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Harald Wasser Die Systemtheorie der Massenmedien … · Was heißt »Masse«?_____ 53 Massenmedien, Wirtschaft, Politik und Wissenschaft: Systemcode und strukturelle ... die Massenmedien

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Harald Wasser

Die Systemtheorie der Massenmedien Erster Teil:

Eine essayistische Revision

© Manuskript August 2005/V.1b

Online veröffentlichte Aufsätze sind voll zitierfähig, wenn folgende Angaben aus dem Text entnommen und

genannt werden: Der Autor, der Titel, die Bezugsquelle (es reicht die Angabe der Domain, wobei diese sozusagen

die Ortsangabe in Printausgaben vertritt), die im Text genannte Jahreszahl (und – wenn vorhanden – die von dieser

durch Schrägstrich getrennte Versionsnummer). Die »Versionsnummer« (anstelle der »Auflage«) ist ein Merkmal

ausschließlich von Onlineveröffentlichungen, da diese – im Gegensatz zu Printausgaben – ohne großen Aufwand

verändert und in veränderter Version veröffentlicht werden können. Als authentische Bezugsquellen gelten alle im

Handelsregister geführten Verlagsseiten. Geschieht der Download von unklarer Quelle, so kann die Authentizität

von Onlineveröffentlichungen durch Anwahl der vom Autor im Text genannten Authentizitätsseite geprüft werden.

Im vorliegenden Fall lautet diese »autopoietische-systeme.de«.

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Inhalt

Vorbemerkung ____________________________________________________________ 4

Revision und Adaption______________________________________________________ 8

System und Medium_______________________________________________________ 10

Selbstmediatisierende Systeme _____________________________________________ 14 Unterhaltung und Information ______________________________________________ 22

Zur Codierung der Massenmedien___________________________________________ 24

Basale Elemente und Systemcodierung _______________________________________ 24 Zur Revision des Informationsbegriffs _______________________________________ 26 Redundanz und Information________________________________________________ 28 Mediale und strukturelle Kopplung __________________________________________ 30

Mediale und strukturelle Verschmierungen__________________________________ 32 Information, Schleifen und Kommunikation__________________________________ 36

Der Code der Massenmedien _______________________________________________ 38

Codedifferenzierung versus funktionale Differenzierung ________________________ 47

Was heißt »Masse«?_______________________________________________________ 53

Massenmedien, Wirtschaft, Politik und Wissenschaft: Systemcode und strukturelle Kopplung ______________________________________________________________ 56 Das Medium als Botschaft _________________________________________________ 61

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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien

Es gibt natürlich einen persönlichen Lebenskreis, über den

man Bescheid weiß, ohne etwas in der Zeitung gelesen zu

haben. Aber wenn man sich im öffentlichen Raum orientiert,

kann man ohne Medienwissen gar keine Verständigung

erreichen. Manche beklagen das als Verlust von

Unmittelbarkeit. Aber oft weiß man gar nicht, wie stark

etwas, das wir wissen, durch die Medien vermittelt ist, wenn

man es nicht mit direkt bekannten Objekten oder Personen zu

tun hat. Wir sind kaum in der Lage, das medienvermittelte

Wissen von dem selbsterfahrenen wirklich zu trennen.

Niklas Luhmann

Vorbemerkung

Die Massenmedien gehören sicherlich zu den interessantesten Forschungsgebieten der

Kommunikationstheorie, schon weil sie sich selbst als ein Kommunikationssystem

beschreiben. Andere Systeme − man denke etwa an die Wirtschaft − beschreiben sich selbst

durchaus nicht immer als Kommunikationssystem, sondern beispielsweise als

Produktionssystem (für Güter und Dienstleistungen).

Als weiteres auffälliges Merkmal der Massenmedien lässt sich anführen, dass diese für sich in

Anspruch nehmen, parallel und widerspruchslos den gesamten Bereich zwischen Realität und

Fiktion, zwischen Trug und Wirklichkeit, zwischen Information und Desinformation

prozessieren zu können und zwar über alle Systemgrenzen hinweg. Während oscarprämierte

Schauspielerinnen in Kinos (fiktiv) um die Weltmeisterschaft boxen (»Million Dollar Baby«)

berichten die Nachtrichten, der Papst sei (real) gestorben. Und wenn hier schon von einer

Überschreitung von Systemgrenzen gesprochen wurde, so gilt dies für die Massenmedien

gleich in doppeltem Sinn: Ob Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst, Religion, Liebe oder Recht –

die Massenmedien verarbeiten deren Themen nicht nur zu eigenen Themen (in Form von

Romanen, Berichten, Dokumentationen, Features, Hollywoodfilmen etc.), sie stellen sich

gelegentlich Fremdsystemen (etwa der Wissenschaft) als maßgebliches

Kommunikationsmedium zur Verfügung etwa in Form von Fachzeitschriften (sofern es diesen

gelingt, eine ausreichende Verbreitung zu finden), populärwissenschaftlicher

Massenkommunikation (Wissenschaftsmagazine) oder als Diskussionsforen in

Tageszeitungen (z.B. Historikerstreit).

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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien

Und noch etwas fällt auf: Die Wirtschaft wird von den Massenmedien seit den ersten Tagen

geradezu symbiotisch gekoppelt in Form von Werbung. Und wie alle

Kommunikationssysteme, so transformieren auch die Massenmedien alles »Fremdmaterial«

in eigenes: Werbung läuft stets in medienspezifisch aufgearbeiteter Form als »Anzeige« (mit

und ohne Bild) in den Printmedien, als »Werbetrailer« oder als »Audiobeitrag« in Fernsehen

und Hörfunk, als »Flashanimation« etc. im Internet. Und genau deswegen, damit die Form

nicht die Differenz schluckt, hat der Gesetzgeber eine Kennzeichnungspflicht erlassen. Ob

aber heute nicht sowieso ganze Sendungen, etwa »Big Brother« (RTL), eine einzige, nur

notdürftig getarnte Werbesendung (für ein darauf bezogenes Merchandisingumfeld)

darstellen, darüber mag man trefflich streiten können und ebenso darüber, ob die »Cannes-

Rolle« Kunstwerke präsentiert. Jedenfalls wird in den Massenmedien vom Sex über die Kunst

bis zur Medizin alles zum Thema. McLuhan war daher der Meinung, jeder Fernsehfilm, jede

Serie sei sowieso Werbung: Schließlich werde das Bedürfnis geweckt, wenigstens die in der

»Daily Soap« vorkommende, formvollendete Küche zu erwerben. Viele werden sich noch an

die Denver-- und Dallasfrisuren erinnern. Man konnte im Supermarkt von dem Gefühl

beschlichen werden, »im falschen Film« zu sein.

Aber auch die Bedeutung von Selbstreferenz wird innerhalb der Massenmedien so gut

sichtbar wie in kaum einem anderen System. Wenn die Nutzung des Internets für die

Massenmedien bedeutsamer wird, so erfahren wir das: in den Massenmedien. Wenn RTL

umzieht, so berichten: die Massenmedien. Und welche Rolle das amerikanische Militär für

die massenmediale Berichterstattung über den Irakkrieg spielte, das wird ebenfalls zum

Thema: der Massenmedien.

Um im Katastrophenfall zur Verfügung zu stehen, müssen beispielsweise bestimmte

Radioanstalten ihre Sendernetze mit hohen Redundanzen betreiben und zudem eine ganze

Kette programmlicher Havarieoptionen nachweisen können. Wenn aber im Ausland eine

Katastrophe droht, so schickt die Presse ihre Korrespondenten vor Ort, um Authentizität zu

verbürgen, obwohl es immer häufiger vorkommen wird, dass auch der Korrespondent vor Ort

überwiegend Agenturen und die ihm zugänglichen Nachrichtensender sichtet. Er holt sich

also einen Teil der von ihm später über die Massenmedien zu verbreitenden Infos aus den

Massenmedien (Selbstreferenz), wofür er allerdings nicht unbedingt vor Ort sein müsste,

schon weil die Redaktion seines Heimatsenders dergleichen mit mehr Personal ohnehin

betreiben wird. Wenn es hart auf hart kommt, so wird unter Umständen die Heimatredaktion

in einem Vorgespräch den Korrespondenten in bestimmten Punkten sogar auf den neuesten

Stand bringen müssen. Der Korrespondent wird auf Sendung genommen, aber offensichtlich

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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien

nicht immer, weil er über aktuelleres oder über sichereres Wissen verfügt: Er wird auf

Sendung genommen, weil er dergleichen verbürgen soll. Eine auffällige Steigerung von

Selbstreferenzen. In abgewandelter Form ist dergleichen natürlich banaler Alltag: Schließlich

informieren sich die Massenmedien schon immer und routiniert bei sich selbst: »Wie die

Bild-Zeitung meldet…» »Nach Informationen des westdeutschen Rundfunks…«

Wie sehr Luhmann und McLuhan Recht hatten mit ihrer Einschätzung, dass heute Realität

und Massenmedien unentwirrbar miteinander verknüpft sind, mag eine Anekdote aus jüngster

Zeit veranschaulichen: Eine Freundin erzählte, dass sie vor kurzem Asien bereist habe, als

erneut Tsunami-Warnung gegeben wurde. Sie habe sich unmittelbar in einem Hotel mit Blick

aufs Meer in der Gefahrenzone befunden. Als sie die entsprechende Warnung hörte, habe sie

aber nicht einfach rausgeschaut, sondern sei im Hotelzimmer ständig zwischen dem Fernseher

(BBC) und dem Fenster hin und her gelaufen. Auf Nachfrage, warum sie nicht einfach

hinausgeschaut habe, antwortete sie, sie habe den Fernseher benötigt, um zu prüfen, in wie

weit sie ihren Augen trauen könne.

Nicht der Ort, nicht die Sinne, nicht das Geschehen, nicht das Erleben − die instanten

Massenmedien verbürgen im elektronischen Zeitalter die Realität. Nie hatte das sich so

plastisch gezeigt, wie in Orson Welles Radiohörspiel von H. G. Wells »Krieg der Welten«.

Die Massenmedien sorgten für den Realitätseffekt und nur die Massenmedien konnten ihn

wirksam wieder abfangen und in Fiktion überführen.

Aber auch mit einem sehr speziellen Blick auf das systemtheoretische Theoriedesign birgt der

Forschungsgegenstand »Massenmedien« seine Auffälligkeiten. Insbesondere fällt hier

irritierend auf, dass es Luhmann offenbar nicht gelungen war, sein medientheoretisches

Modell, die so genannten «Heidermedien«, zur Anwendung zu bringen. Ausgerechnet in

seinem Hauptwerk zu den Massenmedien (»Die Realität der Massenmedien«) nimmt Luhmann

keinen Bezug auf seine eigene Medientheorie. Das ist nicht nur sehr auffällig, sondern

sicherlich auch kein Zufall, wie sich im Verlauf der Untersuchung zeigen sollte. Der an

anderer Stelle (»Luhmann, McLuhan und der Graf von Monte Christo«, download auf

www.autopoietische-systeme.de) ausgeführte Vorschlag einer Revision der

systemtheoretischen Medientheorie in Form einer Substitution des Modells der Heidermedien

durch ein eng an McLuhan orientiertes Modell, soll hier natürlich seine Anwendung finden.

Das dort eingeführte Modell der McLuhan-Medien scheint sich hingegen ohne

Einschränkungen auch für eine Theorie der Massenmedien zu eignen. Es wird sich bei

unserem Versuch einer Integration des McLuhan-Modells in eine Theorie der Massenmedien

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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien

aber auch zeigen, dass sogar basale Zuschreibungen Luhmanns – etwa der von ihm genannte

Code der Massenmedien – neu überdacht werden sollten.

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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien

Revision und Adaption

Die folgende Untersuchung wird ihre Analysen und Beschreibungen in Luhmanns Theorie

autopoietischer Systeme einbetten. Medientheoretisch wird sie sich allerdings wie bereits

angekündigt nicht an Luhmanns Modell der Heidermedien binden, sondern an ein Modell,

dass sich an McLuhans Medientheorie orientiert. Der Kombination Luhmann/McLuhan liegt

die These zu Grunde, dass sich basale Bestandteile der Theorie autopoietischer Systeme

trennscharf von darauf aufbauenden Theoriebausteinen isolieren lassen, ohne den durch

Luhmann gegebenen Theorierahmen verlassen zu müssen. Unter »aufbauend« sollen

entsprechend alle kontingenten Theorieelemente verstanden werden, also alle Elemente, die

zwar mit der von Luhmann begründeten Theorie autopoietischer Systeme verbunden sein

können, aber nicht verbunden sein müssen. Die Idee hingegen, der zufolge autopoietische

Systeme aus nichts anderem bestehen, als aus denjenigen Operation, die sie selbst vollziehen,

gehört sicherlich zu den basalen Ideen, schon weil es sich hier um eine geradezu

definitorische Formel handelt. Derartige Theorie-Elemente kann man also nicht verwerfen,

ohne sich von Luhmanns Modell als Rahmentheorie zu verabschieden.

Im Gegensatz zur Definition der Autopoiesis stellen aber andere Theoriebausteine, etwa die

Theorie der binären Codierung, der Zweiseitenform oder die der Heidermedien nur

kontingente Lösungsmöglichkeiten systemtheoretischer Teilprobleme dar, für die sich

funktionale Äquivalente benennen und einführen ließen, ohne sich damit außerhalb des

Theorierahmens begeben zu müssen. Kontingente Elemente sind also daran erkennbar, dass

sie sich innerhalb der »Luhmannschen Systemtheorie« austauschen lassen. So mag man

darüber streiten können, ob die Basisoperation psychischer Systeme adäquater mit

Bewusstsein oder mit Erleben bezeichnet ist. Die These aber, der zu Folge sich Typen

autopoietischer Systeme voneinander durch (und nur durch) die jeweils gewählte

Basisoperation unterscheiden, steht nicht zur Disposition, sofern man »mit Luhmann

weiterdenken« möchte.

Dieser Umstand soll im Folgenden genutzt werden, um eine Revision der systemtheoretischen

Theorie der Massenmedien durchführen zu können. Die nicht geringe Zahl kontingenter

Elemente, die im Folgenden durch funktionale Äquivalente ausgetauscht werden soll, wird

natürlich theoretische Kontrollen erfordern, um die notwendigen adaptiven Prozesse auslösen

zu können: Wer sich von Luhmanns Modell der Heidermedien trennen möchte, der wird z.B.

auch die damit verbundenen Auswirkungen auf die Theorie der Form beachten müssen.

»Ersetzen« heißt immer auch »einpassen«.

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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien

Wir werden Luhmanns Theorie autopoietischer Systeme auch darin folgen, die

Massenmedien (Plural!) als ein (autopoietisches) System zu begreifen. Und wir werden ihm

beipflichten in der Annahme, dass die Operation der Massenmedien innerhalb einer

soziologischen Theorie autopoietischer Systeme treffend mit »Kommunikation« (und mit

nichts anderem!) bezeichnet werden kann, schon weil »Kommunikation« die Basisoperation

der Gesellschaft als Gesamtsystem bezeichnet. Um die Binnendifferenzierung der

Gesellschaft in Form sozialer Systeme erklären zu können, hat Luhmann den Begriff des

binären Codes eingeführt. Wenn es jedoch um die Frage geht, wie denn derjenige binäre Code

lautet, mit dessen Hilfe sich die Massenmedien von anderen sozialen Systemen abheben, so

wird die im Laufe der folgenden Erörterung gegebene Antwort von Luhmanns

diesbezüglicher Antwort abweichen, ist doch die Angabe eines systemdifferenzierenden

Codes immer ein kontingentes, ersatzpflichtiges Element der Theorie, ein Element also, dass

zwar abweichend bestimmt, aber nicht einfach gestrichen werden kann.

Die Massenmedien, die wir mit Luhmann als soziales System beschreiben, werden innerhalb

der Medientheorie in aller Regel als Medium beschrieben. Luhmann hat diesen Schritt nicht

explizit vollzogen, weil die von Luhmann bevorzugte Medientheorie (also die so genannten

»Heidermedien«) eine derartige Verbindung bzw. Identifizierung von System und Medium

nicht ausreichend unterstützen. Da es für die folgernden Überlegungen aber von großer

Bedeutung ist, die Massenmedien zugleich als System und als Medium beobachten zu können,

wird sich diesbezüglich der Wechsel auf ein an McLuhan angelehntes, alternatives

medientheoretisches Modell positiv bemerkbar machen. Luhmanns Modell der Heidermedien

wird aber nicht nur aus dem genannten Grund keine Verwendung finden, sondern auch, weil

es bei weitem zu implikativ ist: Seine Anwendung erfordert ja nicht nur eine bedenkliche

Einengung des Medienbegriffs, sondern es drängt – ausgelöst durch die Engstellung von

Medium und Form – den Formbegriff unvermeidbar in eine beobachtungslogisch sehr

problematische Richtung, gerade weil es den von Spencer-Brown inspirierten Formbegriff

zunehmend zu dominieren neigt. Diesen Eindruck wird man kaum in Abrede stellen können,

wenn man die medienbezogene systemtheoretische Literatur der letzten Jahre beobachtet. Der

Spencer-Brownsche Formbegriff benötigt aber sicherlich eine ausreichende Nähe zu Batesons

Beobachtungsbegriff, weshalb eine einseitige Gewichtsverlagerung zugunsten der

Heidermedien beobachtungslogisch unberechenbar zu werden droht. (Eine ausführliche

Darstellung dieser und anderer mit den Heidermedien verbundenen Probleme findet sich in

»Luhmann, McLuhan und der Graf von Monte Christo«, download auf www.autopoietische-

systeme.de)

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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien

System und Medium

Der nun folgende Revisionsvorschlag startet mit der Feststellung, dass die Massenmedien sich

von einem Großteil anderer Medien durch ihre Eigenschaft unterscheiden, zugleich System

und Medium zu sein. Von hier aus lässt sich direkt eine der systemtheoretisch wohl

bedeutendsten Fragen anschließen, nämlich die, warum Luhmann in seinem Werk über die

»Realität der Massenmedien« nicht auf seine eigene Medientheorie, die Theorie der

»Heidermedien«, zurückgegriffen hat. Hier soll dafür die These in Anschlag gebracht werden,

dass dies geschah, weil Heidermedien zwei Dinge nicht leisten können:

Zum einen (a) eine für alle medialen Theoriebereiche ausreichende Generalisierung des

Medienbegriffs. Denn, wenn einige Medien zugleich Systeme sind, so müssten mediale

Elemente Systemelementen korrespondieren. Im Modell der Heidermedien werden Elemente

jedoch gänzlich anders beschrieben als in der Theorie autopoietischer Systeme. So erzeugen

Medien keineswegs selbst die Elemente, aus denen sie bestehen. Und wer als Ausweg

versuchen wollte, doch davon auszugehen, dass Medien ihre Elemente selbst produzieren, der

müsste postulieren, alle (und nicht etwa nur bestimmte Medien) seien immer zugleich

Systeme. Der Buchdruck ist aber beispielsweise kein (autopoietisches) System ebenso wenig

wie das Fahrrad oder der Satellit autopoietische Systeme sind. Nur die wenigsten Medien

können zugleich als Systeme beschrieben werden. Die Konsequenz lautet: Der Begriff des

Elements innerhalb der Theorie der Heidermeiden kollidiert mit Luhmanns Theorie

autopoietischer Systeme, weshalb es Luhmann nicht gelingen konnte, seine Heidermedien

innerhalb seiner Theorie der Massenmedien zu platzieren.

Es entsteht hier also die riskante Täuschung, die Begriffe »Element« (und »Form«!) innerhalb

des Modells der Heidermedien entsprächen ihrem Gebrauch innerhalb der Theorie

autopoietischer Systeme (bzw. innerhalb des Modells Spencer-Brownschen Formen). Da, wo

dies zu funktionieren scheint, liegt dies aber mehr an einer selbstläufigen, unkontrollierten

Begriffsassimilation als an einer von vornherein gegebenen Begriffskompatibilität. Es wäre

daher sicherlich wichtig, begriffliche Kontrollen in Zukunft sehr viel enger zu führen, um

Theorieverwaschungen zu reduzieren bzw. zu vermeiden. Stattdessen finden derartige

Kontrollen überwiegend gar nicht statt, mit der Folge, dass unbeabsichtigt Wege favorisiert

werden, die den täuschenden Eindruck begrifflicher Kompatibilität unmerklich verfestigen.

Auf diese Weise forscht es sich sicherlich leichter, das mag zugestanden werden. Die Theorie

wird dadurch aber in the long run nachhaltig beschädigt.

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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien

Hinzu kommt, dass sich Medien als Formbildner per Kopplung von Elementen begreifen

lassen mögen oder auch nicht − autopoietische Systeme allerdings können zweifellos nicht

auf diese Weise beschrieben werden. Wenn also Medien zugleich System sein können, so darf

die Beschreibung von Medien nicht im Widerspruch stehen zur Beschreibung von Systemen.

Eine universelle Medientheorie, muss dem Rechnung tragen können. (Ein Versuch dieser Art

findet sich in Luhmann, McLuhan und der Graf von Monte Christo, 2005, download auf

www.autopoietische-systeme.de. Dort findet auch eine ausführliche Problematisierung des

Formbegriffs des Heidermodells statt.)

Zum anderen (b) lassen sich Heidermedien nicht weit genug auflösen, um aussagekräftige

Analysen singulärer Medien und ihrer psychischen wie sozialen Bedeutung herstellen zu

können. Dies liegt daran, das Luhmanns Modell zur Unterscheidung einzelner Medien

lediglich die Unterscheidung verschiedenartiger Elementen zugelassen hat. Wer Medium A

von Medium B unterscheiden möchte, dem stehen keine anderen Kriterien zur Verfügung, als

die vom jeweiligen Medium zu Verfügung gestellten Elemente. Es wird aber nahezu

unmöglich sein, Elemente so fein zu unterscheiden, wie es eine hochdifferenzierte

Medientheorie erforderlich machen würde. Einen MPEG-Player wird man kaum mit Hilfe der

Benennung von Elementen von einem UKW-Radio unterscheiden können. Selbstverständlich

kann man hier technisch unterscheiden. Es geht hier aber nicht um technische, sondern um

mediale Unterscheidungen. Technisch angelegte Unterscheidungen hatte Luhmann ja mit

guten Gründen abgewiesen. Heidermedien sind nichts Technisches, sind keine technischen

Medien und sind auch nichts über technische Begrifflichkeiten verstehbares. Auch in der im

Folgenden angewandten Medientheorie, die sich an McLuhan orientiert, werden Medien

keineswegs technisch bzw. als Techniken begriffen. Wenn man genauer hinschaut, so wird

man erkennen können, dass auch McLuhan Medien keineswegs mit Techniken gleichgesetzt

hat.

Um die Zielrichtung dieser beiden Thesen jetzt schon deutlicher werden zu lassen, müssen sie

miteinander verbunden werden. Dann kann man rückschließen, dass man zur Analyse des

Phänomens der Massenmedien systemtheoretisch eine Medientheorie benötigt, die zwei

besonderen Anforderungen zu genügen hat. Sie muss

a) den Sonderfall eines Mediums, das zugleich (soziales) System ist, widerspruchslos

beschreiben können.

b) Einzelmedien klar voneinander abgrenzen können.

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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien

Wie dargelegt wird es aber große Schwierigkeiten machen, den Sonderfall eines Mediums,

das zugleich autopoietisches System ist, innerhalb des Heidermodells zu behandeln, weil die

Idee der Elementenbildung und -verwendung im Heidermodell ja eine völlig andere ist als

die, die im Zusammenhang der Theorie autopoietischer Systeme Anwendung findet.

Heidermedien lassen sich nicht als autopoietische Systeme beschreiben, da sie auf ein völlig

anderes Verhältnis von Einheit und Element festegelegt sind. Und weil nur ein Medium, das

ursprünglich (also von seiner ersten Beobachtung ausgehend) als Heidermedium konstruiert

wurde, auch innerhalb des Heidermodells weiter beobachtet und beschrieben werden kann, ist

es ausgeschlossen, sozusagen mit einem technischen Ursprungsverständnis zu beginnen, um

sich dann in Richtung der Heidermedien zu bewegen. Das Heidermodell kann wie jedes

andere Modell nur dann zur Analyse von Einzelmedien zur Anwendung gebracht werden,

wenn Einzelmedien zuvor über seine Kriterien (hier also: die Verschiedenheit von Elementen)

unterschieden wurden. Wissenschaftliche Untersuchungen, in denen dies erfolgreich

vorgenommen wurde, sind dem Autor aber nicht bekannt.

An beiden Punkten musste Luhmann also scheitern. Seine Heidermedien lassen sich schlicht

nicht konsistent auf Sondermedien − worunter Erfolgsmedien sowie Medien, die zugleich

System sind, verstanden werden sollen − anwenden. Bei Erfolgsmedien etwa handelt es sich

ja um kompakte Medien, insofern sie aus der Einheit der Differenz eines Codes gebildet

werden. Beispielsweise vertritt dann »Wahrheit« als Einheit symbolisch die Differenz von

»wahr/falsch«. Erfolgsmedien lassen sich in logischer Konsequenz nicht als aus losen

Elementen bestehend denken, die (feste) gekoppelt werden könnten.

Man wird darüber hinaus generell sagen müssen, dass Generalisierungschancen des

Heidermodells durch eine Überspezifizierungen kontaminiert werden, nämlich durch die

Lehre von Element, Substrat sowie losen und festen Kopplungen. Denn, wenn man sich alle

Medien als spezifiziert durch Element, Substrat und Kopplungsprozesse vorstellen muss, so

wird vieles, was sinnvoller Weise als Medium begriffen werden könnte (und inkonsequenter

Weise von Luhmann auch so begriffen wurde), aus der Medientheorie ausgeschlossen.

Welcher Art sollten denn auch die Elemente von Massenmedien sein, so dass das System der

Massenmedien über diejenigen Formen erklärt werden könnte, die massenmediale

Kommunikation tagtäglich erzeugt? Ein signifikantes Repertoire von Elementen, aus denen

die über Printmedien, Fernsehen, Hörfunk und Internet zur Verfügung gestellten Formen

gebildet werden könnten, dürfte sich schwerlich benennen lassen. Weder einige dutzend

Buchstaben noch ein Repertoire von Geräuschen und Bildern (oder Pixeln?) kann ausreichen,

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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien

um all jene massenmedialen Formen bzw. Informationen als Kopplungsprodukte begreifen zu

können. Zudem wäre ein solches Repertoire von Elementen einfach nicht umfangreich genug,

um die aufgezählten Verbreitungsmedien voneinander unterscheidbar zu machen. Geräusche

bzw. Töne erzeugen fast alle Verbreitungsmedien, Bilder erzeugen Printmedien ebenso wie

der Fernseher und das Internet (die beiden letzten kennen zusätzlich Bewegtbilder). Pixel

werden auf sämtlichen Bildschirmen genutzt, auch, wenn es gar nicht um Verbreitung geht.

Medien mögen Geräusche, Töne, Bilder, Schrift etc. erzeugen, die Frage ist aber: Lassen sich

diese sinnvoll als Elemente begreifen? Und die wesentlich bedeutendere Frage ist: Lassen sie

sich als ein eingrenzbares, endliches Repertoire begreifen, das von einem bestimmten

Medium zur Verfügung gestellt wird? Wenn mehrere Medien, etwa Computer, Fernseher oder

das Internet über Bilder, Bewegtbilder, Pixel, Audio etc. Informationen aufbereiten: Wie

sollten sich diese Medien als einzelne voneinander unterscheiden lassen, wenn sie doch im

Sinne des Heidermodells die gleichen Elemente zur Formbildung verwenden?

Wenn man sich Medien als konstituiert über Elemente vorstellen wollte, so würde darüber

hinaus das Verhältnis der Massenmedien zu anderen Medien unscharf: Welche Rolle spielen

Zeitungen, Druckerpresse, Telegraf, Internet, Schlagzeile, Fernseher, Radio etc. in den und

für die Operationen der Massenmedien? Auch hier zeigt sich wieder das Problem, das sich

daraus ergibt, dass Luhmanns Theorie mit Heider von Funktion auf Funktionieren umschaltet.

In der Tat wollte Fritz Heider ja nicht klären, welche Funktionen Medien ausüben, sondern:

wie sie funktionieren (also wie sie ermöglichen, was sie ermöglichen). Die Systemtheorie

muss aber nicht sagen können, wie Medien in diesem Sinne funktionieren. Man muss also

nicht unbedingt wissen, ob dies durch feste Kopplung loser Elemente geschieht oder nicht. Es

gilt vielmehr, herauszufinden, welche Funktionen bestimmte Medien erfüllen, wie sie diese

erfüllen und wieso sie diese erfüllen können. Man muss medientheoretisch – wenn die

Analogie erlaubt ist – nicht wissen, wie ein Fernseher funktioniert und wieso ein Flugzeug

fliegt. Man muss als Medientheoretiker nur wissen, welche psychischen und sozialen

Funktionen ein Fernseher erfüllt und welche Rolle der Einsatz von Flugzeugen für die

Gesellschaft und die Psyche spielt. Nach all dem lässt sich die These wagen, dass sich − wenn

man zurückschaltet von Funktionieren auf Funktion − die Theorie des kanadischen

Medientheoretikers Marshall McLuhan als weit geeigneterer Ansatz erweisen wird als das

Modell der Heidermedien.

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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien

Selbstmediatisierende Systeme

Um es vorweg zu nehmen: Eigentlich mediatisieren alle autopoietischen Systeme sich selbst.

Die Wirtschaft beispielsweise »klinkt« nicht nur alle Medien ein, die in wirtschaftlichen

Prozessen eine Rolle spielen; vielmehr mediatisiert das Wirtschaftssystem alle seine eigenen

Systemprozesse in Richtung auf Wirtschaftsprozesse. In eben diesem Sinne können alle

Systeme stets auch als Medien begriffen werden: Die Wissenschaft bildet das Medium zur

Erzeugung einer bestimmten Art von Wissen(skommunikation) und das Recht bildet das

Medium einer bestimmten Art von Entscheidungen und Richtlinien, die Konflikte

ermöglichen (Rechtssicherheit) bzw. beizulegen helfen. Indes bilden die Massenmedien kaum

übersehbar einen Sonderfall und weil dies so offensichtlich ist, trägt dieses System selbst in

der Alltagssprache den Begriff der »Medien« als Namensbestandteil.

Das aber, was die Massenmedien zum Sonderfall macht, ergibt sich aus ihrer besonderen

Nähe zu einem bestimmten Typ anderer Medien: den sogenannten Verbreitungsmedien. In

der modernen Gesellschaft sind alle Systeme auf Verbreitungsmedien angewiesen – aber kein

System ist so stark mit ihnen verwoben wie die Massenmedien.

Ein Großteil der Medientheorie sieht das allerdings anders. Statt die Differenz und

Verwobenheit von Verbreitungsmedien und Massenmedien ins Zentrum der Theorie zu

stellen, wird in zahlreichen Analysen gar kein Unterschied zwischen Massenmedien und

Verbreitungsmedien gemacht. Letztlich werden hier also Verbreitungsmedien und

Massenmedien in eins gesetzt: Wenn vom Fernsehen die Rede ist, wird der

»Verbreitungsweg« in eins mit dem Massenmedium »Fernsehen« gesetzt. Und die

Vervielfältigungstechnik des Buchdrucks, die zur Verbreitung dienen kann, wird als »das

Massenmedium Buchdruck« begriffen. Analoges gilt dann für andere Verbreitungsmedien

wie das Radio, die Zeitung etc. Nirgendwo wird diese Gleichsetzung aber so greifbar, wie im

Falle des Internet, das nahezu ausnahmslos als Massenmedium begriffen wird, obwohl der

sehr kluge Begriff der Multimedialität schon signalisieren müsste, dass »das Internet« ein

Konglomerat verschiedenster Medien (Audiostreaming, Videostreaming, Print etc.) darstellt

und somit zunächst eher als ein Verbreitungsweg (wie UKW, DAB, MW, GPRS, dvb, UMTS,

ADSL etc.) betrachtet werden sollte, der es erlaubt, die verschiedensten Verbreitungsmedien

(wie Radio, Fernsehen, Print, Telefon etc.) zu koppeln. Technisch steht hier das TCP/IP-

Protokoll im Vordergrund, das allerdings nicht nur (im Gegensatz zu

Broadcastingtechnologien) rückkanalfähig ist, sondern verschachtelt mit weiteren

Technologien (etwa ISDN, UMTS, GPRS, ADSL, XML, Flash, RM, IRC, Java-Script etc.)

die für multimediale Technologien notwendige Infrastruktur bereitstellt. Dieser

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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien

außergewöhnlich dichte Technologie- und Medienverbund erzeugt eine Kompaktheit, die die

Verwendung des Einheitsbegriffs »das Internet« gerechtfertigt erscheinen lässt.

Aber gerade deshalb lässt sich das Internet nicht als Massenmedium beschreiben, sondern nur

als einer von vielen Verbreitungswegen, die den Massenmedien zur Verfügung stehen. Wie

hier sichtbar wird, können technische Betrachtungen der Medientheorie zwar aufschlussreiche

Hinweise geben. Zugleich bedeutet dies aber auch, dass technische Merkmale keineswegs mit

medialen Funktionen gleichgesetzt werden dürfen. Mediale Eigenschaften und Funktionen

lassen sich erst daraus bestimmen, wie sich Medien in Systeme »einklinken« und welche vor

allen Dingen strukturmodifizierende und evolutionierende Rolle sie dabei übernehmen. Eben

diese Vorgehensweise hat uns McLuhan vorgemacht, wenn er vom technischen auf den

gesellschaftlichen Wandel und damit auf die Medialität dieses Wandels zu sprechen kam – sei

es in seinen Analysen der Eisenbahn, der Artillerie oder der Elektrifizierung. Aber er wusste

diese Medialität auch auf das zu beziehen, was Systemtheoretiker unter psychischen oder

physischen Systemen abhandeln würden. Er sprach in diesen Fällen vom Menschen und den

traumatisierenden Wirkungen die vor allem neue Medien auf die Psyche ausüben: Wer Lesen

gelernt hat, hat nicht einfach den Gebrauch eines praktischen Werkzeugs erlernt. Die

Linearität des alphabetischen Lesevorgangs verändert die ganze Sinnlichkeit, vor allem die

Raumwahrnehmung und verstärkt den Glauben, dass sich »die Dinge« aus einzelnen

Elementen zusammensetzen lassen. An eben diesen Stellen schlagen seine technischen in

mediale Analysen um.

Abweichend von der Konvention, Massenmedien und Verbreitungsmedien gleich zu setzen,

werden wir im Folgenden also darauf achten müssen, eine möglichst scharfe Grenze zwischen

ihnen zu ziehen. (Auch Luhmann hat diese Grenze gezogen, aber nicht immer mit

ausreichender Schärfe.) Verbreitungsmedien lassen sich nicht als System beschreiben.

Hingegen müssen die Massenmedien (trotz des Plurals) als ein System begriffen werden. Das

Verhältnis von Massenmedien zu Verbreitungsmedien lässt sich dann wie folgt bestimmen:

Das System der Massenmedien koppelt Verbreitungsmedien, so dass diese

Infrastrukturleistungen übernehmen können. Nach den Vorstellungen des hier angewandten

Modells der McLuhan-Medien koppeln Medien also im Gegensatz zum Heidermodell keine

Elemente, sondern Systeme. Da sie auf diese Weise zum Systembestandteil werden, passt der

Begriff der Kopplung weit weniger als der des "Einlinkens".

Die Bedeutung einer klaren Unterscheidung zwischen Verbreitungs- und Massenmedien lässt

sich leicht anplausibilisieren, wenn man sich vor Augen führt, dass etwa »das Internet« kein

Massenmedium sein kann, ebenso wenig wie »der Buchdruck«: Ein Verlag kann sich eines

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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien

Verbreitungsmediums »bedienen« und etwa ein Buch in einer 10.000er Auflage drucken, um

es dann in seinen Regalen vergammeln lassen zu müssen, weil es keine Käufer findet. So wie

im Internet ungeheure Mengen an Sites von Privatleuten existieren, deren Chance, von einer

großen Zahl anderer Nutzer aufgesucht zu werden, aber gegen Null tendiert. Diese Seiten

werden also faktisch nie ein große (massenhafte) Verbreitung finden, obwohl das Internet

potentiell massenhaften Zugang und weltweite Verbreitung sicherstellt – eine einzigartige

Konstellation in der Geschichte der Verbreitungsmedien, die zur Euphorie verführt hat und zu

dem Missverständnis, über das Internet habe endlich jeder Mensch (s)einen Zugang zu den

Massenmedien, und nicht mehr nur große Unternehmen, Verlage etc. Diese Beispiele machen

aber eins deutlich: Die Nutzung von Verbreitungsmedien bedeutet noch keineswegs, dass die

entsprechende Kommunikation (wenn sie überhaupt stattfindet) innerhalb des Systems der

Massenmedien stattfindet. Die Massenmedien sind wie jedes soziale System sehr

anspruchsvoll, hochselektiv und über ihren Code geschlossen. Massenmedien lassen sich

nicht durch die bloße Verwendung eines Verbreitungsmediums »übertölpeln«, an die

entsprechende Kommunikation anzuschließen. Sie folgen eigenen Selektionskriterien. Zu

diesen Kriterien gehört aber nicht die Verwendung von Verbreitungsmedien.

Verbreitungsmedien bilden zwar die unerlässliche Voraussetzung, nicht aber ein Kriterium

der Zugehörigkeit zum System. Über Verbreitungsmedien findet das System die Grenzen

seiner Möglichkeit, an Kommunikation anzuschließen: Kommunikation, die nicht über

Verbreitungsmedien erzeugt wird, kann nicht zum System gehören. Der Umkehrschluss ist

aber unzulässig: Kommunikation, die über ein Verbreitungsmedium erzeugt wird, muss

keineswegs zwangsläufig massenmediale Kommunikation sein. Die bloße Verwendung von

Verbreitungsmedien bildet kein Selektions-, sondern lediglich ein Ausschlusskriterium.

Die Frage nach dem medialen Status des Internet wird immer wieder gestellt. Dass darauf

selten befriedigende Antworten gefunden wurden, liegt zu einem erheblichen Teil am

Missverständnis einer Identifizierung von Massenmedium und Verbreitungsmedium. Die

Frage, was für eine Art von Medium das Internet denn sei, kann, wenn man keine Identität

mehr zwischen Massen- und Verbreitungsmedien unterstellt, leicht beantwortet werden:

Buchdruck und Internet sind keine Massenmedien, so wenig wie UKW oder TCP/IP

Massenmedien sind. Vielmehr handelt es sich dabei je nach Perspektive um

Verbreitungstechnologien, die, sofern sie in Systeme einklinken (d.h. von Systemen gekoppelt

werden) sofort zu (Verbreitungs)Medien mutieren und in unmittelbarer Codenähe

»andocken«. (Ausführliche Erläuterungen hierzu folgen unten im Kapitel »Der Code der

Massenmedien«, S. 38ff.) Hier soll vorgeschlagen werden, Medien, die direkt am Code oder

in dessen unmittelbarer Nähe einklinken, als basale Medien zu bezeichnen. Da Luhmann die

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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien

einzigen Medien, bei denen auch er davon ausging, dass sie direkt am Code andocken, als

Erfolgsmedien bezeichnet hat, können wir also auch diese zu den basalen Medien rechnen.

Wenn man so ansetzt, gewinnt die Theorie eine auffallend klare Struktur, die helfen sollte, ein

neues Verständnis der Massenmedien zu gewinnen. Die strikte Unterscheidung zwischen

Verbreitungstechnologien, Verbreitungsmedien und den Massenmedien wird weitere

Unterscheidungen nach sich ziehen müssen, die teilweise nur kontextual abzufedern sein

werden: So werden Aussagen nach dem Muster, »das Fernsehen ist ...«, »das Radio ist ...«

oder »Zeitungen sind ...« mehrdeutig werden. Denn anders als in einem Großteil der

Medientheorie werden wir gezwungen sein, jeweils deutlich zu machen, ob jeweils

beispielsweise auf das Fernsehen als Technologie oder als Verbreitungsmedium oder als Teil

der Massenmedien Bezug genommen wird.

In diesem Zusammenhang fällt eine weitere Frage auf, der wir nachgehen werden: Wenn

systemtheoretisch gesehen die Massenmedien ein System bilden, lässt sich dann überhaupt

noch die konventionelle Differenzierung in einzelne Massenmedien (Fernsehen, Hörfunk,

Print, Radio etc.) halten, die ja seit jeher am jeweiligen Verbreitungsweg orientiert ist?

Gerade weil wir Luhmann darin zustimmen, dass die Massenmedien ein soziales Subsystem

darstellen, das sich wie alle sozialen Systeme anhand eines Codes ausdifferenziert, der auf der

basalen Operation »Kommunikation« aufsetzt, können wir nicht zugleich ernsthaft fragen, ob

es mehrere derartige Systeme geben könne – wie sehr auch der Begriff »Massenmedien«

grammatisch einen Plural nahe legen mag. (Luhmann hat dieses Problem beim »Bewusstsein«

übersehen und sprach ohne Erläuterungen immer gerne auch von »Bewusstseinen«. Aber über

einen Operationsmodus kann sich auch immer nur ein System ausdifferenzieren. Die

Subjektphilosophie hat dafür Figuren wie empirisches und transzendentales Bewusstsein

entworfen.) Eine so klare Feststellung, die besagt, die Massenmedien sind ein System, muss

aber nicht ausschließen, dass es auf andere Weise Sinn machen kann, dennoch eine Vielzahl

»von Massenmedien« zu unterscheiden: Vorausgesetzt, wir betrachten diese dann entweder

als eine nicht-systembildende oder aber als eine subsystembildende Differenzierung des einen

Systems der Massenmedien. Eine solche Unterscheidung ist legitim und sicherlich auch

sinnvoll, aber eben auch riskant, da die Rede etwa davon, dass Radio und Fernsehen

Massenmedien seien, sprachlich nahe legt, die Massenmedien seien nicht ein, sondern viele

Systeme. Ob aber die Differenzierung, die über codenahe Medien erzeugt wird, Subsysteme

(die dann ja über eine jeweils eigene Umwelt verfügen müssten) erzeugt oder eine nicht-

systembildende Differenzierung hervorruft, soll hier noch offen gelassen werden. Umso mehr

sollte innerhalb jeder systemtheoretischen Kommunikation stets eine sehr klare

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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien

Kontextuierung angestrebt werden, die verdeutlicht, ob der Begriff Massenmedium auf das

übergeordnete System zielt oder auf eine Subdifferenzierung, die sich an Einzelmedien

orientiert.

Es liegt daher Nahe, in einer Theorie der Massenmedien etwas auszuprobieren, was auch

innerhalb einer allgemeinen Medientheorie Sinn machen könnte: eine starke interne

Differenzierung innerhalb von Systemen anzunehmen, die sich daran orientiert, welches

Medium gerade von welchen Prozessen direkt gekoppelt wird. Dann ließe sich fallbezogen

sagen: Innerhalb der Massenmedien finden Operationen statt, deren Selektivität zunächst

nicht an der Selektivität der Information ansetzt, sondern an der Kopplung des zur Mitteilung

dominanten Mediums: Werden als Mitteilungswege die Verbreitungsmedien Radio oder

Fernsehen oder Zeitung gewählt, so muss in der Folge die Selektion der Information dem

gewählten Medium folgen – und nicht umgekehrt. Wenn dem so ist, so dominiert eindeutig

nicht der (sinnhafte) Inhalt einer Kommunikation das Medium, sondern das Medium den

Inhalt. In einem noch eindeutigeren Sinne könnte übrigens »the medium« gar nicht »the

message« sein. Es lässt sich leicht zeigen, dass im Falle der Massenmedien genau diese enge

Orientierung am Medium der Fall ist: So bildet das bedeutendste Kriterium jeder

professionellen Fernseh-Nachrichtenredaktion medienadäquat immer die Frage: Haben wir

(bewegte) Bilder? Und nicht informationsbezogen: Ist diese Information zur Zeit die

Wichtigste? Das gilt sogar oder gerade für Opener. Die Wahl des »Fernsehens« als

Verbreitungsmedium entscheidet maßgeblich über die Auswahl der Inhalte. Das Fernsehen

aber braucht Bilder – the medium is the message. Ein entscheidender (McLuhanscher)

Aspekt, der Luhmann offensichtlich entgangen ist. (Luhmanns gelegentliche Anspielungen

auf McLuhan legen sowieso den Verdacht nahe, dass er dessen Theorie nicht wirklich

kannte.) An diesem Punkt wird ein erster Punkt erahnbar, der dazu führte, dass im Fortlauf

der Analyse bestritten wird, dass Luhmann die angemessene Differenz im Auge hatte, als er

den Code des Systems mit informieren/nicht informieren bestimmte.

Die Idee einer Subdifferenzierung entlang von Medien ist aber schon deswegen reizvoll, weil

sie den Medien innerhalb der Systemtheorie einen weit höheren Stellenwert einräumt − das

Medium kann sich so zunehmend als »Botschaft« (sensu McLuhan) zeigen. Mit Luhmanns

Erfolgsmedien (Geld, Wahrheit, Recht etc.) deutete sich zwar ein solcher Schritt an,

allerdings wirken diese Medien nicht differenzierend, sondern erhöhen lediglich die

Wahrscheinlichkeit einer Ausrichtung von Folgeoperationen an der systemdifferenzierend

wirkenden Systemcodierung. Erfolgsmedien koppeln den binären Code des Systems also in

der Funktion eines Attraktors, haben aber eben darum keine subdifferenzierenden Effekte.

Ihre Funktion besteht allein darin, gesellschaftliche Anschlussoperationen in Codenähe »zu

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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien

ziehen« (in Luhmanns Worten: zu motivieren und also wahrscheinlicher werden zu lassen):

Wenn der Richter darauf hinweist, dass es vor Gericht nur ums »Recht« gehe, so wird der

Anwalt diesem Attraktor folgen und nicht antworten: »Nein, ums Geld!« Und sein Mandant

wird sich dem anschließen, selbst wenn er auf eine hohe Entschädigungssumme hofft.

Man kann daraus ersehen, dass, wenn Medien differenzierend wirken sollen, es zwar

notwendig, aber nicht hinreichend ist, direkt am Code anzudocken. Verbreitungsmedien

gelingt also mehr als die bloße Kopplung und in eben diesem Sinne (und nur in diesem Sinne)

wird man davon sprechen können, dass es sowohl ein System der Massenmedien gibt, als

auch eine begrenzte Zahl einzelner Massenmedien. Der Konvention folgend, werden auch wir

sie nach den von ihnen direkt gekoppelten Verbreitungsmedien benennen und also von

Fernsehen, Radio und Zeitung etc. sprechen. Für den Leser entsteht als die Aufgabe, zu

unterscheiden, ob jeweils von einem Teilbereich der Massenmedien oder lediglich von einem

Verbreitungsmedien die Rede ist.

Um das System der Massenmedien medial differenziert beschreiben zu können, bedarf es

eines besonders sorgfältigen Umgangs mit der uns zur Verfügung stehenden Terminologie:

Immerhin werden Worte wie Radio, Fernsehen, Print nun vieldeutig und bedürfen daher

eindeutiger Marker. Ist das Radio ein Gerät bzw. eine Audiotechnik, die sich diverser

Übertragungstechnologien bedient (UKW, MW, LW, DAB, DRM, DVB-T, DVB-S etc.)?

Oder zielt die jeweilige Bemerkung auf das Radio als ausdifferenzierten, kommunikativen

Teilbereich innerhalb der Massenmedien? Ist das Internet eine Übertragungstechnologie, ein

eigenständiges Medium, ein neuer Fall von Massenmedium oder aber nur eine

Verbreitungstechnologie, die in einer nie da gewesenen Massivität verschiedene Medien

(Radiolivestreaming, Fernsehlivestreaming, Print, Chat, RSS, Flash etc.) miteinander

verschachtelt? Kommt es zu einer »multimedialen Integration«, die es angemessen erscheinen

lässt, von einem Verbreitungsmedium zu sprechen, das diverse andere Medien (Radio,

Fernsehen, Chat, Telephonie, Foren, Mailinglisten etc. ) koppelt? (Auch hier fällt auf: In der

vorliegenden Untersuchung geht es um »mediale Kopplungen«, nicht, wie im Falle der

Heidermedien, um »elementare«.)

Unübersehbar also, dass hier eine mediale Verschachtelung (sensu McLuhan) von

bemerkenswertem Ausmaß vorliegt. Für die Frage nach der Massenmedialität des Internet

entscheidend aber ist die Frage, wie wir bewerten wollen, dass das Internet über einen

Rückkanal von spektakulärer Datenbreite verfügt. Kommunikation kann hier beinahe jede

Form annehmen, auch die der Interaktion bzw. Rückkommunikation (Luhmann). Gerade der

Ausschluss breiter Rückkommunikation gilt aber mit gutem Grund nicht nur bei Luhmann als

für den Systemerhalt notwendiges Attribut massenmedialer Kommunikation. Auch die von

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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien

Luhmann gegebene Definition geht davon aus, dass man von massenmedialer Kommunikation

nur sprechen könne, sofern die Marginalisierung von Interaktion/Rückkommunikation

ausreichend abgesichert wurde. Auch hier zeigt sich also die Stärke eines an McLuhan

angelehnten Konzeptes, die die Verschachtelung der Medien zentral stellt (d.h. die These,

dass Medien vor allem Medien enthalten), so dass es nicht zu einer statischen Betrachtung

kommen muss, sondern zu einer perspektivischen, verschachtelten: Das Internet lässt sich

danach nicht als ein Massenmedium, sondern als ein Verbreitungsmedium beschreiben, dass

in einem vorher unbekannten Ausmaß Medien verschiedenster Art verschachteln kann:

Interaktionsmedien (Chat, Telephonie, Foren, Mailinglisten etc.) wie auch »massenmediale

Medien«, allen voran Print, denen Radio und dann Fernsehen folgen. An diesem Beispiel lässt

sich auch das Verhältnis von Verschachtelung und Kopplung exemplifizieren: Im Internet

kommt es zu einer außerordentlichen Verschachtelung diverser Medien, die dann von

Interaktionssystemen (Chat, Email...), aber auch von den Massenmedien (Fernsehen, Print,

Radio) gekoppelt werden. Darüber darf nicht vergessen werden, dass das Medium nicht nur

die Botschaft in jenem Sinne ist, dass Medien Medien enthalten: Am Medium Internet wird

auch anschaulich, dass jede mediale Verschachtelung neue Medien erzeugt: Print im Internet

unterliegt völlig anderen Regeln als Print in Zeitungen. Das fängt schon beim

Aktualisierungszyklus an. Zeitungen sind gewissermaßen Nachrichten von gestern. Das kann

man im Internet so nicht machen. Und wer im Internet Fernsehen guckt, der klickt sich

vielleicht am Ende der Sendung, wenn die Inserts eingeblendet werden, mit Hilfe der von den

Sendern gegebenen Links zur Seite von Harald Schmidt, und von dort weiter zum neuen

Buch, landet so bei Amazon oder bei Ebay und erwirbt am Ende einen neuen Regenschirm,

nicht ohne darauf aufmerksam geworden zu sein, dass der Außenminister wiedereinmal keine

Verantwortung für die Fehler seines Ministeriums zu übernehmen bereit ist.

Beim Radiohören im Internet geht das alles dann noch schneller, denn da Radio ein orales

Begleitmedium darstellt, dass wenig Aufmerksam einfordert, kann sich die Aufmerksamkeit

des Hörers parallel anderem zuwenden, vielleicht den die Radioseite begleitenden Bildern und

Texten oder den im Player sich aufdrängenden Werbeeinblendungen, die die Kommunikation

dazu verleiten, in Kapriolen durchs Internet zu surfen. Das Internet ist also dadurch

ausgezeichnet, dass es in extremer Dichte und Diversität Medien verschachtelt, die spontan

gekoppelt werden können und damit sogar Schnellumschaltungen massenmedialer

Kommunikation auf Interaktion hin provoziert: eine Art von Medienhopping.

Das Internet funktioniert also wie von McLuhan vorhergesehen (Stichwort: elektronische

Netze) in einer Hinsicht tatsächlich wie unser Nervensystem, denn dieses verschachtelt

sämtliche Medien des Körpers – also vor allem die einzelnen (Sinnes)Organe, aber auch

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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien

Zellen) – miteinander und bietet sie damit zur spontanen Kopplung an. Auf analoge Weise

sind Medien im »Netz der Netze«, also dem Internet verschachtelt. Auch hier ist also das

Medium die Botschaft (und nicht der zufällig angesurfte Link, die zufällig geschriebene

Mail). Im Internet zeigt sich so deutlich wie bei kaum einem anderen Medium die Wahrheit

des Slogans »the medium is the message«: Medien neigen offensichtlich zu einer Art

unaufhaltsamen Verwirklichung des in ihnen Angelegten, also des Möglichen: Die im Internet

angelegten Möglichkeiten werden auch Wirklichkeit. Es spielt also tatsächlich keineswegs die

größte Rolle, was es (inhaltlich) jeweils im Internet zu hören, zu lesen oder zu sehen gibt. Das

Medium Internet drängt in die Richtung, in und mit ihm zu hören, zu lesen, zu schreiben, zu

chatten und zu emailen etc.

Übrigens wird an dieser Stelle sichtbar, dass man das Internet nur schwerlich über

»Verlinkungen« bzw. »Links« wird definieren können. Denn abgesehen davon, dass man

dann nur vom WWW oder von XML/HTML-basierten medialen Bereichen (und nicht von

»dem Internet«) würde sprechen können, lassen sich gerade die interaktiven Bereiche des

Internet (Mail, Chat, Mailinggroups, Foren etc.) sowie die so genannten multimedialen

Bereiche (Streaming, Audio/TV On Demand, Onlinespiele etc.) nicht über Links verstehen.

Teilweise spielen Links dort überhaupt keine Rolle. Am allerwenigsten gehören alle im

Internet verwobenen Medien zu den Hypermedien. Internet ist nicht HTML/XML. Weit

unterschätzt sind auch Datenbankabfragen, die gerade bezogen auf Information eine nicht zu

überschätzende Rolle spielen und die keineswegs alle erst durch das Anklicken eines Links

aktiviert werden können und auch nicht immer zu neuen Links à la Google führen.

(Technische Stichworte wären hier SQL so wie die Scriptsprachen PHP, Pearl, Java etc.)

Medien verfügen also über eine Art Autokatalyse, die den Umschlag von Potentialität in

Aktualität förmlich zu erzwingen scheint: Man kann im Internet nicht deswegen Radio hören,

weil dort gerade gemeldet wird, dass der Kanzler in den Irak reisen wird. Man kann dort

Radio hören, weil es Radio gibt und weil es Internet gibt. Es musste geradezu so kommen. So

lautete denn auch eine der Prognosen McLuhans und sie ist eingetreten. Das dies alles

zustande kam, beruht nicht auf Entscheidungen oder Maßnahmen, die IBM oder Microsoft

getroffen hätten. (Bill Gates hat das Internet lange Jahr ganz falsch eingeschätzt und seine

Spürnase blieb damit weit hinter der von McLuhan zurück.) Das Internet kennt keine

Bestimmung, der zur Folge es demokratisch oder oligarchisch wäre. Obwohl natürlich die

Formatierungen, die Medien erzeugen, bestimmte Kommunikationsformen besser als andere

unterstützen. So hat McLuhan eindrucksvoll gezeigt, das Hitler am Fernsehen gescheitert

wäre und Stalin oder Castro sich diesem Medium geschickt angepasst habe. Und mit einer

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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien

rührseligen Geschichte über seinen Hund wäre damals Nixon am Radio auch gescheitert. Das

Fernsehen dagegen brachte die Tränen zum Rollen. Dennoch lässt sich nicht sagen: dass

Fernsehen ist demokratisch oder das Radio ist antidemokratisch. Richtig ist nur, dass

demokratische Präsidentschaftswahlen, gerade, wenn man sie (wie in Amerika) am

Personenkult festmacht, sehr viel besser vom Medium Fernsehen als vom Radio unterstützt

werden. Orale Medien, wie etwa das Radio, können hingegen auf sehr einfache und effektive

Weise von lautstark auftretenden, fanatisierenden Propagandisten für ihre Zwecke eingesetzt

werden, zumal, wenn diese (wie im Faschismus), an stammesgesellschaftlichen Vorstellungen

anzuschließen wissen.

Wenn sich aber die Mediennutzung in die eine oder andere Richtung entwickelt, so geschieht

dies nicht durch Korruption ihrer »an sich vollkommenen Natur« (»perfectio«). Beim Internet

so wenig wie beim Radio und beim Fernsehen.

Unterhaltung und Information

Viele Analysen der Massenmedien sind gegliedert nach den »Bestandteilen« Unterhaltung,

Kultur, Information, Bildung etc. Diese konventionelle Gliederung in Sektoren hat auch

Luhmann aufgegriffen, kam sie seiner Theorie der Systemcodierung doch einigermaßen

entgegen. Aber ein von Programmmachern und in der Alltagskommunikation üblicherweise

verwendetes Schema als wissenschaftliches Analyseraster zu verwenden, erscheint

fragwürdig. Im Folgenden sollen die Bestandteile dieses Rasters daher weder als

»Programmelemente« noch als »Programmbestandteile« behandelt werden, denn − so

alltagstauglich eine solche Klassifikation auch sein mag − sie ist weder analytisch noch

deskriptiv konsequent anwendbar. So wird heute jeder Journalist darauf achten, dass seine

Informationen nicht nur informieren, sondern auch unterhalten (Stichwort: Infotainment).

Jeder gut gemachte Beitrag liefert nicht nur Infos, sondern erzählt eine (unterhaltsame)

Geschichte. Diese Regel gehört zu den Grundlagen jedes journalistischen Handwerks.

Umgekehrt kann Unterhaltung ebenso bildend wie informativ sein. Bei diesen alltagsüblichen

Unterscheidungen handelt es sich also nicht um sinnvolle Gliederungen in

Programmbestandteile oder –sektoren, sondern um gewichtende Bewertungen von

Programmen, Programmstrecken und Programmelementen, weshalb man sie nicht als

Programmbestandteile, sondern etwa als Programmwerte bezeichnen könnte.

Eine solche programmwertende Zuordnung wird programmplanerisch von Programmmachern

eingesetzt, wenn sie an der Formatierung oder der Formatfüllung von Stundenuhren oder an

der Wochen-, Tages- und Sendestreckenplanung arbeiten. Hier und auch medienpolitisch

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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien

macht die Aufteilung des Programms in entsprechende Segmente, die im Wesentlichen den

genannten Programmwerten entsprechen, natürlich Sinn. Redaktionen können dann ihre

Platzhalter durch Beiträge »befüllen«, indem sie einzelne bestellte oder vorhandene

Programmelemente entsprechend ihrer Eignung als Bildungselement, Info-Element einsetzen

bzw. bewerten. So werden aus Programmformaten Sendungen. Hier treffen sich dann auch

glücklich die hier gemachten terminologischen Vorschläge mit der Programmrealität: Daher

der Vorschlag, von Formen auf Formatierungen umzuschalten (siehe auch dazu »Luhmann,

McLuhan und der Graf von Monte Christo«, download auf www.autopoietische-systeme.de).

Dem kommt nebenbei entgegen, dass die Arbeit der Redakteure längst über die Orientierung

am Format-Begriff bestimmt wird (Bspw. »Format-Radio«).

Die an der üblich gewordenen Einteilung massenmedialer Kommunikation in die genannten

Sektoren geäußerte Kritik wird sich auch als relevant für eine Bestimmungen der binären

Codierung der Massenmedien zeigen, gerade, weil auch hier Abweichungen von Luhmann

notwenig werden. Die Frage lautet dann: Über welchen Code differenzieren sich die

Massenmedien gegenüber der Gesellschaft als Gesamtsystem aus?

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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien

Zur Codierung der Massenmedien

Luhmann hat angenommen, der binäre Code, der zur Ausdifferenzierung der Massenmedien

als eines sozialen System führe, bestehe in der Differenz von informieren/nicht-informieren.

Eine Reihe von Argumenten spricht allerdings gegen diese These. Sie sollen in drei Gruppen

eingeteilt werden: An erster Stelle stehen Zweifelsgründe, die anzeigen, dass die Differenz

von informieren/nicht-informieren in keinem System jemals als Code würde greifen können.

Dies wird zu einer allgemeinen Kritik des von Luhmann verwendeten Informationsbegriffs

führen. Bei der Durchführung der Analyse des Informationsbegriffs sollen dann stets die

Massenmedien in Blick behalten werden, um auf diese Weise feststellen zu können, dass

deren Neigung zur Verbreitung redundanter Information bzw. zur Wiederholung von

Information einer basalen Selektivität folgt, die die Analyse direkt auf die Spur der Codierung

des Systems führt.

Basale Elemente und Systemcodierung

Wenn ein binärer Code die Differenz von informieren/nicht-informieren verwendet, so nutzt

er eines der drei basalen Elemente jeder Kommunikation, nämlich das Element

»Information«. Kommunikation besteht ja laut Luhmann aus der Einheit der drei Selektionen

»Information, Mitteilung und Verstehen«. Weil somit »Information« zu den

Grundoperationen jeder Kommunikation gehört, kann sie nicht negiert werden, denn, würde

sie negiert, so würde die Kommunikation sofort zum Stillstand kommen. Binäre Codes

hingegen – nomen est omen – besteht dagegen aus zwei Seiten (wahr/falsch, recht/unrecht).

Für sie gilt daher genau das Gegenteil: Codedifferenzierte Systeme können ihre Operationen

nur durchführen, indem sie oszillierend immer jeweils eine Seite des Codes bezeichnen und

damit die andere negieren: »A ist wahr (und nicht falsch).« »X ist rechtmäßig (und nicht

unrechtmäßig).« Daraus, dass in der Kommunikation immer die gesamte Trias von

»Information, Mitteilung und Verstehen« realisiert (»positiviert«) sein muss und Codes im

Widerspruch dazu immer eine Seite negieren müssen, ergibt sich, dass Information nicht als

Codeseite in Frage kommen kann. Bestandteile von Basisoperationen (also etwa von

Kommunikation) können nicht zugleich Bestandteile von Codes (Codeseiten) sein.

Information scheidet damit als Kandidat für Codes aus. Der Code der Massenmedien kann

folglich nicht »informieren/nicht-informieren« lauten.

Das sich daraus für seinen Codierungsvorschlag ergebende Problem hat Luhmann in »Die

Realität der Massenmedien« selbst in einer Fußnote angesprochen, und vorgeschlagen, es

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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien

über die Unterscheidung von Leitdifferenz und Code zu umgehen: In den Massenmedien (und

nur in den Massenmedien!) werde die Differenz informieren/nicht-informieren zur Reflexion

(dazugehörig/nicht-dazugehörig) verwendet, während sie in allen übrigen Systemen lediglich

als Leitdifferenz fungiere. Auch diese Lösung scheidet aber aus, denn sie ändert nichts daran,

dass es – wenn »informieren/nicht-informieren« einen Code darstellen würde – dem

Kommunikationssystem der Massenmedien möglich sein müsste, zu kommunizieren, ohne zu

informieren, denn gerade Codes greifen ja (im Gegensatz zu Leitunterscheidungen) laut

Luhmanns eigener Definition stets auf beiden Seiten der Unterscheidung. Wenn

Kommunikation die Basisoperation aller sozialen Systeme darstellt und Kommunikation

Information immer schon beinhaltet, so kann kein Kommunikationssystem diese

Unterscheidung reflexiv und exkludierend im Sinne Luhmanns verwenden. Wenn das

Rechtssystem etwas als »unrecht« (statt als rechtmäßig) deklariert, die Wissenschaft etwas als

»falsch« (statt als wahr) bezeichnet oder die Wirtschaft »Geld auszahlt« (statt Geld

einzunehmen), so wurde in allen diesen Fällen codekonform kommuniziert, gerade, weil in

allen diesen Fällen informiert wurde. Kein Kommunikationssystem kann aber kommunizieren

und zugleich »nicht informieren«. Wir können wir Luhmann allerdings auch nicht darin

zustimmen, dass die Unterscheidung »informieren/nicht-informieren« als Leitdifferenz

verwendet werden kann, obwohl Leitdifferenzen ja (weil sie exkludierend funktionieren)

nicht systemdifferenzierend wirken, weil sie (wie Luhmann gerne formuliert), offen lassen,

wie das System seine eigene Identität bezeichnet. Sie dienen ganz anders als Codes nur dazu,

das System erkennen zu lassen, dass etwas nicht Programm, nicht Thema etc. ist.

Beispielsweise mag Literatur/nicht Literatur eine gängige Leitdifferenz der Philologie sein,

gerade weil sie keinen Code bildet. Leitdifferenzen schließen nicht wie Codes ein, sondern

aus: Was keine Literatur ist, gehört eben nicht zur Philologie. Kommunikation über Falsches«

gehört aber sehr wohl zur Wissenschaft, so wie Kommunikation über »Unrechtes« zum

Rechtssystem gehört. Aber auch hier zeigt sich, dass nicht zu informieren keine Operation

sein kann − und zwar deshalb nicht, weil sie niemals Operation irgendeines

Kommunikationssystems sein könnte. Die Unterscheidung informieren/nicht-informieren ist

also nicht weder code- noch leitfähig. Hinzu kommt, dass da ihr jede

kommunikationsspezifische (thematische oder programmatische) Signifikanz fehlt. Beide

Seiten der Argumentation Luhmanns sind also schwerlich haltbar. Vielleicht hat Luhmann es

genau darum bei einer Fußnote belassen.

Was übrig zu bleiben scheint, wäre die Differenz im Sinne einer doppelten Selektivität zu

deuten, also im Sinne eines »Hierüber-informieren/hierüber-nicht-informieren«. Dann aber

könnte es sich erst Recht nicht um einen System-Code handeln, denn diese Unterscheidung ist

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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien

trivial, insofern sie für jedes soziale System im gleichen Ausmaß gilt, wodurch ausgeschlossen

wird, dass ein System sich durch Anwendung dieser Unterscheidung von anderen

unterscheiden könnte. Die Selektion von Information ist also immer ein hochselektiver

Prozess von Doppeldifferenzierungen und entsprechend nicht mehr steigerungsfähig. Jede

kommunikative Selektion muss aus einem potentiell unendlichen Angebot (Horizont) an

Möglichkeiten auswählen, was aktualisiert werden soll (und was nicht). Hinzu kommt, dass es

nicht weiterführen würde, wenn man diese Unterscheidung im Sinne der Auswahl dessen,

worüber informiert und worüber nicht informiert wird, deuten wollte: Denn genau die

Antwort auf diese Frage, über was informiert werden soll und über was nicht, hat ja der

jeweilige Code vorzubereiten. Denn, um entscheiden zu können, ob etwas kommuniziert bzw.

ob über etwas informiert werden soll (oder nicht), bedarf es nun mal der Kriterien und nicht

einfach der Frage: informieren oder nicht-informieren? So lautet beispielsweise die zentrale

selektionsvorbereitende Abfrage wissenschaftlicher Kommunikation: Spielt hier »Wahrheit«

eine zentrale Rolle? Beispiel Rechtssystem: Geht es primär um Recht oder Unrecht? Oder:

Könnten hier Zahlungen zustande kommen? lautet die Frage der Wirtschaft. Entlang der

Codes laufen also die Selektionskriterien, ohne die jedes System zum Stillstand käme. Die

Entscheidung, worüber informiert werden soll (und worüber nicht), kann aber sicher keine

Kriterien entlang der Frage »informieren oder nicht-informieren« entwickeln. Denn diese

Unterscheidung bzw. diese Frage gibt ja nicht die geringsten Hinweise auf die Gewinnung

möglicher Selektionskriterien. Folglich kann die Unterscheidung informieren/nicht-

informieren nicht zur Codierung sozialer Systeme in Anspruch genommen werden und kein

System kann sich auf dieser Basis von anderen Kommunikationssystemen unterscheiden.

An dieser Stelle lässt sich noch nicht erahnen, welche alternative Unterscheidung als Code

benannt werden könnte. Es sollen zunächst noch einige andere aufschlussreiche Argumente

gegen den von Luhmann benannten Kandidaten angesetzt werden, um einen

Alternativvorschlag unterbreiten zu können.

Zur Revision des Informationsbegriffs

Luhmann hat stets betont, dass Information etwas sei, das keine Wiederholung zulasse. Eine

Information, die sinngemäß wiederholt werde, sei keine Information mehr. Sie behalte zwar

in der Wiederholung ihren Sinn, verliere aber ihren Informationswert.

Wenn man genau hinschaut, so passt diese Darstellung kaum zu Luhmanns

Kommunikationsmodell, das ja aus der Trias von Information, Mitteilung und Verstehen

gebildet wird, denn dann kann keines dieser drei Elemente entfallen, ohne dass die

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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien

Kommunikation als Ganze entfiele. Zudem müssen die drei genannten Selektionen synchron

auf mindestens zwei Seiten vorgenommen werden, die sich jeweils aufeinander beziehen.

Schon daher bedarf es zur Beobachtung von Kommunikation eines Beobachters zweiter

Ordnung, der nicht eine Seite (also alter oder ego) bei ihrer Selektion beobachtet, sondern

deren Synchronisation. Dennoch gilt: Würde auch auf nur einer Seite keine Selektion

stattfinden, so würde die Synchronisation gar nicht erst anlaufen bzw. sofort beendet. Das

wäre dann laut Luhmann aber schon der Fall, wenn alter zweimal die gleiche Information (die

ja dann keine mehr wäre) selegieren würde. In der Folge käme es also nicht zum Verstehen

und daher auch nicht zur Selektion von Sinn. Ohne Information keine Mitteilung und kein

Verstehen. Ohne Information also keine Kommunikation. Und ohne Kommunikation auch kein

(kommunikativer) Sinn. Somit kann nicht einmal Luhmanns These aufrecht erhalten werden,

wonach der Sinn erhalten bliebe, selbst wenn die Information verloren ginge. »Sinn« kann

also entgegen Luhmanns Darstellung im Falle der Wiederholung keineswegs bestehen

bleiben, da er kommunikativ in klarer Abhängigkeit zu »Information« steht. Ist Letztere nicht

gegeben, kann ersterer nicht gegeben sein. Luhmanns These zeigt sich hier also als

widersprüchlich. Seine Informationstheorie steht nicht im Einklang mit seinem

Kommunikationsmodell.

Wenn man diese Erkenntnis nun auf die Systemtheorie der Massenmedien bezieht, dann kann

man bemerken, dass die Unhaltbarkeit der These von der »Unwiederholbarkeit von

Information« bzw. der »Unverzichtbarkeit des Neuen, Unbekannten« in jeder Information

direkt relevant wird für Luhmanns Theorie der Codierung der Massenmedien. Denn in der

Folge entsteht ein weiterer Widerspruch, diesmal nämlich zwischen der

Unwiederholbarkeitsthese und der Annahme Luhmanns, dass der Code der Massenmedien

»informieren/nicht-informieren« laute. Dieser Widerspruch ist allerdings nicht logischer,

sondern sozusagen »empirischer« Natur und er ergibt sich daraus, dass unbestritten ein sehr

großer Teil massenmedialer Kommunikation aus Wiederholungen besteht. Selbst auf die

aktuellen Beiträge (etwa »News«) bezogen wird man nach kurzer Beobachtung feststellen

können, dass diese sich im Tagesverlauf (und darüber hinaus!) weit weniger ändern, weit

häufiger wiederholt werden als zumeist angenommen: Der Außenminister hatte sich gestern

schon bereit erklärt, die Verantwortung zu übernehmen, ohne es freilich zu tun. Auf der

heutigen Pressekonferenz hat er sich erneut dazu bereit erklärt (und es natürlich immer noch

nicht getan). Die Meldung ist identisch mit Ausnahme ihres »Zeitstempels«. Wenn solche

Fortschreibungsmeldungen wenigstens den vermuteten Erwartungen der Rezipienten

entgegenliefen und also zumindest einen schwachen Überraschungswert hätten − aber die

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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien

Redaktion weiß, dass die Mehrzahl der Rezipienten weiß, dass der Außenminister natürlich

nicht die Verantwortung übernehmen wird. Niemand wird also überrascht sein. Man kennt

schließlich »seine« Politiker. Besonders aufschlussreich aber ist, dass die Massenmedien

gezielt diese Tatsache zu nutzen wissen; sie wissen, dass »die Masse« (der Rezipienten) sich

weit lieber bestätigt sieht als sich überraschen zu lassen. Und also bevorzugen die

Massenmedien in aller Regel Informationen, die etwas bestätigen, sich wiederholen und also

nicht überraschen. Reality-Soaps erzählen von dem, was man gestern selbst im Supermarkt

oder am Taxistand oder bei der Arbeit oder beim Hausputz erlebt haben könnte. Sie

präsentieren die Wiederholung des Alltags im Fernsehen. Das kommunikative Plus dabei

lautet: (fiktiver) Voyeurismus – anderen (fiktiv) in die Wohnung, ins Bad und ins Bett zu

folgen. Es geht weniger um Neuigkeitswerte, um Überraschungen als um die zuverlässige

Einhaltung von Schemen. Man möchte im Bad des Protagonisten nicht unbedingt von etwas

überrascht werden. Man möchte nur »lauschen«, dabei sein dürfen. Auf dem gleichen Prinzip

beruhen (Frauen)Zeitschriften. Man (man könnte versucht sein zu sagen: »Frau«) weiß, dass

da vieles nicht stimmen wird, konstruiert oder erfunden wurde. Es geht um den Einbruch in

die Privatsphäre, um das verbotene Belauschen, das Ausspionieren, also um die Einnahme der

Position eines Paparazzi, den man die Schmutzarbeit machen lässt. Und es geht nicht um

gänzlich überraschende, unvermutete Neuigkeiten. Der Prinz geht ohnehin immer fremd. Das

Supermodell badet sowieso immer oben ohne.

Die Kommunikation verrät, dass dergleichen, weil informativ defizitär, keineswegs als

langweilig eingestuft wird, sondern »realitätsnah« (was immer daran nun wieder der Reiz sein

mag). Seit Jahrzehnten verkaufen bekanntermaßen Boulevardblätter die 57jährige Hausfrau

aus Mainz als »Blondine« und erzielen damit enorme Auflagen.

Letztlich weiß man, warum die Massenmedien zu redundanter Kommunikation neigen: Sie

erzielen damit Quote, erreichen damit »Masse«. Redundante Kommunikation muss also direkt

an entsprechenden Selektionskriterien andocken. Aber welcher Art sind diese

Selektionsprozesse, die Redundanzen so wahrscheinlich werden lassen?

Redundanz und Information

Bevor auf diese Fragen näher eingegangen wird, sollte es sich lohnen, das Verhältnis von

Redundanz und Information noch ein wenig genauer unter die Lupe zu nehmen.

Bekanntermaßen kritisiert die so genannte »Medienkritik« Tag ein, Tag aus den geringen

(oder abnehmenden?) Informationswert massenmedialer Angebote. Die wissenschaftliche

Medientheorie neigt dagegen geradezu umgekehrt dazu, diesen Punkt zu übersehen. Nicht,

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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien

dass es die Aufgabe der Medientheorie wäre, einen Mangel an Information oder Bildung zu

beklagen. Aber in einer Hinsicht könnte es zumindest für Systemtheoretiker sehr

aufschlussrein sein, auf den in der Tat ausgesprochen geringen Informationsgehalt

massenmedialer Kommunikation zu achten, denn daraus lassen sich − wie bereits sichtbar

wurde − direkte Rückschlüsse auf die Systemcodierung ableiten.

Wenn wir uns also (a) nochmals kurz vergegenwärtigen, dass Luhmann Information auf

Differenzen mit Überraschungswert (Bateson: »a difference that makes a difference«)

einengt, was er so auslegt, dass sogar die Möglichkeit der Wiederholungen einer Information

logisch ausgeschlossen wird; und wenn wir dann (b) berücksichtigen, dass Luhmann den

systemdifferenzierenden, binären Code der Massenmedien in der Unterscheidung

informieren/nicht informieren meint erkennen zu können − so wird Luhmann wohl den

Großteil massenmedialer Kommunikation ausblenden müssen. (Das dies so war, dafür

spricht, dass Luhmann sich mehrfach offen dazu bekannt hat − z.B. in einem Interview mit

Radio Bremen 1997 −, dass er mit Ausnahme von Zeitungen die Inhalte der Massenmedien

kaum kenne, so gut wie nie fernsehe und auch keinen Fernseher besitze. Denn sonst hätte ihm

kaum entgehen können, in welchem Ausmaß Wiederholungen stattfinden. Obwohl er das

sicher auch den Tageszeitungen (also den Massenmedien) hätte entnehmen können.

Schließlich ist die Selbstreferenz der Massenmedien kaum zu überbieten.)

Die Theorie der Massenmedien erscheint nicht selten, als sei sie von vorneherein angelegt auf

die Verwendung des Rasters »Unterhaltung, Information und Bildung« (vgl. hierzu nochmals

oben S. 22. Die Zuordnung und vor allem die Gewichtung von Themen geschieht dann häufig

entlang dieses Rasters. Diese Zuordnungstendenz ist sicherlich eine Ursache dafür, dass

bestimmte Auffälligkeiten innerhalb der Theorie der Massenmedien kaum für Auswertungen

genutzt werden. Als Beispiel einer solchen Unterbewertung kann etwa mit Blick auf das

Radio das Phänomen »Musik« genannt werden. Ein klares Unterhaltungselement, dem als

Pop- und Schlagerphänomen sehr viel, als Element der Radiounterhaltung aber sehr wenig

analytische Aufmerksamkeit geschenkt wird. Hingegen wandert das Augenmerk der Analysen

schnell auf jede Art von Wortbeiträgen (und natürlich auf Werbung). Musik wird vom

unmittelbar massenmedialen Geschehen abgespalten und analytisch unter dem

Phänomenbereich »Schlager« oder »Pop« behandelt. Dadurch gerät ein entscheidender

Gesichtspunkt aus dem Fokus, nämlich der: Musik als massenmediales Phänomen zu

beobachten, sei es als dominantes »Radiophänomen« oder als mosaikhaften »Videoclip«. Pop

und Schlager können unter wirtschaftlichen, künstlerischen, geschichtlichen etc.

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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien

Gesichtspunkten behandelt werden, und auch dort sind sie Massenphänomen. Doch einer

großen Zahl von Untersuchungen (gerade innerhalb der »empirischen Forschung«) entgleitet

das Phänomen »Musik« als (Unterhaltungs)Element von Radio und Fernsehen (und

zunehmend: Internet) unter der Hand, weil sie es als »Kumulationseffekt« behandeln: Man

untersucht dann, wie es zur Kumulation einer derartigen Masse von Musik-Rezipienten und

Musik-Konsumenten kommen kann, ohne zu bemerken, dass man das »System der

Massenmedien« verwechselt mit der »Masse der Rezipienten«. Die »Massenmedien« lassen

sich aber nicht in »Rezipientenmassen« auflösen. Die Massenmedien sollten als dasjenige

System verstanden, dass Massenkommunikation produziert und nicht einfach nur: rezipiert.

Gerade auf Systemtheorie bezogen kann man aus dem Phänomen »Musik« daher eine Menge

Lehrreiches ableiten, gerade bezüglich des Informationsbegriffs, aber auch im Vergleich

Musik/Aktuelles lässt sich z.B. die Bedeutung ihres Unterhaltungswertes ablesen, zugleich

aber auch die Bedeutung von Störungen seitens der Umwelt (vor allem seitens des Rechts, der

Politik und der Wirtschaft).

Mediale und strukturelle Kopplung

Um zu verstehen, was es damit auf sich hat, werden wir einen kurzen, exemplarischen Blick

wenigstens in den deutschen Radiomarkt werfen. Auf den privaten Radiomarkt bezogen wird

man mit einer Schätzung von im Schnitt 60-80% Musikanteil pro Sendestunde ganz gut

liegen. Wenn das in der Abendschiene dann anders aussieht, so kommen hier vermehrt

Umwelteffekte zum Tragen. Denn ein bedeutender Grund für das veränderte Sendeverhalten

stellt z.B. der rechtlich abgesicherte so genannte »Bürgerfunk« dar. Nicht, dass dort keine

Musik gespielt würde, aber der Anteil kann deutlich verschoben sein. Es kann aber auch sein,

dass Radiosender anderen Verpflichtungen in den Abendstunden nachkommen, etwa um ihr

Tagesprogramm von »unliebsamen Quotensenkern« (Maß: mittlere Verweildauer, Reichweite

etc.) frei zu halten. Gerade solche Verschiebungen sind also analytisch sehr aufschlussreich

und sie widerlegen nicht, sondern bestätigen vielmehr die Bedeutung, die Musik für das

Radio hat. Denn wenn das Radio sozusagen mit seinen eigenen Erfolgsrezepten bricht, so

kann der Grund dafür regelmäßig in Störungen aus der Umwelt vermutet werden, etwa in

Form von Effekten einer strukturellen Kopplung der Massenmedien mit der Politik und dem

Recht. »Bürgerfunk« etwa ist gewissermaßen »Pflichtfunk«, politisch gewollt und rechtlich

abgesichert. Immer, wenn sich wirksame strukturelle Kopplungen finden lassen, kann man

gerade an ihnen lernen, welche Tendenzen sozusagen direkt dem Medium entspringen und

welche nicht. Schließlich würden Politik und Recht nicht versuchen müssen, Einfluss zu

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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien

nehmen, wenn das Medium schon von sich aus in ihre Richtung tendierte. Natürlich zielt die

Formulierung »direkte Tendenzen der Massenmedien« nicht auf so etwas Konkretes wie

Musik. Aber »der Fall Musik« lässt direkte Ziele sichtbar werden. Das entscheidende,

niemanden wirklich überraschende Ziel lautet offensichtlich, eine möglichst große Masse zu

erreichen. Denn diesem Ziel scheint im Radio nur weniges so sehr wie Musik entgegen zu

kommen. Nur die offensichtliche strukturelle Kopplung von Massenmedien und Werbung

(Wirtschaft) scheint hier als ernst zu nehmender Verzerrungsfaktor noch in Betracht gezogen

werden zu können. Schließlich erfordern Werbeaufträge den Nachweis entsprechender

Mediadaten. Und in diesen stellt natürlich die »Quote« eine beinahe alles entscheidende

Größe dar.

Um aber Medium und Kopplungseffekte sauberer trennen zu können, sollten wir uns das

Phänomen »Musik« noch etwas gründlicher anschauen. Musik bzw. Musikvideos werden im

Radio wie im Fernsehen also in einer eng geschnittenen Rotation gefahren, teilweise sogar in

einer so genannten »hot rotation« (also in einer engen Musikrotation, die nur Chartshits

aufnimmt, also aus nur ca. 400-800 Titeln besteht). Auffallend: Der Erfolg

(Quote/Hörerreichweite) derartiger Sender steigt nicht etwa an, wenn man sich »mehr Mühe

gibt« und seine Musik-Rotation breiter anlegt. Im Gegenteil: Er steigt in aller Regel, wenn

man noch enger fährt. Musiktitel und -videos wiederholen sich also oft nach nur wenigen

Stunden − und sind gerade dann besonders erfolgreich. Da lässt sich auch nichts mehr

optimieren, indem man möglichst viele »Überraschungswerte« einschiebt (also Nachrichten,

aktuelle Berichte etc.). Im Gegenteil, auch diese senken tendenziell gleichermaßen Quote (im

Fernsehen) wie Hörerreichweite (im Hörfunk). Redaktionen gehen davon aus, dass beinahe

alles, was Musik unterbricht, von einer großen Zahl von Rezipienten als »Ärgernis« bewertet

wird. Das wird dann auch zur Erklärung des ipod-Effekts herangezogen: Einfacher Mitschnitt

− keine Musikunterbrechungen.

Und weil gerade im Bereich des privaten Radios die Tendenz zunimmt, sich auf Musik

festzulegen, sieht sich hier unter anderem die Politik gefordert und versucht, mit Vorschriften

und über Regulierungsbehörden kanalisierend einzugreifen (Vollprogramme,

Frequenzvergabeverfahren etc.). Aber, wenn ein System, also etwa die Massenmedien, auf

derartiges reagieren, so zeigt dies nur: Dass sie auf dergleichen als auf eine »von außen«, also

aus der Umwelt, auf sie eindringende »Störung« reagieren. Solche Störungen entspringen

regelmäßig strukturellen Kopplungen.

Dies wird besonders gut sichtbar bei öffentlich rechtlichen Sendern. Dort sieht die Situation

zwar etwas anders aus, aber gerade hier wird besonders gut sichtbar, welche kaum zu

überschätzende Rolle strukturelle Kopplungen, vor allem als Kreuzkopplungen

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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien

(Politik//Recht/Wirtschaft) spielen. Öffentlich-rechtliche Sendeanstalten befinden sich in

einem besonders engmaschigen Netz aus rechtlichen Bestimmungen als erwünschte

Rahmenbedingungen und Kontrolle. So paradox es aber klingen mag: Was zunächst als

Einschränkungen erfahren wird, stellt zugleich eine ermöglichende Bedingung dar. Ob aus

Gebühren oder aus Steuergeldern finanziert: Ihren wirtschaftlichen wie rechtlichen

Rahmenbedingungen stehen vor allem politischen Erwartungen gegenüber, denen es

Rechnung zu tragen gilt. Öffentlich-rechtliche Unternehmen wissen, dass gerade diese

Restriktionen es sind, die überhaupt erst die Möglichkeit schaffen, massenmedial tätig werden

zu können. Hier verbinden sich also besonders gut sichtbar aus strukturellen Kopplungen

hervorgehende Einschränkung mit (vor allem: wirtschaftlicher) Ermöglichung.

Mediale und strukturelle Verschmierungen

Zusammenfassend kann man sagen, dass populäre Musik – als informationsschwache,

momentbezogene, rhythmisierende Kommunikation – gerade für re-oralisierende Medien

(wie das Radio im Sinne McLuhans eines darstellt) außerordentlich geeignet ist. Es ist daher

auf Grund der medialen Eigenschaften der Musik hochwahrscheinlich, dass

Radiokommunikation dazu tendieren wird, Musik zu kommunizieren. Wie sich die soziale –

vor allem wirtschaftliche und massenmediale – Bedeutung von Musik in einer Zeit verändert

hat bzw. noch verändern wird, in der Musikredaktionen »digital bemustert« werden, werden

wir in einem weiteren, in Kürze erscheinenden Essay, analysieren. Die Podcaster jedenfalls

haben ihr Geschäft längst begonnen.

Im und für das Fernsehen spielt Musik natürlich eine andere Rolle. Immerhin gilt auch hier,

dass dies keine Folge von Beschlüssen, Meinungen, Einstellungen oder Handlungen ist,

sondern zunächst durch eine ganz banale mediale Eigenschaft ausgelöst wird: Nämlich durch

die Tatsache, dass das Fernsehen der Bilder bedarf. Dabei ist das Fernsehen nur sehr entfernt

mit der Fotokamera und dem Diaprojektor medial verschachtelt, sehr direkt dagegen natürlich

mit der Filmkamera und dem Kino. Und eben weil dies so ist, kommen dem Medium

Fernsehen die extrem schnellen Schnitte der Videoclips sehr entgegen: auflösungsbezogen (in

McLuhans Worten: bezogen auf seinen immer noch mosaikhaften, weniger flächigen Aufbau)

ebenso wie bezogen auf die Betrachtungsperspektive. Auch oder gerade an diesen Punkten

unterscheidet sich das Fernsehen von den mit ihm verschachtelten Medien, etwa dem Kino.

Die »mediale Verschachtelung« führt aber auch immer zu Gemeinsamkeiten, was sich

exemplarisch darin zeigt, dass, weil schon der »Film« als Medium nach dem Schnitt als (Co-

)Medium »verlangt«, das Fernsehen nicht umhinkommt, sich des Mediums »Schnitt« zu

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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien

bedienen. Die gleiche Verschachtelung führt aber auch zu Verschmierungen, so dass im

Endeffekt ein geschnittener Film im Kino natürlich etwas ganz anderes ist als »derselbe« Film

im Fernsehen. Wäre dem nicht so, so würde die Geräteindustrie nicht seit Jahrzehnten an der

Auflösung der Fernseher »schrauben« und am Breitbildformat (16:9) arbeiten. Das ist

gemeint, wenn man davon spricht, dass bestimmten Medien Eigenschaften inhärieren, die

man von Verschachtelungseffekten wegen besagter »Verschmierungen« nie ganz sauber wird

trennen können. Zu einen Verständnis der Evolution der Medien kann allerdings die Theorie

medialer Verschmierung mehr beitragen als die der Verschachtelung. Diese Aussage stimmt

zumindest insofern, als einjedes Medium in seinem Zustandekommen von medialen

Verschachtelungen (also letztlich dem Bestehen vorgängiger Medien) abhängt; aber wenn

man nun fragt, was ein neues Medium »ist«, also, wie es sich letztlich ausbildet, so kann die

Antwort nur lauten: als Verschmierung. Neue Medien sind nicht einfach nur die Folge von

Verschmierungen – Medien sind Verschmierungen medialer Verschachtelungen. Diese

Aussage bildet beinahe so etwas wie den Inbegriff dessen, was wir mit »McLuhan-Medien«

zu bezeichnen vorgeschlagen hatten.

Nur dann, wenn man das, was McLuhan die Botschaft des Mediums nannte, also diese

medien-inhärenten Tendenzen und Eigenschaften, griffig darstellen kann, lassen sich unter

Umständen mediale Eigenschaften sauber von den durch »externe Störungen« verursachten

Eigenarten medialer Operationen unterscheiden. Terminologisch gesehen muss dabei beachtet

werden, dass alles, was aus der Umwelt eines Systems auf dieses eindringt, als »Störung«

beschrieben werden muss. Der Begriff der »Störung« ist also keineswegs auf »negative

Einwirkungen« festgelegt. Eine von der Wirtschaft freudigst begrüßte Steuerreform seitens

der Politik wird also genauso als Störung der Wirtschaft zu beschreiben sein wie eine von der

Wirtschaft auf das Heftigste abgelehnte. Wenn man so ansetzt, dann kann man auch

»strukturelle Kopplung« als Störfall begreifen. Das hat große Vorteile hinsichtlich einer

Theorievereinheitlichung, da sich strukturelle Kopplung so doch griffig definieren lässt als

jener Sonderfall einer Störung, bei der Systeme interne Störungen als aus der Umwelt)

bezogene »(Stör-)Leistungen« verrechnen. »Leistungsverrechnung« meint, dass immer dann,

wenn Systeme einander strukturell koppeln, die daraus hervorgehenden Störungen vom

fokalen System (A) als Inputs seitens des gekoppelten Systems (B) behandelt werden, so als

würde System B Kommunikationen produzieren und System A würde diese als »fertige«

Leistungen nur importieren. Gekoppelte Systeme behandeln sich also als gegenseitige

Leistungserbringer, die Informationen austauschen, indem sie sie von jeweils einem System

in das andere kopieren. Bei dieser Darstellung sollte beachtet werden, dass es nicht die

Systemtheorie ist, die davon ausgeht, dass ein solcher Leistungsbezug per

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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien

Übertragung/Import real stattfindet. Die Theorie behauptet nur, dass gekoppelte Systeme sich

so behandeln, als ob dies so wäre. Die Systeme »sehen« das so – und die Systemtheorie stellt

dies nur fest. Beispielsweise verrechnet das Rechtssystem Gesetzgebungen als Leistungen

seitens der Politik; die Wirtschaft verrechnet ihre rechtlichten Rahmenbedingungen jeweils

als Leistung des politischen bzw. des Rechtssystems, während die Politik das

Zurverfügungstellen von Geld als wirtschaftliche Leistung verrechnet etc.

Gerade, wenn man sich wissenschaftlich neutral verhalten möchte, so wird man nicht umhin

kommen, jede Leistungsverrechnung als durch Störung zustande gekommen zu betrachten.

Der negative Beiklang des Begriffs »Störung« entfällt also und mit ihm die Unterscheidung

von negativen und positiven Störungen. Leistungen sind also keine objektiv in der Welt

vorzufindenden Tatsachen, sondern Produkte gegenseitiger Zurechnungen. Übrigens kommt

es auf analoge Weise auch dazu, dass Systeme Kommunikationen als Mitteilungen,

Äußerungen, sprachliche Darstellungen etc., sprich: als eine Leistung verrechnen, die in einer

weiteren Zurechnung als von Individuen, Menschen, Personen oder Bewusstseinen erbracht

verrechnet wird. Das Besondere an diesen Fällen ist ja nur, dass es hierbei nicht mehr um auf

Code-Ebene, sondern schon auf basaler Ebene unterschiedene Systeme geht

(Kommunikation/Erleben/Leben). Menschen, Personen und Individuen werden erzeugt,

indem man den Wechsel der Basisoperation mit zusätzlichen Adressierungsoperationen

verschleift. Im Falle von »Menschen« kommt dann noch hinzu, das Systemgrenzen mit

Latenz versehen werden müssen, so dass sich in der Beobachtung Einheiten aus biologischem

System (Körper) und psychischem System (Erleben) bilden lassen. Selbstverständlich gibt es

auch Personenbegrifflichkeiten – etwa im Recht – die umgekehrt und von Anfang an mit

Bezügen auf »den Menschen« verschliffen wurden. Stichworte wären hier Würde und

Unversehrtheit.

Die oben nur kurz angesprochenen »inhärierenden Eigenschaften« der Medien wurden an

anderer Stelle ausführlich erörtert. Dort wurde zugleich auch von der Terminologie

»inhärierende Eigenschaften« Abstand genommen und als Ersatz der wissenschaftlich sehr

viel besser handhabbare Begriff des Formats vorgeschlagen. (Siehe hierzu auch »Luhmann,

McLuhan und der Graf von Monte Christo«, download auf www.autopoietische-systeme.de.)

Wir können Bezug nehmend darauf jetzt also ohne Umschweife davon sprechen, dass Medien

im Falle sozialer Systeme »die Kommunikation«, im Falle psychischer Systeme »das Erleben«

formatieren.

Zu den erörterten Verschmierungseffekten kommen natürlich noch andere, verkomplizierende

hinzu. So sind viele Versuche, mittels struktureller Kopplung Einfluss zu nehmen, Versuche,

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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien

bereits bestehende Kopplungen »zu korrigieren«, weshalb innerhalb sozialer Systeme beinahe

alle Kopplungen als Kreuzkopplungen (d.h. als ihrerseits »verschmierte Kopplungen«)

wirken. Es ist ja nicht so, dass ein System eine Kopplung von allen anderen isoliert

»abarbeitet«. Selbst die seit dem Buchdruck verstärkt nachweisbare Serialisierung von

Wahrnehmung und Kommunikation konnte dies nicht bewirken. Im elektronischen Zeitalter,

dem Zeitalter sekundärer Oralisierung und undurchdringlicher Vernetzung, kann dann schon

gar keine Rede mehr davon sein. Strukturelle Kopplungen lassen sich also nur analytisch

voneinander isolieren. Auf operativer Ebene mögen Systeme versucht sein, Kopplungen

artifiziell »nach-zu-serialisieren«. Faktisch handelt es sich dabei aber um eine Post-

Serialisierung, also um Artefakte von Rationalisierungsoperationen.

De facto haben sich die Massenmedien den über (Kreuz)Kopplungen auf sie eindringenden,

völlig ineinander verwobenen, widersprüchlichen Tendenzen aus Wirtschaft, Religion, Kunst,

Recht und Politik etc. zu stellen. Man kann dennoch begrenzt zwischen medialer Tendenz und

Kopplungseffekten unterscheiden, denn – wie verschmiert auch immer

Medienverschachtelungen und Kopplungen sein mögen – in einem analytisch durchaus

relevanten Umfang lassen sie sich gegen mediale Formate filtern. Die Verschmierung

aufzuzeigen und zugleich Formate zu filtern (wo immer dies möglich sein könnte), war eines

der Hauptanliegen McLuhans. Auf diesen Punkt bezogen kann jede Medientheorie noch heute

von ihm lernen. Es wurde bereits angedeutet, das rechtliche Verpflichtungen, politische

Steuerungsversuche und wirtschaftliche Nebenmotive erkennbar werden lassen, dass im

Medium der »Massenmedien« gegeneinander gerichtete Tendenzen aufeinander treffen.

Beispielsweise findet sich in Europa neben den privaten Sendeanstalten auch ein sehr starkes

öffentlich-rechtliches Profil, das mit klaren politisch-rechtlichen Zielvorgaben ausgestattet

wurde und deren Einhaltung man als derartig gefährdet ansieht, dass man ihnen flankierend

eine ganze Schar von beratenden, prüfenden und genehmigenden Kontrollmechanismen zur

Seite gestellt hat, vor allem in Form von Gremien, Kommissionen und Räten. Dabei wird

versucht, zwei fast schon entgegengesetzte Ziele zugleich zu erreichen: Öffentlich-rechtliche

Sender (die sich in der EBU zusammengeschlossen haben), sollen einerseits die nötige

Rückendeckung erhalten, um in ihrer Programmgestaltung vor allem von den Folgen

wirtschaftlicher und politischer Kopplungen möglichst frei gehalten zu werden; andererseits

aber wird die Parole ausgegeben, umgekehrt müsse die Wirtschaft vor Wettbewerbsnachteilen

gegenüber den teils mit Gebühren, teils mit Staatsmitteln geförderten Sendern geschützt

werden (Wettbewerbsrecht). Ein diffiziles Unterfangen also, da Systeme derartige

Widersprüche als Paradoxien (paradoxe Anforderungen) verarbeiten und versuchen werden,

sie mit einer hochrhetorischen (statt sachhaltigen) Kommunikation abzufedern. (Das

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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien

politische System kennt gar keine andere Form von Kommunikation. Man hat es dort einfach

zu vielen Recht zu machen und wenn nicht das, so sind die Ziele zu radikal, um auf die

Vollrhetorik der Propaganda verzichten zu können.) Dringen derartig widersprüchliche

Anforderungen auf die Massenmedien ein, so kann die Programmgestaltungen in das

Dilemma geraten, die vorgegebenen Zielvorgaben erreichen zu müssen, ohne dabei

bestimmte, besonders zweckgerechte Segmente nutzen zu dürfen, weil diese der Konkurrenz

aus wettbewerbsrechrechtlichen Gründen vorbehalten bleiben sollen. Faszinierend ist dabei

aber vor allem, dass auch paradox erscheinende Kopplungsresultate erzielt werden können:

So kann die Einschränkung des Umfangs struktureller Kopplungen des politischen Systems

mit den Massenmedien ausgerechnet vom politischen System gewollt sein (Politisch gewollte

politische Unabhängigkeit). Ein nur scheinbares Paradoxon, das sicherlich besonders

aufschlussreich für jede Theorie struktureller Kopplung ist, hier aber leider nicht weiter

verfolgt werden kann.

Information, Schleifen und Kommunikation

Zurück zu dem von Luhmanns Informationsbegriff hervorgerufenen Dilemma von

Information und Redundanz. Es wurde bereits auf die große Bedeutung der Musik für die

Massenmedien hingewiesen und darauf, dass Musik zu senden heißt, Wiederholungen und

Schleifen zu senden. Viele Musiktitel laufen mehrfach am Tag und morgen sowieso wieder.

Zudem ist ein beachtlicher Teil der Musik schon als Schleife komponiert worden, ist

sozusagen Wiederholung-in-sich, z.B. in Form verschleifter Strophen und Refrains.

Volksmusik, Popmusik aber auch große Teile der so genannten E-Musik bestehen geradezu

aus einer Verkettung derartiger Wiederholungen – lyrisch wie instrumentell. Es gibt natürlich

auch hochkomplexe Schleifen, etwa die Fuge. Wenn Luhmanns Informationsbegriff aber

Wiederholbarkeit ausschließt, so wird man zu dem Schluss gelangen müssen, dass überaus

bedeutende Teile der Massenkommunikation aus der Sicht Luhmanns keine Informationen

beinhalten und somit gar keine Kommunikation wären. Wenn Luhmanns Informationsbegriff

auf der einen Seite keine Wiederholungen zulässt, Kommunikation auf der anderen Seite aber

Information voraussetzt, so muss dieser prominente Bereich der Massenkommunikation »aus

der Theorie herausfallen«. Sollen wir also annehmen, dass die erste Strophe bzw. der erste

Refrain eines Musikstücks kommuniziert werden kann, die zweite Strophe und der zweite

Refrain aber nicht, weil es sich bei ihnen nur um Wiederholungen handelt? Gerade im Fall

der Massenmedien führt ein derartiges Theoriedesign in eine Theoriekatastrophe, sobald wir

es konsequent auf die Massenmedien rückbeziehen und uns die z.B. Musikschleifen vor

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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien

Augen führen, die (in Form von Programmschleifen) einzelne Musikstücke tagtäglich

rotieren. Schließlich jagt hier eine Wiederholungen die andere. Eine mögliche Konsequenz

daraus lautet: Luhmanns Informationsbegriff bedarf einer Revision, da er sich nicht für ein

Verständnis von Musik, Floskeln und Routinen eignet oder – allgemeiner formuliert – weil er

den Phänomenbereich »kommunikativer Redundanz« nicht unterstützt. Es ist erwartbar, dass

ein systemtheoretisch angemessenerer Informationsbegriff Redundanzen − zu denen eben

auch Floskeln, Rituale, Smalltalk, Tratsch und Klatsch gehören − eher eine Zentralstellung

würde einräumen müssen, statt umgekehrt Wiederholungen als Ausschlusskriterien zu

positionieren. Innerhalb der Medientheorie, gerade bezogen auf elektronische Medien und die

damit verbundenen Oralisierungs- und Tribalisierungseffekte, hatte McLuhan Möglichkeiten

einer Zentralstellung von Redundanz aufgezeigt: Der Papst ist auch nach fünf Stunden immer

noch tot und der Kanzler immer noch in Washington und die Hochzeit von Camilla und

Charles steht schon seit drei Tagen bevor. Dennoch wird dies in den Nachrichten verkündet.

An Neuem erfahren wir also selbst in den Nachrichten wohlmöglich nicht viel mehr, als dass

für Camillas und Charles' Hochzeit inzwischen die Bestuhlung vorgenommen wurde, was

aber auch von jedermann so erwartet wurde und daher niemanden überrascht. Wenn man

dennoch nicht bereit ist, den systemtheoretischen Informationsbegriff von den Vorstellungen

zu lösen, Information sei unwiederholbar und müsse überraschen, so wird man neben Musik

unzählige der bedeutendsten massenmedialen Inhalte nicht mehr als Kommunikation

behandeln können. Ein Desaster für jede Medientheorie.

Wenn Luhmann davon spricht, dass Wiederholung und Information einander ausschließen, so

kann die Konsequenz nur lauten, dass Wiederholungen einen sofortigen Informationsstopp

darstellen müssten und sich nicht bloß graduell auswirken. Somit bleibt sogar der Ausweg

verschlossen, Wiederholungen als bloße Informationsreduktionen einzustufen. Mit Luhmanns

Diktum verbunden ist aber noch ein weiteres logisches Problem, nämlich die Frage: Wie soll

man überhaupt erkennen können, dass es sich um die Wiederholung einer Information

handelt, wenn ihre Wiederholung gar nicht als Information auftritt? Wie kann eine

Information mit ihrer Wiederholung überhaupt abgeglichen werden, ohne dass dazu die

Wiederholung zunächst als Information verarbeitet werden müsste? Um InformationA mit

InformationB vergleichen und als identisch (sprich: als Wiederholung) bezeichnen zu können,

müssten ja beide zunächst einmal unvermeidlich als Information verarbeitet werden. Identität

ist systemtheoretisch gesehen ja keine vorliegende Eigenschaft, keine gegebene Qualität,

sondern Resultat eines (Vergleichs)Prozesses. Das hieße dann wiederum in logischer

Konsequenz, dass kommunikationstheoretisch Wiederholungen, um als solche beobachtet

werden zu können, immer zunächst als Information auftreten müssen. Wenn man

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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien

Informationen mit Bateson als Differenzen, die einen Unterschied machen, verstanden wissen

möchte, systemtheoretisch ausgedrückt also als »Operationen, die Struktureffekte hinterlassen

und damit Systemzustände nachhaltig ändern« (wodurch z.B. ein Gedächtnis ermöglicht

wird), dann hieße das, dass im Falle einer Wiederholung eine Kommunikation, die bereits

stattgefunden hat, in einem Nachtrag revidiert und so behandelt werden müsste, als hätte sie

nie stattgefunden (natürlich nur, sofern man Luhmanns Wiederholungsdiktum akzeptiert).

Eine sehr zweifelhafte, ressourcenfressende Lösung, die mit Klatsch & Tratsch, mit geselliger

Kommunikation (Konversation), mit Floskeln und Ritualen etc. schwerlich in Einklang zu

bringen sein dürfte. Da oben aber bereits dafür plädiert wurde, Luhmanns

Kommunikationsbegriff (also die Trias: Information, Mitteilung und Verstehen) unangetastet

zu lassen, bleibt als Alternative nur noch die Möglichkeit, seinen Informationsbegriff für

revisionsbedürftig zu erklären und Information im Folgenden als etwas aufzufassen, das auch

Wiederholungen zulässt (wenn nicht forciert!).

Der Code der Massenmedien

Aus den bisherigen Überlegungen sollte deutlich geworden sein, dass, solange soziale

Systeme aus der Umwelt der Massenmedien diese nicht entsprechend »stören«, letztere

offensichtlich dazu tendieren werden, Überraschungswerte gegenüber Wiederholungswerten

abzusenken: Es überwiegen nun Mal Wiederholungen, minimale Informationsvarianten,

Klatsch & Tratsch, Musik etc. Das widerspricht zweifelsfrei der von Luhmann

angenommenen Systemcodierung. Für die hier vorgenommenen Überlegungen sollte es also

an der Zeit sein, darüber nachzudenken, inwiefern die Tendenz der Massenmedien, den

Informationsgehalt zu senken statt zu erhöhen, als Hinweis auf die Erfüllung basaler

Selektionsanforderungen gedeutet werden kann. Lassen sich basale Selektionsanforderungen

formulieren, die mit der Hypothese konvenieren, derzufolge Redundanzen

(Wiederholungen/Reduktionen von Überraschungswerten) bevorzugte Kommunikationswerte

des Systems der Massenmedien darstellen? Mit Hilfe einer Zusatzhypothese kann man einer

Antwort sicherlich schnell näher kommen: Nehmen wir also zusätzlich an, dass sich dieses

Wiederholungen favorisierende Systemverhalten als unmittelbare Folge des Versuchs einer

Erfüllung codierungsnaher Funktionen ergibt. Binäre Codes stellen ja logische

Gegensatzpaare dar, denen sämtliche Sinnselektionen jeweils eines (und nur eines)

bestimmten Systems untergeordnet sind: Was immer im Rechtssystem kommuniziert wird −

es muss einen sehr engen Bezug zum basalen Code recht/unrecht als Dachdifferenz nahe

legen. Was immer in der Wissenschaft kommuniziert werden mag − es muss einen sehr engen

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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien

Bezug zur Dachdifferenz wahr/falsch sichtbar werden lassen. Drehen wir den Spieß also um,

und fragen: Von welcher Art müsste die Codierung der Massenmedien sein, so dass dieses

System die Tendenz zur Wiederholung, Trivialisierung sowie zur Absenkung des

Informationsgehalts entwickeln würde? Die Frage beantwortet sich eigentlich von selbst und

die im Folgenden gegebene Antwort darauf wird durchaus von einem Großteil der

Medientheorie unterstützt: Ein mit geringen Überraschungswerten und Wiederholungen

besonders leicht zu erreichendes Ziel besteht darin, eine möglichst große (Rezipienten)Masse

zu erreichen. Systemtheoretisch gewendet kann man dann sagen: Das symbolisch

generalisierte Kommunikationsmedium der Massenmedien lautet: Masse erreichen. Der

dazugehörige binäre Systemcode lautet folglich: Masse erreichen/Masse nicht erreichen.

Wir können diese Idee jetzt durchspielen und annehmen, dass Massenmedien ihre

Operationen danach unterscheiden, ob es mit ihnen gelingen könnte, Masse zu erreichen oder

eher nicht zu erreichen. Systemtheoretisch lassen sich somit Massenmedien als dasjenige

System definieren, das erstens »Masse« zu erreichen sucht (nomen est omen). Das sich

zweitens dadurch auszeichnet, dass es zugleich als System und als Medium (der

Kommunikation) wahrgenommen wird und das drittens enger als jedes andere soziale System

mit Verbreitungsmedien verschachtelt ist (um Masse erreichen zu können).

Beobachtungslogisch gewendet kann man auch davon sprechen, dass mit »die

Massenmedien« dasjenige System bezeichnet wird, das sich auf die Beobachtung seiner

Beobachter (also der Rezipienten) spezialisiert hat sowie auf die Steigerung der Quantität

dieser Beobachter. Für alle anderen sozialen Systeme gilt zwar ebenfalls, dass sie ihre

Beobachter beobachten. Sie sind aber weder darauf spezialisiert, noch lässt sich annehmen,

dass soziale Systeme grundsätzlich an einer Steigerung der Anzahl ihrer Beobachter

interessiert sind. Übrigens wird hier ersichtlich, dass und warum Massenmedien in eine

systemspezifische Paradoxie geraten müssen: Wenn man generell von möglichst vielen

Beobachtern beobachtet werden möchte, ohne jemanden von vorne herein ausschließen zu

können, so wird es schnell brenzlig, weil die Verbreitung bestimmter Informationen bei

manchen Beobachtern den Versuch auslösen könnte, das System aus seiner Umwelt heraus

nachhaltig zu stören: Die Tageszeitungen informieren über die miserable Lage der

Zeitungsverlage, obwohl sie wissen, dass diese Meldung die Annoncen schaltende

Werbewirtschaft zusätzlich negativ beeinflussen könnte. Oder man berichtet über das

grausame Massaker im eigenen Land, ruft aber damit die Pressezensur auf den Plan. Die

Massenmedien verfügen also nicht über ausreichende Exklusionsmechanismen: Es gibt keine

Möglichkeit, alle zu informieren – nur nicht die Politik. Es lässt sich nicht vermeiden, dass,

was alle anderen erfahren, auch die Wirtschaft erfährt. Aber selbst, wenn es

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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien

Exklusionsmechanismen gäbe, so stünden sie im Widerspruch zu dem basal codierten

Anspruch, die Zahl der Beobachter zu maximieren. Bei dieser Gelegenheit sei am Rande

vermerkt, dass die Kommerzialisierung vor allem des Rundfunks (Fernsehen/Radio) sowie

des Internets durchaus Exklusionsmechanismen aufweist und zur Zeit sogar verstärkt. Wenn

Zugänge zugleich digital verschlüsselt und für viele finanziell unerschwinglich werden (Pay

TV), so kommt es natürlich in einem anderen Sinn zu Exklusionen.

Um Missverständnissen zuvor zu kommen, sollte die Aussage, die Massenmedien verfügten

nicht über Exklusionsmechanismen eingeschränkt werden. Es existieren nämlich sehr wohl

Exklusionsmechanismen – aber eben keine spezifizierenden, also keine, die es zulassen

würden, gezielt einzelne soziale Systeme temporär von der Kommunikation auszuschließen:

Man kann das Religionssystem nicht auffordern, jetzt nicht hinzuhören und man kann ihm

Kommunikation auch nicht auf Dauer mit einem »Trick« vorenthalten. Gleichzeitig scheint

die (post)moderne Gesellschaft insgesamt eher zur Verstärkung von Exklusionen zu neigen:

Der eine Teil der Gesellschaft verfügt z.B. über hervorragende Sozialnetze und

Gesundheitssysteme; der andere Teil verhungert in der Wüste oder verelendet in den Favelas

Lateinamerikas. Diese aus der Geschichte allzu bekannten extremen Gegensätze (reich/arm;

mächtig/ohnmächtig) scheinen global gesehen wieder auf dem Vormarsch, aber gerade, wer

sie ernst nimmt, der wird darauf stoßen, dass sich der Grad dieser Exklusionen gegen jede

Form wissenschaftlicher Erklärungen spreizt. (Luhmann hat Ansätze zu einer Erklärung zwar

bereits in »Jenseits von Barbarei« sichtbar werden lassen, schränkt aber selbst ein: »Zur

Überraschung aller Wohlgesinnten muß man feststellen, daß es doch Exklusionen gibt, und

zwar massenhaft und in einer Art von Elend, die sich der Beschreibung entzieht. Jeder, der

einen Besuch in den Favelas südamerikanischer Großstädte wagt und lebend wieder

herauskommt, kann davon berichten. Aber schon ein Besuch in den Siedlungen, die die

Stillegung des Kohlebergbaus in Wales hinterlassen hat, kann davon überzeugen. Es bedarf

dazu keiner empirischen Untersuchungen. Wer seinen Augen traut, kann es sehen, und zwar

in einer Eindrücklichkeit, an der die verfügbaren Erklärungen scheitern.«)

Zu guter Letzt dürfte die aktuelle »Kapitalismusdebatte« (2005) in Deutschland ebenfalls ein

Reflex auf die Zunahme von Exklusionstendenzen sein. Politische Parteien, deren Weltbild

noch vom Liberalismus des 18. Jahrhunderts geprägt zu sein scheint, haben hier natürlich

einen unvermeidlichen blinden Fleck. Liberal bzw. Liberalismus zielt hier ja beinahe

ausschließlich auf die »Freiheit der Wirtschaft« und den daran geknüpften naiven Glauben,

wenn man die Wirtschaft nur ausreichend in Ruhe lasse, werde sich alles andere von alleine

zum Besten wenden. Auf der anderen Seite stehen Parteien, die diesen Märchenglauben,

wenn nicht abgelegt, so doch längst mit massiven Einschränkungen versehen haben, z.B. weil

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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien

sie erkannt haben, dass es neben der Wirtschaft noch andere bedeutende soziale Systeme gibt

und dass diese sich sowieso und unvermeidlich gegenseitig mit Störungen versorgen. Die

angesprochenen »spätkapitalistischen Tendenzen« lassen sich aber mit den der Politik zur

Zeit zur Verfügung stehenden Mitteln weder zureichend analysieren noch irgendwie

»mildern«: Man kann die Wirtschaft zwar »pieksen«; man kann ihr aber nicht vorgeben, wie

sie darauf reagieren soll. Man kann sie also zwar stören – aber mit Störungen kann man nicht

steuern. Die Politik verfügt zur Zeit − wenn die Überspitzung erlaubt ist − kaum über mehr,

denn diejenigen Instrumente, die noch im Hinblick auf Nationalökonomien geschaffen

wurden (Gewerkschaften, Zins- und Abgabenpolitik und dergleichen mehr). Im globalen Dorf

können diese aber zunehmend nicht mehr greifen: Jede politische Forderung versteht die

globalisierte Wirtschaft als Aufforderung, sich umzusehen, wo weniger gefordert wird. Jeder

Streik wird mit dem Versuch beantwortet, an Standorte zu wechseln, wo weniger schnell

gestreikt wird. Dies zeigt aber nicht nur die Hilflosigkeit, mit der politische

Steuerungsversuche innerhalb der global village geschlagen sind. Dies zeigt mindestens

ebenso deutlich die Naivität des liberalen Glaubens, die Wirtschaft sorge am Besten für die

Beförderung des Gemeinwohls, wenn man sie weitestgehend in Ruhe lasse. Das Medium der

modernen Wirtschaft ist nun mal das »Geld«. Und bisher ist es noch niemandem gelungen, im

Steuerungsmechanismus »Geld« ein verstecktes Telos nachzuweisen, das von sich aus

sozialpolitische Tendenzen aufweisen würde, und man sollte glauben, dass allenfalls einige

Ökonomen und Philosophen des 18. Jahrhunderts das anders hätten sehen können. Wirtschaft

wie Wirtschaftspolitik kommen heute nun Mal nur noch als Weltwirtschaft und Weltpolitik in

Betracht. Kein Land kann heute noch seinen eigenen Weg gehen. Das war – vor allem auf

Grund der schon sehr früh globalisierten Finanzmärkte – teilweise zu Stalins Zeiten schon so.

Systemtheoretisch gesehen kommt es also zu diesem Desaster u.a., weil Exklusion die

Kehrseite der Globalisierung ist: Mechanismen, die komprimierend wirken (allen voran also

die elektronischen Medien), können offensichtlich nur alles mit allem verbinden, wenn sie

vieles dabei ausschließen: Wenn Hollywood überall ist, so wird man auch kaum um Coca

Cola herumkommen können. Wenn Gesellschaft Weltgesellschaft ist, so kann sich kein

Weltteil mehr einfach zurückziehen. Niemand kann sich ausschließen − aber große Teile

können umso leichter ausgeschlossen werden. Wenn das Gesundheitssystem zu teuer wird,

dann werden eben immer weniger von ihm profitieren können. Ist das die Kehrseite der

vielbeschworenen Postmoderne?

Zurück zur Analyse der Art und Weise, in der die Massenmedien ihre Beobachter beobachten.

Die von den Massenmedien fortlaufend durchgeführte Quantifizierung ihrer Rezipienten

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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien

entspricht also einer Quantifizierung von Beobachtern, wobei die Massenmedien ihre

Beobachter nicht als operative oder funktionelle Einheiten bzw. als Systeme einstufen,

sondern rein aspektiv dem gewählten Verbreitungsmedium zuordnen, also etwa als Leser,

Zuschauer, Hörer oder Surfer etc. Rezeption wird dabei nach einem viele Jahrhunderte alten

Verständnis zunächst und vordergründig als sinnliche oder taktile Wahrnehmung gedeutet.

Die Quantität der Beobachter wird aber nicht interessenlos, sondern mit dem Bestreben

gemessen, die Zahl der Rezipienten zu erhöhen oder zumindest bestimmte Grenzwerte nicht

zu unterschreiten. Diese »Interessensorientierung« ist auch daran erkennbar, dass die

Massenmedien mit spürbarer Unruhe reagieren, wenn eine Kommunikation kaum noch

quantifizierbar ist, weil sie sich in der Nähe der Messbarkeitsgrenze befindet. Auch diese

Tatsache gibt einen deutlichen Hinweis darauf, dass sich die Massenmedien nicht an einer

angeblich hinter der Messung befindlichen Realität (die gemessen wird) orientieren, sondern

am Messverfahren selbst. Die Messung ist die Realität, an der sich die Massenmedien messen.

Bei der Beobachtung, die die Massenmedien auf diese Weise durchführen, handelt es sich

also nicht einfach um irgendeine Beobachtung von Beobachtern, sondern um eine

Beobachtung, die eine spezifische Selektion innerhalb der Gruppe möglicher

Fremdbeobachter vornimmt: Hörer, Leser, Zuschauer etc. Dabei steht zunächst nur die

Quantität im Vordergrund. Ziel ist es, von möglichst vielen beobachtet zu werden. Trotzdem

kommt es letztendlich zu einem sehr anspruchsvollen Sonderfall von Beobachtung, nämlich

zur Reflexion: Das System reflektiert auf sich, indem es auf die Art und Weise reflektiert, wie

es von anderen Beobachtern beobachtet wird: massenhaft oder nicht massenhaft. In einer

Metapher: Wenn die Massenmedien in den Spiegel schauen, sehen sie nicht sich, sondern ihr

Negativ: den Rezipienten. Und in der Tat sind Rezipienten nichts, was unabhängig von den

Massenmedien existieren könnten. Sie sind ganz umgekehrt etwas, dass der Beobachtung der

Massenmedien bedarf, um überhaupt real werden zu können. Keine Massenmedien – keine

Rezipienten (jedenfalls nicht im Sinne der Medienforschung).

Auf eben diese Weise gelingt es den Massenmedien, Kommunikation aufzuteilen in solche,

die Masse erreicht (Designationswert) und solche, die Masse nicht erreicht. Kommunikation,

die regelmäßig (aber nicht immer!) Masse erreicht, rechnet das System sich selbst als Erfolg

zu: Heute war die von der Tagesschau erzielte Quote zwar schlecht – im letzten Monat aber

ausgezeichnet. Kommunikation, die »Masse« nicht erreicht, verrechnen die Massenmedien

entweder als Hilfskommunikation (also als Kommunikation, die erfolgreiche

Massenkommunikation nur unterstützt) oder als Misserfolg oder als etwas, das

fremdverrechnet werden muss: Erfolglose Kommunikation fremd zu verrechnen, heißt, dass

das System diese Kommunikation (in einem Nachtrag) als aus der Umwelt stammend

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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien

beobachtet: Die neue Internet-Zeitschrift »gartenland-und-wiesenkräuter.de« (Name frei

erfunden) stellt ihre Produktion ein, weil es zu keiner Zeit ausreichende page views gab.

Wurde diese Zeitschrift vorab in Pressemeldungen zunächst als massenattraktives Angebot

bewertet, so bewirkt ihr Verschwinden, dass ihr einstmaliges Angebot rückblickend gar nicht

mehr als massenmediales Angebot dargestellt wird. Gehörte dies Zeitschrift aber als

»Ableger« zu einem bedeutenden Unternehmen der Massenmedien, so wird sie nachträglich

etwas anders, nämlich als Hilfskommunikation (kommunikative Diversifizierungsstrategie)

bewertet. Als Massenkommunikation verrechnen die Massenmedien jedenfalls nur diejenige

Kommunikation, der mindestens Aussicht auf Erfolg unterstellt wird oder die zum Erfolg (und

sei es durch Verstärkung von Aufmerksamkeit) an anderer Stelle sollte beitragen können

(Hilfskommunikation). Analog verfahren alle codedifferenzierten Systeme: Nur, wenn es

faktisch und vorrangig um Recht oder Unrecht geht, behandelt das Rechtssystem eine

Kommunikation als zu ihm gehörig. Nur, wenn es faktisch und vorrangig um Zahlungen geht,

verrechnet die Wirtschaft Kommunikation als eigene Kommunikation. Nur, wenn es faktisch

und vorrangig um das Erreichen von Masse geht, verbucht das System der Massenmedien

diese Kommunikation als massenmediale Kommunikation. Alle Systeme werden in diesem

Sinne also durch Erfolgsorientierung geschlossen: Sie können sich auf Dauer

Kommunikation nur zurechnen und also ihre Systemgrenze nur wahren, wenn die durch sie

codierte Kommunikation faktisch erfolgreich oberhalb eines bestimmten Grenzwertes und in

direkter Codenähe stattfindet. Wenn beispielsweise die Wissenschaften sehr viel Wert auf den

Nachweis von Irrtümern legen (Codeseite: falsch), so nur, um damit ihren Anspruch auf

Wahrheit prozessieren zu können. Weil sich Systeme nur durch (ausreichenden) Erfolg

schließen können, bedarf es der (von Luhmann so genannten) »Erfolgsmedien«.

Die Codeseite »Masse nicht erreicht« gehört entsprechend ebenso zum System der

Massenmedien wie die Codeseite »Masse erreicht«. Aber der Reflektionswert »Masse nicht

erreicht« darf dabei entweder nur als relativer oder als temporärer Wert auftauchen (relativ

heißt: »weniger Masse erreicht«; temporär heißt: »Masse heute nicht erreicht«) und nicht als

Permanentwert. Nur dann, wenn der Designationswert kontinuierlich erfüllt wird, betrachten

sich soziale Systeme als erfolgreich − das müssen sie auch, weil ihre Autopoiesis zugleich mit

ihrem völligen »Misserfolg« beendet wäre: Die Wirtschaft muss zahlen können, das Recht

muss Recht sprechen, die Wissenschaft muss (revidierbare) Wahrheiten finden und die

Massenmedien verfügen nicht über einen ausreichend langen Atem, um längere Zeit in ein

»Rezipientenloch« zu senden. Das System »lebt« also (wie jedes andere soziale System) von

der Differenz der beiden Werte, kann nur daran seinen Erfolg bewerten und ohne ihn hört es

auf zu existieren, verliert seine Grenze zur Umwelt, löst sich in ihr auf. Als »das System der

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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien

Massenmedien« bezeichnen wir demgemäß dasjenige System, das erfolgreich massenmedial

kommuniziert.

Als Soziologen können wir beobachten, dass irgendwann Zeitungen verschwinden, die keine

Auflage erzielen, Radiosender keine Frequenzen mehr zugeteilt bekommen, wenn Sie kein

»Publikum finden«, Fernsehsendungen durch andere ersetzt werden, wenn sie keine »Quote

machen«, Google bestimmte Internetseiten schlecht ranked, weil sich erfolgreicher

querverlinkte Seiten auffinden lassen etc. Oben wurde bereits davon gesprochen, welche

Kommunikation sich Systeme selbst zurechnen und welche nicht. Das heißt im

Umkehrschluss, dass andere soziale Systeme zu anderen Zurechnungen kommen werden: Das

politische System meint, die Massenmedien hätten die Finanzmisere nur erfunden, während

die Massenmedien darauf bestehen, dass man lediglich die Äußerungen des Finanzministers

verbreitet habe. Die Wirtschaft meint, das Rechtssystem habe ein Ende der Flexibilisierung

von Arbeitszeiten kommuniziert, während das Rechtsystem die Ansicht vertritt, es habe

lediglich bestehende Gesetze ausgelegt und kommentiert. Und die Politik überfordert sich

selbst mit der Behauptung, für alle Probleme eine Lösung zu haben (wenn man nur erst

einmal an die Macht käme). Das Religionssystem kritisiert, die Kommunikation des

politischen Systems stimme die Menschen politikfeindlich, während die Regierung sich nur

daran erinnern kann, dass die Opposition dergleichen heraufbeschwöre und alles übrige seien

ohnehin andere schuld.

Die Art von Beobachtern, auf deren Beobachtung die Massenmedien spezialisiert sind, sind

im Alltag bekannt als Hörer, Leser, Zuschauer, Surfer oder generalisiert: als Rezipienten.

Rezipienten werden gemeinhin als Beobachter beschrieben, die (massenmediale)

Kommunikation beobachten. Die Konsequenz dieser Betrachtung ist, dass die Massenmedien

zu einer Konstruktion erklärt werden, die vom Rezipienten (der seinerseits als »kognitives

System«, als »Mensch« oder als »Bewusstsein« gedacht wird) konstruiert werde. Im

Gegensatz dazu ergibt sich für uns nach allen Erörterungen die Notwendigkeit, diese

Konstruktion kopernikanisch zu wenden: »Rezipienten« (der Massenmedien) sind

Beobachter, die codegesteuert von den Massenmedien konstruiert werden als eben diejenigen

Beobachter, von denen sie sich als beobachtet betrachten. In anderen Worten: Rezipienten

sind eine Konstruktion, die innerhalb der Selbstbeobachtung (Selbstreferenz) der

Massenmedien entsteht, insofern die Massenmedien sich selbst über die Beobachtung ihrer

Beobachter beobachten. Eine Besonderheit des sozialen Systems der Massenmedien besteht

also darin, welche Rolle für die sie die Beobachtung von Beobachtern, also die Beobachtung

zweiter Ordnung spielt. Denn nur an Beobachtern, von denen sie selbst beobachtet werden,

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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien

können die Massenmedien den für ihre Operationen notwendigen (Miss)Erfolg messen, um

ihre Kommunikation daran zu orientieren.

Das System der Massenmedien kann hier also gegen alle Konvention als dasjenige System

charakterisiert werden, das den Rezipienten »erfunden« hat, um sich selbst über die

Beobachtung dieses seines Beobachters zu beobachten und damit als System zu generieren.

Damit entfällt die Annahme, Rezipienten seien etwas, das sich unabhängig von den

Massenmedien bereits in der Welt befinde, aus Individuen bestehe und auf dessen reale

Existenz die Massenmedien existentiell angewiesen seien. Es verhält sich gerade umgekehrt:

Rezipienten sind Konstruktionen, die erst in und durch die Beobachtung der Massenmedien

entstehen. Rezipienten sind also nicht identisch mit Menschen, Subjekten oder sonstigen

unabhängig von den Massenmedien in der Welt vorfindlichen Phänomenen. Sie sind absolut

systemdependent. Bekanntlich gab es vor der Erfindung des Autos auch keine Autofahrer.

(Nur sind Autofahrer keine Konstruktionen, die von Autos ausgeheckt wurden.)

Indem man also diametral entgegengesetzt zu konventionellen Konstruktionen ansetzt, kann

man vermeiden, die Massenmedien aus der externen Position ihrer Beobachtung seitens der

Rezipienten konstruieren zu müssen. Der Rezipient kann so als eine codebezogene

Konstruktion der Massenmedien begriffen. Die Massenmedien zeigen sich folglich hierbei als

ein streng selbstreferentielles System, insofern das System sich selbst über die eigene

Beobachtung seiner von ihm selbst konstruierten Beobachter zu steuern sucht.

Rezipienten werden dabei von den Massenmedien auf verschiedene Weise beobachtet. Die in

Deutschland bekannteste Beobachtungsweise ist die so genannte »(Einschalt)Quote«. Sie wird

in Form kompakter Werte geliefert und abgearbeitet. Es geht dabei nicht um Individuen,

sondern letztlich um einen in anteilige Prozentwerte aufgelösten Gesamtwert, der eine

Rückführung in individuelle Einzeladressen (Individuen, Personen, Einzelsubjekte) sogar

gezielt ausschließt. Vielleicht kann man darüber streiten, ob es die Erhebungsinstitute bei

Ihren Erhebungen mit Individuen zu tun haben: Man wird aber schwerlich darüber streiten

können, dass in »der Quote«, mit der sich die Massenmedien beschäftigen, alle individuellen

Spuren bereits getilgt werden.

Obwohl Luhmann die Massenmedien nicht aus ihrer Fokussierung des Rezipienten

(verstanden als »Masse«) gesehen hatte, hatte er darauf hingewiesen, dass sich die

Massenmedien an »vermuteten Interessen« orientieren. Von da wäre der Schritt zu der

Annahme, dass die Massenmedien ihre zentrale Steuerung an dem Versuch ausrichten, Masse

zu erreichen, eigentlich nicht mehr sehr weit gewesen. Stattdessen hat Luhmann versucht, die

von ihm selbst formulierte Interessensorientierung über das Schema informieren/nicht

informieren zu erklären. Das ist in der Tat ein schwacher Ansatz, insofern die Differenz von

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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien

informieren/nicht informieren ja gerade offen lässt, nach welchem Schema informiert wird

und nach welchem nicht. Statt einer Antwort auf die Frage: Wie unterscheiden die

Massenmedien zwischen dem, über das sie informieren werden und dem, worüber sie nicht

informieren werden, entsteht hier nur die weitere Frage: Warum orientieren sie sich

ausgerechnet an Rezipienteninteressen (obwohl es so viele alternative Möglichkeiten gäbe) ?

Hätte sich Luhmann die Frage gestellt, warum Rezipienteninteressen diese zentrale Rolle

spielen und hätte er andererseits stärker beachtet, dass sich die Massenmedien keineswegs mit

»Vermutungen« zufrieden geben, weil sie Vermutungen umgehend durch Messungen ersetzen

(die ja unter anderem einer Ermittlung von Interessen dienen), so wäre es möglicherweise

dazu gekommen, das Luhmann eine Revision des Codes in ins Auge gefasst hätte.

Interessensvermutungen unberührt davon natürlich durchaus eine Rolle im Alltagsgeschäft.

Jeder Redakteur muss von Beitrag zu Beitrag, von Artikel zu Artikel und von Sendung zu

Sendung Vermutungen über Interessen anstellen. Aber von der Ideenfindung bis zur

Verbreitung helfen dabei Schemen (etwa das »journalistische Handwerkszeug« mit seinen

vielen Regeln, die journalistischen Formen etc.), weshalb letztlich sehr wenig Spekulation,

dafür aber sehr viel Routine im Spiel ist. Die Ergebnisse dieser Routinen werden dann

permanent abgeglichen mit Messergebnissen: Wie viele Folgen einer Serie werden nach der

Pilotsendungen gesendet, an die hohe Erfolgserwartungen angeschlossen wurden? Evtl. gar

keine, wenn die Quote »grottenschlecht« war.

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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien

Codedifferenzierung versus funktionale Differenzierung

Die Annahme, der Code der Massenmedien laute »Masse erreichen/nicht erreichen«, lässt

aber auch Konsequenzen sichtbar werden, die weit über eine Theorie der Massenmedien

hinausgehen. Denn während Luhmann offenbar der Ansicht war, dass Codierung sozusagen

funktionale Differenzierung garantiere, wird am Beispiel der Massenmedien deutlich, dass

beide Differenzierungsweisen gelegentlich zwar korrespondieren mögen – dies geschieht aber

nur zufällig. Es besteht keine funktionale oder kausale Verbindung und damit keine Garantie

dafür, dass sich Codes an Funktionen binden (vice versa). Gerade also, weil hier mit

Luhmann davon ausgegangen werden soll, dass sich die Massenmedien funktional am ehesten

als ein System beschreiben lassen, das Welt-Realität erzeugt und auf eine Weise verbindlich

werden lässt, die dann nicht mehr unterlaufen werden kann, muss hier zugleich

einschränkend ergänzt werden, dass dieser Effekt nicht über funktionale Mechanismen (oder

die systeminterne Beobachtung externer Erwartungen) zustande kommt, sondern nur über die

Codierung der Informationsverbreitung. Die über den Code also nur »angetriggerten«

funktionalen Kommunikationserfolge der Erzeugung einer für alle Sinnsysteme

verbindlichen, unhintergehbaren Realität ergibt sich also ganz schlicht aus dem Umstand,

dass die Massenmedien Codierungserfolge ausgesprochen gut über die Erfüllung der Funktion

einer Realitätskonstruktion erreichen können: Wenn man kommunikativ »Masse« erreichen

möchte, so muss man diese »Masse« auf eine Weise informieren, die sie sozusagen zur

Gegenselektion »zwingt«. Der für andere Systeme dabei entstehende Anreiz zur

Gegenselektion lässt sich dann dadurch noch einmal steigern, dass die Massenmedien

Gegensätze wie Fiktion und Realität (mit allen ihren Zwischenwerten) bedienen können, ohne

sich in Widersprüche zu verwickeln. Die Kunst einer Vermeidung von Widersprüchen ist

schon deswegen keineswegs trivial, weil jede Fiktion natürlich immer zugleich Realitäten

erzeugt: Man mag Darth Vader für eine erfundene Figur halten und Star Wars für Fiktion.

Aber eben diese Umstände sind es, die zur Realität werden lassen, dass es diesen Film und

seine Protagonisten gibt. Man kann sich im Kino oder auf DVD jederzeit von der Realität der

Fiktion überzeugen. Es ist keineswegs einfach, Fiktionen einerseits so realistisch wie möglich

erscheinen zu lassen und andererseits in ausreichendem Maße die Fiktionalität der Fiktion zu

symbolisieren, so dass Realität und Fiktion immer noch trennscharf erscheinen und

blockierende Paradoxierungen und Widersprüchlichkeiten vermieden werden können. Wer

würde den Nachrichten noch Glauben schenken, wenn er Raumschiff Enterprise für eine

Dokumentation hielte, in der ihm die Massenmedien einzureden versuchten, es gäbe wirklich

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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien

einen Captain Kirk , der all dies erlebt habe? Gerade diese ansatzlose Zuständigkeit für

Realität und Fiktion lässt es möglich werden, dass die Massenmedien eine universalisierbare

und dennoch nur konstruierte Realität verbindlich werden lassen können.

Das heißt allerdings nicht, dass nicht jedes System seine eigene Realität zeichnen und seine

eigene Unterscheidung von real und fiktiv etablieren wird. Das heißt aber sehr wohl, dass

alle diese verschiedenartigen Realitäten bzw. Fiktionen unhintergehbar entlang einer jeweils

systemspezifischen Beobachtung der von den Massenmedien verbreiteten Kommunikation

evoziert werden: Einjedes System muss also selbst seine Realität erzeugen – aber es wird dies

nicht tun (können), ohne sich dabei maßgeblich auf die Kommunikation der Massenmedien

zu beziehen. Dieser Umstand macht es der Systemtheorie möglich, nicht annehmen zu

müssen, dass die Kommunikation der Massenmedien aus Sicht einzelner Systeme jeweils

identisch sei (und mal richtig, mal falsch verstanden werde bzw. mal vollständig und korrekt,

mal unvollständig und inkorrekt sei). Die Systemtheorie wird lediglich behaupten müssen,

dass allen Realitätskonstruktionen gemeinsam ist, dass sie sich auf der Grundlage einer

jeweils eigenständigen (systemrelativen) Beobachtungen der Massenmedien entwickeln –

sogar, wenn es um die Frage geht, was real ist und was fiktiv (oder auch: was an Fiktionen

real ist). Gerade im Zeitalter elektronischer (digitaler) Medien kann die Differenz von Realität

und Fiktion ohne entsprechende Bezugnahme auf die Massenmedien weder verstanden, noch

universalisiert werden.

Auch Luhmann hat diesen Bezug auf die Unterscheidung Realität/Fiktion gesehen, aber

vielleicht − abgesehen von Kunst- und Unterhaltungsaspekten − nicht ausreichend

herausgearbeitet, welche generelle Bedeutung den Massenmedien in diesem Zusammenhang

zukommt. Nur die Massenmedien selbst konnten seinerzeit zureichend darüber »aufklären«,

dass ein »Krieg der Welten« im Augenblick nicht real stattfand, sondern nur inszeniert

wurde. Orson Welles Inszenierung konnte nur durch Wahl der journalistischen Form »Live-

Reportage« so unerhört real wirken. Es bedurfte der Gegenreportagen, also der

massenmedialen Dementis, um sein Hörspiel wieder in eine Fiktion umkippen zu lassen. Und

wer kennt nicht die Spekulationen darüber, ob der Anschlag auf die Twin Towers nicht

ebenfalls nur inszeniert wurde? Wer an eine solche Inszenierung nicht glauben will, der wird

dies auf der Grundlage seiner aus den Massenmedien bezogenen Informationen tun. Und wer

es glauben möchte, dem wird es nicht anders gehen. Man mag in New York gewesen sein

oder einen Freund kennen, der dort zum Zeitpunkt des Anschlags war. Man mag gesehen

haben, dass die Twin Towers zerstört wurden. Aber warum und von wem − das lässt sich

nicht ohne die Informationen der Massenmedien einschätzen. Und schon gar nicht ohne sie

als massenhaft bekannt voraussetzen.

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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien

Auch diese Sachverhalte stützen die hier vorgetragene These, dass eine Spezialisierung auf

die Funktion der Erzeugung von Realität heute nicht mehr systemdifferenzierend wirkt. Die

Erfüllung von Funktionen, auf die andere Systeme ihre Erwartungen richten bzw. die von

gesellschaftlich großer Bedeutung sind, kann nicht mehr garantiert werden und wird von

nichts und niemandem mehr garantiert. Gerichte sorgen für Recht, nicht für Gerechtigkeit.

(Ein Kölner Amtsrichter antwortete einem Journalisten einmal: »Fragen Sie mich nicht nach

Gerechtigkeit. Ich spreche nur Urteile.«) Die Wirtschaft interessiert sich weder für eine

gerechte Verteilung von Geld und Gütern, noch für nachhaltige Ressourcen- oder

Umweltpolitik. Wenn es zur ökonomischen Versorgung kommt, dann nur, weil das

Kommunikationsmedium »Geld« sich so passabel als Kommunikationsmedium prozessieren

lässt. Und wenn ökologische oder soziale Rücksichtnahmen stattfinden, dann nur, weil die

Wirtschaft aus ihrer politischen und rechtlichen Umwelt heraus entsprechend irritiert wurde.

Aber auch, wenn Gerichte Gerechtigkeit walten lassen, dann nur, weil, was als Recht gilt,

nach Meinung von Beobachtern gelegentlich auch der Gerechtigkeit entgegenkommt. Und so

gilt denn auch, dass die Massenmedien nicht informieren, um ihrer Funktion nachzukommen.

Wenn die Massenmedien informieren, dann nur, weil sie »Masse« nicht anders erreichen

können. Und wenn diese Informationen zunehmend als redundant oder als im Konflikt mit

bestimmten Vorstellungen von Demokratie bzw. mündigen Bürgern stehen, dann, weil man

bei »Big Brother« nicht an Weltliteratur, sondern an auf Sofas herumhängende Menschen

denkt und das: weil man damit umso leichter Masse erreichen kann.

Codedifferenzierung ist also keine Unterstützungs- oder Bleigleitform funktionaler

Differenzierung, sondern – im Gegenteil – eine Differenzierungsalternative, die Systeme

stärker als segmentäre, hierarchische oder funktionale Differenzierung gegen eine

Orientierung an Fremderwartungen (vor allem: Funktionserwartung) abriegelt.

Codedifferenzierung vermindert Systembelastungen, die auf externen Erwartungen beruhen.

Soziale Systeme sind zwar stets operational geschlossen, aber gerade dieses codebedingte,

extreme Abprallenlassen der an ein System von außen herangetragenen Erwartungen kann

den Schutz der Geschlossenheit ähnlich verstärken, wie die Schädelknochen die Abschottung

des Gehirns verstärken. Gesellschaftlich bleibt eine solche Verstärkung natürlich nicht

unbemerkt und also auch nicht unkommentiert. Die extreme Abschottung sozialer Systeme

gegeneinander wirkt befremdlich, so dass »kafkaeske Züge« entstehen: Das System erscheint

dann aus Sicht anderer Beobachter als von einer gemeinsamen Realität abgekoppelt, als völlig

unzugänglich, unbeeinflussbar, für psychische Systemen oftmals sogar »beängstigend«,

»außer Kontrolle«. Denn in der Tat fordert Codedifferenzierung nur eins: Die kommunikative

Erfüllung der Codewerte. Alle anderen Ziele werden entweder zufällig oder gar nicht erreicht.

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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien

Künstlerisch mag sich das dann als eine immer surrealistischer anmutenden »Welt der

hängenden Uhren« (Dalí) ausdrücken. Nur eins kann Systeme dazu verleiten im

Umsichselbstkreisen Rücksichten auf externe Erwartungen zu nehmen: Eine Störung durch

externe Systeme, die unmittelbar am Code ansetzt: Wenn z.B. Recht und Politik Streiks

billigen, dann wird die Wirtschaft direkt durch Zahlungen betroffen. Die Störung greift, weil

sie direkt am Code ansetzt. Aber hier wird auch wieder nur deutlich, dass geschlossene

Systeme stets selbst den Umfang festlegen, in dem sie bereit sind, sich stören zu lassen. Vor

allem aber lassen sie sich nicht vorgeben, wie sie auf Störungen zu reagieren haben: Mit

Sozialplänen oder mit Produktionsverlagerungen.

Die Massenmedien können sich jedenfalls heute nicht mehr einfach dadurch von ihrer

Umwelt absetzen, dass sie die Funktion der Erzeugung von Realität übernehmen. Die

Konstruktion von Realität leisten die Massenmedien vielmehr nur noch en passant, sozusagen

bei Gelegenheit des Versuchs, mit ihrer Kommunikation »Masse« zu erreichen, also bei dem

Versuch, ihre Codewerte zu befriedigen. Es liegt die Vermutung nahe, dass Systeme entweder

codedifferenziert sind oder funktional differenziert – nicht aber beides zugleich. Damit liegt

aber zugleich die Vermutung nahe, dass in einer evolutionstheoretischen Perspektive

Codedifferenzierung auf funktionaler Differenzierung aufsetzen muss, um sich etablieren zu

können.

Vielleicht bietet Codedifferenzierung aus systemtheoretischer Sicht sogar den Schlüssel zum

Verständnis dessen, was von anderer Seite als »Postmoderne« bezeichnet wurde. Immerhin

stellt dieser Wechsel des Differenzierungsmechanismuses, diese Umstellung von funktionaler

auf Codedifferenzierung, zweifellos das Resultat einer Steigerung von Selbstreferentialität

dar. Denn während sich über die Wahrnehmung von Funktionen das System in weiten

Bereichen auf die Erwartungen der in seiner Umwelt befindlichen Systeme hin orientiert,

orientieren Codes das System radikal und ausschließlich an sich selbst. Zumindest, wenn man

den soziologischen wie ethnologischen Funktionalismus als ein Paradigma verstehen möchte,

das die Re-Integration der satellitenhaft getrennten Systeme über die gegenseitige Erbringung

von Leistungen zu erklären versucht. Wenn Leistungen erst einmal an funktionale Systeme

delegiert sind, so steigert dies zwangsläufig die gegenseitige Abhängigkeit. Funktionaler

Autonomie und operativer Geschlossenheit steht dann sozusagen »existentielle Abhängigkeit«

gegenüber: Es gäbe zum Beispiel kein System der Wissenschaften, kein System des Rechts,

ohne ein System der Wirtschaft. Funktionserfüllungen stehen also immer

(Fremd)Erwartungen gegenüber, mit denen sich die einzelnen Systeme zugleich gegenseitig –

auch: legitimatorisch – anbinden. »Legitimatorisch« meint: Wenn man eine Leistung

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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien

beziehen möchte, so fällt es schwer, den abzulehnen, der sie erbringen soll. Genau an dem

Punkt kommt es mit der Umstellung von Funktion auf Code zur postmodernen Katastrophe:

Wenn Systeme ihre Selbstreferentialität steigern und also anfangen, sich völlig gegen ihre

Umwelt abzuschließen und nur noch um sich selbst zu kreisen, weil sie sich einfach an ihren

Codes und nicht mehr an auch für andere Systeme bedeutsamen Funktionen orientieren,

kommt es zu einer kafkaesken Abkühlung. Die in den 80ger Jahren immer wieder zu hörende

Kritik, Luhmann baue »Kafkaeske Schlösser«, trifft also insofern zu, als die »Nachmoderne«

tatsächlich die entsprechenden Züge kafkaesker Welten trägt (Hegelianer und Marxisten

würden von »Entfremdung« sprechen. Das setzt aber voraus, dass man Gesellschaft über

Subjekte zu verstehen sucht und nicht zentral über Kommunikation). Vielleicht war die

Systemtheorie einfach einer der ersten Theorien, die diese so surreal erscheinende Welt

angemessen beschreiben konnte? Jedenfalls hat sie die von ihr beschriebenen Schlösser nicht

erschaffen.

In dieser »Abkühlung«, die der Ablösung funktionaler Differenzierung durch

Codedifferenzierung entspricht, geht es endgültig nicht mehr um gottgewollte Herrschaft und

auch nicht um das respektierbare Vorrecht der Ältesten. Es gibt – Habermas zum Trotz –

sicherlich auch kein in der Kommunikation selbst angelegtes Telos, das »in the long run«

sicherstellt, dass letztlich alles in Richtung eines gesellschaftlichen Konsensus driftet. Ein

solches Naivkonzept scheitert schon daran, dass es den zentralen Beobachter nicht benennen

kann, der irgendwann für alle verbindlich festlegen könnte, welches Maß an Konsens bereits

erreicht sei. Selbst die Behauptung, es liege Konsens vor, führt in aller Regel spätestens bei

detaillierter Betrachtung sofort zu Dissens: »Konsensteilnehmer« fühlen sich in aller Regel

von anderem in Ihrem Zustimmungsbereich falsch verstanden. (»Das hab ich nicht gesagt. Ich

habe lediglich gesagt ... «) Die Systemtheorie steht hier sicherlich den weit weniger naiven

(weil differenzierteren) so genannten »dialektischen Frühformen« der Frankfurter Schule

näher, die mit ihrer Annahme, die Gesellschaft habe sich in einander entfremdete, in

Widersprüchen sich ausdrückende und aus diesen Widersprüchen heraus sich

weiterentwickelnde Interessenslagen ohne eine Garantie der Weiterentwicklung in Richtung

marxistischer Fernziele entfaltet. Zwar teilt die Systemtheorie nicht die Annahme, dass diese

isolierten, nicht re-integrierbaren technokratischen und instrumentellen Einzelinteressen alle

anderen gesellschaftlichen Bereiche überlagern, um sich so unsichtbar zu machen (Ideologien,

oder mit Luhmanns Worten: blinde Flecken). Sie löst dennoch den damit verbundenen

theoretischen Anspruch auf ihre Weise ein, indem sie insbesondere mit Hilfe der Hypothese

einer codedifferenzierten Gesellschaft die in den frühen Ansätzen der Frankfurter Schule zu

findenden »Entfremdungs- und Isolationseffekte« in die Theorie isolierter gesellschaftlicher

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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien

Teilsysteme und ihrer Geschlossenheit verlagert. Codedifferenzierung führt also zu einer Art

von l'art pour l'art der Systemoperationen, insofern es den Subsystemen nur noch um die

operationale Anwendung des Codes um seiner selbst Willen geht. Gerade die Beobachtung

»des Anderen« (also der Umwelt) geschieht dann ausnahmslos aus der Perspektive einer

Optimierung codebasierter Operationen.

Theorien, die anders als die Systemtheorie nicht über ausgearbeitete eigene, von der

Subjektivitätsphilosophie völlig losgelöste Modelle verfügen, haben diese Verwerfungen

bisher weit deutlicher angesprochen als die Systemtheorie dies getan hat. Besonders zu

erwähnen wäre hier sicherlich der französische Neostrukturalismus, allen voran wohl

Foucault und Derrida. Ihnen blieb aber nichts anderes übrig, als diese Auflösungstendenzen in

eine Art negativer Subjektphilosophie münden zu lassen. Aus dem eindeutigen Standpunkt

eines Subjekts wird dann Polykontextualität, aus der (Kantschen) Einheit der Vorstellungen

eines »Ich denke« (cogitans) die Vielstimmigkeit, aus der Vorliebe der Subjektphilosophie für

»Einheit« die »différance« und wer sucht, der findet heute sogar »Unjekte« auf der Position

des verloren geglaubten Objekts. Dergleichen Beschreibungen verbleiben also weitgehend im

Rahmen der Subjektphilosophie, die sie lediglich ins Negative wenden. Doch obwohl sie sich

nicht wirklich von subjektphilosophischen Vorstellungen zu lösen vermochten, wird man

anerkennen müssen, dass die Folgen dessen, was wir hier als Codedifferenzierung

beschrieben haben, sehr genau erkannt und benannt wurden, was sich unter anderem in der

Schöpfung des Begriffs »Postmoderne« kundgetan hat. Luhmann hat uns mit der

Unterscheidung von Funktion und Code konfrontiert, hielt dagegen aber am Konzept der

Moderne fest. Vielleicht ließe sich funktionale Differenzierung aber tatsächlich zutreffend als

»modern«, Codedifferenzierung hingegen als »postmodern« beschreiben? Ein Gedanke, der

hier nicht weiter verfolgt werden kann.

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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien

Was heißt »Masse«?

Die Wirtschaft mag Einnahmen allen Ausgaben vorziehen, doch um Einnahmen zu erhalten,

muss sie immer auch Ausgaben in Kauf nehmen. Daher ist sie über ihren Code gehalten,

ständig zwischen Operationen, die zu Zahlungen führen und Operationen, die nicht zu

Zahlungen führen, zu unterscheiden. Auch für die Massenmedien ist die Beobachtung der

Negation des Falls, Masse zu erreichen, unabdingbar, um den Fall provozieren und erkennen

zu können, in dem oder durch den Masse erreicht werden könnte (Designationswert der

Massenmedien). Schließlich geht es in der Unterscheidung von Masse erreichen/Masse nicht

erreichen letztlich um relative bzw. graduelle Bewertungen: kleinere/größere Masse erreicht.

Wirklich riskant sind nur die Grenzwerte, also für die Wirtschaft etwa die galoppierende

Inflation bzw. die Hyperinflation.

Aber auch die Beobachtung der Praktiken zur Erreichung eines Massenpublikums (etwa die

Bedienung der Sensationslust, Kolportage, Einsatz von Sex etc.) geben uns wichtige Hinweise

auf die Codierung des Systems, denn auch hier werden ganz unmittelbar die Kriterien der

Selektion von Kommunikation berührt. Es liegt somit auf der Hand: Das System orientiert

sich zentral am Ziel, eine möglichst große Masse zu erreichen, also Quote (Fernsehen) zu

machen, (Hörer)Reichweiten (Radio) zu steigern, hohe Auflagen (Print) bzw.

außerordentliche Besucherzahlen (Kino) zu erzielen oder die page impressions nach IVW

(Onlinemedien) zu maximieren etc.

Von hier aus lässt sich die Frage beantworten, wie sich systemtheoretisch »Masse« verstehen

lassen könnte. Hier soll vorgeschlagen werden, »Masse« rein operational zu definieren, und

zwar als eben denjenigen Mess- bzw. Schätzwert, an dem sich die Massenmedien

codebezogen orientieren. Auf diese Weise können überflüssige weitere Annahmen vermieden

werden, die nicht nur das Theoriedesign unnötig belasten würden, sondern auch zu

Theorieverwaschungen führen können. So muss beispielsweise nicht mehr angenommen

werden, es gebe so etwas (kompaktes) wie eine »reale Masse«, die aus einer Vielzahl ebenso

real existierender Menschen, Subjekte, kognitiver Systeme oder lebender Rezipienten

bestünde. Wir stellen nur ganz schlicht fest, dass es quantitative Schätz- und Messverfahren

gibt, an deren Resultaten sich die Massenmedien orientieren. Empiristische

Forschungsrichtungen mögen ihre eigenen Konstrukte für Beschreibungen real existierender

Gegebenheiten halten und annehmen, den durch ihre eigenen Messverfahren erzeugten

Konstruktionen lägen so etwas wie vom Messverfahren unabhängig existierende Rezipienten

zu Grunde, die entsprechend von diversen Verfahren mal besser, mal schlechter abgebildet

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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien

würden. Hier unterscheiden sich Teile der empirischen Sozialforschung und vor allem der

angewandten Sozialforschung je nach »Schulrichtung« also deutlich von der Systemtheorie:

Die Systemtheorie muss derartigen Konstrukten keine konstruktionsunabhängige Realität

unterstellen. Sie wird aber stets mit Interesse zur Kenntnis nehmen, dass andere dies tun.

Schließlich fallen in das Forschungsgebiet von Supertheorien a definitione immer auch andere

Forschungsrichtungen. Daher muss die Systemtheorie auch die eigene wie die

Operationsweise anderer Theorien jederzeit ganz nüchtern mitbeschreiben können, ohne dabei

die Tatsachenbehauptungen oder Sachverhaltsbeschreibungen dieser Theorien zu

übernehmen. (Man könnte in Anspielung auf Husserl von einer Art »systemtheoretischer

Epoché« sprechen.) Für die Systemtheorie sind sämtliche anderen wissenschaftlichen

Theorien soziale Phänomene in der Welt der Kommunikation, die keinen besonderen Status

beanspruchen können.

Das Spannende an dieser Herangehensweise aber ist, dass man auf diese Weise deutlich

erkennen kann, dass die Rolle, die diese Messverfahren bzw. Zahlenwerke für die

Massenmedien spielen, in ihrer Bedeutung letztlich stets unabhängig von »der Realität«

funktionieren: Wann immer sich ein System entscheidet, sich an Messwerten zu orientieren,

so funktioniert dies unabhängig von der Frage danach, ob diese Messwerte eine ihnen

vorgeordnete Realität (korrekt) abbilden oder nicht. Die Messung ist die Realität bzw. die

Realität ist die der Messung. Einer dahinter liegenden Realität gegenüber verschließen sich

die Massenmedien, verhalten sich weitestgehend indifferent (wenn auch hin und wieder

beunruhigt). Fernsehen, Radio, Internet und Print etc. können die Frage nach der »Realität der

Massen« zwar sporadisch oder temporär aufgreifen. Sie lassen sie dann aber notgedrungen

ebenso rasch weil »zu akademisch« wieder fallen. Metaphysik und Epistemologie gehören

nicht zu ihren Funktionen. Die Massenmedien kennen etwas für sie weit Relevanteres: Sie

kennen ihre Quote. Wissenschaft und Erkenntnistheorie kann in ihnen dagegen nur als

(journalistisches) Thema vorkommen, nicht aber als Forschung betrieben werden. Und der

Systemtheorie genügt es zu wissen, dass dies so ist.

Mit wenigen Ausnahmen fragen aus den genannten Gründen die Massenmedien nicht nach

»dem realen, wirklichen, individuellen Surfer/Hörer/Zuschauer/Leser«. Sie konzentrieren sich

stattdessen stets auf eine Optimierung von Messergebnissen, weil sie nicht nur codebezogen,

sondern auch auf Grund ihrer strukturellen Kopplung mit der Wirtschaft und der Politik auf

gute bis hervorragende Messergebnisse angewiesen sind. Wie es um das Verhältnis von

Realität (real existierenden Rezipienten) und Messung bestellt ist, lässt sich exemplarisch am

Verhalten einzelner Sender ablesen: So würden sich, wenn nächste Woche eine MA (also so

eine Art »Quotenmessung des Hörfunks«) durchgeführt würde, viele Radiostationen nicht

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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien

einfach fragen, womit man den »realen Hörer« ins Programm locken könnte. Sie würden sich

viel mehr fragen, was sich aus den bekannten Messwerten der Vergangenheit an möglichen

Aktivitäten ableiten lässt, um die anstehenden Messergebnisse zu verbessern (oder wenigstens

zu halten). Wie gesagt: Man optimiert Messergebnisse − und lässt »das Sein« Sein sein. Ein

typisches Mittel der Wahl besteht hinsichtlich der Hörfunkmedien dann z.B. darin, kurz vor

der Erhebung weit öfter als sonst die Station ID (also die »Senderkennung«) zu senden.

Niemand erwartet, dass einem das jemals mehr Hörer bringen könnte. Im Gegenteil: So etwas

wird Hörer eher nerven. Aber es beeinflusst nachweislich die Messergebnisse ausgesprochen

positiv. Das wird jeder sofort nachvollziehen können, der sich das Erhebungsverfahren einmal

genauer anschaut.

Analoges gilt für das Internet: Wenn eine Internetseite mehr »Clicks« (Page Impressions)

benötigt – dann kann es sinnvoll sein, (per so genantem Meta-Tag) automatische Refreshes zu

erzwingen, um die Messwerte zu verbessern. Oder man versteckt gezielt Seiten, die der Surfer

nach allgemeinem Dafürhalten unbedingt finden möchte, statt sie leicht auffindbar zu

machen. Dieser Trick führt dann zur Suche per Surfen und als Konsequenz zum »abgrasen«

unnötig vieler Seiten und in der Folge zu erhöhtem »traffic« und zu weit besseren

Messergebnissen. So lassen sich eben die Messergebnisse optimieren. Und um die geht es.

Für den, der sich an einer Messung orientiert, zählt nur die gemessene Zahl. Und selbst die

Vorstellungen vieler Millionen real existierender, einzigartiger Menschen (und hunderter von

Suchmaschinen), die im Internet surfen, wird in den Massenmedien immer nur dann eine

größere Rolle spielen, wenn man glaubt, die Orientierung an der Annahme »real existierender

Rezipienten« könne zu Maßnahmen führen, die: die Messwerte verbessern.

Beobachtet man systemtheoretisch dagegen Teile der empirischen Medienforschung, so wird

man sich des Eindrucks nicht erwehren können, dass diese sich epistemologisch tatsächlich an

ein Residuum abbildtheoretischer Vorstellungen »klammern«, um sich zur Vereinfachung

ihrer Modellbilddung auf »real existierende Rezipienten« berufen zu können. Dabei wird also

letztlich ein Modell (Messverfahren) an einem anderen Modell (dem »Modell real

existierender Rezipienten«) orientiert, aber letzteres so behandelt, als sei es eben kein Modell,

sondern die schlichte Anerkennung der Wirklichkeit. Genau an diesem Punkt wird die

Theorie also notgedrungen naiv. Immerhin hat diese epistemologisch fragwürdige

Vorgehensweise dann innerhalb der empirischen Forschung den praktischen Vorteil,

Messverfahren der Kritik aussetzen zu können, indem man die Frage stellt, ob sie ausreichend

genau die Realität abzubilden vermögen. Eine Frage, mit der sich vor allem die

konkurrierenden Erhebungsinstitute einander das Leben schwer zu machen suchen.

Gelegentlich finden sich Debatten dieser Art aber auch in der internen Kommunikation der

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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien

Massenmedien, natürlich hier ausnahmslos bezogen auf die Frage der Möglichkeit,

Reichweiten zu steigern. Sie folgen dabei ihrem Code. Sie können nicht anders. Und wo sie

scheinbar davon abweichen, da wurde aus ihrer Umwelt heraus entsprechend gestört.

Massenmedien, Wirtschaft, Politik und Wissenschaft: Systemcode und strukturelle Kopplung

Luhmann hat die Virtualität der Orientierung der Massenmedien am Begriff der Masse zwar

angesprochen, aber seine Bedeutung fürs System offensichtlich unterschätzt, weshalb er in

ihm auch nicht den Code des Systems sehen konnte. Die Virtualität massenmedialer

Orientierungen kommt seiner Ansicht nach aber schon darin zum Ausdruck, dass diese sich

an »vermuteten Interessen« (wie Luhmann es nennt) ausrichten, die sie dann zu bedienen

streben. Weil er das entscheidende Selektionskriterium übersah, durch das sich die

Massenmedien von anderen Systemen unterscheiden, musste Luhmann die Frage

unbeantwortet lassen, warum Massenmedien keineswegs anders zu informieren streben als

andere Kommunikationssysteme: Die Massenmedien selegieren Information und betreiben

Kommunikation stets auf das Erreichen einer Messgröße bezogen. Die gesamte

Kommunikation, von der Selektion der Information bis zur Wahl der Mitteilung (per

Verbreitungsmedium), ist ausgerichtet auf die »Vermassung des Drittwertes«, also auf

»massenhaftes Verstehen«, was einer (messbaren) Annahme von Kommunikation entspricht.

Verstehen kann aber nur zustande kommen, wenn man zwischen Mitteilung und Information

zu unterscheiden weiß. Den Kontrollwert bildet aber nicht wie sonst üblich (und auch von der

Kommunikationstheorie angenommen) die Fortsetzung der Kommunikation

(Anschlusskommunikation), sondern alleine die Messgröße. Dabei wird der Grenzwert einer

solchen Messung schlicht über die Messbarkeitsgrenze definiert. Aber auch die lässt sich im

Notfall überspringen durch die Anwendung plausibilisierter Schätzungen (technische

Reichweite, Hörerfeedback etc.).

Nur an diesen Merkmalen lässt sich das System der Massenmedien von anderen sozialen

Systemen unterscheiden. Und nur mit Hilfe dieser codebedingten Merkmale gelingt es dem

System, sich selbst von allem anderen zu unterscheiden. Mit Luhmann am

Informationsbegriff die Differenz zu anderen Systemen festmachen zu wollen ist schon

deswegen problematisch, weil auch alle anderen sozialen Systeme ununterbrochen

informieren. Sie tun dies, weil sie ununterbrochen kommunizieren. Um hier eine Besonderheit

der Massenmedien finden zu können, bedarf es vieler zusätzlicher Annahmen, die jede für

sich problematisch und nicht binarisierbar sein dürften. Denn wer informieren will, muss

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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien

damit nicht unbedingt den Anspruch auf massenhafte Annahme der Kommunikation

verbinden, geschweige, sich zentral und immer an einem solchen Ziel orientieren. Jedenfalls

entwickeln die Wirtschaft, die Wissenschaft, die Religion und das Recht Ziele dieser Art nur

auf bestimmte Kommunikationssektoren bezogen. Und immer, wenn soziale Systeme dieses

Ziel präferieren (z.B. im Bereich der Werbung), werden sie es über eine Kopplung der

Massenmedien zu realisieren suchen (müssen). Sie akzeptieren damit deren exklusive

Zuständigkeit für Massenkommunikation und nehmen sie als Leistung in Anspruch.

Wenn Luhmann also von »vermuteten Interessen« spricht, so übersieht er offensichtlich, dass

die Massenmedien keineswegs auf Vermutungen angewiesen sind. Quotenmessungen und

andere hier bereits genannten Messverfahren ersetzen längst bloße Vermutungen. Aus einer

historischen Perspektive betrachtet waren die Massenmedien in ihrer Entstehungsphase

natürlich auf operationalisierbare Vermutungen (Schätzwerte, z.B. der technischen Reichweite

des genutzten Verbreitungsmediums etc.) angewiesen, insbesondere weil empirische

Reichweitenmessungen noch nicht in ausreichendem Maß etabliert waren (von der »Auflage«

abgesehen, die daher den Prototyp aller Messungen darstellt). Ohne irgendeine Orientierung

an »Masse« hätten sie sich aber genauso wenig ausdifferenzieren können wie die Wirtschaft

ohne Geld. Es gibt natürlich immer noch massenmediale Bereiche, die nicht von Messungen

unterstützt werden (etwa DAB). Doch diese verzichten keineswegs auf die Ermittlung ihrer

Reichweite und berufen sich deswegen auch heute noch auf Schätzungen und Vergleiche, die

dann aber nicht ohne Plausibilisierungsaufwand auskommen. Die Plausibilisierung von

Messergebnissen regelt sich dagegen sehr einfach über den Fingerzeig in Richtung der

Wissenschaften. Sie ist also ein Nebenprodukt der Kopplung der Systeme

»Massenmedien/Wissenschaft«. Die Kopplung erhöht die Wahrscheinlichkeit ihres eigenen

Zustandekommens durch gegenseitige Leistungsverrechnung: Die Wissenschaft bietet nicht

einfach Orientierungswerte (Messergebnisse). Sie liefert deren Plausibilisierung gleich mit.

Da muss außerhalb der Wissenschaft niemand mehr etwas prüfen. Es reicht der Hinweis

darauf, dass die Ergebnisse wissenschaftlich geprüft seien. Die »Münze«, mit der die

Wissenschaft andere Systeme zur strukturellen Kopplung reizt, heißt »Wahrheit«. Die

wichtigste Münze, die sie im Gegenzug dafür zu erhalten hofft, heißt: »Geld«.

Soweit man aber nicht die Kommunikation, sondern die Routine der Redaktionen vor Augen

hat, kommt natürlich so etwas wie »vermutetes Interesse« ins Spiel, denn man kann ja bei

keinem Verbreitungsversuch vorher sicher wissen, was die Messung später ergeben wird.

Aber wenn dann doch die Fernsehquote täglich kommt, so zeigt sich sehr schnell, dass

Sendungen, denen ein »vermutetes Interesse« unterstellt wurde, rasch wieder abgesetzt

werden müssen, weil die Messung gegen diese Vermutung spricht. Das System hat keine

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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien

epistemologischen Interessen und vertritt daher (wie die Wirtschaft) einen naiven,

abbildtheoretischen Realismus, dem die relativ veralteten, abbildtheoretischen Modelle der

empirischen Forschung, die diese Messungen vornimmt, sehr entgegenkommen: Aus Sicht

des Systems wird daher die Messung die Vermutung objektiv korrigieren (d.h. tatsächliches

Zuschauerverhalten bzw. reale Zuschauerinteressen ermitteln), während man aus Sicht der

Systemtheorie wird sagen müssen, dass die Messung eine Realität erzeugt statt sie zu messen.

Das System der Massenmedien arbeitet also im Trial-and-error-Verfahren: Auf

Produktionsebene beruhen Programmentscheidungen auf (durch Erfahrungen mit

Messergebnissen gestützten) Vermutungen (über den Ausgang von Messungen!) – auf der

Revisionsebene beruhen Programmentscheidungen auf der Bewertung neuer Messdaten (die

das, was sie angeblich nur messen, selbst erzeugen). Und dann beginnt die Schleife von

vorne: Pilot, Messung, Absetzung, neues Konzept, Vermutung, Pilot… Die Sache ändert sich

nicht grundsätzlich, wenn die Vermutungsebene per Marktforschung vorweg unterstützt wird.

Einen Abgleich aber mit »der Realität« kann es hier so wenig wie dort geben, weil die

Realität nicht weniger als Vermutungen und Messungen nun mal eine Konstruktion ist. Und

wenn erstaunlich große Teile der (angewandten) empirischen Sozialforschung noch so etwa

swie der Idee einer unabhängigen Realität nachzuhängen scheinen, so nicht zuletzt deswegen,

weil sich dies als außerordentlich praktisch nicht nur zur Entwicklung neuer Messverfahren

und -methoden, sondern vor allem als Kopplungsinstrument zur Wirtschaft erweist:

demoskopische Daten lassen sich nun mal gut verkaufen. Alternative Messverfahren lassen

sich erst vermarkten, wenn es gelungen ist, den Gebrauchswert eines bestehenden Verfahrens

in Zweifel zu ziehen. Schon das setzt voraus, dass man wenigstens in abgeschwächter Form

einem naiven Realismus anhängt. Ironischer Weise wird diese Form wissenschaftlicher

Naivität gelegentlich sogar als Überlegenheit verbucht: Man arbeite schließlich im direkten

Kontakt mit der Realität, lautet dann das Argument. So kann man das auch sehen.

Mit Blick auf die Massenmedien ist der Erfolg dieses simplifizierenden Realismus'

aufschlussreich. Offensichtlich wirkt er seinerseits als Medium und zwar im Sinne einer

Erhöhung der Wahrscheinlichkeit von Kopplungen: Messungen sind Kopplungsmedien, denn

sie bilden Schnittstellen für Kopplungen gleich in zwei Richtungen: Einerseits koppeln die

Massenmedien über Messungen die Wissenschaft, die sich ja den Messvorgang bezahlen lässt

(kommerzielle Marktforschungsinstitute). Zugleich ermöglichen Messungen die Kopplung in

Richtung Wirtschaft auf eine gänzlich andere Weise, nämlich in Richtung auf Werbung.

Für Fälle dieser Art, bei denen über ein und dasselbe Medium gleich mehrere Kopplungen

geschnitten werden, soll hier als Titel der Begriff »Kreuzkopplung« vorgeschlagen werden.

Im vorliegenden Fall handelt es sich allerdings um eine Kreuzkopplung, die zusätzlich

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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien

verschachtelt wurde. Das Interessante besteht allerdings darin, dass eine direkte Anbindung

von Kopplungsmedium und Systemcode vorliegt: Es ist ja der Systemcode (Masse

ereicht/Masse nicht erreicht) selbst, der sich direkt am Kreuzkopplungsmedium »Messung«

orientiert, wodurch der eindrucksvolle Fall einer Kopplung von zwei »Großsystemen«

(Wirtschaft und Wissenschaft) in unmittelbarer Codenähe gelingt: ein Sonderfall, der nicht

durch Zufall ausgerechnet an den Massenmedien besonders augenfällig wird. Die hier zu

findende Kreuzkopplung wirkt zugleich wechselseitig motivierend (also von System zu

System) und selbstmotivierend (also systemintern): Sie versorgt zugleich die Massenmedien

und die Wissenschaft mit Geld und liefert in eins damit der Werbewirtschaft wie den

Massenmedien handhabbare Entscheidungskriterien. Der Werbende kann festlegen, wen er

erreichen will und kann. Und die Massenmedien erfahren dabei, ob sie (in ihrer Zielgruppe)

angenommen werden. (Zielgruppen sind ja nichts anderes als Untermengen, also

Spezifikationen des Messwertes »Masse«.)

Die Kreuzkopplung ermöglicht also, dass der gemessene Erfolg (»Welche Masse wurde

erreicht?«) zugleich die Grundlage von Werbeschaltungen (Wirtschaft) sowie zur Berechnung

der Preise etwa von Werbeinseln (Massenmedien) bilden kann. Ein in dieser Deutlichkeit

ganz und gar außergewöhnlicher Sachverhalt, an dem man beobachten kann, wie sich

Kopplungen bzw. Kopplungsmedien verschachteln und wie es mit Hilfe ein und desselben

Mediums gelingen kann, mehrere Kopplungen zugleich herbeizuführen und zu stabilisieren.

Und weil es in diesem Fall von Kreuzkopplung kaum zu medialen Verschmierungen kommt,

wird eine detailliertere medientheoretische Analyse nicht mit Forschungserschwernissen zu

rechnen haben.

Den Streit darüber, ob die angewandte Sozialforschung aus wissenschaftlicher Sicht mit

längst veralteten Modellen (vor allem also mit Vorstellungen über privilegierte Beobachter im

Realitätskontakt) operiert oder nicht, überlassen die gekoppelten Systeme Wirtschaft und

Massenmedien mit Nonchalance der Wissenschaft. Und in ihr mögen die Zweige, die noch in

alter, empiristischer Tradition von eigenständigen Realitäten ausgehen, darüber streiten,

welches Messverfahren die Realität besser abzubilden in der Lage ist: Ruft man zur Erhebung

Haushalte an? Oder macht man Hausbesuche? Oder muss man zusätzlich mit dem

Fragebogen auf die Straße? Und was ist »realitätsnäher«: Quote, MA, E.M.A., Auflage,

Unique Visitor, Page Impressions oder Hits?

Vor allem aber um mit einer solchen Diskussion die an akademischen Fragen eher

desinteressierten Massenmedien ausreichend beunruhigen zu können, benötigt man die

Konstruktion(!) einer beobachtungsunabhängigen Realität. Das System der Massenmedien

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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien

wie die (Werbe)Wirtschaft geraten dann unter Druck und bauen über diese Frage dauerhafte

Kopplungen zum System der Wissenschaften auf – dauerhaft im Sinne fest installierter,

periodischer Erhebungen und Plausibilisierungsbeiträge. Über Diskussionen zum Thema

»Realitätsnähe von Messungen« reagieren die Massenmedien also durchaus beunruhigt:

Schließlich zahlt die Werbewirtschaft auf der Grundlage solcher Messergebnisse, und

Politiker und diverse Kommissionen entscheiden auch mit Blick darauf über die Höhe zu

genehmigender Gelder. Und neue Sendewege, wie etwa das Digitalradio (DAB), bekommen

es auf Grund der Annahme, über extrem wenige Hörer zu verfügen, mit massiven

Startproblemen zu tun (im Falle von DAB dauern diese schon mehr als zehn Jahre an), was

dann weitere Folgen nach sich zieht: Die Privatradios senden entweder gar nicht auf diesem

Verbreitungsweg oder sie ziehen sich nach kurzer Zeit wieder daraus zurück (ein Beispiel aus

Deutschland: »Powerradio«). Der Grund: Die Wirtschaft erhält zwar (eher demotivierende)

Schätzwerte, aber keine Messdaten und schaltet entsprechend keine Werbung. Messverfahren

sind ein unverzichtbares Medium der strukturellen Kopplung von Massenmedium und

Wirtschaft, Massenmedium und Politik sowie Massenmedium und Wissenschaft. Jede

Infragestellung ihrer Ergebnisse muss daher vor allem Wirtschaft wie Massenmedien mit

unliebsamen Unsicherheiten überziehen. So kommt es, dass derartige Diskussionen aus Sicht

der Massenmedien wie der Werbewirtschaft riskante Unruhe erzeugen, nicht ohne dass sich

ein Dritter freuen würde: die angewandte Sozialforschung mit den ihnen angeschlossenen

kommerziellen Instituten.

Diese Analyse der Massenmedien hat auch Folgen für eine generelle Medientheorie: So

wurde hier sichtbar, dass Medien entweder (a) Medien koppeln oder (b) Systeme (nicht aber

mediale Elemente, falls sie aus so etwas überhaupt bestehen sollten). Vor allem wurde hierbei

erkennbar, dass Systeme einander nur über Medien koppeln können. Einige Medien dienen

also sozusagen als »Schnittstellen«. Systeme koppeln niemals das andere System direkt,

geschweige als Ganzes. Systeme können im Gegenteil immer nur Kopplungsmedien

(Schnittstellen) koppeln. Eine Verbindung »System-System« ist ausgeschlossen. Diese These

bildet einen Beitrag zur Theorie struktureller Kopplung.

Evident wurde aber auch, dass sich dergleichen nur denken lässt, wenn man sich von der

(Heider)Vorstellung löst, Medien enthielten Substrate bzw. lose gekoppelte Elemente. Der

Substrat-Begriff ist nunmal bedenklich innerhalb einer streng prozesshaft gedachten Theorie

autopoietischer Systeme. Und Elemente können im Grunde schwerlich als etwas anderes

gedacht werden, denn als flüchtige Ereignisse im System, die das System selbst produziert,

indem es sich selbst erzeugt. Luhmanns Heidermedien passen also nur sehr beschränkt in die

»Welt der Autopoiesis«.

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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien

Das Medium als Botschaft

Die Schließung des Systems auf der Grundlage des Codes Masse erreichen/Masse nicht

erreichen lässt sich also leicht anhand der Reflexionswerte des Systems erkennen: das System

reflektiert auf seinen Code eben genau, indem es die Frage stellt, ob Masse erreicht wurde

oder nicht. Nun lässt sich diese Frage des Erfolgs nicht mit einem »Blick in die Welt«

beantworten, sondern nur mit Bezug auf die oben genannten Verfahren. Aber auch Messwerte

liegen nicht irgendwo in bereits greifbarer Form vor. Der Reflexionswert muss vom System

selbst produziert werden. Wie aber kann das so sein, wenn doch bislang betont wurde, dass

die Wissenschaften die entsprechenden Werte zuliefern? Die Antwort lautet, dass »selbst

erzeugt« systemtheoretisch nicht bedeutet, dass die Massenmedien selbst Messungen, selbst

wissenschaftliche Untersuchungen durchführen. »Selbst erzeugen« bedeutet lediglich:

Niemand kann eine Messung ins System »einspeisen« und niemand kann dem System der

Massenmedien vorgeben, ob es sich und wenn ja, an welcher Art von Messung es sich

orientiert bzw. zu orientieren hat. Wenn die Massenmedien ihren Erfolg also heute an von

den Wissenschaften bereitgestellten Verfahren orientieren, so stellt dies eine Entscheidung

der Massenmedien dar, die ihnen kein anderes System abnehmen kann. Indem die

Massenmedien selbst festlegen, woran sie sich orientieren (und woran nicht), was sie als

Rezipienten zulassen wollen (und was nicht), was für sie relevant wird (oder eben nicht),

erzeugen sie (in eben diesem Sinn) ihre Maßstäbe und Orientierungspunkte selbst. Die

Massenmedien beschreiben sich dabei freilich so, als würden sie ihren Erfolg direkt an der

Realität ablesen. Für sie hat es den Anschein, reale Menschen erzeugten durch ihr Verhalten

Quoten, Quotenmessungen seien also direktes Resultat einer von der Messung unabhängigen

Realität.

Mit dieser naiven Realitätsverhaftung kann sich das System aber nicht nur stabilisieren,

sondern zugleich auch destabilisieren. Die epistemologische Naivität des Standpunktes

verschafft »Bodenhaftung« dank maximale Reduktion von Komplexität. Die davon

ausgehende Kommunikation wird dadurch stark vereinfacht und beschleunigt und vor

operativen Hemmungsmomenten geschützt (Stabilisierung). Aber gerade dieser Realismus

ermöglicht es zugleich der Wirtschaft wie der Forschung, Zweifel an der Zuverlässigkeit der

Messverfahren mit der Chance auf eine Beunruhigung der Massenmedien zu kommunizieren

(Destabilisierung). Denn wenn ein System nun Mal bestrebt ist, sich an einer von ihm

unabhängigen Realität zu orientieren, dann hört es gewiss nicht gerne, diese sei falsch oder

nicht zureichend genau gemessen worden. Diesen Störfaktor weiß die Medienforschung für

sich auszunutzen, wenn konkurrierende Verfahren (bspw. MA/E.M.A) gegeneinander

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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien

antreten (gut »gepolstert« über ihre Kreuzkopplung mit wirtschaftlichen Interessen). Aber es

bleibt dabei: Jede relevante Messung kann letztlich nur von den Massenmedien selbst

provoziert, akzeptiert und auch bewertet werden − und in diesem Sinn wird sie von ihnen

selbst produziert. Und natürlich entscheiden die Massenmedien selbst, was auf Grund guter

oder schlechter Messergebnisse an Maßnahmen getroffen werden muss und was nicht.

Dieser Ansatz passt gut zu unserer an McLuhan orientierten Darstellung der

Verbreitungsmedien. Verbreitungsmedien geben in der Tat keine sinnhaften Inhalte vor – das

hatte auch McLuhan mit seinem berühmt gewordenen Ausspruch niemals behauptet. Aber sie

verschachteln sich auf eine Weise ineinander, die das Aufkommen von »Formaten«

provoziert. Eines der aufschlussreichsten Beispiele dürfte McLuhans Analyse der

Verschachtelung der Medien »Rotationspresse und Telegraph« sein: Die Verschachtelung

dieser beiden Medien rief neue Medien auf den Plan: Die Schlagzeile, die klare

Unterscheidung von Kommentar und Bericht, das (mosaikförmige) Layout der Zeitungen etc.

Journalistische Formen werden hier zu Medien, weil sie auf Formate rekurrieren. Mit

Formaten verbunden sind aber stets (Re)Formatierungen an anderen Stellen, etwa im Bereich

der Wahrnehmung, was schon W. Benjamin in seiner zukunftsweisenden Analyse der

medialen Reproduzierbarkeit betont hatte. Kolportage, Trivialitäten, Sensationslust etc.

werden durch die Verbreitungsmedien Print, Fernsehen und die bekannten

Oralisierungstendenzen des Radios auf je unterschiedliche Weise unterstützt. Und das ist der

Punkt, auf den es ankommt: Dies geschieht gerade nicht, wie es auf den ersten Blick

erscheinen mag, ausgehend von den dargebotenen sinnhaften Inhalten; es geschieht ausgelöst

über das jeweilige Format des Mediums, also durch das, was McLuhan metaphorisch die

Botschaft des Mediums genannt hatte. Verbreitungsmedium können nicht auf »Masse« zielen,

denn sie sind nun mal keine Systeme (obwohl umgekehrt jedes System immer zugleich als

Medium betrachtet werden kann), und sie kennen somit auch keine Orientierungs- bzw.

Reflexionswerte, wie etwa die, Masse zu erreichen. Aber dennoch »rufen« die Massenmedien

danach, per Radio, Fernseher, Zeitung, Internet bzw. per UKW, VHF, dvb, TCP/IP etc.

verbreitet zu werden, um mit ihrer Hilfe, Masse zu erreichen. Medien motivieren durch ihr

bloßes Vorhandensein die entsprechenden Systeme, Kopplungen vorzunehmen, und sie

ermöglichen im Fall der Massenmedien auf diese Weise eine Realisierung des Codes Masse

erreichen/Masse nicht erreichen. Systeme können geeigneten Medien sozusagen »nicht

widerstehen«. Wenn der Fernsehen als neuer Kommunikationsweg möglich ist, wird der

Fernsehen auch kommen – allen vorausgehenden und begleitenden Protesten und Warnungen

zum Trotz. (»Wenn alle einen Fernseher haben, wer soll denn dann noch lesen?«) Schon die

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Harald Wasser: Die Systemtheorie der Massenmedien

bloße Möglichkeit eines Mediums erhöht die Wahrscheinlichkeit einer Realisierung – ein

»Selbstverwirklichungsaspekt«, der einer Theorie autopoietischer Systeme gut anstehen

sollte. Verbreitungsmedien lassen sich entsprechend als diejenigen Medien charakterisieren,

die die Kommunikation förmlich dazu zwingen, ein System der Massenmedien

auszudifferenzieren. Auch das ist eine Sinnvariante des gezielt mehrdeutig angelegten

McLuhan-Wahlspruchs »the medium is the message«.

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