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Helmut J. Psotta - Unruhe stiften - über Pablo Neruda - Leseprobe

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116 Seiten 12,80 € ISBN 978-3-87956-376-0 Karin Kramer Verlag Berlin September 2013

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ARNDT BECK (HG.)HELMUT J. PSOTTAUNЯUHE STIFTEN

ÜBERPABLO NERUDA

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek.Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografi-sche Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Weitere Informationen: www.hjpsotta.de

Layout/Gestaltung: Arndt BeckTitelbild: Pablo Neruda, 1971ddp images/CAMERA PRESS/RIA NOVOSTIFoto: Jurij AbramotschkinRückseite: Helmut J. Psotta, ca. 1980Foto: Achilles Rösner

© 2013 by Karin Kramer Verlag BerlinPostfach 440 417 – 12004 BerlinTelefon: 030 684 50 55Email: [email protected] AuflageGesamtherstellung: Digitaldruck leibi.de 89233 Neu-Ulm/SteinheimISBN 978-3-87956-376-0

Arndt Beck (Hg.)

Helmut J. Psotta

Unяuhe stiften

über Pablo Neruda

Karin Kramer Verlag Berlin

In memoriam Frans Krijger (1946-2013)

INHALTSVERZEICHNIS

I. Prolog 9II. Einleitung 13III. Zwanzig Liebesgedichte 27IV. Aufenthalt auf Erden 45V. Spanien im Herzen 55VI. Die Höhen von Macchu Picchu 61VII. Großer Gesang 83VIII. Späte Gedichte 91IX. Epilog 105X. Nachwort 107Literaturverzeichnis 114

[Editorische Notiz: Die Schreibweise folgt weitestgehend dem Manuskript von H.J. Psotta. Die Nachweise der Neruda-Gedichte (und aller anderen Publikationen) erfolgen – soweit möglich – nach den Ausgaben, die H.J.Psotta vorlagen. Neuere Übersetzun-gen wurden nicht berücksichtigt.]

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II. EINLEITUNG

Der bedeutende Dichter und Romancier aus Guatemala, Mi-guel Angel Asturias, Nachfahre der Maya-Indios und Nobel-

preisträger, hat einmal in höchster Empörung ausgerufen:»Unsere Vorfahren waren keine Wilden, denn sie hatten eine

der höchsten Kulturstufen der Menschheit erklommen. Sie wa-ren weder speziell gut noch böse, denn sie waren Menschen, und das schließt immer und überall beide Möglichkeiten ein«1.

Das preziöse Schlagwort vom ›guten Wilden‹ Amerikas ist ursächlich die Erfindung einiger sich nach körperlicher Unver-sehrtheit und seelischer Unschuld zurücksehnender deutscher Romantiker, die von Humboldts paradiesisch anmutenden Rei-seschilderungen aus der Neuen Welt, einer sehr diffusen, vage formulierten Naturschwärmerei und befangenem psychischen Subjektivismus als phantasieanregend begünstigt werden mußte. Selbst die ›gebildeten‹ Angehörigen der feudalen Ober-schicht, welche die ökonomischen Bedingungen – und damit die politische Stabilität des Subkontinents bestimmte und zu verantworten hatte und hat, wären kaum in der Lage gewesen, für die einfache Option Asturias´ ein rein äußeres Begriffsver-mögen aufzubringen, geschweige denn sich inneres Verstehen zu erarbeiten, anzueignen, weil ihnen das elementare Un-Wissen

1 Miguel Angel Asturias nach Günter W. Lorenz; in: derselbe, Die zeitgenössi-sche Literatur in Lateinamerika, Tübingen und Basel 1971, S. 96 (Hervorhebung Helmut J. Psotta)

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(oder perfekt verdrängte Wissen) um ihre eigene national-hi-storische, ja personelle Wirklichkeit nicht erlaubte, Kritik – von welcher Seite auch immer – an ihrem vitalen Defizit ernsthaft wahrzunehmen bzw. zu akzeptieren, sich somit bewußt (da zur Selbst-Kritik fähig) in ›die Lage‹ der echten Verhältnisse verset-zen zu können, – ihrer Verhältnisse natürlich. Darin gleichen sie dem Neurotiker, der seinen pathologischen und somatisierten Seelenzustand nicht als solchen erkennen kann, folglich ge-zwungen ist, ihn für ›normal‹ zu halten und für andere zu de-klarieren, nach diesen krankhaften Normen den Mitmenschen zu be- oder verurteilen, dessen und seine eigenen Kinder in der Gesundheit der Kranken zu erziehen, zuletzt auf den Klippen seines Irrtums zu stranden. Sein Weltbild liegt inkongruent zur Wirklichkeit. Wie denn auch sollte man sein Gesicht von einem Spiegel reflektiert objektiv wiedererkennen, wenn die materielle Existenz eben dieses Spiegels wohl vorhanden, aber nicht erfaßt, begriffen werden kann, – im Dunkeln liegt? Die Voraussetzung zur Erkenntnis fehlt? Demzufolge blieb ihnen gleichzeitig die soziologische – wenn man so will: psychologische Realität ih-rer originalen literarischen Leistungen verschlossen, als nur ein Aspekt ihres geschichtsentfremdeten Daseins (denn auch die geistigen Produkte der abhängigen ›Untertanen‹ betrachten sie ja als ihren persönlichen Besitz, da sie allen Ernstes glauben, die Nation an sich zu repräsentieren).

Und nur so, als Synonym für zwei gleichnishaft aneinan-dergekoppelte physikalische und philosophische Erfahrens- tatsachen kann ich den repräsentativen Begriff ›Reflexion‹ über-haupt verstehen und anwenden: Ein in der reflektierenden Wirk-lichkeit (dem spiegelnden Objekt) von mir selbst abstrahiertes und auf mich selbst zurückgeworfenes virtuelles Ab-Bild (Zei-chen/Symbol) jener Wirklichkeit, die spiegelbildlich reflektiert wird und dadurch als dargestellte Gestalt konkret erfahrbar ist; das sich betrachtende, wahrnehmende Ur-Bild ist zugleich Ur-

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Sache (die ›causa‹) seiner eigenen Existenz, einer Seins-Weise, die im Geschehnis der Reflexion die Erkenntnis des realen Selbst, die bewußte Wahrnehmung meiner reellen Wirklichkeit, erst möglich und beurteilbar macht, ›in effigie‹. Ur-Bild und Ab-Bild, Objekt und Subjekt, fließen in solcher Parabel zu einem Phäno-men der Wahrheit zusammen: Reflexion erst macht urteilsfähig. ›Reflexion‹ ohne realen Spiegel muß daher ein rudimentär-nar-zistischer Akt der Selbst-Täuschung bleiben – verwässert. Er-kenntnis ist nur möglich in der Widerspiegelung über den vor-handenen Nächsten, d.h. die anwesende Gesellschaft (ich bilde mir doch nicht ein, voraussetzungslos ›über‹ mich selbst oder anderes ›reflektieren‹ zu können).

Mit dieser Auffassung kommen wir der christlichen Idee von ›Meditation‹ und ›Offenbarung‹, wie sie sich im Gefühlserlebnis der Mystik ausdrückt, – oder jeder anderen religiösen, vor al-lem östlichen Erleuchtungs-Theorie – sehr nahe, da sie ja von der Überzeugung ausgeht, daß erst die analoge Methode des akausalen Denkens (oder die Selbst-Erfahrung in der Tiefendi-mension der Wirklichkeit) im Gegensatz zum linearen, kausalen Erkennen die sinnvermittelnde und sinngebende Einsehbarkeit (Anschauung) der Dinge – oder sozialen Umstände – in der un-verkürzten Konkretheit ihrer Erscheinung erlaubt, – damit die ganze Realität zugänglich macht. Mit beiden Augen sehen läßt.

Demzufolge müßte der Weg des nur wissenschaftlich moti-vierten Denkers immer in einer Sackgasse enden, weil der Sinn seiner Bemühungen nicht einsehbar wird; so bleibt ihm auch das Wesen seines Problems verschlossen. Die Konsequenz von Refle-xion sollte aber stets sein, – um sie nicht ad absurdum zu führen: aktive Bewegung, Tat, Veränderungswille, Handlungsfähigkeit. Der Handlungsspielraum der meditativen Möglichkeit läuft da-gegen Gefahr, sich in aktiv-passivem Versenken, enthaltsamer Kontemplation selbstgenügsam einzugrenzen oder abzukapseln, sich selbst zu verlieren. »Jetzt sehen wir in einem Spiegel wie

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in einem dunklen Wort«, kann deshalb logisch nur bezogen sein auf die folgende (höhere) Analogie: »dann aber von Angesicht zu Angesicht«2, – als Richtlinie des rechten Verhaltens, wissen-de Verheißung eines zukünftigen, existentiell-wichtigeren, d.h. ›besseren‹, jedenfalls entmaterialisierten geistigen Zustands in einer fiktiven, weil nur versprochenen, undenkbar-erdachten ›Neuen Endstation Utopie‹, dem sogenannten ›glaubbar‹ gemach- ten versicherten Jenseits. Und eben an dieser Stelle sollte inner-halb der vorgegebenen Problematik meine Kritik an der Brauch-barkeit einer so paradoxen Logik (oder vorrangig metaphysi-schen Methode der Reflexion) beginnen können, die Freud zur psychoanalytischen Therapie, d.h. dem Prozeß des sich ständig weiter vertiefenden Erlebens des individuellen Selbst führte, zur seelisch-körperlichen Heilung durch private Selbst-Erkenntnis.

Die unsicheren physischen Verhältnisse im Jammertal ›Dies- seits‹ können dank dieses tradierten ideologischen Unterbaus also bleiben, wie sie immer schon waren (selbst, wenn sie nicht so sind), die Geschichte des Menschen ist ja nicht die eines pro-pagierten ewigen Ratschlusses, der seinen eigenen unerforschli-chen Gesetzen des absoluten Perfektionismus nach persönlichem (oder personalem) Ermessen folgen kann oder nicht: dem- entsprechend wird es für die elementarsten sozialen Probleme und handfesten politischen Fragen wegen ihrer ›spirituellen‹ Bedeutungslosigkeit in absehbarer Zeit keine zwingenden rea-listischen Lösungen geben können, z.B. in der ›Dritten‹ Welt, vor allem dort nicht, wo für die Propaganda und Betreibung der An-ti-Reflexion genügend Institution garantiert wird. Spiegellosig-keit oder ›dunkles Wort‹ sind demnach Synonyme für verwaltete Ignoranz, Dummheit, sprich: festgeschriebenes menschliches psychisches und körperliches Elend, das sich auf Schritt und Tritt selber zu begegnen beginnt, – und nur dieser Zustand wird

2 1. Korinther 13, 12

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›letzten Endes‹ glaubwürdig sein können, vielleicht rhetorisch nicht mehr zu beschreiben. James Baldwin sagt das einfach so: »Was du dem geringsten meiner Brüder angetan hast, das hast du mir angetan.«3 Pablo Neruda schrieb in Aufenthalt auf Erden:

»es gibt Spiegel, die hätten weinen müssen vor Scham und Entsetzen«4.

Und viel später in Memorial von Isla Negra:

»und plötzlich tauchte in meinem Gesicht das eines Fremden auf und es war gleichfalls ich selber:war ich, der da wuchs,warst du, der da wuchs,war alles,und wir verwandelten uns und nie mehr wußten wir, wer wir waren, und manchmal erinnern wir uns an den, der in uns lebte,und wir erbitten von ihm etwas, vielleicht, daß er unsrer sich erinnert, daß er zumindest weiß, daß wir es waren, daß wir mit seiner Zunge sprechen, doch seit den aufgebrauchten Stunden blickt uns jener an und erkennt uns nicht.«5

3 Matthäus 25, 45 (Herv. H.J.P.)4 Pablo Neruda, Walking around (in: Aufenthalt auf Erden II), nach: Erich Arendt (Hg.), Pablo Neruda – Dichtungen 1919-1965, Darmstadt und Neuwied, 1977 (1967), S. 975 P. Neruda, Das verlorene Kind (in: Memorial von Isla Negra I); nach: ebenda, S. 779 (Herv. H.J.P.)

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Der moralisierende Teil meines Gedankens, die Formulierbarkeit des Faktes ›Schuld‹, ist – wie wir wissen – lange keine philoso-phische Unmöglichkeit mehr. Aber ist das Philosophieren nicht eine traditionsgemäß ›enthaltsame‹ Wissenschaft? Wenigstens in unseren westlichen Klima-Zonen? Sicher ist: das westliche Denken produzierte Wissenschaft, Dogma, Intoleranz und ein ungeheuerliches nukleares Vernichtungsmaterial. Nach Marx haben die Philosophen die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu ändern.6

Ohne parallele politische Dynamik (das ist: Handlung und nicht pragmatisches, kalkuliertes ›Machen‹), deren Wirkung die tönerne Festigkeit des Riesen anzugreifen und mit Erfolg zu erschüttern imstande wäre, konnte (und könnte) diese Realität dem besitzenden Bürgertum und marktabhängigen Mittelstand in Lateinamerika niemals ›erhellt‹ vor Augen geführt, die Fra-ge nach dem eigenen Standpunkt darum nicht gestellt, ›proble-matisiert‹ werden, – ein gehöriges Maß intelligenter und ethi-scher Disposition natürlich vorausgesetzt, das ist: Sehfähigkeit; nicht umsonst ist man mit Blindheit ›geschlagen‹, bestraft, und Mensch-Werdung ist eine so einfache Sache nicht.

Auf ähnlich mystifiziertem oder ignorantem, blinden Niveau befand sich das Vorstellungsvermögen, die ›gesunde Phantasie‹ (Synonym zum ›gesunden Volksempfinden‹), und der sachliche Informationsstand bürgerlich-intellektueller Gruppierungen in der Alten Welt. Konsequenterweise fühlten sich viele lateiname-rikanische Dichter unter den tatsächlichen irrationalen Verhält-nissen gedrängt (die statistische Analyse allein konnte in der aus-wuchernden Verelendung der Massen deutlich ›mit den Sinnen‹ erfaßt werden), aus einem sittlichen Selbst-Verständnis heraus, protestierend gegen die politische Unterdrückung wesentlicher

6 Nach: Karl Marx, Thesen über Feuerbach (1845); hier nach: Siegfried Lands-hut (Hg.), Karl Marx – Die Frühschriften, Stuttgart 2004, S. 404

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Teile der Bevölkerung, die Rolle des ›Rufers in der Wüste‹ anzu-nehmen, – des agent provocateur, sich den Opfern kolonialer Ar-roganz und Habgier zuzuwenden, nicht etwa um irgendwo ›ein gutes Wort für sie einzulegen‹, sondern mit der Waffe des Wortes

– und das wiederum wörtlich – buchstäblich um sie zu kämpfen, das ist: Rebellion gegen das Establishment auszurufen. Die Ka-tegorien einer Revolutions-Ästhetik oder ästhetischen Anar-chie bildeten sich innerhalb dieses zutiefst humanen Prozesses wie ein Gefäß aus, welches als das Resultat von Inhalts-Arbeit entstanden ist (also von innen nach außen geformt und nicht umgekehrt); die weniger nach Synthese strebende Ambition des abendländischen Intellektuellen, ästhetische Kriterien der Form zu suchen und Maßstäbe für ihre Bewertung zu finden, ist hier zunächst grundlos und führt zu keinem substantiellen Verständ-nis. Die Intensität der Zuwendung wächst außerdem in dem Maße, wie sich der individuelle Autor selber als Nachkomme der indianischen Ureinwohner seines Landes empfindet, mit ihnen identisch wird, – und wir müssen uns sehr davor hüten, pole-mischer Argumentation auf den Leim zu gehen und ihm allein aus dieser Tatsache eilfertig den Vorwurf des Rassenfanatismus nach dem bekannten Blut-und-Boden-Muster zu konstruieren.

So entstand also eine emotional-revolutionäre Literaturbe-wegung, die man in den Kreisen der geistigen ›Elite‹, d.h. richti-ger: auf die Macht Einflußreichen (die einzelnen Instanzen sind bekannt), verschämt-philanthropisch mit der kultur-histori-schen Formel ›Indianismus‹ oder schöner noch ›Indígenismus‹ (Euphemismus für dekadent-krankhaft) ausstattete, – verquält gewundene Umschreibung einer oppositionellen Ausdruckswei-se gegen den zivilisierten ›Europäismus‹ und – da wird es ganz abenteuerlich – ›Criollismus‹ (von Criollo = Kreole, der in Ame-

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rika geborene Weiße europäischer – meist spanischer – Herkunft und Erziehung).7

Bis zur Grenze der Schamlosigkeit war man bereit, entspre-chende Konzessionen zu machen (wie in anderen lebenswich-tigen Bereichen auch) oder Kompromisse unter ›kultivierten‹, akademischen Menschen zu schließen, – immer schon ein poli-tisch suspektes Unternehmen des ›sowohl-als-auch‹ –, aber doch wohl nur, um sein eigenes Gesicht etwas länger wahren zu kön-nen. Jedoch: welches Gesicht? Der objektivierende, entzerrende Spiegel blieb ja nicht begriffen, – Seh-Tauglichkeit immer noch vorausgesetzt – die Maske konnte (und kann) weiter als kranker Ersatz für eine gesunde, aber unbekannte Wirklichkeit getragen werden.

Diese Wiedergeburt der ›Indígenas‹, authentischer Eigen-tümer der Produktionsmittel und konvertierten privatisierten Kulturgüter (um nicht ›gestohlen‹ sagen zu müssen – der Begriff ›privat‹ ist ja vom lateinischen ›privare‹ = berauben abgeleitet), ethnisch überlegene Gruppe (sowieso!), vergegenwärtigt eine neue, ausgeformte Strömung in der lateinamerikanischen Dich-tung, die nicht zuletzt wegen ihrer informativen, ›aufkläreri-schen‹ Funktion auch bei konservativen Lesern im europäischen kapitalistischen Westen wachsendes Interesse freilegte, sogar auf eminent grausame, brutale Weise unterhalten konnte. Die Stilelemente dieser Literatur und Gegenstände ihrer Beschrei-bung – Darstellung von Gewalt, Verzweiflung, Elend, Verzicht auf laszive ›Liebesromanzen‹ – sind als teilhabende Momente

7 Der farbige Indio Südamerikas spielte im Drama des weißen Imperialismus rassenideologisch die gleiche Rolle wie der Schwarze in Nordamerika und der europäische Jude, der doch ›nichts anderes‹ ist als ein Farbiger mit weißer Haut; zwischen der spanischen Inquisition und dem Franco-Regime besteht eine eben-so eindeutige Verbindung wie zwischen der Geschichte der katholischen Kirche und der Geschichte Europas (damit: dem jüdischen Schicksal). Die Entdeckung Amerikas, die Inquisition fiel zeitlich zusammen mit der Vertreibung der Juden aus Spanien. (Anm. H.J.P.)

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der fremden Wirklichkeit für den europäischen Durchschnitts-anspruch und -geschmack eher ungewöhnlich (nicht, weil un-gewohnt!) und sensationell, vielleicht aufregend esoterisch – exotisch, – gerade der richtige Lückenfüller im Bücherbord des snobistischen Allerlei-Fetischisten (wobei ich ›snobistisch‹ breit horizontal angelegt wissen möchte).

Glücklicherweise ist dem Zerrbild vom ›guten Wilden‹ und seinem Land, diesem durch und durch romantisierten Sehn-suchtsideal einer angekränkelten Imagination vom ›Orplid, das ferne leuchtet‹, der Traum-Kolonie zivilisationsmüder Amateur-Archäologen (auch diese dekadente leere Utopie ist inzwischen zur verkommenen Zigarettenwerbung abgesunken), die ibero-amerikanische Antwort und Desillusion (meinetwegen ›reaktio-när‹) auf dem Fuß gefolgt: In den vergangenen Jahrzehnten (die Idee der Demokratie – und das wollen wir nicht vergessen – wur-de in allen Varianten und Ausdeutungen zu leben und zu töten versucht, wie ein programmiertes Stierkampf-Ritual) entstand eine Lyrik und Romankunst, in der sich die Indios (und auch ne-gride Rassen) als vom europäischen Feudalismus deklassierte asoziale Minderheiten in einem ungeahnten Patriotismus stolz zu erkennen geben; – als die, die sie sind, als das, was sie sind: selbstbewußte Proletarier bester Qualität.

Auch ging dort die gewiß anschaulichere Metapher vom ›Im-perialismus‹ mittlerweile in die gewöhnliche Sprachregelung ein. Schon 1900 veröffentlichte der Soziologe José Enrique Rodó aus Uruguay einen Essay über ›Die Realität des Geistes‹, der sich mit der thematisch-inhaltlichen Konzeption der lateinamerikani-schen Literatur und ihren Thesen, dem ästhetischen Programm des ›Amerikanismus‹ auseinandersetzt. Er behauptet darin – und dieses Postulat steht sicher stellvertretend für die beson-dere moralische Motivation der jüngeren Dichtergeneration:

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»So ist die Literatur dieser unserer Welt kämpferisch; will sie der Wirklichkeit verbunden bleiben, muß der Kampf ihre Aufgabe sein, weil doch unsere Wirklichkeit so ist, daß sie stets nur den Kampf herausfordert.«8

In diesem äußerst realistischen, rebellischen Sinn, der keine relativierenden Positionen mehr zuläßt, ist die Literatur Latein-amerikas über vierhundert Jahre immer ›engagierte‹ Literatur gewesen (um einen geläufigen terminus technicus zu verwen-den), lange also, bevor Sartre diesen Begriff auf unsere Verhält-nisse bezogen wissen wollte.

›Das Wort als Waffe‹, – diese Formulierung Sarmientos9 galt bereits, als die Schriftsteller sich vor zwei Jahrhunderten zu Ver-fechtern der amerikanischen Rechte gegenüber den Kolonial-herren in Madrid und Lissabon machten. Sie galt, als die Litera-tur zur Wegbereiterin der Unabhängigkeit wurde, – der ›Befreier‹ Simón Bolívar führte gleichzeitig das Schwert und die Feder. Das Ziel der Gegenwartsautoren ist nun nicht mehr, wie im roman-tischen Zeitalter, der gefühlsmäßige Protest, sondern das Bemü-hen, die sozialen, oft rassisch bedingten Probleme aufzuzeigen und zu analysieren, die aus dem Zusammenprall des lateiname-rikanischen Charakters mit einer neuen Welt resultieren, die den Menschen als Bestandteil einer politisch-ökonomischen Struktur absorbiert und ohne Rücksicht auf seinen sozialen Sta-tus ›organisieren‹ möchte.10 Damit ist auch gesagt, daß sich der lateinamerikanische Dichter primär nicht als Ästhet oder Philo-soph fühlen kann: er ist politischer Mensch, Politiker durch und durch.

8 José Enrique Rodó (1871-1917), urugayischer Soziologe und Essayist [genaue Quelle nicht bekannt]. (Herv. H.J.P.) (Anm. A.B.)9 Domingo Faustino Sarmiento (1811-1888), argentinischer Politiker und Schriftsteller. H.J. Psotta nennt als Urheber Albert Theile, der sie aber wohl von Sarmiento aufgegriffen hat. (Anm. A.B.)10 Zum Teil wortwörtlich nach: Lorenz, Zeitgenössische Literatur, S.74f.

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Miguel Angel Asturias: Credo

»Ich glaube an die Freiheit, Mutter Amerikas, Schöpferin der linden Meere auf Erden, und an Bolívar, ihren Sohn, unseren Herrn, welcher geboren in Venezuela, geschlagen wurde, litt unterm spanischen Joch. Er ging zu sterben auf dem Chimborasso, fuhr nieder mit dem Regenbogen zur Hölle, auferstand bei der Stimme Kolumbiens, faßte die Ewigkeit mit seinen Händen und sitzet zur Rechten Gottes.

Richte uns nicht, Bolívar, ehe der Jüngste Tag kommt, denn wir glauben an die Gemeinschaft der Menschen, die mit dem Volke teilen Wein und Brot

– allein das Volk macht frei die Menschen –, schwören Krieg auf Leben und Tod und gnadenlos den Tyrannen, glauben an die Auferstehung der Helden und an das ewige Leben derer, die gleich dir, Befreier, nicht sterben, wach, mit geschlossenen Augen.«11

Auch ohne spezielle gesellschaftspolitische Kenntnisse kann jeder, der Ohren hat, zu hören, sich leicht vorstellen, daß die ›engagierten‹ Dichter dieser sozialkritischen Bewegung als un-gebetene Künder und Interpreten einer total zu verändernden Klassenstrukturierung, flugs inkriminierbar durch die Illegali-tät ihrer anarchistischen Beschäftigung, für den erfolgreichen Kampf jedes persönliche Risiko einzugehen bereit waren, – ent-

11 M.A. Asturias, Credo; nach: Günter W. Lorenz (Hg.), Miguel Angel Asturias, Berlin und Neuwied 1968, S. 277ff. (Übersetzung: Wolfgang Promies)

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weder in der Emigration, als Rechtlose aus ihrem Vaterland ver-trieben, oder in Gefängnissen weiterzuleben – einer von staatli-chen Sicherheitsbehörden kontrollierten Anpassung, bestenfalls erzwungenen Verstummung, inneres Exil – den Vorzug gaben. Diese an sich schon schwierigen Lebens- und Arbeitsumstände werden immer dann noch besonders gefährlich, wenn die Arbei-ten eines Autors weit über die Landesgrenzen hinaus Verbrei-tung fanden und etwa internationales Aufsehen erregten, wo-möglich aktive Zustimmung erreichten und – gravierendstes Delikt – politisches Handeln über Solidaritätskundgebungen von außen möglich machten, das Anti-Propaganda und eventuellen wirtschaftlichen Boykott zur Folge hatte: Reflexion erlaubten und erfahren ließen.

Die Beispiele von Diskriminierung und erbarmungsloser Ver-folgung sind zahllos: Asturias mußte vor dem faschistischen Re-gime in Guatemala nach Italien fliehen, Pablo Neruda – Chilene

– verbrachte viele Jahre als Flüchtling in europäischen Gastlän-dern, der Peruaner César Vallejo verhungerte im Pariser Exil, sein Landsmann Ciro Alegría wurde eingekerkert, Mario Vargas Llosa sah durch das Zuchthausfenster in Lima mit an, wie seine Bücher verbrannt wurden.

Man könnte eine solche Namensreihe lange fortsetzen; al-lein durch die eifrige Quantifizierung der Fakten würde die Tat-sache gewiß nicht schwerwiegender, unter welchen skandalösen Bedingungen, selbst um den Preis des eigenen Lebens, in Latein-amerika ›engagierte‹ Literatur entstehen konnte und entsteht, – mit wenigen Ausnahmen und auch die sind lediglich eine Art Kaminfeuer-Toleranz, welche in den spiegellosen Kontext des verdunkelten Bewußtseins, der leeren Historizität hineipaßt. Und die im Dunkeln sieht man nicht.

In einem Gespräch, das Miguel Angel Asturias 1967 mit seinem Biografen Günter W. Lorenz führte, bemühte sich der Dichter, diese für einen mit der konkreten Problema-

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tik des Lebens an ›Ort und Stelle‹ relativ unvertrauten Euro- päer beinahe aussichtslos scheinende Situation folgenderma-ßen zu definieren:

»Da tut sich natürlich ein Abgrund auf zwischen dieser Lite-ratur der Enthaltsamkeit und unserer Literatur, die ich nicht so sehr als ›engagierte Literatur‹ bezeichnen möchte – mit diesem Begriff wird zuviel Unfug getrieben –, sondern als ›verpflichtete Literatur‹, als eine Literatur [...], deren Autoren sich verantwort-lich fühlen für ihre Welt. [...] Ich glaube nicht, daß einer, der es ehrlich meint, mit dem Schreiben beginnen kann, wenn er sich in sein Zimmer einsperrt und nicht mehr das Dröhnen des Orinoco, des Rio Paraná oder der anderen gewaltigen Ströme Amerikas hört, ich glaube nicht, daß der Schriftsteller sich einschließen und den Gebrauch des Wortes, der Majuskeln und Minuskeln, der schönen, kultivierten Formeln des neunzehnten Jahrhunderts üben kann. Das alles muß er, wenn er ein guter Schriftsteller ist, ohnedies als sein Handwerkszeug beherrschen […].

Der ›verpflichtete‹ Autor ist auch dazu verpflichtet, noch grö-ßere Meisterschaft, noch mehr künstlerisches Vermögen zu be-weisen. […] Ohne den Schrei, [...] ohne die Stimme unserer Men-schen auf dem Lande zu hören, ohne den klagenden Mestizen zu hören, ohne den Weißen zu hören, der zu uns kam und sich etwas ganz anderes erhofft hatte, ohne diese ganze bebende, lei-dende und kämpfende Welt wahrzunehmen, ohne all das kann man bei uns keine Literatur schreiben. [...] Unsere Literatur ist logisch, und sie wird sich in Zukunft weiterentwickeln. [...] In der Gegenwart aber besteht unsere einzige Aufgabe darin, Zeugen zu sein, Zeugen, Ankläger und Protestanten zugleich. In unseren Werken müssen wir jene inhumane Situation bezeugen, die un-sere Gesellschaft beherrscht.«12

12 M.A. Asturias im Interview mit G.W. Lorenz; in: derselbe, Dialog mit Latein-amerika, Tübingen und Basel 1970, S. 375-378 (Herv. H.J.P.)

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LITERATURVERZEICHNIS

Beda ALLEMANN, Zeit und Figur beim späten Rilke, Pfullin-gen 1961Erich ARENDT (Hg.), Pablo Neruda – Dichtungen 1919-1965, Darmstadt und Neuwied, 1977 (1967)James BALDWIN, Eine Straße und kein Name, Reinbek bei Hamburg 1973Arndt BECK (Hg.), Helmut J. Psotta – Radikale Poesie, Berlin 2013Künstlerhaus BETHANIEN (Hg.), Grupo Chaclacayo – Todes-bilder – Peru oder Das Ende des europäischen Traums, Berlin 1989Bertolt BRECHT, Kalendergeschichten, Hamburg 1990 (1953)Karlheinz DESCHNER, Abermals krähte der Hahn, Reinbek bei Hamburg 1972 (1962)Dorothea FORSTNER, Die Welt der Symbole, Innsbruck, Wien und München 1961Sigmund FREUD, Schriften zur Krankheitslehre der Psycho-analyse, Frankfurt am Main 1991Erich FRIED, 100 Gedichte ohne Vaterland, Berlin 1978Erich FROMM, Haben oder Sein, Stuttgart 1979 (1976)Erich FROMM, Die Kunst des Liebens, Frankfurt am Main, Berlin und Wien 1980 (1956)Werner FUCHS, Todesbilder in der modernen Gesellschaft, Frankfurt am Main 1969Manfred HETTLING, Jörg Echternkamp (Hg.), Gefallenenge-

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denken im globalen Vergleich, München 2013Siegfried LANDSHUT (Hg.), Karl Marx – Die Frühschriften, Stuttgart 2004Sergio Fernández LARRAÍN (Hg.), Pablo Neruda – Liebesbrie-fe an Albertina Rosa, Frankfurt am Main 1975Gotthold Ephraim LESSING, Wie die Alten den Tod gebildet, Paderborn 1909Günter W. LORENZ (Hg.), Miguel Angel Asturias, Berlin und Neuwied 1968Günter W. LORENZ, Dialog mit Lateinamerika, Tübingen und Basel 1970Günter W. LORENZ, Die zeitgenössische Literatur in Latein-amerika, Tübingen und Basel 1971Städtisches MUSEUM WESEL, Galerie im Centrum (Hg.), Rote und schwarze Erde – Araukanische Keramik aus Chile mit Fotografien von Achilles Rösner, Wesel 1980Pablo NERUDA, Der Große Gesang, Berlin (DDR) 1953Pablo NERUDA, Gedichte, Frankfurt am Main 1963Pablo NERUDA, Ich bekenne ich habe gelebt, Darmstadt und Neuwied 1974Pablo NERUDA, Letzte Gedichte, Darmstadt und Neuwied 1975Pablo NERUDA, Der Große Gesang, Berlin (DDR) 1977Pablo NERUDA, Liebesgedichte, Darmstadt und Neuwied 1977Helmut J. PSOTTA, De vraag van het begin, Amsterdam 1971Helmut J. PSOTTA, Die araukanische Pythia oder: Über die verkehrte Anschauung meiner Dinge (Eröffnungsvortrag zur Ausstellung Rote und schwarze Erde), Wesel 1980Heinz Rudolf SONNTAG, Revolution in Chile, Frankfurt am Main 1972Mechthild STRAUSFELD (Hg.), Materialien zur lateinameri-kanischen Literatur, Frankfurt am Main 1976Inge von WEDEMEYER, Sonnengott und Sonnenmenschen, Tübingen 1970

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Arndt Beck (Hg.)Helmut J. Psotta – Radikale PoesieFrühe Arbeiten 1954-1962ISBN 978-3-87956-371-522 x 28 cm, Hardcover, 79 farbige Werkabbildungen, zahlreiche weitere Abbildungen (schwarz-weiß und farbig), hochwertig ge-druckt und gestaltet, 127 Seiten29,80 €

Ebenfalls 2013 im Karin Kramer Verlag Berlin erschienen: