformen

zueinander in einem bestimmten Verhältnis stehen, fragt man nach der Form des

Rechts.289

Ein Vergleich der Rechtsvorschriften sowohl unter dem Gesichtspunkt des Inhalts als

auch unter dem Gesichtspunkt der Form lässt verschiedene „Stufungen des Rechts“ erkennen. Wir können Vorschriften „höherer Stufe“ von Vorschriften

„niedrigerer Stufe“ unterscheiden. An dieser Stelle ist jedoch eine Warnung

auszusprechen: Der stufenförmige Aufbau einer bestimmten Rechtsordnung muss

immer aus dieser Rechtsordnung selbst abgeleitet werden. Die „Theorie des

rechtlichen Stufenbaus“ ist eine Strukturtheorie. Als solche ist sie bloß ein

Instrument zur Deutung des positiven Rechts. Die Stufenbautheorie ist ein

Instrument zur Erfassung der Struktur einer Rechtsordnung. Sie soll helfen, eine

bestimmte Rechtsordnung zu erkennen und zu beschreiben. Die Stufenbautheorie

kann inhaltliche und formelle Beziehungen von Rechtsvorschriften zueinander

sichtbar machen.290

Der Gesichtspunkt des Inhalts des Rechts

In einer positiven Rechtsordnung finden sich Vorschriften, die die Erzeugung anderer

Vorschriften regeln. Es gibt Normen des materiellen Rechts und Normen des

formellen Rechts, die bestimmten, wie – zum Beispiel - ein richterliches Urteil

auszusehen hat. Die Normen des materiellen und formellen Rechts, die das

richterliche Urteil bestimmen, werden als „Rechtserzeugungsregeln“ bezeichnet.

288 Vgl. Mayer, Die Theorie des rechtlichen Stufenbaus, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 37 ff. 289 Vgl. Mayer, Die Theorie des rechtlichen Stufenbaus, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 38 f. 290 Vgl. Mayer, Die Theorie des rechtlichen Stufenbaus, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 38 f.

Page 72: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

72

Diese „Rechtserzeugungsregeln“ können nun im Vergleich mit dem auf deren

Grundlage erzeugten Recht – zum Beispiel einem richterlichen Urteil - als „höher“

oder als „auf einer höheren Stufe stehend“ gedeutet werden. Wir sehen: Es gibt

„erzeugendes Recht“ (=materielle und formelle Rechtserzeugungsregeln) und

„erzeugtes Recht“. Wir können auch sagen: Es gibt „bedingendes Recht“ und

„bedingtes Recht“. Das „erzeugende oder bedingende Recht“ steht auf einer höheren

Stufe als das „erzeugte oder bedingte Recht“. Die Theoretiker der „Reinen

Rechtslehre“ sprechen folgerichtig vom „Stufenbau nach der rechtlichen Bedingtheit“. Ebenso Verwendung findet der Ausdruck „Stufenbau des

Erzeugungszusammenhanges“. Der „Stufenbau nach der rechtlichen Bedingtheit ist

als ein theoretisches Instrument zu verstehen: Es soll der Vergleich von

bedingendem (erzeugendem) und bedingtem (erzeugtem) Recht in nachvollziehbarer

und damit objektiver Weise ermöglicht werden.291

Der Gesichtspunkt der Form des Rechts

In einer positiven Rechtsordnung finden sich Vorschriften, die andere Vorschriften

aufheben oder abändern können. Man sagt: Eine bestimmte Vorschrift kann einer

anderen Vorschrift „derogieren“. Ob eine bestimmte Vorschrift einer anderen

Vorschrift derogieren kann oder nicht, entscheidet die positive Rechtsordnung: Kann

eine Vorschrift einer anderen derogieren, besitzt sie im Vergleich mit dieser Vorschrift

eine „höhere derogatorische Kraft“. Wichtig ist zu verstehen, dass die

„derogatorische Kraft“ eine von der Rechtsordnung verliehene und damit eine

„rechtliche Kraft“ ist. Sie darf nicht mit einer physikalischen Kraft verwechselt werden.

Eine absolute derogatorische Kraft gibt es nicht. Vielmehr ist die derogatorische Kraft

einer bestimmten Vorschrift nur eine relative. Ihre Ermittlung setzt einen Vergleich

voraus: Werden zwei Vorschriften einander gegenübergestellt und kann eine

Vorschrift der anderen derogieren, so besitzt diese Vorschrift der anderen gegenüber

eine höhere derogatorische Kraft.292

Die Betrachtung einer bestimmten Rechtsordnung zeigt, dass es nicht nur eine

einzige rechtliche Form gibt. Vielmehr weisen die Vorschriften einer bestimmten

291 Vgl. Mayer, Die Theorie des rechtlichen Stufenbaus, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 40 f. 292 Vgl. Mayer, Die Theorie des rechtlichen Stufenbaus, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 42 f.

Page 73: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

73

Rechtsordnung viele verschiedene rechtliche Formen auf. Betrachtet man die

einzelnen Rechtsformen genauer, fällt auf, dass unterschiedliche rechtliche Formen

auf eine unterschiedliche Weise zu erzeugen sind. In der Form einer rechtlichen

Vorschrift spiegelt sich somit deren rechtliche Erzeugungsweise wider: Es gibt

Vorschriften, die auf eine relativ einfache Weise zu erzeugen sind. Und es gibt

Vorschriften, die im Vergleich mit anderen Vorschriften schwieriger zu erzeugen sind.

In Bezug auf die oben erörterte Frage nach der derogatorischen Kraft kann das nur

bedeuten: Eine Vorschrift, die „schwierigerer“ zu erzeugen ist (und damit eine

„höhere“ Form aufweist) kann nicht durch eine Vorschrift abgeändert oder

aufgehoben werden, die „einfacher“ zu erzeugen ist (und damit eine „niedrigere

Form“ aufweist). Zwischen der Schwierigkeit der Erzeugungsweise einer Vorschrift,

ihrer Form und der (relativen) derogatorischen Kraft gibt es somit einen

Zusammenhang: Je „schwieriger“ die Erzeugung der Form einer Vorschrift, desto

höher deren (relative) derogatorische Kraft.293 Für den soeben dargestellten

„Stufenbau nach der derogatorischen Kraft“ gilt dasselbe wie für den oben

dargestellten „Stufenbau nach der rechtlichen Bedingtheit“: Der Stufenbau nach der

derogatorischen Kraft ist – so wie jeder Stufenbau - bloß ein theoretisches Instrument zur Erfassung einer Rechtsordnung.294

Die beiden „Stufenbautheorien“ (nach der rechtlichen Bedingtheit einerseits, nach

der derogatorischen Kraft andererseits) gliedern die Rechtsordnung unter

verschiedenen Gesichtspunkten: Der „Stufenbau nach der rechtlichen Bedingtheit“

blickt auf den Rechtsinhalt. Der „Stufenbau nach der derogatorischen Kraft“ blickt

auf die Rechtsform. Es ist daher durchaus denkbar, dass zwei Vorschriften, die in

einem Stufenbau im Verhältnis der Über- und Unterordnung stehen, im anderen

Stufenbau im Verhältnis der Gleichordnung stehen. Auch eine völlige Umkehrung

des Rangverhältnisses ist denkbar. Denn: Wie bereits mehrmals betont, handelt es

sich bei beiden Stufenbaumodellen um stukturtheoretische Modelle, die der

Erkenntnis dienen sollen. Eine Modelltheorie darf niemals mit der positivrechtlichen

Ausgestaltung einer bestimmten, konkreten Rechtsordnung verwechselt werden.295

293 Vgl. Mayer, Die Theorie des rechtlichen Stufenbaus, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 43 f. 294 Vgl. Mayer, Die Theorie des rechtlichen Stufenbaus, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 42. 295 Vgl. Mayer, Die Theorie des rechtlichen Stufenbaus, in: Walter (Hrsg), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre (1992) 44 f.

Page 74: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

74

1.4 Kritik der „Reinen Rechtslehre“ Beispielhaft sollen bestimmte, für das Theoriegebäude der „Reinen Rechtslehre“

besonders wichtige Themen und Themenkreise einer gesonderten Überprüfung

unterzogen werden:

1.4.1 Geltung und Wirksamkeit296

Der Begriff der Geltung beschreibt die spezifische Existenzweise des Rechts. Von

Wirksamkeit wird gesprochen, wenn das Recht tatsächlich befolgt oder angewendet

wird. Kelsen gibt zu, dass das Verhältnis zwischen Geltung und Wirksamkeit eines

der schwierigsten Probleme einer positivistischen Rechtstheorie ist.297 Eine

Identifikation der Geltung des Rechts mit seiner Wirksamkeit (=realistische

Rechtstheorie) lehnt Kelsen ab. Auch das andere Extrem, die Behauptung, dass

zwischen Geltung und Wirksamkeit überhaupt keine Beziehung bestehen würde

(=idealistische Rechtstheorie), lehnt er ab. Seine Lösung: Es gibt einen

Zusammenhang zwischen Geltung und Wirksamkeit. Und dieser Zusammenhang

besteht darin, dass die Wirksamkeit eine Bedingung der Geltung ist. Sie ist aber

nicht die Geltung selbst.298 Kelsen: „Eine Rechtsordnung wird als gültig angesehen,

wenn ihre Normen im Großen und Ganzen wirksam sind, das heißt tatsächlich

befolgt und angewendet werden.“299 Dies bedeutet:

Eine Rechtsordnung als Ganzes – und dasselbe gilt auch für eine einzelne

Rechtsnorm - verliert ihre Geltung, wenn sie dauernd nicht befolgt und dauernd

nicht angewendet wird. Wird sie nur hin und wieder nicht befolgt und hin und wieder

nicht angewendet, behält sie ihre Geltung.300 Die Kritik zielt nun auf die Frage: Wann

ist eine Rechtsordnung – oder eine einzelne Rechtsnorm - „im Großen und Ganzen“ wirksam? Was soll das heißen: Im Großen und Ganzen? An welch eine

Prozentzahl habe ich dabei zu denken? An 10%? An 25%? An 51%? Wer legt den

Maßstab fest? Wie soll eine Wirksamkeit „im Großen und Ganzen“ überprüft werden?

Es ist offensichtlich, dass der schwammige und absolut unbestimmte Ausdruck „im

296 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 215 ff. 297 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 215. 298 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 220. 299 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 219. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 300 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 216 f.

Page 75: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

75

Großen und Ganzen“ unbefriedigend ist. Er ist aus der geistigen Not geboren, in der

sich Kelsen wiederfindet, weil er einerseits eine Identifikation der Geltung des Rechts

mit seiner Wirksamkeit ablehnen, er aber gleichzeitig eine Beziehung zwischen Geltung und Wirksamkeit behaupten und herstellen will. Die Frage, ab wann von

einer Wirksamkeit „im Großen und Ganzen“ gesprochen werden kann, ist deswegen

von überragender Bedeutung, weil Kelsen seinen Gedanken nicht nur auf die

Rechtsordnung als Ganzes, sondern vor allem auch auf einzelne Rechtsnormen

bezieht:301 Dies bedeutet: Ich könnte nun als Rechtsunterworfener behaupten, diese

oder jene Rechtnorm habe „längst ihre Geltung verloren“, sie existiere also nicht

mehr als Norm und sei für mich nicht mehr verbindlich, weil sie „bereits eine zu lange

Zeit nicht mehr befolgt und auch nicht mehr angewendet“ werde. Die Frage jedoch,

ob eine Rechtsordnung als Ganzes – oder eine einzelne Rechtsnorm - gilt oder nicht

gilt, bedarf der Rechtssicherheit wegen einer klaren und eindeutigen Antwort. In der

entscheidenden Frage der Geltung darf es keine Unsicherheiten geben.

Kelsen definiert den Begriff der Wirksamkeit als die „tatsächliche Befolgung und

Anwendung“ des Rechts.302 Überraschend ist, dass Kelsen in die

Begriffsbestimmung der Wirksamkeit sowohl das Element der Befolgung als auch

das Element der Anwendung aufnimmt. Denn: Rechtsbefolgung und

Rechtsanwendung sind zwei völlig unterschiedliche Elemente. Zunächst sagt Kelsen,

dass Rechtsanwendung – fast immer - zugleich auch Rechtserzeugung ist. „Eine

Norm, die die Erzeugung einer anderen Norm bestimmt, wird in der von ihr

bestimmten Erzeugung der anderen Norm angewendet.“303 In weiterer Folge sagt

Kelsen, dass zwischen Rechtsbefolgung einerseits und Rechtsanwendung (und

Rechtserzeugung) andererseits unterschieden werden müsse.304 Kelsen bestimmt

die Rechtsbefolgung als ein Verhalten, „an dessen Gegenteil der Zwangsakt der

Sanktion geknüpft ist. Es ist vor allem das die Sanktion vermeidende Verhalten, die

Erfüllung der durch die Sanktion konstituierten Rechtspflicht.“305 Dies bedeutet:

Die Rechtsbefolgung stellt im Vergleich mit der Rechtsanwendung (und der

Rechtserzeugung) ein völlig eigenständiges rechtliches Phänomen dar. Dies

301 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 220. 302 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 215 ff. 303 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 240. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 304 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 242. 305 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 242. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.)

Page 76: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

76

scheint auch Kelsen so zu sehen. Immerhin bezeichnet er die Rechtsanwendung und

die Rechtserzeugung – nicht aber die Rechtsbefolgung - als „Rechtsfunktionen in

einem engeren, spezifischen Sinn“.306 Der Begriff der Rechtsbefolgung wird

definiert als die Übereinstimmung des Verhaltens der Menschen mit der

Rechtsordnung. Über die Gründe – die sogenannten Motive - des Verhaltens der

Menschen ist damit aber nichts ausgesagt. Eine Ansicht, die auch Kelsen teilt.307 Es

gibt nur eine Übereinstimmung von Verhaltensweisen mit einer Rechtsordnung.

Diese Übereinstimmung kann viele – auch zufällige - Gründe haben. Denkbar ist,

dass sich die Menschen an einer moralischen Norm orientieren, die sich gleichzeitig

auch in der Rechtsordnung wiederfindet. Ebenso ist denkbar, dass die Menschen

bloß bestimmten seelischen Vorlieben folgen, die – zufällig - auch rechtlich

vorgeschrieben werden. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen ist daher zu

sagen, dass der – sehr wichtige - Begriff der Wirksamkeit in das Element der

Rechtsbefolgung nicht aufgenommen werden sollte. Auch ist die Nennung der –

höchst unterschiedlichen - Begriffe der Rechtsanwendung und der Rechtsbefolgung

in einem Atemzug – so, als ob sie etwas Ähnliches zum Ausdruck bringen würden -

nicht sehr glücklich. Unter Wirksamkeit ist (ausschließlich) Rechtsanwendung zu verstehen. Eine Rechtsordnung ist wirksam, wenn sie auch angewendet – oder, wie

man sagt, „durchgesetzt“ - wird. Eine Rechtsnorm schreibt vor, dass unter

bestimmten Bedingungen ein bestimmter Zwangsakt als Folge gesetzt werden

soll.308 Es ist nun eine Frage der Wirksamkeit, ob dieser Zwangsakt, der gesetzt werden soll, auch tatsächlich gesetzt wird. Genauer: Es ist eine Frage der

Wirksamkeit, wie oft – und wie oft bedauerlicherweise nicht - der Zwangsakt, der gesetzt werden soll, auch tatsächlich gesetzt wird. Eine Rechtsordnung ist umso

wirksamer, je häufiger die zuständigen Rechtsorgane den Zwangsakt, der gesetzt

werden soll, auch tatsächlich setzen. Oder umgekehrt formuliert: Eine

Rechtsordnung ist umso unwirksamer, je häufiger die zuständigen Rechtsorgane

(leider) ein für jede Rechtsordnung absolut bedrohliches Verhalten an den Tag legen

und den Zwangsakt, der von ihnen gesetzt werden soll, einfach nicht und nicht – aus welchen Gründen auch immer - setzen.

306 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 242. 307 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 27 f. 308 Zum Begriff und zur Struktur der „Rechtsnorm“ siehe oben.

Page 77: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

77

1.4.2 Die Theorie der Grundnorm309

Die Theorie der Grundnorm stellt eine sehr wichtige Säule im Gedankensystem von

Hans Kelsen dar. Was genau unter dem Begriff der Grundnorm zu verstehen ist, ist

bereits oben – in aller Ausführlichkeit – dargestellt worden. An dieser Stelle sei nur in

Erinnerung gerufen, dass die Grundnorm keine gesetzte Norm und auch nicht

Bestandteil einer positiven Rechtsordnung, sondern nur eine „gedachte Norm“ ist.

Sie sei eine, wie Kelsen sagt, „transzendental-logische Denkvoraussetzung“. Die

Grundnorm beantwortet – in den Augen von Kelsen - zwei Fragen: Die Frage nach dem Geltungsgrund. Und die Frage nach der Einheit einer Vielheit von Normen.

Unter der Frage nach dem Geltungsgrund ist die Frage zu verstehen, warum eine

bestimmte Norm gilt. Es ist die Frage nach dem Grund, warum ich mich einer

bestimmten Norm entsprechend verhalten soll. Die Frage nach der Einheit einer

Vielheit von Normen ist die Frage, warum eine bestimmte Norm zu einer bestimmten

Ordnung gehört. Beide Fragen, so Kelsen, werden mit der Einführung der

Grundnorm beantwortet. Eine Norm gilt, weil sie – zunächst - ihren Geltungsgrund in

einer anderen – höheren - Norm findet. Aber da die Suche nach dem Geltungsgrund,

so Kelsen, nicht ins Endlose gehen könne, müsse eine letzte, höchste Norm – die Grundnorm - in einem Denkakt vorausgesetzt werden.310 Die Grundnorm stellt die

letzte, höchste gemeinsame Quelle aller Normen einer Rechtsordnung dar. Sie ist es,

die unendlich viele einzelne Rechtsnormen zu einer Einheit, zu einem System

zusammenführt.

Für Kelsen ist wichtig, dass die Grundnorm nur den – letzten, obersten -

Geltungsgrund für alle Normen einer Rechtsordnung liefert. Sie gibt aber keinen

bestimmten Inhalt vor.311 „Daher kann jeder beliebige Inhalt Recht sein.“312 Die

berühmte Aussage von Kelsen, dass jeder beliebige Inhalt Recht sein kann, führt

zwangsläufig zu der Frage nach dem Inhalt der „vorausgesetzten, bloß gedachten

Grundnorm“. Die Antwort von Kelsen lautet: Die Grundnorm hat den Inhalt, dass man

sich so verhalten solle, wie die – historisch erste - Verfassung vorschreibt.313

Die Grundnorm bezieht sich somit – und das ist Kelsen wichtig - unmittelbar auf eine

309 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 196 ff. 310 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 197. 311 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 199 f. 312 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 201. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 313 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 204 f.

Page 78: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

78

bestimmte – historisch erste - Verfassung und mittelbar auf eine bestimmte

Rechtsordnung. Als (bloß gedachte) Norm schreibt sie vor, dass man sich so verhalten solle, wie die Verfassung vorschreibt. Der historisch erste

Verfassungsgeber stellt für Kelsen die höchste Rechtsautorität dar. Sie, die höchste

Rechtsautorität, bestimmte den Inhalt der Verfassung und der Rechtsordnung. Die Grundnorm liefert nur die Geltung. Die Begründung der Geltung. Die Grundnorm

liefert die Begründung der Geltung für jeden beliebigen Inhalt der von der

Rechtsautorität in Zukunft zu schaffenden Rechtsordnung.

Kelsen sieht sich „intellektuell genötigt“, eine oberste Norm – die Grundnorm -

anzunehmen. Sie „muss“ angenommen werden, sagt er, wenn es möglich sein soll,

bestimmte Willensakte nicht nur in subjektiver Hinsicht als ein Sollen (zum Beispiel

als Befehl), sondern vor allem auch in objektiver Hinsicht als ein Sollen und damit

als Norm zu deuten.314 Die Notwendigkeit der Annahme einer Grundnorm ergibt sich

für ihn aus seinem Verständnis des Begriffs der „Norm“: Eine Norm ist für Kelsen der

Sinn eines Willensaktes. Und: Eine Norm ist für ihn ein Deutungsschema.315 Dies

bedeutet: Ein bestimmter Willensakt kann nur dann als Norm gedeutet werden, wenn

es bereits eine Norm gibt, die diese Deutung zulässt. Und da – wie Kelsen sagt - die

Suche nach einem Geltungsgrund – und damit die Suche nach einem

Deutungsschema - nicht ins Endlose gehen könne, müsse eine letzte, oberste

Norm – die Grundnorm - gedanklich vorausgesetzt werden.316

Kritik von Mahlmann317 an der Grundnorm

Mahlmann übt Kritik an der Konzeption einer Grundnorm: Kelsen würde, so

Mahlmann, in der Grundnorm die Voraussetzung der Normativität der Rechtsordnung

erblicken. Kelsen halte die Grundnorm für eine zwingende Annahme, weil sonst die

Normativität der Rechtsordnung keinen Grund habe. Die Gegebenheit der

Normativität werde dabei (von Kelsen, wie Mahlmann meint) stillschweigend

vorausgesetzt. Das Problem sieht Mahlmann nun darin, dass die vorausgesetzte

Normativität ihrerseits in Frage stehen würde. Man könne nicht, so Mahlmann, die

314 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 6 ff. 315 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 3 ff. 316 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 197 f. 317 Vgl. Mahlmann, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie (2010) 146 f.

Page 79: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

79

Normativität einer Rechtsordnung aus einer Grundnorm ableiten, die postuliert

werde, weil die Rechtsordnung normativ sei. In diesem Fall würde man sich in einen

Zirkelschluss verstricken. Es wäre nicht überzeugend, eine Normativität

vorauszusetzen, um anschließend diese Normativität mit der Annahme einer

Grundnorm zu rechtfertigen.318

Die Kritik von Mahlmann an der Theorie der Grundnorm ist nicht überzeugend:

Kelsen setzt keine Normativität stillschweigend voraus, um aus dieser

vorausgesetzten Normativität eine Begründung der Normativität und damit der

Geltung der Rechtsordnung – was in der Tat einen Zirkelschluss darstellen würde -

abzuleiten. Die Grundnorm ist – wie oben ausführlich dargestellt – keine positiv-

rechtliche Norm. Sie ist eine „gedachte Norm“. Eine gedankliche Annahme. Die

Grundnorm ist, wie Kelsen sagt, eine „transzendental-logische Denkvoraussetzung“.

Es ist nicht richtig, wenn Mahlmann sagt, Kelsen würde stillschweigend von einer

vorausgesetzten Normativität ausgehen. Vielmehr stellt Kelsen die –

erkenntnistheoretische – Frage, unter welch einer Voraussetzung es möglich ist,

bestimmte Willensakte als ein „objektives Sollen“ (und damit als „Norm“) zu deuten:

Die Antwort von Kelsen lautet: Unter der (gedanklichen) Annahme einer Grundnorm.

Die Grundnorm ist eine Voraussetzung im Denken, die man vornehmen „muss“.

Genauer: Man muss die Grundnorm – so Kelsen - gedanklich voraussetzen, wenn es

möglich sein soll, den Sinn bestimmter äußerer Vorgänge, insbesondere den Sinn

bestimmter Willensakte, nicht nur in subjektiver Hinsicht – zum Beispiel - als Befehl

und damit als ein subjektives Sollen, sondern vor allem auch in objektiver Hinsicht als

ein „objektiv verbindliches Sollen“ und damit als „Norm“ zu deuten.319 Als Norm zu

„erkennen“. Ohne die Voraussetzung der Grundnorm kann eine Deutung als „ein objektiv verbindliches Sollen“ – und damit als „Norm“ - nicht vorgenommen werden. Das – und nur das – ist die Erkenntnis von Kelsen.

Mahlmann ist nicht zuzustimmen, wenn er meint, Kelsen würde eine Normativität der

Rechtsordnung stillschweigend voraussetzen.

318 Vgl. Mahlmann, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie (2010) 147. 319 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 6f.

Page 80: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

80

1.4.3 Das Recht und sein Inhalt320

Das Recht kann jeden beliebigen Inhalt haben.321 Viele tatsächliche oder

vermeintliche Kelsen-Gegner322 sind in Anbetracht dieser Aussage empört. Eine

künstliche Erregung, die zwar menschlich zu verstehen, intellektuell aber nur schwer

nachzuvollziehen ist. Kelsen sagt auf der ersten Seite der „Reinen Rechtslehre“ in

einer unmissverständlichen Klarheit über seine Rechtstheorie: „Als Theorie will sie

ausschließlich und allein ihren Gegenstand erkennen. Sie versucht die Frage zu

beantworten, was und wie das Recht ist, nicht aber die Frage, wie es sein oder

gemacht werden soll.“323 Kelsen sagt somit nicht, wie offensichtlich – bewusst -

missverstanden wird, dass das Recht jeden beliebigen Inhalt haben soll. Er sagt

auch nicht, dass er es toll und großartig findet, dass sich in den verschiedensten

Rechtsordnungen – der Gegenwart und der Geschichte - alle möglichen und

unmöglichen Inhalte wiederfinden. Er sagt nicht, dass er will, dass das so ist. Er sagt

nur, dass es – vielleicht leider - so ist. Eine Aussage von Kelsen, die ernsthaft nicht

bestritten werden kann. Es ist eine in die Augen springende – vielleicht bittere -

Wahrheit, dass sich in den verschiedensten Rechtsordnungen zu den

verschiedensten Zeiten an den verschiedensten Orten alle möglichen und unmöglichen Inhalte finden. Diese Wahrheit ist in einem Ausmaß offensichtlich und

eindeutig, sodass es für sie keines Beleges oder Beweises bedarf. Manche Inhalte

mögen aus unserer heutigen Sicht furchtbar, grausam, unmoralisch oder

verbrecherisch erscheinen. Dennoch gibt es diese rechtlichen Inhalte. Es gibt alle Inhalte. Aber nur deswegen, weil einem bestimmte Inhalte nicht gefallen, zu sagen,

sie wären nicht vorhanden, diese Inhalte, sie wären kein geltendes Recht, nicht

Bestandteil einer Rechtsordnung, ist – so verständlich diese Reaktion aus

menschlicher Sicht auch sein mag – nicht wissenschaftlich.324

Der Begriff des Rechts kann und darf nicht unter Bezugnahme auf einen bestimmten

Inhalt definiert werden. Die Trennung des Rechts von der Moral ist eine zwingende

begriffslogische Notwendigkeit. Es ist Kelsen zuzustimmen, dass es ein schwerer

gedanklicher Fehler wäre, in die Begriffsbestimmung des Rechts ein inhaltliches,

320 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 1 ff. 321 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 201. 322 Vgl. Detlef Horster, Rechtsphilosophie (2002) 55 ff.; Dietmar von der Pfordten, Rechtsethik (2011) 150 ff. 323 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 1. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 324 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 31 ff.

Page 81: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

81

moralisches Element aufzunehmen. Daran kann auch ein grundsätzliches

Verständnis für die Sehnsucht des Menschen nach einem „richtigen, gerechten Recht“ nichts ändern.325

Kelsen will sich in der „Reinen Rechtslehre“ der – großen, mächtigen - Frage

widmen, was und wie das Recht ist. Er will das Recht verstehen. Er maßt sich nicht

an zu sagen, wie das Recht sein und gemacht werden soll.326 Die Beschränkung des Erkenntnisgegenstandes auf das positive Recht und die Weigerung, Aussagen

über bestimmte – vielleicht gewünschte - Inhalte des Rechts zu machen, ist ein Akt der Bescheidenheit. Kelsen wählt als Wissenschaftler und Denker sehr bewusst

einen klaren, verlässlichen, bescheidenen Weg. Die Anmaßung, dem Recht seine

Inhalte vorgeben zu wollen, findet sich nicht auf diesem Weg. Es ist die Aufgabe der

Politik, in einer Demokratie ist es die Aufgabe eines gewählten Parlaments, die

Inhalte der Rechtsordnung festzulegen. Es ist und kann nicht die Aufgabe der

Rechtswissenschaft oder einer Rechtstheorie sein zu sagen, wie das Recht sein oder

gemacht werden soll.327

Wenn Kelsen bereits auf der ersten Seite der „Reinen Rechtslehre“ sagt, dass er die

Aufgabe einer Rechtstheorie ausschließlich darin sieht, das Wesen des Rechts zu erforschen und zu erkennen (und er gleichzeitig sagt, dass es eben nicht die

Aufgabe einer Rechtstheorie ist, den Gesetzgeber zu spielen und Rechtsinhalte

festzulegen)328, so heißt das aber nicht im Umkehrschluss, dass er, Kelsen, ein

unpolitischer Mensch wäre, keine Werte hätte und es ihm gleichgültig wäre, in welch

einem Staat und in welch einer Gesellschaft er leben würde. Denn das absolute

Gegenteil ist der Fall: Wer wissen möchte, wie er, Kelsen, wenn er denn der -

alleinige - Gesetzgeber wäre, das Recht gestalten, mit welchen Inhalten er die

Gesetze einer bestimmten Rechtsordnung füllen würde, muss nur seine anderen

Schriften – vor allem seine Schriften über das Thema „Gerechtigkeit“ - lesen. In

seinem Buch „Was ist Gerechtigkeit?“329 gibt Kelsen sehr genau darüber Auskunft,

welche Werte in ihm wohnen und von welch einem Staat und welch einer

Gesellschaft er träumt.

325 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 68 ff. 326 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 1. 327 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 1. 328 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 1. 329 Vgl. Kelsen, Was ist Gerechtigkeit 2 (1975). Zum Begriff der „Gerechtigkeit“ siehe unten.

Page 82: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

82

1.4.4 Identität von Recht und Staat330

Kelsen sagt, dass das Recht und der Staat in Wahrheit ein und dasselbe seien. Es

existiere, so Kelsen, eine Identität von Recht und Staat. Der traditionelle Dualismus

von Recht und Staat erfülle bloß eine ideologische Funktion und sei daher

aufzulösen.331 Kelsen: „Der Staat ist eine relativ zentralisierte

Rechtsordnung.“332

Kelsen erklärt und begründet in der „Reinen Rechtslehre“ sehr genau,333 warum

seiner Meinung nach die Begriffe des Rechts und des Staates bloß einen einzigen Gegenstand beschreiben und aus diesem Grund zu identifizieren sind. Diese

Erkenntnis von Kelsen, dass eine Identität von Recht und Staat besteht, oder, anders

gewendet, dass der – ideologischen Zwecken dienende - traditionelle Dualismus von Recht und Staat aufzulösen ist, diese seine Erkenntnis ist eine besonders

weitrechende. Und das aus folgendem Grund:

In der Wissenschaft im Allgemeinen und in der Rechtswissenschaft im Besondern

herrscht die – auf dem Boden der intellektuellen Eitelkeit gewachsene - Meinung

vor, dass ein Gewinn von Erkenntnis dadurch zu erzielen sei, dass immer neue

Begriffe und immer neue Differenzierungen eingeführt werden. Kelsen legt

überzeugend dar, dass diese Meinung auf einem falschen Verständnis von

Wissenschaft beruht. Nur wenn es unbedingt erforderlich ist und der zu erkennende und zu beschreibende Gegenstand nach einer Differenzierung zwingend verlangt,

darf ein neuer Begriff eingeführt und eine Differenzierung vorgenommen werden.

Differenzierungen sind – immer wieder - notwendig. Keine Frage. Das Denken lebt

von Differenzierungen. Auch Kelsen nimmt viele – notwendige - Differenzierungen

vor. Man denke nur – zum Beispiel - an die notwendige Differenzierung zwischen

Recht und Moral. Es ist nicht so, dass Kelsen nicht differenzieren würde. Das

Gegenteil ist der Fall. In der „Reinen Rechtslehre“ finden sich unzählige

Differenzierungen. Nur: Kelsen hat erkannt, dass es nicht nur notwendige

Differenzierungen gibt, sondern dass es auch umgekehrt unnötige und überflüssige Differenzierungen gibt. Notwendig ist eine Differenzierung, wenn sie

330 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 289 ff. 331 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 288 ff. 332 Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 289. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 333 Die zentralen Gedanken von Hans Kelsen über die „Identität von Recht und Staat“ werden oben ausführlich dargestellt.

Page 83: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

83

vom Erkenntnisgegenstand – zwingend - verlangt wird. Unnötig und überflüssig ist

eine Differenzierung, wenn sie vorgenommen wird, obwohl für sie im

Erkenntnisgegenstand keine Entsprechung und damit auch keine Rechtfertigung zu

finden ist. Von diesem Gedanken ist es nur ein kleiner Schritt zu der Einsicht, dass

unnötige, überflüssige Differenzierungen die menschliche Erkenntnis nicht nur

nicht befördern, sondern sogar verhindern und verunmöglichen. Wird ein bestimmter

Erkenntnisgegenstand durch unnötige, überflüssige – und damit falsche und nicht zu

rechtfertigende - Differenzierungen verhüllt und entstellt, kann er in der Folge auch nicht erkennt werden. Dies wiederum – konsequent zu Ende gedacht - bedeutet: Ist

bereits – von wem und warum auch immer - eine unnötige, überflüssige

Differenzierung vorgenommen worden, ist sie – soll der verhüllte und entstellte

Gegenstand wirklich erkannt werden - rückgängig zu machen und aufzuheben.

Diese Erkenntnis von Kelsen ist gewaltig und von sehr großer Tragweite. Sie besagt:

Um einen bestimmten Gegenstand – so zum Beispiel den Gegenstand, der mit

„Recht“ oder mit „Staat“ bezeichnet wird - erkennen zu können, kann es notwendig

sein, bereits vorgenommene Differenzierungen – so sie denn unnötig, überflüssig

und damit falsch sind - wieder rückgängig zu machen und aufzuheben. Denn:

Werden notwendige, unerlässliche Differenzierungen nicht vorgenommen, ist die

Erkenntnis und Beschreibung eines bestimmten Gegenstandes nicht möglich. Das ist

wahr und auch allgemein anerkannt. Mindestens ebenso wahr aber ist, dass

unnötige, überflüssige Differenzierungen einen Erkenntnisgegenstand verhüllen, entstellen und auf diese Weise seine Erkenntnis verhindern und

unmöglich machen.

Page 84: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

84

1.4.5 Die Wissenschaft und ihr Gegenstand334

Eine der wichtigsten Erkenntnisse von Hans Kelsen besteht darin, dass die

erkennende und beschreibende Wissenschaft bei bestimmten Gegenständen – soll

dieser Gegenstand erkannt werden können - keine weiteren Differenzierungen vornehmen darf. Mehr noch: Es ist sogar denkbar, dass die erkennende und

beschreibende Wissenschaft nicht nur keine weiteren Differenzierungen vornehmen

darf, sondern umgekehrt eine Identifizierung stattzufinden hat. Dies bedeutet:

Bereits getätigte, aber unnötige, überflüssige und damit falsche Differenzierungen

sind – in einem gedanklichen Akt der Identifizierung - wieder rückgängig zu machen

und aufzuheben.335

Erkenntnis ist nur möglich, wenn gebotene, notwendige Differenzierungen

vorgenommen, unnötige, überflüssige und damit falsche Differenzierungen aber

unterlassen werden. Auch wenn Kelsen immer wieder die Notwendigkeit einer Identifizierung erkennt, so weiß er sehr wohl um die große Bedeutung einer

gebotenen, notwendigen Differenzierung: Kelsen zeigt in der „Reinen Rechtslehre“,

dass zwischen einer – erkennenden und beschreibenden - Wissenschaft und dem

Gegenstand dieser Wissenschaft sehr klar zu unterscheiden ist. Zusätzlich zeigt

er, dass die einzelnen Wissenschaftsgegenstände ihrerseits gegeneinander scharf

abzugrenzen sind:

Gegenstand der Naturwissenschaft ist die Natur. Gegenstand der Ethik ist die

Moral. Gegenstand der Rechtswissenschaft ist das Recht. Diese Sätze scheinen

Selbstverständlichkeiten zu sein. Doch sie sind es nicht, wie die regelmäßige

Vermischung und Verwechslung einer bestimmten Wissenschaft mit ihrem

Gegenstand beweist. Kelsen zeigt in der „Reinen Rechtslehre“, dass – soll eine

wahrhaftige Erkenntnis möglich werden - eine präzise Definition eines Wissenschaftsgegenstandes und seine Abgrenzung gegenüber anderen

wissenschaftlichen Gegenständen von überragender Bedeutung ist:

334 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre2 (1960) 72 ff. 335 In diesem Zusammenhang darf auf die Aufhebung des – falschen - Dualismus von Recht und Staat verweisen werden.

Page 85: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

85

Gegenstand der Rechtswissenschaft ist das Recht. Das bedeutet: Gegenstand der

Rechtswissenschaft sind - da das Recht ein System von Rechtsnormen darstellt -

Rechtsnormen. Dies wiederum bedeutet: Menschliches Verhalten ist grundsätzlich kein Gegenstand der Rechtswissenschaft. Es ist nur insofern ein

Gegenstand der Rechtswissenschaft, als es Inhalt von Rechtsnormen ist. Zu

zeigen, dass das menschliche Verhalten nur als Inhalt einer Rechtsnorm Gegenstand

der Rechtswissenschaft sein kann, stellt eine für die „Reine Rechtslehre“ typische

begriffliche Herausarbeitung und Präzisierung dar. Weiteres Beispiel:

Das Recht besteht aus Rechtsnormen. Rechtsnormen stellen Sollsätze dar. Dies

bedeutet: Die Rechtswissenschaft erkennt und beschreibt – als ihren Gegenstand -

Rechtsnormen und damit Sollsätze. Kelsen zeigt nun, dass es sehr wichtig ist zu

unterscheiden zwischen den wissenschaftlichen Sätzen, den sogenannten

„Rechtssätzen“, die bloß erkennen und beschreiben, einerseits und den

Rechtsnormen, die als Wissenschaftsgegenstand erkannt und beschrieben werden

sollen, andererseits. Die wissenschaftlichen Rechtssätze können das Recht nur

beschreiben. Da sie von keiner Rechtsautorität geschaffen worden sind, können sie

nicht – wie die Rechtsnormen - ein bestimmtes Verhalten vorschreiben. Die

Differenzierung zwischen beschreibenden Rechtssätzen und vorschreibenden

Rechtsnormen ist von großer Bedeutung. Sie ist ein schönes Beispiel für eine

gebotene, notwendige Differenzierung.

Page 86: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

86

2. Der Begriff der Gerechtigkeit

Der Begriff der Gerechtigkeit enthält – wird der „Begriff an sich“ als ein leeres Gedankengefäß betrachtet - das, was in ihn hineingelegt wird. Es wird zu zeigen

sein, was genau Hans Kelsen in den „Begriff der Gerechtigkeit“ hineinlegt. Mit welch

einem geistigen Inhalt er diesen zentralen Begriff füllt. Im Anschluss an eine kurze

Vorstellung der Gerechtigkeitsüberlegungen von Hans Kelsen sollen einige

Gedanken von Horst Dreier über Hans Kelsen und die Gerechtigkeit dargestellt

werden. Schließlich wird es eine Zusammenfassung geben. Erwähnt sei an dieser

Stelle nur, dass der Begriff der Gerechtigkeit nicht nur in der Philosophie, sondern

vor allem auch in der Religion und in der Politik eine herausragende Rolle spielt.

Über kaum einen Begriff ist mehr geschrieben und sind heftigere intellektuelle

Auseinandersetzungen geführt worden als über den „Begriff der Gerechtigkeit“. Viele

Philosophen, Theoretiker und Denker haben sich zum Thema „Gerechtigkeit“

geäußert.336 Einen hervorragenden geistesgeschichtlichen Überblick bietet „Elisabeth

Holzleithner“ mit ihrem Buch „Gerechtigkeit“.337 Beispielhaft seien zwei wichtige

Autoren aus der jüngeren Vergangenheit herausgehoben: „John Rawls“ mit seinem

Werk „Eine Theorie der Gerechtigkeit“338 und „Michael Walzer“ mit seinem Werk

„Sphären der Gerechtigkeit“339. In meiner Arbeit sollen die Gedanken von Hans

Kelsen zur Darstellung gebracht werden.

336 Vgl. Christoph Horn und Nico Scarano, Philosophie der Gerechtigkeit (2002). 337 Vgl. Elisabeth Holzleithner, Gerechtigkeit (2009). 338 John Rawls: *1921 Baltimore, †2002 Lexington. Geistesgeschichtlich wird der amerikanische Philosoph „John Rawls“ dem Lager des „Politischen Liberalismus“ zugeordnet. In seinem Werk „Eine Theorie der Gerechtigkeit“, das 1998 in der 10. Auflage erschienen ist, lässt Rawls die -auf Hobbes, Locke und Rousseau zurückgehende- Vertragstheorie wieder aufleben: In einem vorstaatlichen Zustand, der ein Gedankenexperiment ist, vereinbaren freie und gleiche Menschen – hinter einem „Schleier des Nichtwissens“ - grundlegende Prinzipien des Zusammenlebens: Daraus gehen zwei Gerechtigkeitsgrundsätze hervor: Jeder soll über das gleiche Recht auf größtmögliche Freiheit verfügen. Und: Soziale Ungleichheiten – die notwendig sind - sollen den Benachteiligten den größtmöglichen Vorteil bringen. (Vgl. Matthias Mahlmann, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie (2010) 160 ff, Gerhard Luf, Einführung in die Rechtswissenschaften und ihre Methoden, Teil III, Grundfragen der Rechtsphilosophie und Rechtsethik, 2002.) 339 Michael Walzer: *1935 New York. Der amerikanische Sozialphilosoph “Michael Walzer” wird dem sogenannten „Kommunitarismus“ zugeordnet, der eine liberalismuskritische Position vertritt. Sein Werk „Sphären der Gerechtigkeit“ gilt als Gegenentwurf zum Werk „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ von John Rawls. Walzer wendet sich gegen eine abstrakt-konstruktivistische Theorie der Gerechtigkeit (Rawls) und bekennt sich zu einer geschichtlich-kulturellen Konkretheit von Gerechtigkeitsvorstellungen. Für Walzer stehen Verteilungsprobleme im Vordergrund. Er betont die gesellschaftliche Bedeutung der zur Verteilung gelangenden Güter. (Vgl. Matthias Mahlmann, Rechtsphilosophie und Rechtstheorie (2010) 174 ff, Gerhard Luf, Einführung in die Rechtswissenschaften und ihre Methoden, Teil III, Grundfragen der Rechtsphilosophie und Rechtsethik, 2002.)

Page 87: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

87

2.1 Hans Kelsen und die Gerechtigkeit

Hans Kelsen hat zum Thema „Gerechtigkeit“ drei Werke verfasst: Ein Buch aus dem

Jahre 1953 mit dem Titel „Was ist Gerechtigkeit?“, einen Anhang zur „Reinen

Rechtslehre“ aus dem Jahre 1960 mit dem Titel „Das Problem der Gerechtigkeit“ und

das 1985 vom Hans Kelsen-Institut aus dem Nachlass veröffentlichte Buch mit dem

Titel „Die Illusion der Gerechtigkeit“ und dem Untertitel „Eine kritische Untersuchung

der Sozialphilosophie Platons“.

Bei der nun folgenden Darstellung der Gedanken von Hans Kelsen über den Begriff

der „Gerechtigkeit“ werde ich mich – ausschließlich - auf den Anhang zur „Reinen

Rechtslehre“ mit dem Titel „Das Problem der Gerechtigkeit“ und auf das eingangs

erwähnte Buch „Was ist Gerechtigkeit?“ beziehen. Das zuletzt genannte Werk mit

dem Titel „Die Illusion der Gerechtigkeit“ eignet sich für eine – erste, einführende -

Darstellung der Gedankenwelt Kelsens zum Thema „Gerechtigkeit“ nicht. Es

stellt eine – wie zum Teil bereits aus dem Untertitel hervorgeht - sehr umfangreiche

und überaus detailgenaue Analyse der Philosophie von Platon dar. Hans Kelsen hat

sich während seines ganzen Gelehrtenlebens immer wieder sehr intensiv mit der

Philosophie Platons befasst.340 Er anerkennt Platon als „die bedeutendste

intellektuelle Persönlichkeit, die es unternommen hat, zu erkennen, was

Gerechtigkeit ist“341.

Auf der letzten Seite in seinem ersten Buch über das Thema „Gerechtigkeit“ schreibt

Hans Kelsen:

„Ich habe diese Abhandlung mit der Frage begonnen: Was ist Gerechtigkeit? Nun,

an ihrem Ende, bin ich mir wohl bewusst, diese Frage nicht beantwortet zu haben.

Meine Entschuldigung ist, dass ich in dieser Hinsicht in bester Gesellschaft bin. Es

wäre mehr als anmaßend, meine Leser glauben zu machen, mir könnte gelingen,

was die größten Denker verfehlt haben. Und in der Tat, ich weiß nicht und kann

nicht sagen, was Gerechtigkeit ist, die absolute Gerechtigkeit, dieser schöne

Traum der Menschheit. Ich muss mich mit einer relativen Gerechtigkeit begnügen

und kann nur sagen, was Gerechtigkeit für mich ist.“342

340 Vgl. Kurt Ringhofer und Robert Walter im Vorwort, in: Hans Kelsen, Die Illusion der Gerechtigkeit (1985). 341 Kurt Ringhofer und Robert Walter im Vorwort, in: Hans Kelsen, Die Illusion der Gerechtigkeit (1985). 342 Kelsen, Was ist Gerechtigkeit? (1975) 43. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.)

Page 88: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

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Den Wunsch nach Gerechtigkeit begreift Kelsen als elementar und als im Herzen des

Menschen tief verwurzelt.343 Über die in seinen Augen gewaltige, ewige Frage der

Menschheit: „Was ist Gerechtigkeit?“ – die wohl nicht zufällig auch als Titel für sein

Buch dient - schreibt er:

„Keine andere Frage ist so leidenschaftlich erörtert, für keine andere Frage so viel

kostbares Blut, so viel bittere Tränen vergossen worden, über keine andere

Frage haben die erlauchtesten Geister – von Platon bis Kant - so tief gegrübelt. Und

doch ist diese Frage heute so unbeantwortet wie je.“344

Zunächst bezeichnet der Begriff der Gerechtigkeit eine positive Eigenschaft – eine

Tugend - eines Menschen. Eine Tugend ist eine moralische Qualität. Die

Gerechtigkeit liegt damit innerhalb des Bereichs der Moral. Für Kelsen stellt der

Begriff der Gerechtigkeit im Verhältnis zur Moral einen Unterbegriff dar. Unter Moral sind soziale Normen zu verstehen, die das Verhalten von Menschen gegenüber

anderen Menschen regeln.345

Kelsen definiert den Begriff der Gerechtigkeit als eine Norm, die eine bestimmte

Behandlung eines Menschen durch einen anderen Menschen vorschreibt. In der

Folge unterteilt er die Gerechtigkeitsnormen in zwei Typen: Er unterscheidet

zwischen einem „metaphysischen Typus“ und einem „rationalen Typus“ von

Gerechtigkeitsnormen. In einem nicht immer einheitlichen Sprachgebrauch werden

die Gerechtigkeitsnormen auch als Gerechtigkeitsformeln, Gerechtigkeitsprinzipien,

Gerechtigkeitsideale und sogar als Gerechtigkeitstheorien bezeichnet.346

343 Vgl. Kelsen, Was ist Gerechtigkeit? (1975) 5. 344 Kelsen, Was ist Gerechtigkeit?2 (1975) 1. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 345 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 357 ff. 346 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 365.

Page 89: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

89

2.1.1 Die metaphysischen Gerechtigkeitsnormen

Die metaphysischen (religiös-metaphysischen) Gerechtigkeitsnormen zeichnen sich

dadurch aus, dass sie von einer transzendenten, jenseits jeder möglichen Erfahrung

existierenden Instanz ausgehen. Sie sind aber nicht nur in Bezug auf ihre Herkunft,

sondern auch in Bezug auf ihren Inhalt metaphysisch: Die metaphysischen

Gerechtigkeitsnormen können von der menschlichen Vernunft nicht begriffen

werden. Man muss an ihren Inhalt glauben. Auch an die Instanz, von der sie

ausgehen, muss man glauben. Weder der Norminhalt noch die Schöpfungsinstanz

sind einer rationalen Erkenntnis zugänglich. Das metaphysische Gerechtigkeitsideal

ist absolut. Die Möglichkeit von anderen Gerechtigkeitsnormen oder einer anderen

Instanz, von der sie ausgehen könnten, wird grundsätzlich ausgeschlossen.347

2.1.1.1 Die Gerechtigkeit nach Platon348

Für Kelsen ist Platon der klassische Vertreter von metaphysischen

Gerechtigkeitsnormen. „Gerechtigkeit ist das Zentralproblem seiner gesamten

Philosophie. Und zur Lösung dieses Problems entwickelt er seine berühmte

Ideenlehre. Die Ideen sind transzendente Wesenheiten, die in einer anderen als der

unseren Sinnen wahrnehmbaren Welt existieren und daher dem in der Sinnlichkeit

befangenen Menschen unzugänglich sind.“349

Die Hauptidee bei Platon ist – so Kelsen - die Idee des absolut Guten, der alle

anderen Ideen untergeordnet sind. Bei Platon fällt die Frage nach der Gerechtigkeit

mit der Frage nach dem (absolut) Guten zusammen. Eine Definition des absolut

Guten –oder der Gerechtigkeit- gibt Platon in seinen Dialogen nicht. Die Idee des

absolut Guten liegt nach Platon – so Kelsen - jenseits jeder rationalen Erkenntnis.350

„In einem seiner Briefe – dem siebenten -, wo er Rechenschaft gibt über die

innersten Motive und letzten Ziele seiner Philosophie, erklärt er dass es überhaupt

keine begriffliche Erkenntnis, sondern nur eine Art Schau des absolut Guten

347 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 365 f. 348 Platon: *427 v. Chr. Athen, †347 v. Chr. Athen. Platon gilt neben Aristoteles als der bedeutendste Philosoph der griechischen Antike. Er ist der Begründer der Ideenlehre. Berühmtes Werk: „Politeia“ (Der Staat). 349 Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 398. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 350 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 398 ff.

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geben könne, und dass diese Schau sich im Wege eines mystischen Erlebnisses

vollziehe, das nur wenigen und nur durch göttliche Gnade zuteil werde; dass es aber

unmöglich sei, den Gegenstand dieser mystischen Schau, und das heißt das

absolut Gute, in Worten menschlicher Sprache zu beschreiben.“351

2.1.1.2 Die Gerechtigkeit nach Jesus352

Kelsen sieht auch in dem Religionsstifter „Jesus von Nazareth“ einen Vertreter

von metaphysischen Gerechtigkeitsnormen. Nach Platon sollen die Menschen so

behandelt werden, wie es einer – der rationalen Erkenntnis nicht zugänglichen -

transzendenten Idee des absolut Guten entspricht. Jesus verkündet – so Kelsen -

das Prinzip der Liebe als die neue, die wahre Gerechtigkeit. Doch ist die Liebe, von

der Jesus spricht, nicht die Liebe, die wir als Menschen kennen. Es ist eine Liebe, die

– so wie das absolut Gute nach Platon - einer rationalen Erkenntnis nicht zugänglich ist. Sie ist ein Geheimnis, diese Liebe, die eine neue, wahre

Gerechtigkeit sein soll.353

„Diese Gerechtigkeit liegt jenseits jeder in einer gesellschaftlichen Realität

möglichen Ordnung; und die Liebe, die diese Gerechtigkeit ist, kann nicht das

menschliche Gefühl sein, das wir Liebe nennen. Nicht nur darum, weil es gegen des

Menschen Natur ist, seinen Feind zu lieben, sondern auch darum, weil Jesus die

menschliche Liebe, die den Mann mit dem Weib, die Eltern mit ihren Kindern

verbindet, nachdrücklich ablehnt.“354

Kelsen belegt seine Aussagen und Schlussfolgerungen mit – umfangreichen - Zitaten

aus der Bibel. Er ist der Meinung, dass die Lehre von Jesus in den Evangelien sehr

widerspruchsvoll dargestellt wird. So ist für ihn –zum Beispiel- das Prinzip der Nächstenliebe kaum mit dem Prinzip der Vergeltung – und beide Prinzipien findet

er in den Evangelien - vereinbar.355

351 Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 399. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 352 Jesus von Nazareth: *4 v. Chr. Nazareth, †31 n. Chr. Jerusalem. 353 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 400 f. 354 Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 400. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 355 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anahng: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 387.

Page 91: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

91

2.1.2 Die rationalen Gerechtigkeitsnormen Für die rationalen (wissenschaftlich-rationalen) Gerechtigkeitsnormen ist nicht

entscheidend, ob sie auch – so wie die metaphysischen Gerechtigkeitsnormen - von

einer transzendenten Instanz ausgehen, oder doch – und das ist der Regelfall - der immanenten Welt der Wirklichkeit entstammen. So wird – zum Beispiel - die

Gerechtigkeitsnorm der Vergeltung – obwohl dem rationalen Typus zugehörig - nicht

selten als Wille der Gottheit und damit als von einer transzendenten Instanz

ausgehend dargestellt. Das charakteristische Merkmal der rationalen

Gerechtigkeitsnormen ist, dass sie die Frage nach der Gerechtigkeit mit den Mitteln der menschlichen Vernunft beantworten wollen. Sie versuchen, eine präzise

Definition des Begriffs der Gerechtigkeit zu geben. Es soll rational nachvollziehbar

werden, warum ein bestimmtes Verhalten als „gerecht“ und ein anderes als

„ungerecht“ bewertet wird. Die Gerechtigkeitsurteile erscheinen nicht länger als von

einer – unerkennbaren - Macht oder Gottheit ausgesprochen.356

2.1.2.1 Die Formel des „suum cuique“ (Jedem das Seine)

Kelsen zeigt, dass die Formel „Jedem das Seine“ inhaltslos und völlig leer ist. Es

wird keine Antwort gegeben auf die Frage, was ein Mensch als „das Seine“

betrachten darf. Die Formel ist damit unanwendbar. Oder anders gewendet: Die

Formel ist nur unter der Voraussetzung anwendbar, dass bereits vorher festgelegt

worden ist, was für einen bestimmten Menschen „das Seine“ ist. Diese Festlegung

kann nur durch eine Gesellschaftsordnung der Moral oder des Rechts getroffen

werden.357 Damit läuft die Formel „Jedem das Seine“ auf die sinnlose Aussage

hinaus, „dass jedem zugeteilt werden soll, was ihm zugeteilt werden soll.“358

Die Formel kann nur angewendet werden, wenn – bereits vorher - eine normative

Ordnung existiert, die sagt, was für einen Menschen „das Seine“ – und damit das ihm

Gebührende, das für ihn Gerechte - ist.

356 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 365 f; Kelsen, Was ist Gerechtigkeit? (1975) 23. 357 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 366 f; Kelsen, Was ist Gerechtigkeit? (1975) 23 f. 358 Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 366. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.)

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2.1.2.2 Die Goldene Regel

Die Goldene Regel in einem subjektiven Sinn:

Die Goldene Regel lautet: „Was Du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu.“ Oder positiv formuliert: „Man soll andere so behandeln, wie

man selbst gerne behandelt werden möchte.“ Wird die Goldene Regel wörtlich – in

einem subjektiven Sinn - verstanden, führt sie zu absurden Ergebnissen. Sie ist in

Wahrheit unanwendbar. Eine moralische oder rechtliche Gesellschaftsordnung ist auf

der Grundlage eines subjektiven Kriteriums nicht möglich. So wäre – zum Beispiel

- die Bestrafung eines Straftäters ausgeschlossen, da niemand gerne bestraft

werden möchte. Dann ist überhaupt nicht klar, ob ein anderer Mensch tatsächlich so

behandelt werden möchte, wie ich in seiner Situation gerne behandelt werden würde.

Schließlich dürfte jemand, dem es nichts ausmacht belogen und getäuscht zu

werden (weil er meint, er wäre klug genug, Lügen und Täuschungen zu

durchschauen), nach der Goldenen Regel andere Menschen belügen und

täuschen.359

Die Goldene Regel in einem objektiven Sinn:

Wird die Goldene Regel in einem wörtlichen und subjektiven Sinn verstanden, kann

sie nicht als Grundnorm einer Gesellschaftsordnung dienen. Eine Norm mit dem

Inhalt, man solle andere Menschen so behandeln, wie man von ihnen selbst gerne

behandelt werden möchte, ergibt für das gesellschaftliche Leben keinen Sinn. Sie ist

unanwendbar und führt zu absurden Ergebnissen. Daher wird versucht, der

Goldenen Regel einen objektiven Inhalt beizulegen. „Die Goldene Regel muss dahin

verstanden werden, dass sie ein objektives Kriterium aufstellt. Ihre Bedeutung

muss sein: Verhalte dich gegenüber anderen so wie diese sich dir gegenüber

verhalten sollen; und zwar einer objektiven Ordnung gemäß verhalten sollen.“360 Nun

stellt sich aber die Frage, wie sich die anderen Menschen mir gegenüber verhalten

sollen. Es stellt sich die Frage nach dem Inhalt der objektiven Ordnung. Aber auf

diese entscheidende Frage gibt die Goldene Regel „ebenso wenig eine Antwort

359 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 367 f; Kelsen, Was ist Gerechtigkeit? (1975) 29 ff. 360 Kelsen, Was ist Gerechtigkeit? (1975) 30. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.)

Page 93: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

93

wie die Formel des suum cuique auf die Frage, was jedem das Seine ist.“361 Die

Goldene Regel setzt – so wie die Formel des suum cuique - eine normative Ordnung

stillschweigend voraus. Dies führt zu der absurden Konsequenz, dass letztlich jede beliebige soziale Ordnung – jede geltende Rechtsordnung und auch jede geltende

Moralordnung - der Goldenen Regel entspricht. So wie die Formel des „suum cuique“

ist daher auch die Gerechtigkeitsnorm der Goldenen Regel sinnlos und leer, weil

sie vorgibt, eine Regel, eine Norm aufzustellen, die sie aber in Wahrheit bereits voraussetzt und voraussetzen muss.362

2.1.2.3 Der Kategorische Imperativ von Immanuel Kant

Das Adjektiv „kategorisch“ bedeutet „ausdrücklich, eindeutig, keinen Widerspruch

duldend, nicht an Bedingungen geknüpft“ (spätlateinisch „categoricus“ = zur Aussage

gehörend). Für Kant stellt der der sogenannte „Kategorische Imperativ“ – ein

zentraler und berühmter Begriff seiner Philosophie - einen Gegenbegriff zum bloß

hypothetischen Imperativ dar. Der Kategorische Imperativ findet seine Anwendung

ausschließlich im Bereich der Moral.363 „Er lautet in der geläufigsten seiner

verschiedenen Formulierungen: Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.364 Dieser

Imperativ ist nicht eigentlich als eine Gerechtigkeitsnorm, sondern als ein

allgemeines und oberstes Prinzip der Moral gedacht, in dem das Prinzip der

Gerechtigkeit inbegriffen ist.“365

Kelsen ist der Meinung, dass die Goldene Regel – in ihrem objektiven Sinn - Kant zu

seinem Kategorischen Imperativ veranlasst hat.366 Jedenfalls sieht er eine nahe

Verwandtschaft zwischen diesen beiden Gerechtigkeitsnormen oder

Gerechtigkeitsprinzipen. In seinen beiden Werken über die Gerechtigkeit gelingt es

Kelsen nachzuweisen, dass auch der Kategorische Imperativ von Immanuel Kant 361 Kelsen, , Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 368. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 362 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 367 ff. 363 Zum Begriff des „Kategorischen Imperativs“ vgl. Kaufmann / Hassemer / Neumann (Hrsg), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart (2004) 184 ff. 364 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Kant´s gesammelte Schriften, herausgegeben von der Königlichen Preußischen Akademie der Wissenschaften. Band IV, Seite 421. Kelsen zitiert in seinem Werk aus dieser Ausgabe. 365 Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit (1960) 368. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 366 Vgl. Kelsen, Was ist Gerechtigkeit? (1975) 32.

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94

– nicht anders als die Formel des „suum cuique“ (Jedem das Seine) oder die

Goldene Regel - eine nichtssagende, inhaltsleere Formel darstellt. Der

Kategorische Imperativ gibt keine Antwort auf die Frage, wie ich handeln soll, um

sittlich gut zu handeln. Vielmehr setzt er eine bestimmte Gesellschaftsordnung –

eine bestimmte Rechtsordnung oder eine bestimmte Moralordnung - bereits voraus.

Die von Kant vorgenommenen Ableitungen aus dem Kategorischen Imperativ

beruhen nach Kelsen auf Trugschlüssen. Die Beispiele, die Kant in seinem Werk

anführt, überzeugen ihn nicht. Jedes einzelne von Kant angeführte Beispiel wird von

Kelsen ganz genau analysiert und systematisch widerlegt. Das Ergebnis der Analyse

ist: Wenn Kant von einem „Nicht-Wollen-Können“ spricht, meint er in Wahrheit ein

„Nicht-Wollen-Sollen“. Dies bedeutet: Kant setzt – nach Kelsen - ein bestimmtes

inhaltliches Sollen und damit eine bestimmte Rechtsordnung oder eine bestimmte

Moralordnung – stillschweigend und unbewusst - bereits voraus.367

Die Beispiele, die Kant anführt, beziehen sich auf bestimmte „Maximen“ (worunter

Regeln zu verstehen sind, nach denen ein Mensch handeln will und sich vornimmt zu

handeln), von denen er, Kant, meint, dass man nicht wollen könne, dass diese

Maximen zu einem „allgemeinen Gesetz“ – einer generellen Norm - werden. Kant

begründet seine Meinung damit, dass bestimmte Maximen – würden sie zu einem

allgemeinen Gesetz erhoben - sich, wie Kant meint, selbst widersprechen würden.

Kelsen weist jedoch nach, dass sich keine Maxime deswegen selbst widerspricht,

weil sie zu einem allgemeinen Gesetz erhoben wird. Zudem zeigt er, dass man sehr

wohl von jeder Maxime – und mag diese auch noch so schädlich sein - wollen könne, dass sie ein allgemeines Gesetz werde, dass man dies nur – wenn man

eine entsprechende Gesellschaftsordnung voraussetzt - nicht wollen solle.368

Folgende Beispiele, die Kant in seinem Werk369anführt, werden von Kelsen einer

genauen Analyse unterzogen und widerlegt:

Beispiel 01: Kant meint, man könne von der Maxime, das Leben durch Selbstmord zu

beenden, nicht wollen, dass sie ein allgemeines Naturgesetz werde. Kelsen weist

nach, dass Kant ein Moralgesetz stillschweigend voraussetzt, das Selbstmord unter

367 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit (1960) 368 ff. 368 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit (1960) 369 ff. 369 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Kant´s gesammelte Schriften, herausgegeben von der Königlichen Preußischen Akademie der Wissenschaften. Band IV, ab Seite 421. Kelsen zitiert in seinem Werk aus dieser Ausage.

Page 95: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

95

allen Umständen verbietet.370 „Dass ein Mensch tatsächlich wollen kann, dass die

Maxime, ein unerträgliches Leben selbst zu beenden, ein allgemeines Gesetz werde,

kann ernstlich nicht bezweifelt werden.“371

Beispiel 02: Kant meint, man könne von der Maxime, ein Versprechen zu geben in

der Absicht, es nicht zu halten, nicht wollen, dass es ein allgemeines Gesetz

werde.372 Kelsen entgegnet: „Aber warum sollte ein schlechter Mensch nicht einen

solchen Zustand wollen können?“373 Kant setzt – so Kelsen - eine Norm

stillschweigend voraus, die besagt, dass gegebene Versprechen gehalten werden

sollen.

Beispiel 03: Kant meint, man könne von der Maxime, Geld zu borgen, obgleich man

weiß, es nicht zurückzahlen zu können, nicht wollen, dass es ein allgemeines

Naturgesetz werde.374 Kelsen entgegnet: „Dies zu wollen ist sicherlich möglich;

nur soll man es nicht wollen.“375

Beispiel 04: Kant meint, man könne von der Maxime, „lieber dem Vergnügen

nachzugehen, als sich um Erweiterung und Verbesserung seiner Naturanlagen zu

bemühen,“376 nicht wollen, dass es ein allgemeines Gesetz werde.377 Kelsen

entgegnet: „Dass ein Mensch, der lieber dem Vergnügen lebt als seine Fähigkeiten

auszubilden, wollen kann, dass seine Maxime ein allgemeines Gesetz werde, ist

sehr wahrscheinlich.“378

Beispiel 05: Kant meint, man könne von der Maxime, nur zu seinem eigenen

Wohlbefinden, nicht aber zum Wohlbefinden anderer beizutragen, nicht wollen, dass

370 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit (1960) 369 f. 371 Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit (1960) 370. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 372 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit (1960) 370 f. 373 Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 370. 374 Vgl. Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 371. 375 Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 371. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 376 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Kant´s gesammelte Schriften, herausgegeben von der Königlichen Preußischen Akademie der Wissenschaften. Band IV, Seite 423. Kelsen zitiert in seinem Werk aus dieser Ausgabe. 377 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 371. 378 Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 371. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.)

Page 96: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

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es ein allgemeines Gesetz werde.379 Kelsen entgegnet: „Es liegt auf der Hand, dass

ein Egoist ein allgemeines Gesetz des Egoismus wollen und dabei

konsequenterweise auf den Beistand anderer verzichten, daher ohne Widerspruch

wollen kann, dass seine Maxime ein allgemeines Gesetz werde.“380

Die Beispiele, die Kant anführt und mit denen er seinen Kategorischen Imperativ

darzustellen versucht, bringen – nach Kelsen - ausschließlich die traditionelle Moral und das positive Recht seiner Zeit zum Vorschein. Das, was Kant vorgibt, aus dem

Kategorischen Imperativ abzuleiten, wird nicht abgeleitet, sondern – stillschweigend

und unbewusst - bereits vorausgesetzt. Dies ist insofern nicht verwunderlich, als -

so Kelsen - der Kategorische Imperativ eine leere Formel darstellt.381 Jede Vorschrift

jeder moralischen und politischen Gesellschaftsordnung ist – so Kelsen - mit dem

Kategorischen Imperativ vereinbar, da dieser „nichts anderes sagt, als dass der

Mensch in Einklang mit generellen Normen handeln soll.“382

2.1.2.4 Tue das Gute, meide das Böse

Die Gerechtigkeitsnorm „Tue das Gute, meide das Böse“ setzt – so wie der

Kategorische Imperativ Kants, die Goldene Regel oder die Formel „Jedem das

Seine“ - eine bereits bestehende Ordnung der Moral oder des Rechts bereits voraus.

In einem subjektiven Sinn kann sie auf keinen Fall verstanden werden. Ihr Inhalt

kann nicht sein, dass man einen bestimmten Menschen so behandeln soll, wie dieser

behandelt zu werden wünscht. Soll jemand „gut“ behandelt werden, kann dies nur

bedeuten, dass er entsprechend einer als „gut“ – und damit als „gerecht“ -

vorausgesetzten Norm behandelt werden soll. Dies zeigt, dass die Formel „Tue das

Gute, meide das Böse“ in inhaltlicher Hinsicht völlig leer ist. Sie setzt eine bestimmte normative Ordnung bereits voraus. Ohne die Voraussetzung einer –

bereits vorher - geltenden Gesellschaftsordnung der Moral oder des Rechts ist sie

überhaupt nicht anwendbar.383

379 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 372. 380 Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 372. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 381 Vgl. Kelsen, Was ist Gerechtigkeit?2 (1975) 32 f. 382 Kelsen, Was ist Gerechtigkeit? (1975) 33. 383 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 374.

Page 97: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

97

2.1.2.5 Die Lehre der „Mesotes“

Die Lehre der „Mesotes“ (griech. = „die Mitte“) geht auf Aristoteles384 zurück. Die Idee

ist, dass sowohl ein Zuwenig als auch ein Zuviel falsch sei und nur die Mitte – die

„goldene Mitte“ - der Maßstab für das richtige Verhalten sein könne. Die Ethik385 von

Aristoteles zielt – nach Kelsen - auf ein System von Tugenden ab. Unter dem

Begriff der Tugend ist eine positive und erstrebenswerte Charaktereigenschaft zu

verstehen. Die Gerechtigkeit stellt im aristotelischen System die Haupttugend dar.

Der Gegenbegriff zur Tugend ist der Begriff des Lasters. Die Tugend soll nun die

Mitte zwischen zwei Extremen – zwischen zwei Lastern - sein.386 „So ist z. B. die

Tugend der Tapferkeit die Mitte zwischen dem Laster der Feigheit (einem Zuwenig

an Mut) und dem Laster der Tollkühnheit (einem Zuviel an Mut). Das ist die

berühmte Lehre der Mesotes.“387

Die Meinung von Aristoteles, der Moralphilosoph könne alle Tugenden auf eine

ähnliche Weise bestimmen wie ein Geometer jenen Punkt bestimmt, der eine

vorgegebene Linie halbiert und als Mittelpunkt von beiden Endpunkten gleich weit

entfernt ist, überzeugt Kelsen nicht. Er, Kelsen, argumentiert, dass „ein Geometer

eine Linie in zwei gleiche Teile nur unter der Voraussetzung teilen kann, dass die

beiden Endpunkte schon vorher gegeben sind.“388 Kelsen weist nach, dass

Aristoteles in seiner Lehre die Existenz der verschiedenen Laster stillschweigend

voraussetzt. Für Aristoteles liegt – nach Kelsen - ein Laster vor, wenn die traditionelle Moral seiner Zeit sagt, dass ein Laster vorliegt.389 „Das bedeutet, dass

die Ethik der Mesotes-Doktrin nur vorgibt, ihr Problem zu lösen, das Problem: Was

ist böse, also ein Laster, und folglich, was ist gut oder eine Tugend?“390

Kelsen zeigt, dass die Mesotes-Formel eine gegebene Gesellschaftsordnung als gültig voraussetzt. Dies bedeutet, dass das als „gut und gerecht“ bezeichnet wird,

was eine gegebene, stillschweigend vorausgesetzte Gesellschaftsordnung als „gut

384 Aristoteles: *384 v. Chr. Stagira, †322 v. Chr. Chalkis. 385 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1129 b. Kelsen zitiert nach diesem Werk von Aristoteles. 386 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 375. 387 Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 375. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 388 Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 375. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 389 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 374 ff. 390 Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 375. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.)

Page 98: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

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und gerecht“ bezeichnet. Die Mesotes-Formel läuft damit letztlich – nicht anders als

die bisher dargestellten Formeln und Normen der Gerechtigkeit - auf eine

Rechtfertigung der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung der Moral und des

Rechts hinaus. „Die entscheidende Frage: Was ist Unrecht, ist mit der Mesotes-

Formel nicht beantwortet.“391

2.1.2.6 Das Prinzip der Vergeltung

Kelsen sieht in jeder positiven Rechtsordnung eine Verwirklichung des Prinzips

der Vergeltung. Die spezifische Technik des positiven Rechts macht das sichtbar: An

einen vom Recht bestimmten Tatbestand – den Unrechtstatbestand - wird eine vom

Recht bestimmte Folge – die Unrechtsfolge - geknüpft.392 Die Wurzel des

Vergeltungsprinzips ist – unter psychologischen Gesichtpunkten - im Racheinstinkt der Menschen zu erkennen. Es fordert Strafe für Schuld oder Unrecht und Lohn für Verdienst. Das sogenannte „Talionsprinzip“ (Auge um Auge, Zahn um Zahn) stellt

das Vergeltungsprinzip in seiner rohesten Form dar.393

Nach Kelsen ist das Prinzip der Vergeltung sinnlos, weil die Antwort auf die Frage,

was gut und was böse ist, als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Eine bestimmte

gesellschaftliche Ordnung der Moral oder des Rechts legt – vorher - fest, was als gut

und was als böse zu gelten hat.

2.1.2.7 Jedem nach seiner Leistung

Die Gerechtigkeitsnorm „Jedem nach seiner Leistung“ – auch kurz „Leistungsprinzip“

genannt - ist dem Vergeltungsprinzip verwandt. Es wird eine Beziehung zwischen

einer Aktion und einer Reaktion hergestellt. Die Aktion ist regelmäßig eine

Arbeitsleistung. Sie kann aber auch – bei einem weiteren Verständnis der

Gerechtigkeitsnorm - die Lieferung einer Ware sein. Die Reaktion besteht bei der

Arbeitsleistung in der Entlohnung, bei der Lieferung einer Ware im Preis. Für Kelsen

kann es eine „gerechte Entlohnung“ (einen „gerechten Preis“) nicht geben.394

391 Kelsen, Was ist Gerechtigkeit?2 (1975) 36. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 392 Zur Definition und zur Struktur des Begriffs der „Rechtsnorm“ siehe oben. 393 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 376 ff. 394 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 380 ff.

Page 99: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

99

Kelsen zeigt, dass nicht die Aktion die Reaktion, sondern die Reaktion die Aktion bestimmt. Es ist nicht der Wert der Arbeitsleistung, der die Entlohnung bestimmt. Es

ist auch nicht der Wert der Ware, der den Preis bestimmt. Es ist umgekehrt: „Der

Wert der Arbeitsleistung wird durch die Entlohnung, der Wert der Ware durch den

Preis bestimmt, den die Arbeitsleistung oder die Ware tatsächlich erzielt.“395

In seiner weiteren Analyse gelingt es Kelsen darzulegen, dass auch das

Gerechtigkeitsprinzip der Leistung letztlich leer bleibt. Es bietet nur unter einem

einzigen Gesichtspunkt eine nachvollziehbare Verhältnismäßigkeit: Jemand, der 3

Stunden arbeitet, wird für 3 Stunden, jemand, der 7 Stunden arbeitet, für 7 Stunden

und jemand, der 35 Stunden arbeitet, wird für 35 Stunden bezahlt. Die

entscheidende Frage jedoch, wie viel jemand für 1 Stunde bekommen soll, bleibt unbeantwortet. Es ist letztlich das Wirtschaftssystem, das die Frage nach der

Grundlage der Entlohnung beantwortet. Es gibt weder einen objektiven Wert einer

Arbeitsleistung noch einen objektiven Wert einer Ware.396 Vielmehr kann das

Verhältnis zwischen Arbeitsleistung und Entlohnung (und das Verhältnis zwischen

Ware und Preis) „in jeder beliebigen Weise bestimmt werden und wird –wie

bemerkt- im Rahmen einer freien Wirtschaft durch Angebot und Nachfrage, im

Rahmen einer geplanten Wirtschaft durch autoritäre Reglementierung

bestimmt.“397

2.1.2.8 Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen

Die kommunistische Gerechtigkeitsnorm „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem

nach seinen Bedürfnissen“ geht auf „Karl Marx“398 zurück. Karl Marx meint, so

Kelsen, dass die kapitalistische Gesellschaftsordnung ein ungleiches – und damit

auch ein ungerechtes - Recht darstelle, weil dieses Recht die Ungleichheiten

unberücksichtigt lasse, die zwischen den Menschen in Bezug auf ihre

Arbeitsfähigkeit bestehen. Wahre Gleichheit und damit wahre Gerechtigkeit könne

nach Marx – so Kelse n- nur in der kommunistischen Wirtschaft der Zukunft

395 Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 381. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 396 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 380 ff. 397 Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 381. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 398 Karl Marx: *1818 Trier, †1883 London. Karl Marx ist ein deutscher Philosoph, Historiker und Journalist.

Page 100: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

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verwirklicht werden, wo der Grundsatz gelten werde: „Jeder nach seinen Fähigkeiten,

jedem nach seinen Bedürfnissen.“399

Die Kritik von Karl Marx an der kapitalistischen Wirtschaftsordnung verlange, so

Kelsen, dass bei der Entlohnung der Arbeit gewisse Ungleichheiten – und zwar die

Ungleichheit der Fähigkeiten und die Ungleichheit der Bedürfnisse -

berücksichtigt werden. Das für die kapitalistische Wirtschaftsordnung maßgebliche

Leistungsprinzip werde abgelehnt.400

Jeder nach seinen Fähigkeiten:

Jeder einzelne Mensch soll (nur) das seiner Natur Gemäße, das seinen Fähigkeiten

Entsprechende leisten. Doch: Wer bestimmt die Fähigkeiten jedes einzelnen

Menschen? Jeder einzelne Mensch selbst? Ein subjektives Kriterium kann wohl

kaum gemeint sein. Und: Wer legt die Art und das Ausmaß der Leistung fest, die

jedem einzelnen Menschen – seinen Fähigkeiten entsprechend - abzuverlangen ist?

Und: Was hat zu geschehen, wenn ein bestimmter Mensch nicht leistet, was er -

seinen Fähigkeiten entsprechend - leisten soll?401 „Man kann wohl nicht ernstlich

bezweifeln, dass diese Fragen von den hiezu berufenen Organen der Gemeinschaft,

nach generellen Normen der Gemeinschaftsordnung entschieden werden

müssen.“402

Jedem nach seinen Bedürfnissen:

Auch der zweite Teil des kommunistischen Gerechtigkeitsprinzips „Jedem nach

seinen Bedürfnissen“ kann nur unter Anwendung eines objektiven Kriteriums

funktionieren. Denn anzunehmen, eine Gesellschaftsordnung könne alle subjektiv

geäußerten Bedürfnisse aller Menschen befriedigen, wäre eine utopische Illusion.

Keine Gesellschaftsordnung kann alle Bedürfnisse aller Menschen befriedigen, die

diese subjektiv empfinden. Das bedeutet, dass eine Gesellschaftsordnung – vorher -

jene Bedürfnisse auszuwählen und zu bestimmen hat, die ihr der Befriedigung

399 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 382 ff. 400 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anahng: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 383 ff. 401 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 384 ff. 402 Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 384. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.)

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würdig erscheinen.403 „Da eine kommunistische Gesellschaftsordnung in erster Linie

eine Wirtschaftsordnung ist, kommen vor allem wirtschaftliche Bedürfnisse, wie das

Bedürfnis nach Nahrung, Kleidung, Behausung usw. in Betracht.“404

Über den Inhalt der Gesellschaftsordnung, die in einer fernen Zukunft errichtet

werden oder von selbst entstehen soll, sagt das kommunistische

Gerechtigkeitsprinzip nichts aus. Niemand kann voraussehen, welche Antworten auf

die entscheidenden Fragen die angekündigte Gesellschaftsordnung der Zukunft geben wird.405

2.1.2.9 Das Prinzip der Freiheit

Das Gerechtigkeitsprinzip der Freiheit hat insofern eine herausragende Bedeutung,

als in vielen Moralsystemen die individuelle Freiheit als höchster Wert gilt. Kelsen

stellt der ursprünglichen Idee der Freiheit – der individuellen Freiheit - eine neue,

gewandelte, aus einem geschichtlichen Entwicklungsprozess hervorgegangene

soziale Freiheit gegenüber.406 Kelsen zeigt, dass die ursprüngliche Idee der Freiheit

– die individuelle Freiheit - einer Umwandlung bedarf, wenn sie in gesellschaftlichen

Zusammenhängen eine Rolle spielen soll. Die Freiheit von jeder normativen

Ordnung muss in eine Freiheit unter einer bestimmten normativen Ordnung

umgewandelt werden. Aus einer – asozialen oder antisozialen - individuellen Freiheit

muss eine (neue) soziale Freiheit werden.407

Die Lehre vom Gesellschaftsvertrag, die der individualistischen Naturrechtslehre

zugeschrieben wird, beruht auf der Freiheitsidee der Selbstbestimmung: Wenn es

eine normative Ordnung geben muss (und somit die Freiheit der Ungebundenheit

nicht möglich ist), darf diese Ordnung nur mit Zustimmung der ihr Unterworfenen

errichtet werden. Die erstmalige Errichtung einer Gesellschaftsordnung entsteht – so

das Gedankenexperiment - durch Vertrag. Durch den sogenannten

„Gesellschaftsvertrag“ binden und verpflichten sich die Menschen selbst. Wichtig ist,

dass sich das Gerechtigkeitsprinzip der Selbstbestimmung nicht auf den Inhalt,

403 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 385 f. 404 Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 385. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 405 Vgl. Kelsen, Was ist Gerechtigkeit?2 (1975) 28 f. 406 Vgl Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 388 f. 407 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 388 f.

Page 102: Hans Kelsen, Recht und Gerechtigkeit

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sondern ausschließlich auf die Form der Erzeugung einer Gesellschaftsordnung

bezieht. Ist ein – bloß gedanklich angenommener - Gesellschaftsvertrag

abgeschlossen und ist damit eine Gesellschaftsordnung errichtet, kann diese

Ordnung in Zukunft durch das Mehrheitsprinzip abgeändert werden. Das Prinzip

der Selbstbestimmung wird durch das Mehrheitsprinzip abgeschwächt.408 Die

ursprüngliche Idee der Freiheit – die individuelle Freiheit - bedarf der Umwandlung

in eine soziale Freiheit, um als Prinzip der Gerechtigkeit gesellschaftliche

Wirksamkeit entfalten zu können.

2.1.2.10 Das Prinzip der Gleichheit

Das Prinzip der Gleichheit ist eines der wichtigsten Gerechtigkeitsprinzipien. Es wird

nicht selten als Kern der Gerechtigkeit bezeichnet. Kelsen weist in seiner – sehr

umfangreichen und genauen - Analyse nach, dass es nicht möglich ist, den Begriff

der Gerechtigkeit mit dem der Gleichheit zu erklären oder zu beschreiben:

Das Gerechtigkeitsprinzip der Gleichheit kommt in der Norm zum Ausdruck, dass

alle Menschen gleich behandelt werden sollen. Dabei wird vorausgesetzt, dass die

Menschen und auch die äußeren Umstände nicht gleich, sondern vielmehr ungleich

sind. Es wäre auch absurd, das Gegenteil zu behaupten. Die Ungleichheit der

Menschen und auch der äußeren Umstände ist offenkundig.409 Die Forderung, alle

Menschen gleich zu behandeln, kann daher nur bedeuten, „dass die tatsächlich

vorhandenen und nicht zu leugnenden Ungleichheiten für die Behandlung der

Menschen irrelevant seien.“410

Eine Gerechtigkeitsnorm, die verlangt, dass alle Menschen gleich oder alle

Menschen ungleich behandelt werden sollen, ist bloß formaler Natur. Sie sagt noch

nichts darüber aus, was der Inhalt dieser absolut gleichen oder absolut ungleichen

Behandlung sein soll. Sie setzt – um überhaupt angewendet werden zu können -

eine materielle Norm (der Moral oder des Rechts) voraus, die den Inhalt der

Behandlung der Menschen bestimmt.411

408 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 389 f. 409 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 390 ff. 410 Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 390. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 411 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 391 ff.

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Alle vorhandenen Ungleichheiten zu berücksichtigen, ist nicht möglich. Keine einzige

der tatsächlich vorhandenen Ungleichheiten zu berücksichtigen – und damit die

Menschen und die äußeren Umstände wirklich gleich zu behandeln - würde zu

absurden Konsequenzen führen.412 „Es ist nicht möglich, bei jeder Art der

Behandlung alle Ungleichheiten unberücksichtigt zu lassen. Gewisse

Ungleichheiten müssen in Rechnung gezogen werden.“413 Diese Einsicht führt zu

einer Neuformulierung des Gerechtigkeitsprinzips der Gleichheit. Es wird gesagt: Nur Gleiche sollen gleich, Ungleiche aber ungleich behandelt werden. Dieses

neuformulierte Gerechtigkeitsprinzip ist jedoch nicht länger – so Kelsen - ein solches

der Gleichheit. Denn: „Dieser Grundsatz fordert, dass Ungleichheiten in Bezug auf

gewisse Qualitäten berücksichtigt, Ungleichheiten in Bezug auf die anderen

Qualitäten nicht berücksichtigt werden sollen.“414

Kelsen zeigt, dass die Forderung, Gleiche gleich, Ungleiche aber ungleich zu

behandeln, letztlich eine inhaltsleere Formel darstellt. Sie ist nur die logische

Konsequenz des generellen Charakters jeder Norm. Jede generelle Rechtsnorm

schreibt vor, dass unter bestimmten Bedingungen eine bestimmte Folge (eine

bestimmte Behandlung der Menschen) eintreten soll.415 „Die Gleichheit, die darin

besteht, dass Gleiche gleich behandelt werden sollen, ist somit eine Forderung

der Logik, nicht der Gerechtigkeit.“416

Die Formel, dass Gleiche gleich, Ungleiche aber ungleich behandelt werden sollen,

setzt – nicht anders als alle anderen, bereits erörterten Formeln, Normen und

Prinzipien der Gerechtigkeit - eine bestimmte Gesellschaftsordnung der Moral oder

des Rechts bereits voraus. Als bloß allgemeine Formel lässt sie die entscheidenden

Fragen unbeantwortet. „Das heißt aber, dass die entscheidende Frage: was ist

gleich, durch das sogenannte Prinzip der Gleichheit nicht beantwortet wird.“417

412 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 391 ff. 413 Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 391. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 414 Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 392. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 415 Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 393 ff. 416 Kelsen, Reine Rechtslehre, Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit2 (1960) 394. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 417 Kelsen, Was ist Gerechtigkeit?2 (1975) 26. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.)

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104

2.2 Horst Dreier, Hannover:

„Trennung von Recht und Gerechtigkeit“418 Dreier legt dar, dass nach dem Konzept der „Reinen Rechtslehre“ die Annahme der

Gerechtigkeit als ein Kriterium der materialen Richtigkeit des Rechts mit dem

Konstruktionsprinzip der Grundnorm entfällt: Wird das Recht als „Deutungsschema“ gebraucht, lässt sich der subjektiv intendierte Sinn der Akte

einer wirksamen Zwangsordnung auch als ihr objektiver Sinn interpretieren. Für

Kelsen stelle, so Dreier, die Idee absoluter Gerechtigkeit ein irrationales Ideal dar.

Dies bedeute aber nicht, dass Kelsen die Bedeutung der Gerechtigkeit, oder

genauer, die Bedeutung der höchst unterschiedlichen und einander auch

widersprechenden Gerechtigkeitsvorstellungen als Fixpunkte für das

gesellschaftliche Zusammenleben verkennen oder für unerheblich halten würde.419

Für den Relativisten Kelsen ist die Frage, was im Einzelfall als „gerecht“ zu gelten

habe, nicht mit letzter Verbindlichkeit zu entscheiden. Die berühmten

Gerechtigkeitskriterien der Philosophiegeschichte (suum cuique, Mesotes-

Formel, Goldene Regel, Kategorischer Imperativ etc.) stellen Scheinweisheiten dar:

Die Gerechtigkeitskriterien lassen beliebige Inhalte zu. Die Entscheidung über die

Feststellung des jeweils Gerechten ist immer bereits vorausgesetzt und damit kein

Ergebnis einer regelgeleiteten Prüfung.420

Der Trennung von Recht und Gerechtigkeit kommt eine ideologiekritische

Funktion zu: Es entspricht dem Wesen des positiven Rechts, dass es durch

menschliche Tat erzeugt wird. Es kann daher nie absolute, sondern stets nur relative und damit anfechtbare Geltung beanspruchen. Menschliche Regeln und

Vorschriften sind immer unvollkommen und dürfen bereits aus diesem Grund mit der

Idee einer „absoluten Gerechtigkeit“ nicht identifiziert werden. Eine Gleichsetzung

418 Dreier, Trennung von Recht und Gerechtigkeit, in: Jürgen Frank, Joachim Rückert, Hans-Peter Schneider und Manfred Walther (Hrsg), Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen (1986) 160 ff. 419 Vgl. Dreier, Trennung von Recht und Gerechtigkeit, in: Jürgen Frank, Joachim Rückert, Hans-Peter Schneider und Manfred Walther (Hrsg), Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen (1986) 160 f. 420 Vgl. Dreier, Trennung von Recht und Gerechtigkeit, in: Jürgen Frank, Joachim Rückert, Hans-Peter Schneider und Manfred Walther (Hrsg), Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen (1986) 161 f.

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von Recht und Gerechtigkeit würde eine Rechtsordnung als unangreifbar

darstellen.421

Nur bei einer strikten Trennung von Recht und Gerechtigkeit ist es möglich, dass

eine bestimmte Gerechtigkeitsvorstellung zum Kriterium und Maßstab der

inhaltlichen Beurteilung einer positiven Rechtsordnung werden kann. Denn: Wäre

das Recht mit der Gerechtigkeit identisch, könnte es auch nicht an der Gerechtigkeit

–an einer bestimmten Gerechtigkeitsvorstellung- gemessen werden.422

Die Gerechtigkeitsidee ist eine metarechtliche Leitvorstellung. Sie meint eine gute,

richtige – und damit eine gerechte - gesellschaftliche Ordnung. Eine positivistische

Rechtslehre – und eine solche stellt die „Reine Rechtslehre“ dar - lehnt jedoch ein

vorpositives Bezugszentrum des Rechts konsequent ab. Als Gegenstand der

wissenschaftlichen Erkenntnis akzeptiert sie ausschließlich das positive Recht. Jede

vorgängige Wertbestimmung muss aus dem – in diesem Sinne - „reinen“

Wissenschaftsgegenstand ausgeschieden werden. Auch die Bewahrung des

Friedenszustandes ist keine dem Recht wesentliche Funktion. Für eine positivistische

Rechtslehre – und damit für die „Reine Rechtslehre“ - gibt es keine dem Recht

zwingend vorgegebenen Inhalte. Das (positive) Recht kann jeden beliebigen Inhalt haben. Diesen Inhalt zu erkennen und zu beschrieben, das – und nur das - ist

die Aufgabe einer (positivistischen) Rechtswissenschaft.423

421 Vgl. Dreier, Trennung von Recht und Gerechtigkeit, in: Jürgen Frank, Joachim Rückert, Hans-Peter Schneider und Manfred Walther (Hrsg), Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen (1986) 162 f. 422 Vgl. Dreier, Trennung von Recht und Gerechtigkeit, in: Jürgen Frank, Joachim Rückert, Hans-Peter Schneider und Manfred Walther (Hrsg), Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen (1986) 163 f. 423 Vgl. Dreier, Trennung von Recht und Gerechtigkeit, in: Jürgen Frank, Joachim Rückert, Hans-Peter Schneider und Manfred Walther (Hrsg), Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen (1986) 164 ff.

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2.3 Zusammenfassung

Eine absolute Gerechtigkeit – und eine solche behaupten die metaphysischen

Gerechtigkeitsnormen - gibt es für Kelsen nicht. Er sieht in ihr ein „irrationales Ideal“. Für Kelsen gibt es nur eine relative Gerechtigkeit. Die von ihm analysierten

Normen, Formeln und Prinzipien der Gerechtigkeit stellen in seinen Augen

inhaltslose Hülsen dar. Sie geben auf die entscheidenden Fragen nach der

Gerechtigkeit keine Antwort. Regelmäßig setzen sie eine bestimmte

Gesellschaftsordnung der Moral oder des Rechts bereits voraus. Die Geschichte

der menschlichen Erkenntnis zeigt, so Kelsen, dass auf rationalem Wege eine

absolut gültige Norm gerechten Verhaltens nicht gefunden werden kann. Die

menschliche Vernunft kann nur relative Werte – und damit auch nur eine relative

Gerechtigkeit - begreifen.424 Dies bedeutet, „dass das Urteil, mit dem etwas für

gerecht gehalten wird, niemals mit dem Anspruch auftreten kann, die Möglichkeit

eines gegenteiligen Werturteils auszuschließen.“425

Kelsen bekennt sich zu einer relativistischen Wertlehre und damit zum moralischen

Prinzip der Toleranz. Er fordert, religiöse und politische Anschauungen anderer

Menschen wohlwollend zu verstehen. Und zwar vor allem dann, wenn man sie nicht

teilt. Es versteht sich für ihn von selbst, dass es eine absolute Toleranz nicht geben kann. Toleranz kann es nur im Rahmen einer positiven Rechtsordnung

geben. Jede Gewaltanwendung unter den Menschen muss verboten, die friedliche

Äußerung der Meinungen hingegen garantiert sein.426 „Die höchsten sittlichen Ideale

sind kompromittiert worden durch die Intoleranz jener, die für sie eingetreten sind.“427

Auf die Frage, ob eine Demokratie tolerant bleiben kann, wenn sie sich gegen

antidemokratische Umtriebe verteidigen muss, antwortet Kelsen in geradezu

prophetischer Weise, wenn man (wir schreiben das Jahr 2015) an aktuelle

politische Ereignisse denkt:

424 Vgl. Kelsen, Was ist Gerechtigkeit?2 (1975) 40 ff. 425 Kelsen, Was ist Gerechtigkeit?2 (1975) 40. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 426 Vgl. Kelsen, was ist Gerechtigkeit?2 (1975) 40 ff. 427 Kelsen, Was ist Gerechtigkeit?2 (1975) 41.

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„Sie kann es! In dem Maße, als sie friedliche Äußerungen anti-demokratischer

Anschauungen nicht unterdrückt. Gerade durch solche Toleranz unterscheidet sich

Demokratie von Autokratie.“428

Kelsen führt in der Folge aus, dass es nur dann Sinn macht, jede Form der

Autokratie abzulehnen und stolz auf die Demokratie zu sein, wenn der Unterschied zwischen Autokratie und Demokratie nicht aus dem Blick gerät. Kelsen sagt zwar,

dass jede demokratische Regierung das Recht hat, sich gegen gewalttätige

Umsturzversuche – mit (verhältnismäßiger) Gewalt – zu wehren.429 Er sagt aber

auch:

„Demokratie kann sich nicht dadurch verteidigen, dass sie sich selbst

aufgibt.“430

428 Kelsen, Was ist Gerechtigkeit?2 (1975) 42. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.) 429 Vgl. Kelsen, Was ist Gerechtigkeit?2 (1975) 42. 430 Kelsen, Was ist Gerechtigkeit?2 (1975) 42. (Hervorhebungen durch den Verfasser, H. S.)

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