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Hermeneutik zwischen eigener Tradition und fremder Kultur Zum Problem des Fremden in den hermeneutischen Theorien von Hans-Georg Gadamer und Eric Donald Hirsch Inaugural-Dissertation Zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie der Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik der Ruhr-Universität Bochum vorgelegt von Chen, Hsuan-Erh, M.A. aus Nantou, Taiwan Referent: Prof. Dr. Gunter Scholtz Korreferent: Prof. Dr. Volker Steenblock Tag der mündlichen Prüfung: den 6. Februar 2008

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Hermeneutik zwischen eigener Tradition und

fremder Kultur

Zum Problem des Fremden in den hermeneutischen

Theorien von Hans-Georg Gadamer und Eric Donald Hirsch

Inaugural-Dissertation Zur

Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie

der Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik der

Ruhr-Universität Bochum

vorgelegt von

Chen, Hsuan-Erh, M.A.

aus Nantou, Taiwan

Referent: Prof. Dr. Gunter Scholtz

Korreferent: Prof. Dr. Volker Steenblock

Tag der mündlichen Prüfung: den 6. Februar 2008

Gedruckt mit Genehmigung der Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik der Ruhr–Universität Bochum Dekan: Prof. Dr. Klaus Harney Referent: Prof. Dr. Gunter Scholtz Korreferent: Prof. Dr. Volker Steenblock Tag der mündlichen Prüfung: den 6. Februar 2008

Vorwort

Die vorliegende Arbeit ist ein Versuch, zur Hermeneutik-Forschung und zur gegenwärtigen Debatte über das Problem des Fremden in der Hermeneutik aus intra- und interkulturellen Perspektiven beizutragen.

Mein ganz spezieller Dank gilt dem wissenschaftlichen Betreuer dieser Arbeit, Herrn Prof. Dr. Gunter Scholtz, dessen wertvolle Anregungen und Ratschläge diese Arbeit geleitet haben. Ohne seine freundliche Hilfe auch bei der Literaturrecherche wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen. Herrn Prof. Dr. Volker Steenblock danke ich besonders für seine freundliche Unterstützung durch wertvolle Literaturhinweise zur philosophischen Bildung und zur praktischen Philosophie, die für die zukünftige philosophische Bildung in den Schulen meines Heimatlands wegweisend sind. Daneben möchte ich mich insbesondere bei Herrn Dr. Gerhard Pfulb, dessen Freundschaft mein ganzes Studium in Deutschland begleitet hat, bedanken: für sein geduldiges Zuhören sowie für wichtige Informationen und anregende Gespräche über kulturzentristische Vorstellungen von Zivilisation und Barbarei, von Eigenem und Fremdem in Asien und Europa.

Die sprachlichen Korrekturen dieser Arbeit haben Freunde und Kollegen, nämlich Tina Hog, Valentin Pluder, M. A., und Katharina Bauer, M. A., übernommen. Auch ihnen sei hiermit herzlich gedankt, denn die hier vorgelegte sprachliche Gestalt der Arbeit hätte ich allein nicht zuwege gebracht.

Schließlich möchte ich meinen Eltern und meiner Familie danken, die mich bedingungslos von Anfang an unterstützten. Ohne ihre verständnisvolle und liebevolle Unterstützung wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen.

Bochum, im Februar 2008 Hsuan-Erh Chen

Inhaltsverzeichnis

Einleitung.......................................................................................................................4 1. Das Problem des Fremden in den Traditionen der Hermeneutik: eine

kleine Vorgeschichte.........................................................................................18 1.1. Das Fremde als allgemeines Verständnisproblem bei Schleiermacher

und Dilthey.......................................................................................................19 1.1.1. Nichtverstehen und Mißverstehen als Problem................................................20 1.1.2. Sittlichkeit des Verstehens: Ethik und Hermeneutik........................................26 1.1.3. Ethik, Hermeneutik und die Geisteswissenschaften........................................30 1.1.4. Grammatische und psychologische Interpretation...........................................33 1.1.5. Voraussetzung und Grenze des Verstehens von Fremdem...............................42 1.2. Auflösung des Fremdheitsproblems durch die ontologische Wendung der

Hermeneutik bei Heidegger..............................................................................47 2. Das Problem des Fremden in der philosophischen Hermeneutik

Gadamers.........................................................................................................53 2.1. Der Wandel des Fremdheitsproblems: Vom Verständnisproblem zum

Verfremdungsproblem.....................................................................................55 2.1.1. Das historische Bewußtsein und die Entfremdungserfahrung der

Überlieferung...................................................................................................58 2.1.2. Die Universalität der Fremdheitserfahrung bei Schleiermacher und die

Verfremdung der Tradition...............................................................................60 2.2. Zugehörigkeit als Konzept gegen die Verfremdung.........................................66 2.2.1. Tradition als Grundlage aller hermeneutischen Bemühungen.........................68 2.2.2. Der hermeneutische Zirkel und die Geschichtlichkeit des Verstehens............77 2.2.3. Vorurteile als ontologische Bedingungen des Verstehens................................82 2.2.4. Selbstverständlichkeit der Schrift und Unmittelbarkeit des

Verstehens.........................................................................................................86 2.3. Wesenswandel der hermeneutischen Aufgabe..................................................96 2.3.1. Vom Sinnverständnis zur Verständigung über die Sache: Verstehen als

Gespräch?.........................................................................................................97 2.3.2. Verstehen als Auslegen und Anwenden..........................................................107

2

2.3.3. Universale Sprachlichkeit als universale Verständlichkeit?...........................112 3. Gültigkeit der Interpretation des Fremden als Problem der Hermeneutik

bei Hirsch.......................................................................................................118 3.1. Ethische Begründung der Notwendigkeit rekognitiver Interpretation...........121 3.1.1. Das Wesen des Textes und der Konflikt der Interpretationen.......................122 3.1.2. Ethische Dimension der Interpretation von kulturell Fremdem....................128 3.1.3. Unzulänglichkeit metaphysischer Hermeneutik............................................134 3.2. Bedingungen der Möglichkeit rekonstruktiver Interpretation........................141 3.2.1. Determiniertheit und Reproduzierbarkeit des Wortsinns..............................141 3.2.2. Autorintention und Teilbarkeit der Sprache..................................................144 3.2.3. Typus-Charakter des Wortsinns: Wortsinn als „willed type“ und „shared

type“...............................................................................................................150 3.2.4. Genre-gebundenheit allen Verstehens und Interpretierens: der

hermeneutische Zirkel....................................................................................155

3.3. Prinzipien objektiv gültiger Interpretation und Geltungsprüfung..................160 3.3.1. Objektivität der Interpretation und Subjektivität des Sprechers...................161 3.3.2. Unterscheidung zwischen „meaning“ und „significance“,

Interpretation und Kritik................................................................................165 3.3.3. Autorintention als universales Prinzip gültiger Interpretation......................173 3.3.4. Prinzip der Wahrscheinlichkeit und interpretativer Evidenz........................176 4. Hermeneutik zwischen eigener Tradition und fremder Kultur: Gadamer

und Hirsch imVergleich.................................................................................183 4.1. Traditionsvermittlung vs. Vermittlung fremder Meinung und fremder

Kulturen.........................................................................................................184 4.2. Wahrheit der Texte vs. Gültigkeit der Interpretation.....................................190 4.3. Hermeneutik und das Verstehen fremder Kulturen.......................................195 4.4. Resümee und Ausblick..................................................................................210 Literaturverzeichnis...................................................................................................214 Lebenslauf

3

Einleitung.

„Läßt sich das Fremde auf dem Boden der Hermeneutik bewältigen, oder ist dieses

dazu angetan, die Hermeneutik selbst noch in Frage zu stellen?“1 Das ist gewiß eine

der herausfordernden Fragen, die man an das Geschäft der Hermeneutik stellen kann

und die Bernhard Waldenfels hinsichtlich des Fremdheitsproblems bei seiner

kritischen Auseinandersetzung mit der philosophischen Hermeneutik Gadamers

aufgeworfen hat. Um diese Frage beantworten zu können, ist es jedoch unzureichend,

allein den hermeneutischen Ansatz Gadamers in Betracht zu ziehen, da Gadamer eben

nur eine der verschiedenen Fragerichtungen der Hermeneutik vertritt. Es fragt sich, ob

das Problem des Fremden in den verschiedenen Traditionen der Hermeneutik mit dem

jeweils sehr unterschiedlichen Ansätzen als ein Problem von gleicher Bedeutung

betrachtet wird. Die von Waldenfels aufgeworfene Frage weist jedoch darauf hin, daß

die Hermeneutik im allgemeinen mit dem Problem des Fremden sich befassen muß.

Im Bereich der Hermeneutik sind heutzutage mindestens drei Richtungen zu

unterscheiden2, nämlich erstens die auf das Wie des Verstehens fremder Rede bzw.

Lebensäußerungen sowie auf die Anweisungen und Regelgebung der Interpretation

abzielende methodologische Hermeneutik (Schleiermachers 3 ); zweitens die

1 Bernhard Waldenfels: Phänomenologie des Fremden 4, Frankfurt a. M.1999, S. 67-87. Zit. S. 67. Waldenfels erkennt zwar die Unterschiede der hermeneutischen Ansätze, geht aber nur auf die philosophische Hermeneutik Gadamers ein, wo die Grenze solcher Hermeneutik für das Problem des Fremden seiner Ansicht nach deutlich zu erkennen ist. Zu Recht hat Waldenfels die Tragfähigkeit der hermeneutischen Philosophie Gadamers für das Problem des Fremden in Frage gestellt, da das Fremde überhaupt kein wirkliches Problem für Gadamer bedeutet, wie wir in vorliegender Arbeit zu zeigen versuchen möchten. 2 Vgl. dazu die Unterscheidungen von Rodi und Scholtz. Frithjof Rodi: Traditionelle und philosophische Hermeneutik. Bemerkungen zu einer problematischen Unterscheidung, in: ders.: Erkenntnis des Erkannten. Zur Hermeneutik des 19. und 20. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1990, S. 89-101; Gunter Scholtz: Was ist und seit wann gibt es »hermeneutische Philosophie«? In: Dilthey Jahrbuch, Bd.8, 1992-93, S. 93-119. Bes. S. 110f. 3 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Hermeneutik. Nach den Handschriften neu hg. und eingel. von Heinz Kimmerle, Heidelberg 1959. Im Text als HK mit Seitenzahl zitiert (= HK ). Die allgemeine Hermeneutik (1809/10), hg. von Wolfgang Virmond. In: Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984, hg. von Kurt-Victor Selge (=Schleiermacher-Archiv Bd.I/2, Berlin, New York 1985, S. 1269-1310. Im Text als HV mit Seitenzahl zitiert ( = HV ).

4

philosophisch verfahrende und auf die Analysis des Verstehens sowie auf die

Begründung der Verstehensmöglichkeiten und –bedingungen gerichtete

„philosophische Hermeneutik“ (Dilthey 4 ); drittens die selbst verstehend und

auslegend verfahrende Hermeneutik der Faktizität 5 , also die „hermeneutische

Philosophie“ (Heidegger6). Es fragt sich, ob es sich bei dem Begriff des Fremden in

den jeweiligen, sehr verschiedenen hermeneutischen Ansätzen um den gleichen

Sachverhalt handelt bzw. ob er als gleiches Problem verstanden werden kann und ob

es in der philosophischen Hermeneutik Gadamers überhaupt um das Bewältigen des

Fremden im traditionellen Sinne geht.

Der Begriff des Fremden bzw. der Fremdheit ist vieldeutig, je nachdem in welcher

Form darüber nachgedacht und in welchem Zusammenhang er behandelt wird. Denn

fremd kann vieles erscheinen. Es kann ein Gegenstand, ein unbekanntes Zeichen, ein

Symbol, ein Fremdwort, eine Schrift, ein Dokument, ein Stil, eine unbekannte

Geschichte, ein Milieu, ein Naturphänomen, eine Handlung, eine Erscheinung von

Krankheit, eine unbekannte Person, eine Gestik, ein Ritual, eine Theorie, eine

Vorstellung oder sogar eine Einstellung7 sein. Das Fremde hat, vereinfacht gesagt,

den Charakter von Unverständlichem, Fremdartigem oder Ungewöhnlichem in sich.

Die Vielfältigkeit des Problems des Fremden zeigt sich besonders deutlich in den

4 Wilhelm Dilthey: Die Entstehung der Hermeneutik (1900), in: Gesammelte Schriften Bd.V, Göttingen/Stuttgart 1957, S. 317-331; ders.: Das hermeneutische System Schleiermachers in der Auseinandersetzung mit der älteren protestantischen Hermeneutik (1893), in: Leben Schleiermachers, Gesammelte Schriften Bd. XIV, 2.2, Berlin 1966 (=LS). Entwürfe zur Kritik der historischen Vernunft (1910), in: Gesammelte Schriften Bd.VII, Göttingen 1958, S. 191-220. 5 Martin Heidegger: Ontologie. (Hermeneutik der Faktizität). Gesammelte Werke Bd. 63, hg. v. Käte Bröcker-Oltmanns, Frankfurt a. M. 1988. In dieser frühen Freiburger Vorlesung Sommersemester 1923 hat Heidegger die Hermeneutik als „Selbstauslegung der Faktizität“ bezeichnet, welche „das je eigene Dasein sich selbst zugänglich zu machen“ zur Aufgabe hat. 6 Heidegger hat seine philosophische Arbeit „Sein und Zeit“ als ein Auslegen und Interpretieren verstanden und so als „hermeneutisch“ bezeichnet. Pöggler sieht dieses Buch von Heidegger als „eine Entfaltung hermeneutischer Philosophie, die von Anfang an in der Konfrontation mit Diltheys Hermeneutik stand“ (S. 264). Otto Pöggler: Heidegger und die hermeneutische Philosophie, Freiburg/ München 1983, S. 241-291. Bes. S. 261ff. 7 Vgl. die Analyse des Phänomens des Fremden von Robert Hettlage: Fremdheit und Fremdverstehen, in: Archiv für Kulturgeschichte (70) 1988, S. 195-222.

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verschiedenen „verstehenden“ Traditionen wissenschaftlicher Forschungen. In der

„verstehenden Soziologie“ 8 , phänomenologisch-sozialphilosophischen

Untersuchungen9 und der sozial-politischen Philospohie10 ist das Verstehen von

Fremden und Anderen nach der „hermeneutischen Wende“ ein heiß diskutiertes

Thema geworden, wo der Fremde und die damit verbundene Fremdheit als soziales

und kulturelles Phänomen betrachtet wird. Im Bereich der Ethnologie und

Kulturanthropologie hat die Diskussion sowie die Reflexion um das Verstehen von

fremden Kulturen längst eine eigene Tradition11. In der Psychologie wurde das

Undurchsichtige, das Unbewußte bzw. das Unbekannte des inneren Ich als das

Fremde im Eigenen besonders von Sigmund Freud bewußt gemacht 12 . Im

Zusammenhang der Diskussion um interkulturelle Verständigung sind unzählige

8 Siehe Georg Simmel: Exkurs über den Fremden, in: ders.: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Gesammelte Werke, Bd. 2, 4. Auflage, Berlin 1958, S. 509-512. Auch in: Gesamtausgabe Bd. 11, hg. v. Otthein Rammstedt, Frankfurt a. M. 1995 (bes. S. 765-771); Alfred Schütz: Der Fremde, in: ders.: Gasamtausgabe, Bd. 2, Studien zur soziologischen Theorien, Den Haag 1971, S. 53-69; ders.: Grundzüge einer Theorie des Fremdverstehens, in: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, Frankfurt a. M. 1974, S. 137-197;

9 Siehe die von Husserls Theorie der Fremderfahrung ausgehenden phänomenologischen Untersuchungen, Edmund Husserl: Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge (Husserliana, Bd.1), Den Haag/Dordrecht 1973; Emanuel Lévinas: Die Spuren des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, München/Freiburg 1992; ders.: Zwischen Uns: Versuch über das Denken an den Anderen, München 1995; Bernhard Waldenfels: Der Stachel des Fremden, Frankfurt a. M. 1990; ders.: Erfahrung des Fremden in Husserls Phänomenologie, in: ders.: Deutsch-Französische Gedankengänge, Frankfurt a. M. 1995, S. 51-68; ders.: Topographie des Fremden: Studien zur Phänomenologie des Fremden I, Frankfurt a. M. 1997; ders: Phänomenologie des Fremden 4, Frankfurt a. M. 1999. 10 Siehe Jürgen Habermas: Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt a. M. 1996; ders.: Kampf der Glaubensmächte. Karl Jaspers zum Konflikt der Kulturen. In: ders.: Vom sinnlichen Eindruck zum symbolischen Ausdruck. Philosophische Essays, Frankfurt a. M. 1997, S.41-58; Axel Honneth: Der Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt a. M. 1994; Charles Taylor: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt a. M. ²1997; Samuel P. Huntington: The Clash of Civilizations? In: Foreign Affairs Vol.72 (1993) 3, S. 22-49, weiter ausgearbeitet in: ders.: The Clash of Civilizations. Remaking of World Order, New York 1996. 11 Siehe Bronislaw Malinowsky: Eine wissenschaftliche Theorie der Kultur und andere Aufsätze (1944), Frankfurt a. M. 1975; Clifford Geertz: The Interpretation of Cultures, New York 1973. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik: Philosophische Überlegungen zum Verstehen fremder Kulturen und zu einer Theorie der menschlichen Kultur, in: Grundfragen der Ethnologie, hg. v. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Berlin 1981, S. 349-389; Helmut Plessner: Mit anderen Augen, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 8, hg. von Günter Dux, Odo Marquard und Elisabeth Ströker, Frankfurt a. M. 1983, S. 88-104. 12 Sigmund Freud: Die Traumdeutung. Mit einem Nachwort von Hermann Beland, 11. Auflage, Frankfurt a. M. 2003 (1991).

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Aufsätze über das Fremde sowie das Problem des Fremdverstehens aus verschiedenen

Perspektiven 13 erschienen. Sogar die Naturwissenschaften beschäftigen sich mit

fremden Phänomenen der Natur. Fast alle wissenschaftlichen Disziplinen sind mehr

oder weniger auf Forschungen über das Phänome des Fremden angewiesen, das als

das Unbekannte, das Unverständliche oder als das Problematische erscheint; die

Gegenstände und die Ansatzpunkte ihrer Forschungen und Überlegungen bezüglich

des Fremden sind jedoch sehr verschieden.

Wenn man die eingangs gestellte Frage nach dem Problem des Fremden in der

Hermeneutik beantworten möchte, ist es daher wichtig, zunächst danach zu fragen,

was für ein Problem des Fremden hier gemeint ist und was man unter

„Bewältigung“ versteht. Denn „das Fremde“ kann als ein allgemeines philosophisches

Problem betrachtet werden, wenn danach gefragt wird, was das Fremde ist und

bedeuten kann. Auf diese Frage könnte die von Waldenfels unternommene

phänomenologische Analyse von verschiedenen Formen der Fremdheit und der

Bewältigungsweisen derselben die mögliche Antwort sein. Das „Fremde“ kann aber

auch ein erkenntnistheoretisches Problem bilden, wenn danach gefragt wird, wie es

überhaupt möglich ist, daß das Fremde verstanden bzw. erkannt werden kann. Dann

geht es darum, die Bedingungen der Möglichkeit des Verstehens bzw. des Erkennens

13 Vgl. dazu Robert Hettlage: Fremdheit und Fremdverstehen. Ansäzte zu einer angewandten Hermeneutik, in: Archiv für Kulturgeschichte, Bd. 70 (1988) Heft 1, S. 195-222; Peter J. Brenner: Interkulturelle Hermeneutik. Probleme einer Theorie kulturellen Fremdverstehens, in: Interkulturelle Germanistik. Dialog der Kulturen auf Deutsch?, hg. v. Peter Zimmermann, Frankfurt a. M. 1989, S. 35-55; Ortfried Schäfter (Hg.): Das Fremde. Erfahrungsmöglichkeiten zwischen Faszination und Bedrohung, Opladen 1991; Fred Lönker: Aspekt des Fremdverstehens in der literarischen Übersetzung, in: Die literarische Übersetzung als Medium der Fremderfahrung, hg. v. F. Lönker, Berlin 1992; Jens Loenhoff: Interkulturelle Verständigung. Zum Problem grenzüberschreitender Kommunikation, Opladen 1992; Alexander Demandt (Hg.): Mit Fremden leben. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, München 1995; Peter Masson: Interpretative Probleme in Prozessen interkultureller Verständigung, in: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik/Justin Stagl (Hg.), Grundfragen der Ethnologie. Beiträge zur gegenwärtigen Theorie-Diskussion, Berlin 1981, S. 125-150; ders.: Anthropologische Dimension interkultureller Verstehensbemühungen, in: René Wieland (Hg.), Philosophische Anthropologie der Moderne, Weinheim 1995, S. 234-245; Breuer, I./ Sölter, A. A. (Hg.): Der fremde Blick. Perspektiven interkultureller Kommunikation und Hermeneutik, Bozen/Wien 1997; Elmar Holenstein: Intra- und interkulturelle Hermeneutik, in: Kulturphilosophische Perspektiven, Frankfurt a. M. 1998, S. 257-287.

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von Fremdem, sei es von fremden Naturphänomen, sei es von fremdem Leben (d.h.

von fremden Personen und ihren Lebensäußerungen im Diltheyschen Sinne),

erkenntnistheoretisch zu begründen, wie in Diltheys Versuch, – neben Kants Kritik

der reinen Vernunft – eine Kritik der historischen Vernunft 14 als eine

„Erkenntnistheorie der Geschichte“ zu entwerfen. Es kann aber auch ein

„ethisch-methodologisches“ Problem des Verstehens bedeuten, wenn danach gefragt

wird, wie das Fremde in der Rede oder in dem Ausdruck eines Anderen verstanden

werden kann und soll. Schließlich kann es ein ethisch-sozialpolitisches Problem sein,

wenn danach gefragt wird, wie wir mit dem Fremden oder den Fremden umgehen

sollten, seien sie kulturell oder religiös fremd.

Ferner kann das Verstehen von Fremdem sowohl auf das Fremde des uns

ursprünglich Fremden im Sinne eines Anderen, sei es eine fremde Person, eine fremde

Schrift, eine fremde Sprache, eine fremde Religion, eine vergangene Zeitepoche, eine

fremde Kultur, gerichtet sein, das im Gegensatz zum Eigenen als dem Vertrauten steht

und als das Befremdliche, das Unbekannte, das Unverständliche, erscheint; oder aber

es kann auf das fremd gewordene ursprünglich Eigene im Sinne von eigener

Kulturgeschichte, eigener Kulturtradition gerichtet sein, das durch die geschichtlichen

und sprachlichen Wandlungen uns fremd geworden ist.

Das Fremde bzw. die Fremdheit, die als Verständnisschwierigkeit in beiden Fällen

eintreten kann, hat aber unterschiedliche Bedeutungen. Die eine Fremdheit bezieht

sich mehr auf das Unbekannte, das ursprünglich Fremde im weitesten Sinne, wie z. B.

das fremde Leben, die Lebensäußerungen fremder Personen aus vergangenen

Epochen und fremden Kulturtraditionen im Diltheyschen Sinne; die andere Fremdheit

bezieht sich vornehmlich auf das fremd gewordene Eigene, das eine ursprüngliche

14 Wilhelm Dilthey: Entwürfe zur Kritik der historischen Vernunft (1910), Ges. Schriften Bd. VII, S.191-220.

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Zusammengehörigkeit zwischen dem Verstehenden und dem Zuverstehenden

voraussetzt. Im Falle des uns ursprünglich Fremden kann das Bemühen des

hermeneutischen Verstehens als ein progressives Verfahren der Vermittlung zwischen

Eigenem und Fremdem bzw. als eine „Annäherung“ an das Fremde in

zwischenmenschlichen und interkulturellen Verhältnissen betrachtet werden. Im

Bezug auf das fremd gewordene Eigene kann die Aufgabe des Verstehens als die

Übwindung der Sinnentfremdung und des Zeitenabstandes bzw. als eine Vermittlung

zwischen Vergangenheit und Gegenwart verstanden werden. In beiden Fällen wird die

Überwindung des Fremden als Aufgabe der Hermeneutik bestimmt.

Folglich erscheint das Fremde in den verschiedenen Fragerichtungen der

Hermeneutik als jeweils anderes Problem. Die Art und Weise, wie das Problem des

Fremden in den verschiedenen hermeneutischen Ansätzen behandelt wird, ist damit

auch entscheidend für die Frage nach der Tragfähigkeit der jeweiligen Hermeneutik

für das Problem des Fremden sowie für das Verstehen von fremden Kulturen.

Insofern ist es vielleicht sinnvoller, zunächst nach dem Zusammenhang zwischen

den Traditionen der Hermeneutik und dem Begriff des Fremden zu fragen, zumal

geklärt werden muß, von welcher Art Fremdheit in welcher Art Hermeneutik die Rede

ist, wenn man die Tragweite der Hermeneutik für das Problem des Fremden messen

möchte. Denn die Verschiedenheit der Bedeutung des Fremden könnte dazu führen,

daß das Fremde als hermeneutisches Problem auch ganz anders dargestellt und

behandelt werden kann. Die Frage nach dem Sinn eines fremden Textes bezüglich des

Textinhalts ist sicherlich anders als die Frage nach seiner Bedeutung für den Autor

selbst oder für seine Leser damals oder für uns als Interpret heute, noch anders als die

Frage nach der Wahrheit des im Text Gesagten. Trotzt dieser Unterschiede haben alle

Fragestellungen zur Voraussetzung, daß das Fremde, sei es ein fremdes Leben, ein

fremder Text oder eine fremde Rede oder ein Überrest aus der Vergangenheit der

9

Menschheit, bis zu einem gewissen Grade verstanden werden kann. Das heißt, in der

Hermeneutik kann es sich nur um relative Fremdheit handeln, wenn Schleiermacher

und Dilthey den Aufgabenbereich der Hermeneutik zwischen totaler Fremdheit und

gänzlicher Vertrautheit bestimmten und alle radikale Fremdheit aus dem Bereich der

Hermeneutik ausschlossen15.

Es ist das Hauptanliegen der vorliegenden Arbeit, die eigentliche Bedeutung des

Fremdheitsproblems in den Hermeneutiken von Hans-Georg Gadamer und Eric

Donald Hirsch herauszuarbeiten. Wir zielen dabei weder darauf ab, das Problem des

Fremden in den hermeneutischen Traditionen seit der griechischen Antike

begriffsgeschichtlich zu verfolgen, worüber Axel Horstmann am Leitfaden des

Assimilationsbegriffs eine sehr erhellende Arbeit verfaßt hat16, noch die Arten und

Formen des Fremden philosophisch systematisch zu untersuchen, wie es Waldenfels

in seiner Phänomenologie des Fremden unternommen hat. Hier sind hauptsächlich die

hermeneutischen Theorien von Gadamer und Hirsch in unserem Zusammenhang von

Interesse; zum einen, weil beide Denker zu den wichtigsten Vertretern der

Hermeneutik der Gegenwart gehören und in der Geschichte der Hermeneutik Stellung

bezogen haben, dieser für die technische, d.h. methodologisch-philologische im

Gefolge Schleiermachers17, jener für die hermeneutische Philosophie im Gefolge

15 Vgl. Bernhard Waldenfels: Jenseits von Sinn und Verstehen, in: ders.: Phänomenologie des Fremden 4, a.a.O., S. 67-87, S. 71: „Es gehört zu den Grundvoraussetzung einer hermeneutischen Philosophie, daß Fremdheit nicht unüberwindlich ist. Es handelt sich um die relative Fremdheit für uns, nicht um eine Fremdheit in sich selbst. Was nicht mehr, noch nicht oder nicht völlig verständlich ist, bleibt doch der Verständlichkeit offen.“ 16 Axel Horstmann: Das Fremde und das Eigene – ‘Assimilation’ als hermeneutischer Begriff, in: Archiv für Begriffsgeschichte, Bd. XXX, 1986/87, S. 7-43. Horstmann hat zwei entgegengesetzte Modelle für die Begegnung zwischen dem Eigenen und dem Fremden, hier im Bezug auf die Hermeneutik zwischen Interpret und Interpretandum, herausgestellt: Nach dem theologischen Homoiosis-Modell muß sich der Interpret dem gegebenen Sinn des Textes als dem fremden Sinn eines Anderen anpassen, nach dem biologischen Modell wird der fremde Sinn von dem Interpreten hinsichtlich seines eigenen Lebensbezugs schlicht angeeignet. Horstmann hat allderdings bei Gadamer den Gedanken hermeneutischer Assimilation nach biologischem Modell beweisen können, wo das Verstehen für Gadamer, auf Yorck von Wartenburg berufend, „nichts anders als für Nietzsche - ein Lebensvorgang und ‚der fundamentale Tatbestand des Lebendigseins ist die Assimilation. [...] Das Fremde wird angeeignet’’. Hier S. 36. 17 Hirsch betrachtet seine eigene hermeneutische Theorie als „objectivist views“, welche als ein

10

Heideggers; zum andern, weil sie im Zusammenhang des Fremdheitsproblems

gegenläufige Ansätze vertreten, was dazu veranlaßt, ihre hermeneutischen Theorien

bezüglich des Fremdheitsproblems zu vergleichen18.

Die Hermeneutik19 als allgemeine Theorie des Verstehens und Interpretierens war

ursprünglich immer schon auf das Fremde im weitesten Sinne gerichtet und muß für

die Fragestellung der Gegenwart neu überdacht werden. Wir leben in einem Zeitalter

multikultureller Gesellschaft, in dem das zwischenmenschliche und auch

interkulturelle Verstehen in allen Bereichen besonders wichtig erscheint. Wenn Emilio

Betti vor mehr als fünf Jahrzehnten die Auslegungslehre für „vornehmlich

geeignet“ hält, jungen Menschen „Gewöhnung an Toleranz und Sinn für Achtung

fremder Meinung anzuerziehen“ 20 , dann hat er die ethische Bedeutung der

Hermeneutik für das Zusammenleben der Menschen untereinander in seiner Zeit

erkannt. Nun scheint eine solche ethische Bedeutung der Hermeneutik für unsere

Gegenwartssituation ihre Geltung immer noch zu beanspruchen. Denn jedem

Verstehenwollen in einer multikulturellen Gesellschaft liegt die hermeneutische

Einsicht zugrunde, daß Verstehenwollen und Verstandenwerdenwollen zusammen

begriffen werden müssen, wie Ram Adhar Mall mit Recht angedeutet hat21.

„throwback to the ‚genuine’ or ‚authentic’ tradition of Schleiermacher“ betrachtet werden kann. E.D. Hirsch: The Aims of Interpretation, Chicago and London 1976, S. 17. 18 Im ganzen betrachtet kann das gesamte Buch Validity in Interpretation von Hirsch als Kritik und Gegenentwurf zu Gadamers Hermeneutik gelesen werden. Vgl. dazu auch Gunter Scholtz: La philosophie herméneutique de Gadamer et les sciences humaines, in: L’ Héritage de Hans-Georg Gadamer, hg. v. G. Deniau, J. C. Gens, Paris 2003, S. 181-194, hier S. 181. 19 Hier folgen wir der Unterscheidung Schleiermachers, die seine allgemeine Hermeneutik als Theorie des Verstehens und Interpretierens von all den Spezialhermeneutiken wie theologischer, philologischer und juristprudentischer unterscheidet. Vgl. die Unterscheidung der drei Dimensionen der Hermeneutik als allgemeine Hermeneutik bei Hirsch in dem Aufsatz “Three Dimensions of Hermeneutics”, in: Literary History III, 2 (1972), S. 245-261; auch in: ders: The Aims of Interpretation, a.a.O., S. 74-92. 20 Emilio Betti: Zur Grundlegung einer allgemeinen Auslegungslehre: ein hermeneutisches Manifest, in der Festschrift für Ernst Rabel (1954) II, S. 79-168. 21 Vgl. Ram Adhar Mall: Philosophie im Vergleich der Kulturen, Darmstadt 1996, S. 31: „Eine echte hermeneutische Philosophie muß das Verstehenwollen und Verstandenwerdenwollen als zwei Seite derselben hermeneutische Münze betrachten.“ Ähnlich Constantin von Barloewen: Fremdheit und interkulturelle Identität. Überlegungen aus der Sicht der vergleichenden Kulturforschung, in: Kulturthema Fremdheit, a.a. O., S. 297-318, hier S. 298.

11

Eine Hermeneutik, die sich als allgemeine Theorie des Verstehens und

Interpretierens darstellt und sich das Verstehen von Fremdem zur Aufgabe macht,

sollte nicht nur die Bedingungen sowie die Grenzen des Verstehens im allgemeinen

zur Kenntnis nehmen, sondern auch einer Orientierung für die Praxis

zwischenmenschlichen und interkulturellen Verstehens in den Geisteswissenschaften

behilflich sein. Insofern werden wir uns hier auf diese beiden bezüglich des

Fremdheitsproblems recht konträren Konzeptionen von Hermeneutik beschränken

und auf ihre möglichen Lösungen der Fremdheitsfrage eingehen. Insofern versteht

sich die folgende Untersuchung als ein Versuch, eine Antwort auf die von Waldenfels

aufgeworfene Frage am Beispiel der philosophischen und der

philologisch-methodologischen Hermeneutik zu suchen und nach der Tragfähigkeit

ihrer Theorien für interkulturelles Verstehen im Sinne des gegenseitigen Verstehens

unter Menschen mit verschiedenen Kulturtraditionen zu fragen, was nicht so sehr als

eine erkenntnistheoretische Frage sondern vielmehr als eine ethische verstanden

werden möchte. Dabei wird besonders der ethische Aspekt der Hermeneutik 22

berücksichtigt, welcher auf das philosophische System Schleiermachers zurückgeführt

werden kann.

Im ersten Kapitel wird der Versuch gemacht, eine kurze Geschichte der

Fremdheitsproblems vor, mit und nach Schleiermachers Begründung einer

allgemeinen Hermeneutik darzustellen. Es dient dazu, den Wandel des Problems des

Fremden in der Hermeneutik von Schleiermacher, Dilthey über Heidegger bis zu

Gadamer, Betti und Hirsch zu erläutern. Es wird sich zeigen, daß das Fremde als

allgemeines Problem des Verstehens in der allgemeinen Hermeneutik seit Ende des 18.

Jahrhunderts immer schon mit dem Bewußtsein von der Verschiedenheit der

22 Über die ethische Fundierung der Hermeneutik sowie die ethische Implikation der Hermeneutik bei Schleiermacher siehe Gunter Scholtz: Ethik und Hermeneutik. Schleiermachers Grundlegung der Geisteswissenschaften, Frankfurt a. M. 1995, s. bes. S. 126-146.

12

Individualität der Sprachen, der Sprecher und der Kulturen verbunden war, so daß die

Herausarbeitung des ursprünglichen, fremden Sinnes eines Anderen das Ziel des

Verstehens und die eindeutige Aufgabe der allgemeinen Hermeneutik war. Wenn man

den Aufgabenbereich des Philologen bei August Boeckh23 , einem Schüler von

Schleiermacher, einbezieht, dann betrifft das Fremde nicht nur die Sprache und den

Sprecher der Schrift im grammatisch-historischen Sinne, sondern es findet sich in

allen Bereichen! Denn nach Boeckh gehören z.B. sowohl die Geschichte der

Naturwissenschaften als auch die Geschichte der Geisteswissenschaften, darunter

auch die Geschichte der Philosophie, zum Aufgabenbereich der Philologie, da sie alle

sprachlich verfaßt sind. Was aber in der Sprache vorkommt, ist äußerst vielfältig,

deshalb ist zuallererst die Unterscheidung der Redegattungen für das Verstehen

wichtig. Dieser Gedanke wurde später von Hirsch übernommen und weitergeführt.

Die Voraussetzungen ebenso wie die Grenzen eines vollkommenen Verstehens

aufgrund der Endlichkeit menschlichen Lebens und der unauflöslichen

Verschiedenheit der Individualitäten wurden von vornherein klar dargestellt.

Schleiermacher und Dilthey waren die Grenzen des Verstehens von Fremden als

anderen Individuen vollkommen bewußt. Sie faßten die Aufgabe des Verstehens

deshalb als unendlichen Annäherungsprozeß zum Anderen und Fremden

(Schleiermacher) und als Lebensaufgabe (Dilthey) auf, denn das vollkommene

Verstehen des Fremden und des Vergangenen setzt die vollkommene Kenntnis der

Sprachen, der Sprecher, der Umstände und vollkommene Sachkenntnisse voraus24,

23 August Boeckh: Enzyklopädie und Methodologie der philosophischen Wissenschaft, hg. von Ernst Bratuscheck, Nachdruck der 2. von Rudolf Klussmann besorgten Auflage (Leipzig 1886), Darmstadt 1966. 24 Dilthey hat das Wesentliche der allgemeinen Hermeneutik Schleiermachers im Vergleich zu allen anderen Spezialhermeneutiken darin gesehen: „Die Zergliederung des Auslegungsvorgangs in grammatische, historische, ästhetische und sachliche Interpretation, wie Schleiermacher sie vorfand, wird von ihm verworfen. Die Unterscheidungen bezeichnen nur, daß grammatisches, historisches, sachliches und ästhetisches Wissen da sein müssen, wenn die Auslegung beginnt, und auf jeden Akt derselben einwirken können. Aber der Vorgang der Auslegung selber kann sich nur in die zwei Seiten zerlegen lassen, die in der Erkenntnis einer geistigen Schöpfung aus Sprachzeichen enthalten

13

woran aufgrund der Endlichkeit menschlichen Lebens sowie des Zirkelcharakters des

Auslegungsverfahrens 25 nur durch wissenschaftliche Bemühungen und

Anstrengungen Schritt für Schritt, Generation für Generation eine Annäherung

möglich ist.

Anfang des 20. Jahrhunderts wird die Hermeneutik durch Heideggers ontologische

Wendung zur hermeneutischen Philosophie zur Selbstauslegung des Daseins. Das

Verstehen wird die Seinsweise des Daseins, das In-der-Welt-sein ist. Weder das

Fremde noch der Fremde spielen bei ihm eine erkennbare Rolle wie bei

Schleiermacher und Dilthey, da das zentrale Thema seiner Philosophie nicht das

Problem des Verstehens von Fremdem ist, sondern das Verständnis des jeweiligen

Menschen seiner selbst, also das Selbstverständnis des Daseins. Die Aufgabe des

Verstehens ist nicht mehr auf den Bezug zum anderen Mitmenschen gerichtet. Das

Problem des Fremden gerät dementsprechend in einer solchen Fundamentalontologie

aus dem Blick. Insofern dient das erste Kapitel meiner Arbeit als Vorgeschichte und

Grundlage für die anschließende Bezugnahme und Vergleichung zwischen den

hermeneutischen Ansätze von Gadamer und Hirsch.

Das zweite Kapitel dient dazu, den Wesenswandel des Fremdheitsproblems und der

hermeneutischen Aufgabe in der philosophischen Hermeneutik Gadamers anzudeuten.

Es wird sich zeigen, daß nicht das Fremde und nicht das Verstehen von Fremdem das

Primäre der philosophischen Hermeneutik Gadamers ist, so daß die Herausarbeitung

des ursprünglichen, fremden Sinns die eindeutige Aufgabe seiner Hermeneutik wäre,

sondern umgekehrt liegt seiner Hermeneutik die Betonung der Selbstverständlichkeit

sind.“ Wilhelm Dilthey: Ges. Schriften Bd. V, S. 330. 25 Für Dilthey markiert der Zirkelcharakter des Auslegungsverfahrens gerade die Grenzen aller Auslegung. In seiner Studie über »Die Entstehung der Hermeneutik (1900)« meint Dilthey über den hermeneutischen Zirkel: „Theoretisch trifft man hier auf die Grenzen aller Auslegung, sie vollzieht ihre Aufgabe immer nur bis zu einem bestimmten Grade: so bleibt alles Verstehen immer nur relativ und kann nie vollendet werden. Individuum est ineffabile”. Wilhelm Dilthey: Ges. Schriften, Bd. V, S. 317-331, hier S. 330.

14

der Überlieferung und der Zugehörigkeit zur eigenen Tradition zugrunde. Die von

Gadamer bei seiner kritischen Auseinandersetzung mit Schleiermacher gemachte

Erhebung der Überwindung der Fremdheit zur Aufgabe der Hermeneutik erweckt

zwar den Anschein, als ob es sich um die Überwindung der Fremdheit im eigentlichen

Sinne handelte. Aber Gadamer versucht im Gegenteil eine Gegenrichtung gegen die

historisch-methodologische Hermeneutik einzuschlagen, welche seiner Ansicht nach

gerade wegen ihres historisch-methodologischen Ansatzes die Überlieferung bzw. die

Tradition verfremdet hat. Aus dieser Umdeutung des Fremdheitsproblems (vom

Fremden zur Verfremdung) folgt, daß das Verstehen bei Gadamer von einem

Verfahren zur Erfassung des fremden Sinns zur Verständigung mit der Überlieferung

über die Sache umgewandelt wurde. Es wird am Ende weder eine wirkliche

„Überwindung“ des Fremden im philologisch-methodologischen Sinne noch eine

Theorie über das Verstehen vom Fremden im weiteren Sinne erreicht, sondern eine

Theorie der Traditionsaneignung.

Im dritten Kapitel steht die Herausarbeitung der Kernthesen von Hirsch über die

notwendige Rückkehr der Hermeneutik zum alten Ideal des Verstehens als

Rekonstruktion bzw. Nachverstehen des ursprünglichen Sinns im Zentrum. Es wird

sich zeigen, daß, im Gegensatz zu Gadamer, die Interpretationstheorie von Hirsch

eine mögliche Alternative hinsichtlich des Fremdheitsproblems darbietet. Hirsch hat

den Konflikt der Interpretationen als das eigentliche Problem der Hermeneutik

anerkannt und die Notwendigkeit eines wissenschaftlich brauchbaren Kriteriums für

die Objektivität als Allgemeingültigkeit der Interpretation wieder in den Vordergrund

gebracht. Er sucht das alte Ideal der Rekonstruktion des urprünglichen Sinns des

Textes als sinnvoll und notwendig zu verteidigen, da es der Position des Anderen

Rechnung trägt. Bei Hirsch ist von Fremdheit oder Fremdem zwar nicht direkt die

Rede. Seine Hermeneutik zielt aber unmittelbar auf die richtige Interpretation des

15

vom Autor als einer fremden Person (im Diltheyschen Sinne) intendierten Textsinns

ab, indem er den ursprünglich vom Autor gemeinten Textsinn als die einzige Norm für

die Geltungsprüfung der Interpretation hervorhebt. Dabei schlägt Hirsch eine

Dialektik von Hypothesenbildung und Hypothesenbestätigung als eine moderne

Version des hermeneutischen Zirkels vor, die einer Logik der Wahrscheinlichkeit folgt

und das Verstehen als ein progressives Verfahren der Interpretation beschreibt.

Im vierten Kapitel steht der zusammenfassende Vergleich der Thesen von Gadamer

und Hirsch zum Problem des Fremden – unter Einbeziehung der aktuellen

Diskussionen über Hermeneutik und interkulturelles Verstehen - im Zentrum. Dabei

werden die Untersuchungsergebnisse im Hinblick auf die Problematik interkulturellen

Verstehens betrachtet, um zu prüfen, inwieweit sich die hermeneutischen Theorien

von Gadamer und Hirsch für das Problem des Verstehens von fremden

Kulturtraditionen einsetzen lassen, und zwar in Fällen, in denen man mit dem

Fremden unmittelbar konfrontiert wird. Vor allem die Bedingungen sowie die

Voraussetzungen und Grenzen, die in ihren hermeneutischen Theorien behandelt

worden sind, werden im Bezug auf die Frage nach der Möglichkeit interkulturellen

Verstehens in Betracht gezogen.

Aus unserer Untersuchung wird hervorgehen, daß das Problem der Fremdheit und

des Verstehens bei Gadamer eher im Kontext des historischen Verstehens, d.h. im

Spannungsverhältnis zwischen Tradition und Gegenwart gedacht ist, während es sich

bei Hirsch sowohl um das historische als auch um das zwischenmenschliche bzw.

ethische Verhältnis zwischen dem Autor und dem Interpreten handelt. Es wird sich

zeigen, daß das Fremde als das Unverständliche, das Problematische und das

„Nicht-Selbstverständliche“ 26 und die Frage nach der Gültigkeit des Verstehens

26 Vgl. Dazu Rodis These, die das Nicht-Selbstverständliche zum Ausgangspunkt der

Geisteswissenschaften macht, und die Geisteswissenschaften als die „verständlich-machende Disziplinen“ bestimmt. Frithjof Rodi: Über einige Grundbegriffe einer Philosophie der

16

hinsichtlich des Konflikts der Interpretationen als Problem des Interpretierens in der

Hermeneutik Gadamers „entproblematisiert“ 27 worden ist, während Hirsch ein

anderes Modell des Verstehens vom Fremden und andere Antworten auf die Frage

nach der Gültigkeit des Verstehens anbietet.

Geisteswissenschaften, in: Dilthey-Jahrbuch, Bd.1/1983, S. 13-38. 27 Vgl. hierzu Werner Kogge: Verstehen und Fremdheit in der philosophischen Hermeneutik. Heidegger und Gadamer, Hildesheim 2001. Kogge bezeichnet es als „Nivellierung des Fremden“.

17

1. Das Problem des Fremden in den Traditionen der Hermeneutik: eine kleine

Vorgeschichte

Die Hermeneutik als allgemeine wissenschaftliche Disziplin wurde in der neueren

Philosophie nach dem Unterschied ihrer Wesens- und Aufgabenbestimmungen oft in

zwei Traditionen unterschieden: die Tradition der methodologischen Hermeneutik, die

darauf abzielt, methodologische Prinzipien für die Interpretation anzubieten und zu

der Schleiermacher, Dilthey, Betti und Hirsch zählen; und die Tradition der

existenzial-ontologischen Hermeneutik Heideggers, dazu auch Gadamer gehört.28

Eine solche Unterscheidung ist gewiß nur grob und ein bißchen irreführend. Sie ist

grob, weil bei genauerer Betrachtung hier mindestens drei hermeneutische

Fragestellungen unterschieden werden könnten: nämlich die ethisch-methodologisch

orientierte Frage danach, wie fremde Rede verstanden werden kann und soll

(Schleiermacher); die erkenntnistheoretisch orientierte Frage nach den Bedingungen

der Möglichkeit des Verstehens von fremden Personen und ihren Lebensäußerungen

und ihrer Bedeutung für das historische Wissen und den Aufbau der

Geisteswissenschaften (Dilthey); und die fundamentalontologische Frage nach dem

Sinn von Sein, bei der das Verstehen als die Seinsweise des Daseins dargestellt und

28 Der amerikanische Wissenschaftler Richard E. Palmer z. B. meint: „The adherents of Schleiermacher and Dilthey look to hermeneutics as a general body of methodological principles which underlie interpretations. The followers of Heidegger see hermeneutics as a philosophical exploration of the character and requisite conditions for all understanding. […] Betti, in the tradition of Dilthey aims at providing a general theory of how ‘objectivations’ of human experience can be interpreted; […] Gadamer, following Heidegger, orients his thinking to the more philosophical questions of what understanding itself is.“ Richard E. Palmer: Hermeneutics. Interpretation Theory in Schleiermacher, Dilthey, Heidegger, and Gadamer, Evanston 1969. Bes. S. 47ff. Palmers Formulierung über Gadamer im Kontrast zu Betti zeigt nun ein Vorurteil gegenüber die Tradition der philologisch-methodologischen Hermeneutik, als ob ihre methodologischen Reflexionen über das Problem des Verstehens und Interpretierens weniger philosophisch wären. Vgl. dazu Thomas M. Seebohm: Zur Kritik der hermeneutischen Vernunft, Bonn 1972, S. 18 unten Anmerkung : „Das Werk E. D. Hirschs wird vom Standpunkt der Fundamentalontologischen Theorie der Hermeneutik als die beste Darstellung der Methode gelobt [...] Das ist nicht ganz korrekt, sofern Hirsch nicht nur [...] über die Methode spricht, sondern auch methodologisch reflektiert. “

18

die Philosophie als Auslegen und Interpretieren bezeichnet wird, also die

hermeneutische Philosophie (Heidegge).

Es ist irreführend, wenn man in der Tradition der Schleiermacherschen

Hermeneutik bloß die methodologische Dimension der Interpretation erkennt, ohne

auf die ethische Dimension solcher Hermeneutik und auf ihren unmittelbaren

Zusammenhang mit der Dialektik zu achten. Denn das hermeneutische Verstehen bei

Schleiermacher ist nicht nur ein methodologisch reflektiertes Mittel auf dem Wege zur

Sacherkenntnis, sondern hat stets mit der Vermittlung der Gedanken und der Ideen der

Menschen untereinander zu tun und stiftet somit die Bildung der Gemeinschaft. Die

Nachfolger Schleiermachers (Dilthey, Betti und Hirsch) gehen nicht weniger von

solcher Verbindung der Hermeneutik mit der Ethik aus, wenn sie nach Objektivität

oder Gültigkeit der Interpretation streben.

Es wäre zutreffender, die hermeneutischen Traditionen in die Tradition der

Hermeneutik des Fremden und die der Hermeneutik des Eigenen zu unterscheiden.

Denn bezüglich des Problems des Fremden könnte die Hermeneutik als allgemeine

Theorie des Verstehens tatsächlich in die zwei Traditionen unterschieden werden: die

Tradition der Schleiermacherschen Hermeneutik als Hermeneutik des

Fremdverstehens und die Tradition der Heideggerschen Hermeneutik als Hermeneutik

des Selbstverstehens (Heidegger und Gadamer).

Die Tradition der Schleiermacherschen Hermeneutik kann eine Hermeneutik des

Fremden genannt werden, weil das Verstehen in dieser Tradition der Hermeneutik sich

als ein „Lebensverhältnis zu einem fremden Leben“ darstellt. Das Verstehen ist hier

auf das Verständnis vom Fremden im weitesten Sinne gerichtet: sei es auf fremde

Rede (Schleiermacher), sei es auf fremde Personen und ihren Lebensäußerungen

(Dilthey), sei es auf das fremde Gedankengut (Betti), sei es auf fremde Kulturen

(Hirsch). Die Tradition der Heideggerschen Hermeneutik kann als eine Hermeneutik

19

des Eigenen betrachtet werden, weil das Verstehen in dieser Tradition auf das

Selbstverständnis im eigentlichen Sinne abzielt: sei es auf das Selbstverständnis des

Daseins in der Philosophie (Heidegger), sei es auf das Verständnis der eigenen

Kulturtraditionen (Gadamer).

Im folgenden werde ich versuchen, die Vorgeschichte des Fremdheitsproblems in

der Hermeneutik am Leitfaden dieser Unterscheidung, die schon bei der

Aufgabenbestimmung der Hermeneutik bei Schleiermacher, Dilthey und Heidegger

zu erkennen ist, kurz zu skizzieren.

1.1. Das Fremde als allgemeines Verständnisproblem bei Schleiermacher und

Dilthey

Das Problem des Fremden vor Schleiermachers Begründung der allgemeinen

Hermeneutik 29 bezieht sich in der Tradition der theologischen Hermeneutik

hauptsächlich auf das Problem der „dunklen Stellen“ der Heiligen Schrift, deren „Sinn

aus dem Zusammenhang schwer [...] mit der Vernunft zu verstehen ist“, wie zum

Beispiel Spinoza in seinem Theologisch-politischen Traktak schrieb 30 . Für die

Tradition der philologischen Hermeneutik war das Fremde hauptsächlich auf das „in

29 Die These, Schleiermacher sei der Begründer einer allgemeinen Hermeneutik gewesen, wird von manchen Kritikern bestritten. Oliver R. Scholz weist z.B. darauf hin, daß vor Schleiermacher schon Johann Conrad Dannhauer (1603-1666) in der Neuzeit eine hermeneutica generalis als selbständige philosophische Disziplin ausgebildet hat. Oliver R. Scholz: Verstehen und Rationalität. Untersuchungen zu den Grundlagen von Hermeneutik und Sprachphilosophie, Frankfurt a. M. 2001, S. 36f. Trotz solcher Hinweise sind dennoch zwei Typen von allgemeiner Hermeneutik als allgemeiner Interpretationstheorie zu unterscheiden: der eine beschränkt sich auf die Interpretationen in der Philologie und in der Theologie, und ist noch sehr normativ auf die klassische Antike oder die Bibel ausgerichtet; der andere löst die Hermenutik „als eine universale Lehre des Verstehens und Auslegens von allen dogmatischen und okkasionellen Momenten [der philologischen und theologischen Hermeneutik] ab“, wodurch Gadamer Schleiermachers Konzeption einer allgemeinen Hermeneutik von den anderen unterschieden sieht. Hans-Georg Gadamer: Klassische und philosophische Hermeneutik, Ges. Werke Bd. 2, Tübingen 1993, S. 92-117. 30 Baruch de Spinoza: Tractatus Theologico-Politicus, De Interpretatione Scripturae, Cap. VII. Zitiert nach: Seminar: Philosophische Hermeneutik, hg. von H.-G. Gadamer/ G. Boehm, Stuttgart 1976, S. 54f.

19

einer fremden Form (Sprache) verfaßten Werkes“, also auf die in fremden Sprachen

verfassten Schriften des Altertums angewiesen, wie Friedrich Ast in seiner

Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik gezeigt hat31. Zusammenfassend

wurde das Fremde als ein Problem der „traditionellen Hermeneutik“ von Gadamer

(gegenüber seiner eigenen philosophischen Hermeneutik) wie folgt formuliert:

“Fremd sind in dem gleichen, eindeutig bestimmten Sinne in Wahrheit alle

»Gegenstände«, mit denen die traditionelle Hermeneutik zu tun hat“32. Damit wird

das Fremde im ganz allgemeinen Sinne als Problem der „traditionellen“ Hermeneutik

angedeutet, zu der die theologische und die philologische Hermeneutik gehören.

Erst am Anfang des 19. Jahrhundert wird das Problem des Fremden in der

allgemeinen Hermeneutik Schleiermachers zu einem weit über die theologische und

die philologische Tradition der Hermeneutik hinausreichenden Bereich erweitert,

indem er alles Verstehen fremder Rede, den alltäglichen Umgang mit anderen

Mitmenschen eingeschlossen, zum Aufgabenbereich der Hermeneutik erklärt.

1.1.1. Nichtverstehen und Mißverstehen als Problem

„Die Hermeneutik beruht auf dem Factum des Nichtverstehens der Rede,“ so

beginnt Schleiermacher seine Einleitung in die Allgemeine Hermeneutik33, die anhand

einer neu aufgefundenen Abschrift aus dem verlorenen Berliner Vorlesungsheft

(1809/10) von Wolfgang Virmond 1985 neu herausgegeben wurde34 und neben den

31 Friedrich Ast: Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik, Landshut 1808, S. 165-212. Zitiert nach: Seminar: Philosophische Hermeneutik, hg. v. H.-G. Gadamer/G. Boehm, Stuttgart 1976, S. 113. 32 Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode, Ges. Werke I, Tübinden 1990, S. 391. Im Text als WM mit Seitenzahl zitiert (= WM). 33 Friedrich Schleiermacher: Die allgemeine Hermeneutik (1809/10), hg. von Wolfgang Virmond. In: Internationaler Schleiermacher-Kongreß Berlin 1984, hg. Von Kurt-Victor Selge (=Schleiermacher-Archiv Bd. I/2), Berlin, New York 1985, 1269-1310, im Text als HV mit Seitenzahl zitiert. 34 Siehe den Bericht über »Neue Textgrundlage zu Schleiermachers früher Hermeneutik« von Wolfgang

20

von Heinz Kimmerler aus den Handschriften herausgegebenen Texten eine der

wichtigsten Textgrundlagen zu Schleiermachers früher Hermeneutik ist. Das

Nichtverstehen der Rede kommt jedoch „in seiner größten Allgemeinheit genommen

auch in der Muttersprache und im gemeinen Leben“ vor (HV, 1271; vgl. HK, 31). So

begründet Schleiermacher die Notwendigkeit der allgemeinen Hermeneutik aus der

Tatsache, daß das Verstehen der Rede sowie der Schrift eines Anderen nicht

selbstverständlich und das Nichtverstehen und das Mißverstehen nicht selten ist.

In seiner ersten Akademierede Über den Begriff der Hermeneutik, mit Bezug auf F.

A. Wolfs Andeutungen und Asts Lehrbuch von 1829 distanziert sich Schleiermacher

eindeutig von Fr. Asts Auffassung, die Aufgabe der Hermeneutik sei „die

hervorzubringende Einheit des griechischen und christlichen Lebens“. Denn, „so

könnte ja auch wol die Hermeneutik nichts anderes als dieses beides zu behandeln

haben“, meint Schleiermacher (HK, 126). Es ist interessant, daß er dabei sogleich auf

die orientalische und die romantische Literatur verweist, die ja dann auch noch

hinzutreten müßten, wenn die Hermeneutik bestimmten Epochen und Traditionen

gelten soll (HK, 126f). Aber er selbst möchte eben gar nicht die Hermeneutik durch

ihren Gegenstand, sondern nur durch ihre Methode begründen, und deshalb schreibt er,

sie solle für alle Rede und jeden Text und sogar für die Zeitung zuständig sein. Es ist

die besondere Einsicht Schleiermachers, daß er gegen Friedrich Asts Beschränkung

des hermeneutischen Problems auf das Fremde, welches als das in fremder Sprache

Verfaßte verstanden werden soll, einwandte: „wenn das zu verstehende dem der

verstehen soll ganz fremd wäre, und es gar kein beiden gemeinschaftliches gäbe: so

gäbe es auch keinen Anknüpfungspunkt für das Verstehen.“ Das heißt, wenn alles

fremd ist, dann ist kein Verstehen möglich und keine Hermeneutik möglich. Wenn

Virmond. In: Internationaler Schleiermacher-Kongreß, Berlin 1984, hg. v. Kurt-Victor Selge, Berlin/ New York 1985, S. 575-590.

21

umgekehrt alles vertraut wäre, wenn „gar nichts fremd wäre zwischen dem Redenden

und dem Vernehmenden“, dann wäre Hermeneutik nicht nötig, wie sie „dann gar nicht

erst anzuknüpfen brauchte“ (HK, 128). Schleiermacher versucht das Aufgabengebiet

der Hermeneutik zwischen diesen beiden Extremen, dem gänzlich Fremden und dem

gänzlich Vertrauten, einzuschließen und stellt fest: „überall wo es im Ausdruk der

Gedanken durch die Rede für einen Vernehmenden etwas fremdes giebt, da sei eine

Aufgabe, die er nur mit Hilfe unserer Theorie lösen könne; wiewol freilich immer nur,

sofern es zwischen ihm und dem Redenden auch schon etwas Gemeinsames

gibt“ (HK, 128f).

An dieser Stelle wird auch deutlich, woran Dilthey und Gadamer mit ihrer

Bestimmung der Hermeneutik als dem „Zwischen“ von Fremdheit und Vertrautheit

angeknüpft haben. So meint Dilthey: „Die Auslegung wäre unmöglich, wenn die

Lebensäußerungen gänzlich fremd wären. Sie wäre unnötig, wenn in ihnen nichts

fremd wäre. Zwischen diesen beiden äußersten Gegensätzen liegt sie also. Sie wird

überall erfordert, wo etwas fremd ist, das sich die Kunst des Verstehens zu eigen

machen soll.“35 Ähnlich äußert sich Gadamer: „In diesem Zwischen ist der wahre Ort

der Hermeneutik“ (WM, 300), obwohl er unter Fremdheit etwas anderes versteht als

Schleiermacher und Dilthey.

Gleichermaßen kritisiert Schleiermacher Friedrich August Wolfs Beschränkung der

Hermeneutik auf Schriften des Altertums36. Demgegenüber meint Schleiermacher,

daß die Ausübung der Hermeneutik „überall vorkommen wird, wo wir Gedanken oder

Reihen von solchen durch Worte zu vernehmen haben, und zwar in beiderlei Vortrag,

dem mündlichen und schriftlichen“ (HK, 130). Schleiermacher hält die Ausübung der

35 W. Dilthey: Entwürfe zur Kritik der historischen Vernunft, Ges. Schriften, Bd. VII, S. 225. 36 Schleiermacher bezieht sich hier auf Friedrich August Wolfs Darstellung der Altertumswissenschaft nach Begriff, Umfang, Zweck und Wert, in: Museum der Altertumswissenschaft, hg. von F. A. Wolf und Ph. Buttmann, Bd. I, Berlin 1807. Siehe die Anmerkung von Kimmerle in: Schleiermacher: Hermeneutik, a.a. O., S. 79.

22

Hermeneutik „im Gebiet der Muttersprache und im unmittelbaren Verkehr mit

Menschen für einen sehr wesentlichen Teil des gebildeten Lebens“(HK, 130). Damit

macht Schleiermacher alles Verstehen fremder Rede zum Aufgabenbereich der

Hermeneutik, und deshalb ist sie für die kommunikative und diskursethische

Herausforderung unseres heutigen Alltags wichtig37!

Folglich wird man mit dem Fremden nicht nur in fremder Sprache, auch nicht bloß

in den Schriften der Antike konfrontiert. Nichtverstehen und Mißverstehen geschieht

auch häufig im Umgang mit anderen Menschen im alltäglichen Leben. Denn das

Fremde kann für jeden sowohl im alltäglichen Umgang mit anderen Mitmenschen als

auch im Umgang mit fremden Kulturüberlieferungen aufgrund der Verschiedenheit

des familiären, sozialen sowie wissenschaftlichen und kulturellen Hintergrundes als

etwas Unbekanntes, Unverständliches oder Ungewöhnliches vorkommen. Deshalb

kann die Erweiterung des hermeneutischen Gebietes auf alles Verstehen fremder Rede

sowohl im sozialen und politischen als auch im kulturellen Bereich eine

unverkennbare Bedeutung für gegenwärtige Diskussionen über das Problem des

Fremden in der Hermeneutik gewinnen. Insofern haben Schleiermacher und Dilthey

das Fremde als Verständnisschwierigkeit mit Recht sehr weit gefaßt38. Es versteht

sich, daß der Schwierigkeitsgrad des Verstehens mit der Reichhaltigkeit und

Bedeutsamkeit menschlicher Rede zunimmt. Je reichhaltiger und bedeutsamer die 37 Zur Aktualität und Bedeutung der Schleiermacherschen Hermeneutik für das Thema interkulturelles Verstehens vgl. den Aufsatz von Axel Horstmann: Interkulturelle Hermeneutik. Eine neue Theorie des Verstehens? Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Berlin 47 (1999) 3, S. 427-448. Ähnlich wird die Bedeutung der Schleiermacherschen Hermeneutik für das Problem des Fremdverstehens von Wolfgang Geiger unter Verweis auf Klaus Lichtbaus vergleichende Verbindung zwischen Schleiermachers geisteswissenschaftliche Hermeneutik mit der hermeneutischen Kultur- und Sozialwissenschaften Georg Simmels und anderer Soziologen des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts, z. B. Max Weber und Karl Mennheim, kenntlich gemacht. Wolfgang Geiger: Geschichte und Weltbild. Plädoyer für eine interkulturelle Hermeneutik, Frankfurt a. M. 2002, s. bes. S. 53. 38 Vgl. ähnlich dazu Thomas M. Seebohm: Die Begründung der Hermeneutik Diltheys in Husserls transzendentaler Phänomenologie. In: Dilthey und die Philosophie der Gegenwart, hg. u. eingel. von Ernst Wolfgang Orth, Freiburg/München 1985, S. 97-124, s. bes. S. 107: „’Fremd’ ist hier in einem sehr weiten Sinne zu nehmen. Es kann sich um andere Personen handeln, die so verstanden werden, aber auch um soziale Zusammenhänge, Institutionen, d.h. Formen objektiven Geistes, dann auch um Kunstwerke und sogar um das Verstehen meiner selbst und meiner Lebensgeschichte.“

23

Rede ist, desto erforderlicher wird das kunstmäßige Verstehen.

Für Schleiermacher hat die Auslegungspraxis in der Theologie, Philologie und

Jurisprudenz bis zu seiner Zeit eher „laxen“ Charakter, da diese nur die schwierigen

Fälle vor Augen haben. Er stellt fest: „Die eigentlichen Sprachforscher und

Kunstkenner der Rede haben sie [die allgemeinen Regeln] nicht bearbeitet, sondern

sich mit der Praxis begnügt [...]. Was noch übrig bleibt, ist Genie, dem die Analyse

nicht hilft“ (HV, 1272). Daher sind sie für Schleiermacher bloß „spezielle

Hermeneutiken“, „ein Aggregat von Observationen“ (HK, 79). Dagegen soll die

allgemeine Hermeneutik als „Kunstlehre“ des Verstehens nicht nur eine

wissenschaftlich begründete Theorie des Verstehens bereitstellen, sondern darüber

hinaus auch direkt mit der Praxis verbunden und bei dieser behilflich sein, d.h. einen

sicheren Boden für die Auslegungspraxis und die dazugehörige Kritik schaffen39,

indem die Hermeneutik durch die Analyse des Verstehensverfahrens die allgemeinen

Prinzipien der Interpretation herausarbeitet und Anweisungen zur Lösung der

Verständnisschwierigkeiten gibt. Dabei wirktet Schleiermacher - worauf Dilthey mit

Recht hinweist - das Gebiet der Hermeneutik aus, wie es die „Auslegungskunst auf

die ganze ethische Sphäre des symbolisierenden Handelns“ bezieht40.

Für Birus bedeutet Schleiermachers “programmatische Einengung auf eine ‚Kunst

des Verstehens’“ [die »subtilitas intelligendi« (Verstehen)] zugleich „eine wesentliche 39 Das Bedürfnis nach Erweiterung des Gebiet der Hermeneutik bei Schleiermacher zeigt sich sowohl in den Aphorismen zur Hermeneutik von 1805 und 1809, die eigentlich eine Auseinandersetzung mit Ernestis Institution Interpretis Novi Testamenti (1. Aufl. 1761) sind, als auch in den Akademiereden von 1829 Ueber den Begriff der Hermeneutik, mit Bezug auf F. A. Wolfs Andeutungen und Asts Lehrbuch. Aus den Randbemerkungen zu den Akademie-Abhandlungen geht die Unzufriedenheit Schleiermachers mit seinen Vorgängern wie Ernesti in der Theologie und F. A. Wolf sowie F. Ast in der Philologie hervor: „Es fehlte freilich nicht an Anweisungen zur Auslegung, und Ernestis institutio interpretis für das Product einer tüchtigen philologischen Schule geltend genoß eines großen Ansehens und viele darin aufgestellte Regeln zeigten sich auch sehr brauchbar, aber es fehlte ihnen selbst die rechte Begründung weil die allgemeinen Principien nirgends aufgestellt waren und ich mußte also meinen eigenen Weg einschlagen“ (HK, 123). Folglich fand Schleiermacher es unerläßlich, „sich selbst über die Principien des Verfahrens eine möglichst genaue Rechenschaft abzulegen,“ „um selbst in der Auslegung sicher zu gehen,“ und um sein „Urteil über andere Ausleger klar und fest zu machen“ (HK, 123). 40 Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers, Ges. Schriften, Bd.14 / II, Berlin 1966, S. 724.

24

Vereinheitlichung und Ausdehnung des Feldes der Hermeneutik: denn sie beseitigt

nicht allein die Schranken zwischen den Spzialhermeneutiken der christlichen

Theologie und der Klassischen Philologie und erweitert ihren Bereich gleichermaßen

auf die orientalische wie die »romantische Literatur«, sondern diese Neubestimmung

macht darüber hinaus auch alle nicht-literarischen Redeäußerungen – seien es

Zeitungsartikel und -inserate, sei es das »gemeine Gespräch« - zum möglichen

Gegenstand der Auslegungskunst.”41

Für die Bedeutung Schleiermachers in der Geschichte der Hermeneutik werden von

den meisten Interpreten die zwei folgenden Punkten genannt: 1. die Erweiterung des

hermeneutischen Gebiets, indem er „alles Verstehen fremder Rede“ (HK, 124) zu

ihrem Gegenstand machte, die Hermeneutik aus ihrer jeweiligen Anbindungen an

Theologie, Philologie und Jurisprudenz herauslöste und den Grund zu einer

allgemeinen Hermeneutik legte, wodurch sie den Charakter einer eigenständigen

Wissenschaft bekommen hat42; 2. die Verortung der Aufgabe des Verstehens im

Zusammenhang mit Ethik und Dialektik, wodurch der Hermeneutik ein

philosophischer Charakter verliehen wird43.

41 Henrik Birus: Zwischen den Zeiten. Friedrich Schleiermacher als Klassiker der neuzeitlichen Hermeneutik. In: Hermeneutische Positionen. Schleiermacher – Dilthey – Heidegger – Gadamer, Göttingen 1982, S. 15-58, hier S. 18. 42 Vgl. Gunter Scholtz: Die Philosophie Schleiermachers, Darmstadt 1984, S. 145ff. Siehe auch Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers, Bd.2. Schleiermachers System als Philosophie und Theologie. Aus dem Nachlaß von Wilhelm Dilthey mit einer Einleitung hg. v. Martin Redeker, Berlin 1966; Wolfgang H. Pleger: Schleiermachers Philosophie, Berlin/New York 1988; Hans Ineichen: Philosophische Hermeneutik, Freiburg, München 1991. 43 Zur philosophischen Begründung der Hermeneutik und den Zusammenhang zwischen Interpretation und Wissen bei Friedrich Schleiermacher siehe die Untersuchungen von Reinhold Rieger: Interpretation und Wissen. Zur philosophischen Begründung der Hermeneutik bei Friedrich Schleiermacher und ihrem geschichtlichen Hintergrund. Berlin/New York 1988 (= Schleiermacher-Archiv, Bd.6), S. 221ff.

25

1.1.2. Sittlichkeit des Verstehens: Ethik und Hermeneutik

Die Hermeneutik wird als „technische“ Disziplin im Gesamtsystem der Philosophie

von Schleiermacher der Ethik zugeordnet 44 und spielt eine Vermittlungsrolle

zwischen den Realwissenschaften und der Idealwissenschaft45. Die Ethik schlägt die

Brücke zur Hermeneutik, „indem sie vom Verstehen handelt und als »Philosophie der

Geisteswissenschaften« der Hermeneutik als »Kunstlehre« einen

wissenschaftstheoretischen Ort zuweist: Als technische Disziplin verbindet sie

empirisches und philosophisches Wissen und leitet eine Praxis, das Verstehen und

Auslegen,“ so Scholtz46. In seiner Ethik erklärt Schleiermacher:

„Von Seiten der Sprache angesehen entsteht die technische Disciplin der Hermeneutik daraus, daß jede Rede nur als objective Darstellung gelten kann, inwiefern sie aus der Sprache genommen und aus ihr zu begreifen ist, daß sie aber auf der anderen Seite nur entstehen kann als Action eines Einzelnen, und als solche, wenn sie auch ihrem Gehalte nach analytisch ist, doch von ihren minder wesentlichen Elementen aus freie Synthesis in sich trägt. Die Ausgleichung beider Momente macht das Verstehen und Auslegen zur Kunst.“47

Die Ausgleichung beider Momente im Verstehen bedeutet zugleich eine Ausgleichung

44 In seinem Entwurf der Ethik von 1816 hat Schleiermacher ausführlich über „das Geschäft der verschiedenen technischen Disziplinen” gesprochen. „Die speculative Construktion kann eben so verglichen werden mit einem empirisch Gegebenen als dem, woraus jene Construction soll realisiert werden, theils um zu zeigen, was daran schon als ethisch Gewordenes zur ferneren Realisirung mitwirkt und was als Nicht-gewordenes entgegenwirkt, theils um nachzuweisen, wie die gegebenen zeitlich und räumlich Bedingungen müssen behandelt werden, um die größtmögliche Einigung von Vernunft und Natur daraus hervorzubringen. Dies ist das Geschäft der verschiedenen technischen Disciplinen, welche von dem Empirischen abhängig zwischen der Ethik und Geschichte schweben.” F. Schleiermacher: Entwürfe zu einem System der Sittenlehre. Werke. Auswahl in vier Bänden, Bd. 2 (= Ethik), hg. v. Otto Braun und J. Bauer, 2. Auflage, Leipzig 1927, S. 505f., S. 356. Vgl. dazu die Untersuchungen von Gunter Scholtz: Ethik und Hermeneutik, S. 65-92, bes. S. 71-73. 45 Friedrich Schleiermacher, a.a.O. S. 248. Zur Stellungnahme der Hermeneutik in dem

philosophischen System Schleiermachers, vor allem im System der Ethik, siehe die Abhandlung Diltheys über „Das hermeneutische System Schleiermachers in der Auseinandersetzung mit der älteren protestantischen Hermeneutik” in: W. Dilthey: Leben Schleiermachers, a.a.O., bes. S. 691-724; sowie die Einleitung H. Kimmerles, in: Schleiermacher: Hermeneutik, hg. v. H. Kimmerle, a.a.O., S. 20. 46 Scholtz: Ethik und Hermeneutik, S. 139. 47 Schleiermacher: Ethik, a.a.O., S. 356.

26

des Gegensatzes von „Eigentümlichem und Identischem, von Gefühl und Erkennen,

von Kunst und Wissen“, wie Dilthey angedeutet hat48. Denn für Schleiermacher ist

die Individualität des Einzelnen „ein wahres In-eins-bilden des Allgemeinen

[allgemeiner Vernunft] und Besonderen [individuellen Gefühls] und repräsentiert also

gleichsam die primitive Formel der Welt“49. Das bedeutet, daß in jedem Individuum

sowohl eine Allgemeinheit als seine Eigentümlichkeit enthalten muß, „denn das

Individuum trägt sowohl den Charakter der Identität als den der

Eigentümlichkeit,“ erklärt Dilthey50. Für Schleiermacher ist die ethische Einheit die

Identität des Allgemeinen und des Besonderen51. Insofern könnte jedes Individuum

als die kleinste ethische Einheit betrachtet werden, wenn das Individuum sowohl den

Charakter der Identität und den der Eigentümlichkeit in sich trägt. Die Möglichkeit

und die Grenze des Verstehens der Menschen untereinander in der Hermeneutik von

Schleiermacher und Dilthey liegen bereits in solcher Idee vom Menschen.

Da jedes vernünftige Leben die Funktionen des Erkennens (als ein „Bilden der Natur

zum Organ“ (E, 89) bzw. als „ein in sich Aufnehmen“ (E, 96), wie z.B. Fühlen und

Denken) und des Darstellens (als „Gebrauch des Organs zum Handeln der

Vernunft“ bzw. als „ein aus sich Hervorbringen“, wie z.B. Sprechen) haben, macht die

ständige Oszillation zwischen Erkennen und Darstellen für Schleiermacher „die

Oscillation des sittlichen Lebens“ aus. Hier ist sowohl die Entwicklung der

Individualität als auch die Anschauung der Individualität als Aufgabe und Prozeß des

sittlich-geschichtlichen Lebens dargestellt52. Hier ist „die Welt“ für Schleiermacher

sowohl „Object für die Erkenntniß oder Symbol zur Darstellung oder Organ für

48 Dilthey: Leben Schleiermachers, S. 696. 49 Schleiermacher: Ethik, S. 122. 50 Dilthey: Leben Schleiermachers, S. 693. 51 Schleiermacher: Ethik, S. 102. 52 Vgl. Martin Redeker: Einleitung, in: Dilthey: Leben Schleiermachers, Ges. Schriften, Bd. XIV/1, Berlin 1966, S. L.

27

beides“53.

Das Verstehen als eine Tätigkeit des vernünftigen Lebens ist für Schleiermacher

deshalb sittlich, weil es auf das gegenseitige Verstehen und Anerkennen der

unübertragbaren Individualität und die Stiftung der Gemeinschaftlichkeit gerichtet ist.

Bei Schleiermacher liegt das Prinzip des Individualisierens bereits in der Sittlichkeit

selbst:

„Durch die individuelle organisierende Tätigkeit wird nun die ganze Sphäre jedem Andern unzugänglich wegen des innern Dranges das schon Gebildete als solches anzuerkennen, und das Individuelle ist ja das vollkommenst Gebildete und unverständlich wegen des Unübertragbaren. Denn es ist ja eben, was kein anderes sein kann, und kann nie, ohne zerstört zu werden, Organ eines Andern werden. Daraus entstände nun ein völliges Isolirtsein jeder gebildeten Sphäre, womit der allgemeine Charakter der Vernunft nicht bestehen kann. Daraus folgt nun, daß wiederum eine Gemeinschaft der Individualität muß gestiftet werden, die aber auf nichts anderes gehen kann als auf das gegenseitige Anschauen und Erkennen. Dieser Trieb die unzugängliche und unübertragbare Individualität anzuschauen ist, was man im engeren, aber noch nicht engsten Sinne Liebe nennt“ (Hervorhebung von mir, Chen)54.

Hier wird ein sittliches Leben als eine ethische Einheit, also die Identität der

Gemeinschaftlichkeit und der Eigentümlichkeit angesehen, und die Liebe als der

Trieb für gegenseitiges Verstehen und Anerkennen betrachtet. „Sittlich ist die

Betonung der unübertragbaren Individualität – »das Sich-Ausschließen-Lassen, oder

das Andere-für-sich-sein-Lassen« – nur dann, wenn jeder sich selbst und alle andere

gleichwohl als »das Sein der Vernunft« und so als Gemeinschaft versteht. »Wer

Sittlichkeit sezt, sezt einen Trieb Andere zu suchen und anzuerkennen«,“ weist

Scholtz die Sittlichkeit des Verstehens des Anderen bei Schleiermacher nach55 .

Dilthey hat diese Grundgedanken von Schleiermacher übernommen und schrieb dazu:

53 Schleiermacher: Ethik, S. 88. 54 Schleiermacher: Ethik, S. 125. 55 Scholtz: Ethik und Hermeneutik, S. 139.

28

„Das gegenseitige Verstehen versichert uns der Gemeinsamkeit, die zwischen den

Individuen besteht.“56 In seiner Analyse der Leistungen des Verstehens schreibt

Dilthey: „Das Verstehen erwächst zunächst in den Interessen des praktischen Lebens.

Hier sind die Personen auf den Verkehr miteinander angewiesen. Sie müssen sich

gegenseitig verständlich machen. Einer muß wissen, was der andere will. So entstehen

zunächst die elementaren Formen des Verstehens.“57

Dilthey hat das Prinzip der Individualität bei Schleiermacher als eine aus dem

ethischen, subjektiven Idealismus Fichtes abgeleitete Idee vom Menschen gesehen.

Aus der absoluten Selbsttätigkeit des Ich Fichtes werde die Individualität

Schleiermachers: „Für Fichtes Ich waren alle übrigen Intelligenzen der pure Stoff für

die Verwirklichung des immanenten Sittengesetztes. [...] Für die Individualität

Schleiermachers sind sie eine notwendige Ergänzung über die Schranken ihrer Idee

hinaus in die der Menschheit. Denn nur in dem Kosmos der Individualitäten erscheint

die menschheitliche Idee“58. Das bedeutet bei Schleiermacher, „daß jeder Mensch auf

eigene Art die Menschheit darstellt“59. Für Dilthey ist es eine „Anschauung von der

transzendentalen Einheit der menschlichen Natur in allen Individuen, die sich in

Rassen, Nationen und Einzelpersonen individualisiert“60. Insofern muss das Verstehen

von der einzelnen Person, von der Individualität anfangen, wenn man die Welt des

Menschen, die Idee der Menschheit verstehen möchte.

56 Dilthey: Ges. Schriften, Bd.VII, S. 141 57 Dilthey: Ges. Schriften, Bd.VII, S. 207. 58 Für Dilthey war dies „eine ästhetische Anschauung der menschlichen Welt“, denn „das Sittliche ist hier nichts an sich, nichts Transzendentes, Allgemeines, sondern nur die in der Individualität erscheinende Idee. [...] Aber auch nur soweit ist diese Anschauung des Ethischen rein ästhetisch. Denn wenn Schleiermacher in der unendlichen Vielheit der Individualitäten die Offenbarung der überall gegenwärtigen Idee der Menschheit erblickt, so verbindet sich hier die spekulative oder religiöse Idee mit der ästhetischen Anschauung.“ Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers, S. 663f. 59 Schleiermacher: Monologen WW III 1, S. 367. 60 Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Ges. Schriften, Bd. VII, S. 112.

29

1.1.3. Ethik, Hermeneutik und die Geisteswissenschaften

Von hier aus läßt sich die enge Verbindung zwischen Schleiermachers Ethik und

Hermeneutik und Diltheys eigenem Versuch, den Ertrag des Verstehens anderer

Personen und ihrer Lebensäußerungen für das historische Wissen und für den Aufbau

der Geisteswissenschaften festzustellen, leicht erkennen. Denn das individuelle Leben

und das Verstehen waren für Dilthey die Ausgangspunkte seiner Überlegungen über

den „Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften“, die bereits in

seiner »Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883)« als die Aufgabe einer Kritik

der historischen Vernunft bzw. als eine erkenntnistheoretische Begründung der

Geisteswissenschaften herausgestellt wurden61.

Die Geisteswissenschaften gehen bei Dilthey aus dem Leben der Einzelnen und der

Gemeinschaften hervor. „Mich führte historische wie psychologische Beschäftigung

mit dem ganzen Menschen dahin, diesen in der Mannigfaltigkeit seiner Kräfte, dies

wollend, fühlend vorstellende Wesen nach der Erklärung der Erkenntnis und ihrer

Begriffe (wie Außenwelt, Zeit, Substanz, Ursache) zugrunde zu legen,“ sagt Dilthey

in der Vorrede zur Einleitung62. „So waren ihre Ausgangspunkte das Leben und

Verstehen, das im Leben enthaltene Verhältnis von Wirklichkeit, Wert, Zweck, und sie

unternahm, die selbständige Stellung der Geisteswissenschaften den

Naturwissenschaften gegenüber darzutun, die Grundzüge des

erkenntnistheoretisch-logischen Zusammenhangs in diesem vollständigen Ganzen

aufzuzeigen und die Bedeutung der Auffassung des Singulären in der Geschichte zur

Geltung zu bringen,“ erklärt Dilthey später in seinem erneuten Versuch, von dem

erkenntnistheoretischen Problem aus den Aufbau der geschichtlichen Welt in den

61 Vgl. Dilthey: Die Verschiedenheit des Aufbaus in den Naturwissenschaften und den

Geisteswissenschaften, Ges. Schriften Bd. VII, S. 117. 62 Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften, Vorrede, Ges. Schriften, Bd. I, S. XVIII.

30

Geisteswissenschaften zu untersuchen63.

Die Individuen seien die ideelle Einheiten, die Träger des Lebens und der

Lebenserfahrung, weil ein unendlicher Lebensreichtum sich in dem individuellen

Dasein der einzelnen Personen vermöge ihrer Bezüge zu ihrem Milieu, zu anderen

Menschen und Dingen entfalte. „Aber jedes einzelne Individuum ist zugleich ein

Kreuzungspunkt von Zusammenhängen, welche durch die Individuen hindurchgehen,

in denselben bestehen, aber über ihr Leben hinausreichen und die durch den Gehalt,

den Wert, den Zweck, der sich in ihnen realisiert, ein selbständiges Dasein und eine

eigene Entwicklung besitzen. Sie sind so Subjekte ideeller Art. Es wohnt denselben

irgendein Wissen von der Wirklichkeit bei; es entwickeln sich in ihnen

Gesichtspunkte der Wertschätzung; Zwecke werden in ihnen realisiert; sie haben im

Zusammenhang der geistigen Welt eine Bedeutung und behaupten diese,“ führt

Dilthey die Idee der Individualität und ihre Bedeutung für die Geisteswissenschaften

fort 64 . Jene Zusammenhänge, welche die Individuen mit einander verknüpfen,

ergeben sich nur durch das wechselseitige Verstehen. In diesem Verstehen sieht

Dilthey die Methode, „welche die Geisteswissenschaften erfüllt.“ „Alle Funktionen

vereinigen sich in ihm. Es enthält alle geisteswissenschaftlichen Wahrheiten in sich.

An jedem Punkt öffnet das Verstehen eine Welt,“ so Dilthey (Hervorhebung von mir,

Chen) 65 . Nicht ein begriffliches Verfahren bildet die Grundlage der

Geisteswissenschaften, sondern das „Innewerden eines psychischen Zustandes in

seiner Ganzheit“ (als Erleben) und „Wiederfinden desselben im Nacherleben“ (als

Verstehen) 66 . „Leben faßt hier Leben, und die Kraft, mit welcher die zwei

elementaren Leistungen der Geisteswissenschaften vollzogen werden, ist die

63 Dilthey: Ges. Schriften Bd. VII, S. 117. 64 Dilthey: Der Aufbau, Ges. Schriften, Bd. VII, S. 134f. 65 Dilthey: Entwürfe zur Kritik der historischen Vernunft, Ges. Schriften, Bd. VII, S. 205. 66 Dilthey: Der Aufbau, Ges. Schriften, Bd. VII, S. 136.

31

Vorbedingung für die Vollkommenheit in jedem Teil derselben.“67. Hiernach stehen

Leben, Lebenserfahrung und Geisteswissenschaften in einem beständigen inneren

Zusammenhang und Wechselverkehr.

In der Ethik und Hermeneutik Schleiermachers ist das Verstehen eine sittliche

Tätigkeit des Menschen. Das Verstehen ist sittlich, weil es auf die Rede eines fremden

Lebens gerichtet ist und die Idee des Anderen sowohl für den einzelnen als auch für

die Gemeinschaft vermitteln soll. Insofern steht das Verstehen bei Schleiermacher von

Anfang an im ethischen Verhältnis zum fremden Leben. Dieses ethische Verhältnis

des Verstehens zum fremden Leben wird dann bei Dilthey ein

„Lebensverhältnis“ zwischen dem Verstehenden und fremden Lebensäußerungen

genannt. Es besteht ein Lebensverhältnis zwischen mir und den fremden

Lebensäußerungen, weil „ihre Zweckmäßigkeit in meiner Zwecksetzung, ihre

Schönheit und Güte in meiner Wertgebung, ihre Verstandesmäßigkeit in meinem

Intellekt gegründet“ ist, und das Verstehen „dringt in die fremden Lebensäußerungen

durch eine Transposition aus der Fülle eigener Erlebnisse“ 68 . Diese

„Transposition“ ist eine Tätigkeit der Phantasie, die von eigenem Erleben, von den

eigenen Erfahrungen ausgeht. Da jeder seine Erfahrungen mitteilt und wachsend die

Äußerungen des Anderen versteht, bauen die Individuen eine Welt gemeinsamer

Vorstellungen und ein Bewußtsein der Realität auf. „Realitäten gehen [...] nicht nur in

meinem Erleben und Verstehen auf: sie bilden den Zusammenhang der

Vorstellungswelt, in dem das Außengegebene mit meinem Lebensverlauf verknüpft ist:

in dieser Vorstellungswelt lebe ich, und ihre objektive Geltung ist mir durch den

beständigen Austausch mit dem Erleben und dem Verstehen anderer selbst

garantiert,“ stellt Dilthey den Zusammenhang der objektiven Vorstellungswelt mit der

67 Dilthey: Der Aufbau, a.a.O., S. 136. 68 Dilthey: Der Aufbau, a.a.O., S. 118.

32

Bildung der Realitäten im einzelnen Leben fest69. Diesen Zusammenhang nennt

Dilthey an andere Stelle die geistige Welt, die durch den objektiven Geist und die

Kraft der Individuen bestimmt ist. „Auf dem Verständnis dieser beiden beruht die

Geschichte,“ so Dilthey70.

1.1.4. Grammatische und psychologische Interpretation

Die Hermeneutik ist bei Schleiermacher eine Kunstlehre, also „die Kunst, sich in

den Besitz aller Bedingungen des Verstehens zu setzen“ (HV, 1271, Hervorheb. von

mir). Die Hermeneutik setzt „Kenntniß der Sprache und Sache beym ursprünglichen

Leser und Hörer“ voraus. Fragen grammatikalischer und wissenschaftlicher Art

müssen vor dem eigentlichen hermeneutischen Verfahren geklärt sein,„[s]onst müßte

sie [die Hermeneutik] allen Unterricht selbst übernehmen“ (HV, 1271). Insofern hat

die allgemeine Hermeneutik Schleiermachers nur die Aufgabe, allgemeine Prinzipien

der Interpretation aufzustellen. „Wie weit man aber und auf welche Seite vorzüglich

man mit der Annäherung gehen will, das muß jedesmal praktisch entschieden werden,

und gehört höchstens in eine Specialhermeneutik, nicht in eine allgemeine,“ sagt

Schleiermacher (HK, 88).

Der Unterschied zwischen dem Kunstmäßigen und dem Kunstlosen in der

Auslegung bei Schleiermacher liege „weder auf dem von einheimisch und fremd noch

auf dem von Rede und Schrift, sondern immer darauf, daß man einiges genau

verstehen will und anderes nicht“ (HK, 85). „Die laxere Praxis“ in der

Auslegungskunst, wie die in der Theologie, Jurisprudenz und Philologie, geht

Schleiermachers Meinung nach davon aus, „daß sich das Verstehen von selbst ergibt,

69 Dilthey: Der Aufbau, a.a.O., S.119. 70 Dilthey: Das Verstehen anderer Personen, a.a.O., S.213.

33

und drückt das Ziel negativ aus: ‚Mißverstand soll vermieden werden’“ (HK, 86). Der

Grund dieser Ansicht ist Schleiermacher zufolge „die Identität der Sprache und der

Combinationsweise in Redenden und Hörenden“ (ebd.). Das Geschäft der

Hermeneutik darf nach Schleiermacher aber nicht erst da anfangen, wo das

Verständnis unsicher wird, sondern „vom ersten Anfang des Unternehmens an, eine

Rede verstehen zu wollen“ (HV, 1272). Daher meint Schleiermacher: „Die strengere

Praxis geht davon aus daß sich das Mißverstehen von selbst ergiebt und daß Verstehen

auf jedem Punkt muß gewollt und gesucht werden“ (HK, 86). Eine solche Ansicht

setzt eben die Differenz der Sprache und der Kompositionsweise in Redenden und

Hörenden voraus.

Von hier aus wird das Ziel der Hermeneutik bei Schleiermacher als „das Verstehen

im höchsten Sinne“ bestimmt (HV, 1272). Er nennt zwei Maximen des Verstehens:

„Niedrige Maxime: Man hat alles verstanden, was man, ohne auf Widerspruch zu

stoßen, wirklich aufgefaßt hat. Höhere Maxime: Man hat nur verstanden, was man in

allen seinen Beziehungen und in seinem Zusammenhang nachconstruiert hat. – Dazu

gehört auch, den Schriftsteller besser zu verstehen, als er sich selbst“ (HV, 1272; vgl.

HK, 56). Um das Ziel des höchsten Verstehens zu erreichen, muß Schleiermacher

zufolge eine zweifache Aufgabe gelöst werden, nämlich die grammatische und die

psychologische Interpretation. Insofern hat das Verstehen eine Doppelrichtung:„nach

der Sprache und nach den Gedanken hin“ (HV, 1272).

Für Schleiermacher sind die ersten Anfängen der hermeneutischen Operation nichts

anderes, als wenn die Kinder anfangen, Gesprochenes zu verstehen. Er sagt:

„beim Lichte betrachtet befinden wir uns in jedem Augenblikk des Nichtverstehens noch in demselben Falle wie sie, nur der Maßstab ist kleiner. Wenngleich an dem Bekannten ist es doch fremdes was uns entgegentritt in der Sprache, wenn uns eine Verbindung von Wörtern nicht [...] deutlich werden will,

34

fremdes in der wenngleich der unsrigen noch so analogen Gedankenerzeugung, wenn uns der Zusammenhang zwischen den einzelnen Gliedern einer Reihe oder die Erstrekung derselben nicht feststehen will sondern wir unsicher schwanken; und wir können immer nur mit derselben divinatorischen Kühnheit beginnen“ (HK, 140).

Demnach ist das Verstehensbemühen und das Verständnis jedes Individuums wie die

sprachliche und geistige Entwicklung und Bildung eines Kindes, „ein stetiges, sich

allmählich entwickelndes Ganze, in dessen weiteren Verlauf wir uns immer mehr

gegenseitig unterstützen, indem jeder den übrigen Vergleichspunkte und Analogien

hergibt, das aber auf jedem Punkt immer wieder auf dieselbe ahndende Weise

beginnt“ (HK, 140f). Insofern wird das Verfahren des Verstehens bei Schleiermacher

als ein allmählich entwickelnder Fortgang beschrieben, nach welchem das gewonnene

Verständnis nur vorläufige Gültigkeit besitzen kann, weil das vollkommene Verstehen

im strengen Sinne nur approximativ zu erreichen ist und das Vorverstandene anhand

neu erworbenen Kenntnisse immer weiter korrigiert, verbessert und erweitert werden

kann.

Wenn Schleiermacher in seinen Aphorismen von 1805 und 1809 formuliert: „Alles

vorauszusezende in der Hermeneutik ist nur die Sprache und alles zu findende, wohin

auch die anderen objectiven und subjectiven Voraussezungen gehören muß aus der

Sprache gefunden werden“ (HK, 38), dann will er die Sprache nicht von dem Denken

ihres Sprechers trennen. Schleiermacher geht von der „Einheit von Denken und

Sprechen“ aus, die zur Ansicht der Sprache als der „Art und Weise des Gedankens,

wirklich zu sein“ führt 71. Rede und Denken stehen in einer festen Verbindung, weil

das Denken durch „innere Rede“ fertig wird, und insofern ist die Rede nur „der

gewordene Gedanke selbst“ (HK, 80). Diese Voraussetzung der Einheit von Denken

71 Vgl. Emilio Betti: Zur Grundlegung einer allgemeinen Auslegungslehre, ein hermeneutisches Manifest, in: Festschrift für Ernst Rabel (1954) II, S. 79-168, s. bes. S. 95.

35

und Sprechen, die schon in seiner Ethik72 als Voraussetzung für die Identität von

Erkennen und Darstellen zu sehen ist, ist entscheidend für Schleiermachers

Bestimmung von Verstehen als Kunst des Auslegens, die auf dem Moment der

grammatischen Interpretation (als Verstehen aus der Sprache) und dem Moment der

psychologischen Interpretation (als Verstehen im Denkenden) beruht:

„Wie jede Rede eine zwiefache Beziehung hat auf die Gesamtheit der Sprache und auf das gesamte Denken ihres Urhebers so besteht auch alles Verstehen auf den zwei Momenten, die Rede zu verstehen als herausgenommen aus der Sprache, und sie zu verstehen als Tatsache im Denkenden. Das Verstehen ist nur im Ineinander dieser beiden Momente. Beide stehen einander völlig gleich, und mit Unrecht würde man die grammatische Interpretation die niedere und die psychologische die höhere nennen. [...] Hier nach ist jeder Mensch auf der einen

Seite ein Ort, in welchem sich eine gegebene Sprache auf eine eigentümliche Weise gestaltet, und seine Rede ist nur zu verstehen aus der Totalität der Sprache. Dann aber auch ist er ein sich stetig entwickelnder Geist, und seine Rede ist nur als eine Thatsache von diesem im Zusammenhang mit den übrigen“ (HK, 80f; vgl. HV, 1272f).

Ähnlich wie bei Wilhelm v. Humboldt wird die Sprache in einer Rede hier bei

Schleiermacher als die durch den individuellen Sprecher modifizierte bzw. bestimmte

beschrieben73. Darin zeigt sich nicht nur die wechselseitige Bedingtheit zwischen

Sprache und Sprecher, sondern auch die Bedingtheit des Verstehens durch diese

Situation74. Das Problem des Mißverstehens besteht eben darin, daß die Identität der

72 Schleiermacher: Ethik, S. 97: „daß Denken und Sprechen identisch sein muß. Und so finden wir auch alles Denken als ein inneres Sprechen und alles innere Sprechen als Tendenz zum Äußern. Wir vernehmen unsere Gedanken selbst nur durch Worte. In dieser Identität ist nun Sprache das Element des einen Gliedes dieser Funktion des sittlichen Lebens.“ 73 „Erst im Individuum erhält die Sprache ihre letzte Bestimmtheit,“ so Humboldt. Wilhelm von Humboldt: Einleitung zum Kawi-Werk, in: Schriften zur Sprache, hg. v. Michael Böhler, Stuttgart 1973, S. 38. 74 Für Humboldt ist die Sprache das bildende Organ des Gedankens: „Die unzertrennliche Verbindung des Gedanken, der Stimmwerkzeuge und des Gehörs zur Sprache liegt unabänderlich in der ursprünglichen, nicht weiter zu erklärenden Einrichtung der menschlichen Natur.“ Humboldt, a.a.O., S. 44.

36

Sprache im Sprecher und im Interpreten hinsichtlich der Unübertragbarkeit der

Individualität nicht vorausgesetzt werden kann. Jede Rede setzt eine gegebene

Sprache voraus. „Man kann dies zwar auch umkehren, nicht nur für die absolut erste

Rede sondern auch für den ganzen Verlauf, weil die Sprache wird durch das Reden;

aber die Mitteilung setzt auf jeden Fall die Gemeinschaftlichkeit der Sprache, also

eine gewisse Kenntnis derselben voraus,“ erklärt Schleiermacher (HK, 81). Damit ist

die Voraussetzung der Gemeinschaftlichkeit der Sprache entscheidend für die

Möglichkeit der Mitteilung und des rekonstruktiven Verstehens, worauf sich auch

Dilthey und Hirsch berufen. Da Sprache und Sprecher sich wechselseitig bedingen,

muß das Verstehen der Rede sich auch auf beide Seiten richten. „Wegen dieses

zwiefachen Verstehens ist das Auslegen Kunst. Keines kann für sich vollendet

werden“ (HK, 56; vgl. HK, 82). Daher sagt Schleiermacher, daß die glückliche

Ausübung der Kunst auf dem „Sprachtalent“ und „dem Talent der einzelnen

Menschenkenntniß“ (HK, 82) beruht. So ist Voraussetzung der Hermeneutik bei

Schleiermacher eigentlich nicht nur die Sprache, sondern auch die Menschenkenntnis.

In der kompendienartigen Darstellung von 1819 wurde die Zusammengehörigkeit

von Hermeneutik (als Kunst des Verstehens) und Rhetorik (als Kunst des Redens) und

ihr gemeinsames Verhältnis zur Dialektik (als Kunst des Denkens und Wissens) von

Schleiermacher im Hinblick auf die wechselseitige Abhängigkeit von Reden,

Verstehen und Denken dargestellt. Die Kunst zu reden und die zu verstehen stehen

einander gegenüber. Da aber das Reden „die äußere Seite des Denkens“ ist, so ist die

Hermeneutik im Zusammenhang mit der Kunst zu denken, also „philosophisch“. Das

Reden bedeutet für Schleiermacher sowohl die Vermittlung für die

Gemeinschaftlichkeit des Denkens als auch die Vermittlung des Denkens für den

Einzelnen.

Die Zusammengehörigkeit von Hermeneutik, Rhetorik besteht darin, daß „jeder

37

Akt des Verstehens die Umkehrung eines Aktes des Redens ist, indem in das

Bewußtsein kommen muß welches Denken der Rede zum Grunde gelegen“ (HK, 80).

Insofern gehört es zur Aufgabe der Hermeneutik, den Gedanken des Anderen aus der

Rede zu verstehen, weil die Rede der „gewordene Gekanke“ ist. Jedoch so, „daß

Auslegungskunst von Composition abhängig ist und sie voraussetzt“ (HK, 80). Diese

Idee wurde später von Boeckh, Dilthey, Betti und Hirsch in ihrer Bestimmung des

Verstehens als Rekonstruktion der ursprüngliche Konstruktion übernommen. Dilthey

nennt das Verstehen „eine dem Wirkungsverlauf selber inverse Operation“, einen

„Vorgang des Sichhineinversetzens, der Transposition“, das ein Nacherleben ist75.

Betti nennt den Auslegungsprozeß eine „Umkehrung des schöpferischen Prozesses“76.

Die Abhängigkeit der Dialektik (als die Kunst des Denkens) von Hermeneutik und

Rhetorik liegt laut Schleiermacher darin, „daß alles Werden des Wissens von beiden

abhängig ist“ (HK, 80).

Schleiermachers Unterscheidung zwischen grammatischer Interpretation und

psychologischer Interpretation77 weist darauf hin, daß das Verstehen sich sowohl

philologisch als auch psychologisch vollzieht. Es ist hervorzuheben, daß er

keineswegs die psychologische Interpretation bevorzugt 78 . Für ihn sind die

grammatische und die psychologische Interpretation nicht zwei verschiedenen

Interpretationsarten, sondern zwei einander ergänzende und sich bedingende Seiten

einer Interpretation, und „jede Auslegung muß beides vollkommen leisten“ (HV,

75 Dilthey: Das Verstehen anderer Personen und ihrer Lebensäußerungen, Ges. Schriften, Bd. VII, S. 214. 76 Betti: a.a. O., S. 94f. 77 In der allgemeinen Hermeneutik von 1809/10 nennt Schleiermacher das Verstehen nach den Gedanken auch „die technische Interpretation” (HV, 1272). Mehr dazu siehe den Aufsatz von Bern Willim: »Problemüberlagerungen im Konzept der technisch-psychologischen Interpretation«. In: Internationaler Schleiermacher-Kongreß, Berlin 1984, hg. von Kurt-Victor Selge, Berlin/ New York, 1985, S. 613-623. 78 Das Nicht-zur-vollen-Geltung-Bringen der grammatischen Interpretation der Schleiermacherschen Hermeneutik sieht Heinz Kimmerle vor allem durch Diltheys Einfluß auf die Hermeneutik-Konzeption im 19. Jh., siehe: ders.: Einleitung in: Schleiermacher: Hermeneutik, a.a.O., S. 14.

38

1272). Insofern kann die später von Gadamer geübte Kritik an der Verengung der

Hermeneutik auf die psychologische Interpretation durch Schleiermacher79 nicht

überzeugen, vielmehr ist es Gadamer selbst, der die „grammatische

Interpretation“ beiseite läßt und die psychologische Interpretation als das

„Eigenste“ Schleiermachers sehen möchte 80 . Wir haben auch gesehen, daß das

Verstehen bei Schleiermacher sowohl in seiner Ethik als auch in seiner Hermeneutik

im zwischenmenschlichen Verhältnis behandelt wird, indem er das Reden nicht nur

als die „Vermittlung des Denkens für den Einzelnen“ sondern auch als „die

Vermittlung der Gemeinschaftlichkeit des Denkens“ betrachtet und das Verstehen als

„Wort und Sache, Rede und Gedanken einander richtig entsprechen lassen“ (HV, 1274)

beschreibt. Gadamers Vorwurf an Schleiermacher, daß es „gar nicht auf das Verhältnis

zur Sache (Sein) ankommen soll“81, trifft nicht zu. Denn das Verhältnis von Sprache

und Denken als eine Einheit bei Schleiermacher beinhaltet bereits die Verbindung von

Denken und Sein82.

Unter grammatischer Interpretation versteht Schleiermacher, „die Kunst aus der

Sprache und mithülfe der Sprache den bestimmten Sinn einer gewissen Rede zu

finden“ (HK, 57). Der erste Kanon dafür ist: „Man construiere aus dem gesammten

Vorwerth der Sprache, des gemeinschaftlichen des Schriftstellers und Lesers und

suche nur in diesem die Möglichkeit der Interpretation“ (ebd.). In diesem Kanon

erscheint die Sprache als „ein Theilbares“ (HK, 57). „Niemand hat sie ganz. Sie ist

ein [G]etheiltes der Zeit nach, auch ein Getheiltes dem Raum nach, in der Zeit durch

79 Vgl. dazu Franks Kritik: „daß Gadamers Schleiermacherbild Züge der Fiktion aufweist“. Manfred Frank: Einleitung, in: Schleiermachers, Friedrich: Hermeneutik und Kritik, Frankfurt a. M. 1977, S. 60. An die Einseitigkeit der Gadamerschen Kritik an die Hermeneutik Schleiermachers siehe auch die Kritik von Andreas Arndt: Schleiermachers Hermeneutik im Horizont Gadamers, in: Gadamer verstehen. Understanding Gadamer, hg. von Mirko Wischke und Michael Hofer, Darmstadt 2003, S. 157-168, s. bes. S. 160f. 80 Gadamer: Wahrheit und Methode, Ges. Werke, Bd. I, S. 190. 81 A.a.O., S. 191. 82 Vgl. dazu Martin Redeker: Einleitung in: Dilthey, Leben Schleiermachers, a.a.O., S. IL.

39

Zuwachs i.e. Aneignung des fremden, Zusammensetzung und Theilung des eigenen

und durch Alliteration. Dem Raum nach durch Provincialismen und Dialekte“ (ebd.).

Dieser Kanon ist auf das qualitative und das quantitative Mißverstehen bezogen,

„denn die Reichhaltigkeit der Bedeutsamkeit hängt ab vom Alter und von der

Nähe“ (ebd.). Er ist der oberste Kanon für Schleiermacher,

„weil jedes Bestimmen und Fixieren des einzelnen Besonderen aus dem Interpretieren des Besonderen eine fortgreifende Operation sein soll, welche zuletzt den Sinn des einzelnen durch alle seine Umgebungen genau bestimmt. Dies ist aber nur möglich wenn der mannigfaltige Gebrauch desselben Elements sich gegeneinander eben so verhält wie die Veränderungen der Sprache im Ganzen“ (HK, 57).

Hiermit bestreitet Schleiermacher die herkömmliche Lehre vom vielfachen

Schriftsinn und hebt den „Grundsatz der Einheit der Bedeutung“ (HK, 60f) hervor.

Die Ungültigkeit der herkömmlichen Lehre offenbare sich, wenn man die beiden

entgegenstehenden Lehren von der vielfachen Bedeutung eines Wortes und von der

fast gleichen Bedeutung ganz unterschiedener Worte kombiniere. Diese Ansicht stelle

zusammen, was die Sprache entfernt und umgekehrt, also daß sie von einem ganz

andern Standpunkt ausgeht. Nemlich diese Beurtheilung geht aus vom Standpunkt der

Logik des Begriffs, die Sprache selbst aber hält sich in ihrer Bildung an die

Anschauung: jede Wortsphäre wird durch eine Anschauung bestimmt. Namen der

organischen Begriffe, Zeitwörter und Beiwörter die sämtlich von einem Schema

ausgehen“ (HK, 58f). Daraus werde sowohl die vielfache Bedeutung der Worte sowie

die Synonyme aus dem umgekehrten Verhältnis erklärt, weil „das mannigfaltige

woraus dieselbe Anschauung wiederkehrt unter sehr verschiedenen Begriffen kann

subsumirt werden“ (HK, 58). Ferner erklärt sich hieraus „die Individualität der

Sprachen, weil die Gesichtspunkte[,] nach denen sich die Anschauungen bestimmen[,]

40

sehr verschieden sein können, und was nach diesen construirt ist nicht mehr

ausgeglichen werden kann“ (ebd.). Damit wird die Lehre vom mehrfachen Schriftsinn

bei Schleiermacher „endgültig überwunden“, meint Birus83.

Dies ist gewiß einer der wichtigsten Punkte in der Hermeneutik Schleiermachers,

aus welchem sich nicht nur die Möglichkeit der Interpretation als Rekonstruktion des

ursprünglichen einheitlichen Textsinnes, sondern sich auch der Grund für die

Möglichkeit mannigfaltiger Interpretationen erklären läßt. Hier ist zwar von einer

sprachwissenschaftlichen Unterscheidung zwischen „Wortsinn“ und „Bedeutung“,

wie sie später bei Hirsch gemacht wird, noch nicht die Rede, aber eine

Unterscheidung zwischen dem Sinn der Schrift (als einem einheitlichen Schriftsinn)

und der mit den Anschauungen des Interpreten verbundenen Bedeutung des Textes als

der Bedeutung des Textes für den Interpreten (die jeweils mit der konkreten Situation

des Interpreten varieren kann) ist deutlich zu erkennen. Schleiermachers Schüler

August Boeckh hat dann im Bezug auf die Sprache als „objektive Bedingungen des

Mitgeteilten“ den „Wortsinn an sich“ von dem „Wortsinn in Beziehung auf reale

Verhältnisse“ unterschieden, die zusammen mit dem „Subjekt an sich“ und „dem

Subjekt in Beziehung auf subjektive Verhältnisse, die in Zweck und Richtung liegen“,

als „subjektive Bedingungen des Mitgetheilten“ für das Verstehen gelten84.

Daher macht Schleiermacher den „Grundsatz der Einheit des Sinnes“ zum „Gesetz

der grammatischen Interpretation“, ein Gesetz das zugleich „Grundsatz der

Bestimmtheit des Sinnes“ (HK, 40) ist. Die Hauptaufgabe der grammatischen

Interpretation ist dann, „nach vorausgesezter Kenntniß der Bedeutung für jeden

83 Vgl. dazu den Vergleich der Schleiermacherschen Hermeneutik mit der Aufklärungshermeneutik von Hendrik Birus. Nach Birus stellt die Schleiermachersche Hermeneutik in einem noch prinzipielleren Sinne sowohl in Hinblick auf die endgültige Überwindung der Lehre vom mehrfachen Schriftsinn als auch auf die zunehmende Wichtigkeit, die dem Autor und seinen Intentionen zugemessen werde, „eine Vollendung der Aufklärungshermeneutik“ dar. Hendrik Birus: Friedrich Schleiermacher als Klassiker, a.a.O., S. 19. 84 August Boeckh: Enzyklopädie, a.a.O., S. 83.

41

gegebenen Fall[,] den wahren Gebrauch[,] den der Schriftsteller im Sinn hatte[,]zu

finden“ (HK, 64; Hervorhebung von mir). Hieraus wird noch deutlicher, daß mit dem

Grundsatz der Einheit des Sinnes der vom Autor intendierte bzw. gebrauchte Sinn

gemeint ist. Folglich lautet die allgemeine Regel für die grammatische Interpretation,

daß „die Beschränkung [des Textsinns] bestimmt wird durch die Umgebungen“ (ebd.).

Dazu gehören die Glieder der Sätze: „Alles[,] was Aufgabe der Hermeneutik sein

kann[,] ist Glied eines Satzes. […] jedes ist die Bedingung zum Verständniß des

anderen. [...] auch diese Aufgabe [ist] eine unbestimmte durch Approximation zu

lösende“ (HK, 64). Hier wird das Verstehen im höchsten Sinne als ein endloses

angesehen, das den Charakter eines Zirkels zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen

hat, und eine nur durch Approximation zu lösende Aufgabe ist. Es ist auch der Grund

dafür, daß Dilthey später das Verstehen „einen intellektuellen Prozeß von höchster

Anstrengung“ nennt, der doch „nie ganz realisiert werden kann“85.

1.1.5. Voraussetzung und Grenze des Verstehens von Fremdem

Sowohl Schleiermacher als auch Dilthey gehen von einer allen Menschen

gemeinsamen, identischen Vernunft bzw. allgemeinen Menschennatur als der

Voraussetzung der Möglichkeit des Verstehens der Menschen untereinander aus. Die

Voraussetzung des Verstehens der Menschen untereinander finden wir in der Ethik

Schleiermachers wie etwa im Brouillon zur Ethik 1805/06 genannt. „Durch die

vorausgesetzte Identität des Organischen sind wir im Stande [,]die Differenz in den

Außerungen anderen von den unsrigen zu verstehen“86. Schleiermacher setzt in seiner

Ethik eine allen Menschen umfassende, identische Vernunft voraus, die sich in jeder

85 Dilthey: Das Verstehen anderer Personen, a.a.O., S. 226f. 86 Schleiermacher: Werke. Auswahl in 4 Bänden, Bd. II ( = Ethik ), S. 125f.

42

einzelnen Person manifestiert und das Zusammenwirken von Einzelperson und

Gemeinschaft ermöglicht87. Für Schleiermacher ist das Gesamthandeln der Vernunft

die Voraussetzung für die organisierende und symbolisierende Tätigkeit des

Menschen88.

Ähnlich wie Schleiermacher geht Dilthey von einer „allgemeinen

Menschennatur“ als Voraussetzung für die Möglichkeit des Verstehens aus:

„In diesem [Verstehen] stehen sich die Individualität des Auslegers und die seines Autors nicht als zwei unvergleichbare Tatsachen gegenüber: auf der Grundlage der allgemeinen Menschennatur haben sich beide gebildet, und hierdurch wird die Gemeinschaftlichkeit der Menschen untereinander für Rede und Verständnis ermöglicht. Hier können die formelhaften Ausdrücke Schleiermachers psychologisch weiter aufgeklärt werden. Alle individuellen Unterschiede sind letztlich nicht durch qualitative Verschiedenheiten der Personen voneinander, sondern nur durch Gradunterschiede ihrer Seelenvorgänge bedingt“89.

Neben der gemeinsamen anthropologischen Basis bildet bei Dilthey der „objektive

Geist“ eine Brücke zwischen den Individuen. „Denn alles, worin sich der Geist

objektiviert hat, enthält ein dem Ich und dem Du Gemeinsames in sich,“ stellt Dilthey

fest 90 . „Diese Selbigkeit des Geistes im Ich, im Du, in jedem Subjekt einer

Gemeinschaft, in jedem System der Kultur, schließlich in der Totalität des Geistes und

der Universalgeschichte macht das Zusammenwirken der verschiedenen Leistungen in

den Geisteswissenschaften möglich.“91

Dennoch ist die Individualität des Einzelnen bei Schleiermacher „etwas durch den

Gedanken nicht Erreichbares“. „Durch die [...] vergleichende Anschauung ihrer

einzelnen Äußerungen kommt man zu einer Annäherung, welche aber nie vollendet 87 Schleiermacher: Ethik, S. 96f; vgl. Dilthey: Leben Schleiermachers, S. 295. 88 Schleiermacher: Ethik, S. 89f; vgl. Dilthey: Leben Schleiermachers, S. 290f. 89 Dithey: Die Entstehung der Hermeneutik, Ges. Schriften, Bd. V, S. 329f. 90 Diltehy: Das Verstehen anderer Personen, a.a. O., S. 208. 91 Dilthey: Entwürfe zur Kritik der historischen Vernunft, a.a.O., S. 191.

43

werden kann,“ sagt Schleiermacher92. Die Grenze des Verstehens liegt eben in der

„Unübertragbarkeit der Individualität“ 93 . Nach Dilthey liegen die Grenzen aller

Auslegung bereits in dem hermeneutischen Zirkel, in dem gefordert wird, aus den

einzelnen Worten und deren Verbindungen das Ganze eines Werkes zu verstehen, und

doch setzt das volle Verständnis des einzelnen das des Ganzen bereits voraus. Dieser

Zirkel wiederholt sich in dem Verhältnis des einzelnen Werkes zu Geistesart und

Entwicklung seines Urhebers, und er kehrt ebenso zurück im Verhältnis dieses

Einzelwerks zu seiner Literaturgattung. „Theoretisch trifft man hier auf die Grenzen

aller Auslegung, sie vollzieht ihre Aufgabe immer nur bis zu einem bestimmten Grade:

so bleibt alles Verstehen immer nur relativ und kann nie vollendet werden. Individuum

est ineffabile“ (Hervorhebung von Dilthey)94. Die grundlegende Schwierigkeit des

hermeneutischen Verstehens liegt eben in der sich entwickelnden, von einander

differenzierenden Individualität einzelnen Lebens. Jedenfalls ist die Grenze des

Verstehens bei Schleiermacher und Dilthey wohl sehr bewußt.

Insofern meint Fremdheit in der allgemeinen Hermeneutik Schleiermachers ganz

allgemein die konkrete Verständnisschwierigkeit, bezogen auf die Rede oder Schrift

eines Anderen. Der Grund der Fremdheit liegt Schleiermachers Auffassung nach nicht

nur in den geschichtlichen Wandlungen, also „Entfremdungen“, sondern

hauptsächlich in der Verschiedenheit der individuellen Ausprägungen der Sprachen

und der Sprecher. Die Fremdheit „gründet in der Verschiedenheit der Individualitäten;

aber auch die fortschreitende Geschichte zeitigt ‚Entfremdungen’“, wie Scholtz

festhält 95 . Das bedeutet nämlich, daß die Fremdheit bzw. das Fremde bei

Schleiermacher sowohl als das Problem des Zeitenabstands als auch das des Abstands

92 Ethik, a.a. O., S. 126. 93 Ethik, S. 124ff. 94 Dilthey: Entstehung der Hermeneutik, a.a.O., S. 330. 95 Scholtz: Ethik und Hermeneutik, S. 146.

44

bzw. der Differenz zwischen Ich und Du auftaucht. Insofern hat Gadamer Recht, wenn

er das Problem der Hermeneutik bei Schleiermacher „nicht das der dunklen

Geschichte, sondern das des dunklen Du“ sieht (WM, 195).

Hieraus ergibt sich, daß das Problem des Fremden bei Schleiermacher und Dilthey

nur relativ 96 sein kann, wenn es aus der relativen Differenz bzw. graduellen

Verschiedenheit der Individualitäten entsteht. Das in der Verschiedenheit bzw.

Unübertragbarkeit der Individualität gründende Fremde als Verständnisschwierigkeit

besteht nicht nur beim Verstehen von antiken Schriften oder fremder Kulturen,

sondern auch beim Verstehen von eigenen Kulturüberlieferungen. Die

„Universalität“ des Fremdheitsproblems als Problem des Verstehens liegt eben darin,

daß die Fremdheit nicht primär in der fremden Sprache, und auch nicht erst durch den

Zeitenabstand, sondern vielmehr in der Verschiedenheit der Individuen besteht.

Schleiermacher sagt zum Grund des Nichtverstehens: „eben weil jede in ihrem

einzelnen Sein das Nichtsein des anderen ist, das Nichtverstehen sich niemals

gänzlich auflösen will“ (HK, 141). Daher ist die Aufgabe des Verstehens eine

„unendliche“ (HK, 82; vgl. 88). Dem vollkommenen Verstehen kann man sich nur

96 Über die Fremdheit in der Hermeneutik als relative Fremdheit vgl. B. Waldenfelds: Phänomenologie des Fremden 4, Frankfurt a. M. 1999, S. 67-87. Waldenfeld hat darauf hingewiesen, daß es in der Hemeneutik sich nur um „die relative Fremdheit für uns”, nicht aber um „die Fremdheit in sich selbst” handelt. Die „Fremdheit in sich selbst” kann jedoch nicht ohne weiteres bestimmt werden, weil das Fremde bzw. die Fremdheit nur als Inbegriff für das allgemeine Phänomen der Verständnisschwierigkeit in der Hermeneutik gelten kann, das aber an sich mehrdeutig und durch den jeweiligen Empfänger als Verstehenden, - hier den jeweiligen Interpret oder Leser - bedingt ist. Denn die Fremdheit eines Textes kann für verschiedene Leser auch verschieden sein, je nachdem welche Kompetenz der jeweilige Leser besitzt. Insofern kann es in der Hermeneutik keine „reine Fremdheit in sich“ geben, weil der Schwierigkeitsgrad einesTextes je nach Kenntnisstand für jeden Interpreten variiert. Das heißt aber nicht, daß es keinen Textsinn an sich gibt, weil der Textsinn vom Autor bestimmt bleiben soll. Das geglückte Verstehen beruhe Schleiermacher zufolge auf der Kompetenz bezüglich der Sprach- ,Sach- und Menschenkenntnisse. Daher wird die „Kongenialität“ bei Schleiermacher als ein Kriterium für das gelungene Verstehen herangezogen. Bei Dilthey beruht das Verstehen „auf einer besonderen persönlichen Genialität“, Dilthey, Ges. Schriften, Bd. VII, S. 216. Darüber hinaus gibt es in der Hermeneutik nur relative Fremdheit: da das Fremde vertraut werden kann, und umgekehrt. Insofern kann das Spannungsverhältnis zwischen Fremdheit und Vertrautheit in der Hermeneutik auch als „dynamischer Konstitutionsprozeß“ beschrieben werden, wie Jens Loenhoff in seiner Untersuchung zum Problem grenzüberschreitender Kommunikation herausgestellt hat. Vgl. Jens Loenhoff: Interkulturelle Verständigung. Zum Problem grenzüberschreitender Kommunikation, Opladen 1992, S. 220.

45

approximativ nähern. Für Schleiermacher erscheint jede Lösung der

Verstehensaufgabe „immer nur als eine Annährung“, bleibt immer nur vorläufiges

Ergebnis des Verstehens. Insofern kann man die Aufgabe des Verstehens in der

Hermeneutik Schleiermachers als einen unendlichen Prozeß der Annäherung zum

Anderen und Fremden bezeichnen.

Somit ist das Verstehen in der Hermeneutik bei Schleiermacher und Dilthey

hauptsächlich auf die Rede sowie die schriftlich fixierten Lebensäußerungen eines

Fremden und Vergangenen gerichtet, die den geisteswissenschaftlichen Forschungen

zugrundeliegen und sich nicht auf die Tradition der theologischen Hermeneutik oder

die Tradition der klassischen Philologie beschränken lassen. Diese Lebensäußerungen

schließen insbesondere auch die Rede des Fremden sowie die Überlieferungen aus

fremden Kulturtraditionen ein. Jedes Verstehen des Fremden als gelungener Erwerb

richtigen Verständnisses der Ideen sowie Meinungen des Anderen bedeutet für

Schleiermacher und Dilthey ein Überschreiten der Schranke eigener Ideen und eine

Erweiterung eigener Horizonte. Die Aufgabe des Verstehens ist hier auf das richtige

Verständnis fremder Rede und fremder Lebensäußerungen als solche bestimmt.

Insofern ist es durchaus angemessen, diese Tradition der Hermeneutik als

Hermeneutik des Fremden zu bezeichnen.

46

1.2. Auflösung des Fremdheitsproblems durch die ontologische Wendung der

Hermeneutik bei Heidegger

Die Fragestellung sowie die Aufgabenbestimmung der Hermeneutik hat sich jedoch

am Anfang des 20. Jahrhunderts durch die fundamentalontologische Wendung

Heideggers radikal gewandelt. Für Heidegger war die Aufgabenbestimmung der

Hermeneutik bei Schleiermacher als eine Theorie und Kunstlehre des Verstehens

fremder Rede im Vergleich zu Augustins „lebendig gesehener Idee der

Hermeneutik“ eine Einschränkung. Diltheys Übernahme des Schleiermacherschen

Begriffs der Hermeneutik als Regelgebung des Verstehens und methodologische

Grundlage der Geisteswissenschaften bezeichnet Heidegger als eine „verhängnisvolle

Beschränkung“97. Dagegen möchte Heidegger das je eigene Dasein zum Thema

seiner hermeneutischen Untersuchung machen, die eigentlich eine Ontologie des

faktischen Lebens sein wollte, wie der Titel seiner frühen Freiburger Vorlesungsschrift

verrät98. Seine Hermeneutik kann als eine philosophische Reflexion über die Frage

nach dem Sinn von Sein betrachtet werden, die durch das „Selbstverständnis des

Daseins“ in der Philosophie als Selbstaufklärung zu beantworten ist und eine

Auslegung des Daseins erforscht.

In dieser Hermeneutik der Faktizität hat Heidegger bekanntlich die Vorstruktur des

Verstehens als die elementarste Vollzugsform des menschlichen Daseins

herausgearbeitet. Das Verstehen ist für Heidegger weder ein Erkenntnisvorgang, der

die methodologische Grundlage der historischen Geisteswissenschaften bilden sollte,

wie bei Droysen und Dilthey, noch ein subtilitas intelligendi, der es um die

97 Martin Heidegger: Ontologie. (Hermeneutik der Faktizität), Frühe Freiburger Vorlesung

Sommersemester 1923, hg. v. Käte Bröcker-Oltmanns, Gesamtausgabe, Bd. 63, Frankfurt a. M. 1988, S. 13f.. 98 Heidegger, a.a.O..

47

verstandesmäßige Erfassung eines sinnhaltigen Sachverhalts geht, wie es bei

Schleiermacher noch der Fall ist. Er denkt das Verstehen als „Existential“, d.h. als

Seinsweise des menschlichen Daseins, „mit dem wir in dieser Welt zurechtkommen

und zurechtzukommen versuchen“99. Es sei weniger eine Weise des Erkennens als ein

von der Sorge getragenes „Sichauskennen in der Welt“ 100 . Insofern bedeutet

Heideggers Hermeneutik der Faktizität „das philosophische Wachsein, in dem das

Dasein ihm selbst begegnet“. „Die Hermeneutik hat die Aufgabe, das je eigene Dasein

in seinem Seinscharakter diesem Dasein selbst zugänglich zu machen, mitzuteilen, der

Selbstentfremdung, mit der das Dasein geschlagen ist, nachzugehen. In der

Hermeneutik bildet sich für das Dasein eine Möglichkeit aus, für sich selbst

verstehend zu werden und zu sein,“ so bestimmt Heidegger die Aufgabe seiner

Hermeneutik der Faktizität101. Das beinhaltet zugleich eine ontologische Wende der

Hermeneutik, die nun nicht mehr um das Verstehen fremder Rede oder fremden

Personen bemüht ist und sich stets auf ein fremdes Leben richtet, sondern auf das

eigene Dasein und als eine Hermeneutik des eigenen Daseins bzw. eine Theorie des

Selbstverstehens bezeichnet werden kann102. Denn dieses Verstehen bei Heidegger,

„das in der Auslegung erwächst, ist mit dem, was sonst Verstehen genannt wird als ein

erkennendes Verhalten zu anderem Leben, ganz unvergleichlich; es ist überhaupt kein

Sichverhalten zu (Intentionalität), sondern ein Wie des Daseins selbst“. Insofern ist

das Verstehen bei Heidegger nicht „ein erkennendes Verhalten zu anderem Leben“,

sondern „das Wachsein des Daseins für sich selbst“103.

Pöggeler hat die Entfaltung dieser hermeneutischen Philosophie Heideggers in der 99 Vgl. Jean Grondin: Einführung in die philosophische Hermeneutik, Darmstadt 1991, S. 122. 100 Vgl. Heidegger: Gesamtausgabe Bd. 20, S. 286. 101 Heidegger: Ontologie, S. 15. 102 Vgl. Figals Bezeichnung der Hermeneutik Heideggers als eine „Theorie des Selbstverstehens“ „in instabiler Freiheit“. Günter Figal, Selbstverstehen in instabiler Freiheit. Die hermeneutische Position Martin Heideggers, in: Hermeneutische Positionen. Schleiermacher – Dilthey – Heidegger – Gadamer, hg. u. eingeleit. v. Hendrik Birus, Göttingen 1982, S. 89-119, bes. S. 91. 103 Heidegger: Ontologie, S. 15.

48

Konfrontation mit Diltheys Hermeneutik gesehen. Diltheys Versuch, aus dem Leben

den Zusammenhang und den Aufbau der geschichtlichen Welt in den

Geisteswissenschaften abzuleiten, war von Anfang an eine wichtige Anregung für

Heideggers Denken über Geschichte. Pöggeler meint: „Der junge Heidegger eignet

sich nicht nur die Arbeit Diltheys an, in der das neuzeitlich historische Denken sich

zur philosophischen Besinnung auf sich selbst erhebt; er macht auch ernst mit den

Anregungen des Grafen Yorck, des philosophischen Gespräch- und Brieffreunds von

Dilthey. Yorck hatte Dilthey gemahnt, sich nicht allein an der Historischen Schule zu

orientieren, denn diese Schule sei gar keine eigentlich ‚historische’ gewesen, da sie

die Geschichte nur zuständlich, von außen gesehen habe“ 104. Das ist auch der Grund,

daß Heideggers Bezug zum neuzeitlich historischen Denken in den Vorlesungen der

Jahre nach dem Ersten Weltkrieg durch den Bezug zu einer anderen Erfahrung der

Geschichte, zur Erfahrung der Geschichte im ursprünglichen christlichen Glauben

überholt wird105. Das bedeutet, daß es sich bei Heidegger um das Seinsverhältnis des

Daseins handelt, nicht um das Lebensverhältnis des Daseins zum anderen Menschen.

Nach Scholtz liegen die Wurzen der hermeneutischen Philosophie bereits im

Entstehen des historischen Bewußtseins am Ende des 18. Jahrhunderts: „da jetzt die

Vielfalt und Wandelbarkeit der menschlichen Kulturen in den Blick kam, und der

damals – z.B. bei Friedrich Schlegel – auftauchende Begriff einer »historischen

Philosophie« wäre der Vorgänger der »hermeneutischen Philosophie«, wie ja auch

Nietzsche später vom »historischen Philosophieren« und Yorck von Wartenburg von

der »Vergeschichtlichung des Philosophierens« sprechen werden. [...] als man die

Überzeugung verloren hatte, daß der absolute Geist sich in der Geschichte entfalte

und auslege, entstand auslegende, hermeneutische Philosophie“106. Dabei werden die

104 Otto Pöggeler: Heidegger und die hermeneutische Philosophie, Freiburg/München 1983, S. 143f. 105 Pöggeler, ebd. 106 Gunter Scholtz: Was ist und seit wann gibt es »hermeneutische Philosophie«? In: Dilthey Jahrbuch,

49

Rede von »Weltinterpretationen« und »Weltauslegung« bei Nietzsche und Dilthey als

Wegbereiter für Heideggers Entfaltung einer hermeneutischen Philosophie. „Die

hermeneutische Philosophie geht aus einer Krise des traditionellen Wahrheits- und

Wissenschaftsverständnisses hervor. Ihr liegt die Überzeugung zugrunde, daß erst

Kant die traditionelle Ontologie destruierte und die Welt in die Erscheinungswelt

verwandelte; und daß dann auch Kants transzendentale Vernunft als Basis der

Wissenschaft sich untauglich erwies, entweder gänzlich (wie bei Nietzsche) oder

zumindest teilweise (wie bei Dilthey). An die Stelle der einen Vernunft, die Kant

analysiert hatte, treten jetzt – mehr und mehr – »Weltansichten« (Humboldt),

»Weltanschauungen« (Dilthey), d.h. Traditionen und Konventionen, die sich schon in

der vorwissenschaftlichen Sprache artikulieren und die Welt auslegen. Diese

Auslegungen, diese Interpretationen, schieben sich gleichsam zwischen die Welt und

das, was als Wissenschaft bewußt getrieben wird. Die Wissenschaften ruhen ihnen auf,

spinnen sie fort, ohne dies zu wissen; ohne zu wissen, daß Weltverstehen weiter und

grundsätzlicher ist als naturwissenschaftliches Erkennen und daß die Begriffsbildung

der Naturwissenschaften auf einem schon sprachlich artikulierten Weltverhalten

beruht,“ erklärt Scholtz 107 . Die hermeneutische Philosophie werde sonach zur

„Reflexion der Geschichtlichkeit des Menschen und seiner Weltinterpretationen,

seiner Kultur“108.

Seit dieser ontologischen Wendung der Hermeneutik bei Heidegger ist die Aufgabe

des Verstehens das Selbstverständnis des Daseins und die Selbstbesinnung der

Philosophie über sich selbst geworden. Scholtz sieht darin vor allem eine

Dezentrierung des anderen Subjekts bei Heidegger: „Anders als Dilthey, der das

elementare Verstehen noch in der Beziehung zwischen Subjekten fand, nennt

Bd. 8, 1992-93, S. 93-119, s. bes. S. 110f. Weitere Literatur siehe die Angabe dort. 107 Scholtz, a.a.O., S. 111f. 108 Scholtz, a.a.O., S. 111.

50

Heidegger es das ursprüngliche Verstehen, wenn das Dasein weiß, was es mit den

Zuhandenen Dingen wie ‚Tisch, Tür, Wagen, Brücke’ auf sich hat. Das andere Subjekt,

dessen Äußerungen verstanden werden müssen, taucht bei Heidegger gar nicht

auf.“109 Das Problem des Fremden und des Anderen verschwindet aus dem Blickfeld,

was zugleich eine Wendung der hermeneutischen Aufgabe vom Fremdverstehen zum

Selbstverstehen bedeutet.

Ricoeur hat bekanntlich auf die Unzulänglichkeit der fundamentalontologischen

Hermeneutik Heideggers für die methodologische Frage nach der Bereitstellung eines

Organons für die Exegese bzw. die Auslegung eines Textes, für das Problem des

Konflikts in der rivalisierenden Interpretationen und für die erkenntnistheoretische

Frage nach der Begründung der historischen Wissenschaften gegenüber den

Naturwissenschaften hingewiesen. Die radikale Fragestellung Heideggers läßt diese

Probleme „nicht nur ungelöst, sondern rückt sie auch aus dem Blickfeld.“ „Diese

Probleme werden in einer Fundamentalhermeneutik tatsächlich nicht berücksichtigt;

und dies mit Absicht, denn eine solche Hermeneutik ist nicht dazu angelegt, sie zu

lösen (résoudre), sondern sie aufzulösen (dissoudre),“ betont Ricoeur110. In der Tat!

Heidegger hat ja kein Einzelproblem hinsichtlich der Interpretation von diesem oder

jenem Seienden in Betracht gezogen! Weder vom Fremden noch vom Anderen ist hier

die Rede. „Seine Absicht war es, unseren Blick umzuerziehen, unserem Denken eine

neue Orientierung zu geben; er wollte uns dazu anleiten, die historische Erkenntnis

dem ontologischen Verstehen unterzuordnen wie eine abgeleitete Form einer

109 Gunter Scholtz: Traditionelle Hermeneutik – hermeneutische Philosophie. Zum Bedeutungswandel des Interpretationsbegriffs, (Manuskript 2003), S. 10. 110 Paul Ricoeur: Hermeneutik und Strukturalismus. Der Konflikt der Interpretationen I, München 1973, S. 19. Ähnlich wie Ricoeur hat Bianco auf „die Unzulänglichkeit der Heideggerschen Fundamentalontologie für das Problem des Verstehens in der Praxis der Wissenschaften“, und „die Unersetzlichkeit der Schleiermacherschen Hermeneutik für die Verbesserung des Vermeidens von Irrtümer und Mißverständnisse“ hingewiesen. Franco Bianco: Heidegger und die Fragestellung der heutigen Hermeneutik. In: Zur philosophischen Aktualität Heideggers, Bd. 2.: Im Gespräch der Zeit, hg. von D. Papenfuss u. O. Pöggeler, Frankfurt a. M. 1989, S. 198-209.

51

ursprünglichen. Aber er gibt uns nicht den geringsten konkreten Hinweis, in welchem

Sinn das rein historische Verstehen von diesem ursprünglichen abgeleitet wird,“ so

Ricoeur.111

Im Bezug auf das Problem des Verstehens vom Fremden und Anderen bedeutet

dieser Wesenswandel der Hermeneutik zugleich eine Wende der Hermeneutik von der

Theorie des Fremdverstehens (als Theorie des Verstehens von fremden Reden,

Schriften, Religionen und Kulturen) zur Theorie des Selbstverstehens im Sinne einer

Theorie des „Sichverstehens des Daseins selbst“ und der „Selbstauslegung der

Philosophie“ bei Heidegger. Insofern ist es durchaus berechtigt, die ontologische

Hermeneutik Heideggers als eine Hermeneutik des Eigenen zu betrachten, da statt

dem Fremden 112 dem Seinsverständnis des Daseins in der abendländischen

Philosophie ein systematischer Ort zugewiesen wird. Es ist also eine Wende der

Hermeneutik vom Fremden zum Eigenen.

Diese Tendenz des Verstehensinteresses am Selbstverständnis des Daseins, am

eigenen Leben ist auch in der philosophischen Hermeneutik Gadamers deutlich zu

erkennen, wenn auch in gewandelter Form. Es wird sich zeigen, daß aus Heideggers

Selbstverständnis des Daseins in der Welt Gadamers Selbstverständnis der

Geisteswissenschaften in ihrer eigenen Tradition wird. Aus Heideggers „Hermeneutik

der Faktizität“ wird Gadamers „Hermeneutik der eigenen Tradition“.

111 Paul Ricoeur: Hermeneutik und Strukturalismus, a.a. O., S. 19. 112 Vgl. neuerdings den Hinweis von Iris Därmann: Der Fremde im Widerstand gegen das Verstehen oder: Hermeneutik und Ethnologie auf dem Prüfstand erneuter Kritik, in: Philosophische Rundschau, Bd. 52 (2005), S. 21-39, bes. S. 33.

52

2. Das Problem des Fremden in der philosophischen Hermeneutik Gadamers

Das Problem des Fremden in der Hermeneutik wurde durch Gadamer, der in der

Überwindung der Fremdheit die Kernaufgabe der Hermeneutik sah, wieder in das

Zentrum des Interesses gerückt. Was aber das Problem der Fremdheit in der

philosophischen Hermeneutik Gadamers angeht, so ist dieses jedoch nicht mit dem

Problem der Fremdheit im herkömmlichen Sinne, also mit dem Verständnisproblem,

welches Schleiermacher und Dilthey im Auge hatten, gleichzusetzen.

Denn bereits zu Beginn der Einleitung in seinem Hauptwerk Wahrheit und Methode

deutet Gadamer an, daß das Phänomen des Verstehens und der rechten Auslegung des

Verstandenen nicht nur ein Spezialproblem der geisteswissenschaftlichen

Methodenlehre sei (WM, 1). Die Aufgabe seiner Hermeneutik sei nicht, ein Verfahren

des Verstehens zu entwickeln, sondern „die Bedingungen aufzuklären, unter denen

Verstehen geschieht“ (WM, 300) 113 . Daher dürfen wir nicht erwarten, in der

Hermeneutik Gadamers eine methodologische Lösung für das Problem des Fremden

zu finden, da das Anliegen seiner Hermeneutik keine Methodenlehre des Verstehens

und des Auslegens von Fremdem ist, wie bei Schleiermacher und Betti114, sondern der

Versuch einer Verständigung über das, „was die Geisteswissenschaften über ihr

methodisches Selbstbewußtsein hinaus in Wahrheit sind und was sie mit dem Ganzen

113 Ähnlich wie Dilthey stellt Gadamer die gleiche Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit des Verstehens. Der Unterschied zwischen den beiden liegt Gadamer zufolge darin, daß diese Frage „keineswegs nur an die so genannten Geisteswissenschaften“ gestellt sei; „sie stellt sie an das Ganze der menschlichen Welterfahrung und Lebenspraxis. Sie fragt, um es kantisch auszudrücken: Wie ist Verstehen möglich?“ Es ist eine Frage, die sowohl das Selbstverständnis als auch das Weltverständnis des Menschen betrifft. Vgl. dazu die Vorwort zur 2. Auflage von Wahrheit und Methode in: H.-G. Gadamer, Ges. Werke, Bd. 2, Tübingen 1993, S. 439. Eben in dieser von Gadamer „an das Ganze der menschlichen Welterfahrung und Lebenspraxis“ gestellten Frage hat Karl-Otto Apel „die Grundfrage einer ‚transzendentalen Hermeneutik’, u.d.h.: einer die ‚Vorstruktur’ des Vertstehens für alle wissenschaftlichen und vorwissenschaftlichen Erkenntnisformen reflektierenden Transzendentalphilosophie“ gesehen. Karl-Otto Apel: Transformation der Philosophie, Bd. 1: Sprachanalytik, Semiotik, Hermeneutik, Frankfurt a. M. 1976, Einleitung, S. 9-76, bes. S. 44. 114 Siehe Emilio Betti: Die Hermeneutik als allgemeine Methodik der Geisteswissenschaften, Tübingen 1962.

53

unserer Welterfahrung verbindet“ (WM, 3). Gadamer will nicht nur auf die

erkenntnistheoretische Frage ‚Wie ist Verstehen möglich?’ eingehen, sondern auch das

Selbstverständnis der Geisteswissenschaften berichtigen, um sich „der Überfremdung

mit den objektivierenden Methoden der modernen Wissenschaften, die die

Hermeneutik und Historik des 19. Jahrhunderts charakterisiert“ (WM, 319),

entgegenzustellen 115.

Die Fremdheit, die Gadamer in seiner philosophischen Hermeneutik zu überwinden

beansprucht, bezieht sich folglich nicht auf das Fremde im herkömmlichen Sinne als

Verständnisschwierigkeit, welche bei Schleiermacher und Dilthey auf das

geschichtlich und kulturell Fremde bezogen war, sondern vielmehr auf die

„Verfremdungen“, die ihm zufolge im ästhetischen, historischen und methodologisch

orientierten hermeneutischen Bewußtsein situiert sind. Dies zeigt sich am deutlichsten

in seinem Aufsatz über Die Universalität des hermeneutischen Problems116, in dem er

sich die Aufgabe stellt,

„über die Vorurteile, die dem ästhetischen Bewußtsein, dem historischen Bewußtsein und dem zu einer Technik des Vermeidens von Mißverständnissen restringierten hermeneutischen Bewußtsein zu Grunde liegen, hinauszukommen

115 Die verschiedenen Kennzeichnungen, die Gadamer für seine Hermeneutik anbietet, führen zur Problematik und inneren Schwierigkeit der Verortung seiner Position in der Philosophie, vor allem in der Hermeneutik, insbesondere im Blick auf die Frage nach der Verstehbarkeit des Fremden, welche im Kontext gegenwärtiger Diskussionen über die Möglichkeit und Probleme interkulturellen Verstehens eine zentrale Rolle spielt. Die vorliegende Arbeit beschränkt sich auf die Verortung der Hermeneutik zwischen Fremdheit und Vertrautheit von Gadamer selbst, die vor allem im Kontext seiner Auseinandersetzung mit der Hermeneutik Schleiermachers steht, und zielt darauf ab, die verschiedenen Dimensionen des Fremdheitsproblems bei Gadamer aufzuweisen. Über die Problematik und die innere Schwierigkeit der gadamerschen Hermeneutik (im Blick auf die Verhältnisbestimmung seiner Hermeneutik zur traditionellen Hermeneutik und zur Transzendentalphilosophie von Kant und Hegel) vgl. die Untersuchung von Michael Hofer: Hermeneutische Reflexion? Zur Auffassung von Reflexion und deren Stellenwert bei Hans-Georg Gadamer. In: Mirko Wischke / Michael Hofer (Hg.): Gadamer Verstehen. Understanding Gadamer, Darmstadt 2003, S. 57-83. Über das Verhältnis der gadamerschen Hermeneutik zu dem Geschichtsdenken von Hegel und Heidegger vgl. die aufschlußreiche Untersuchung von Günter Figal: Gadamer im Kontext. Zur Gestalt und den Perspektiven philosophischer Hermeneutik. In: Gadamer verstehen, a.a.O., S. 141-156. 116 Gadamer: Kleine Schriften, Bd.1, Tübingen 1967, S. 101-112.

54

und die in ihnen gelegenen Verfremdungen zu überwinden.“117 (Hervorhebung von mir, Chen)

Die sich nun stellende Frage ist, warum das historische Bewußtsein und das

methodologisch orientierte hermeneutische Bewußtsein, das sich um die

Überwindung des Fremden als Verständnisschwierigkeit und um das Vermeiden von

Mißverständnissen von Fremdem bemüht, Verfremdungen hervorbringt, wie Gadamer

hier sagt. Was wird verfremdet? Wie verhält sich das Verfremdungsproblem zu dem

eigentlichen Problem des Fremden? Im Folgenden werde ich auf die

Auseinandersetzungen Gadamers mit der Hermeneutik der historisch-

methodologischen Schule eingehen, um die Wendung des hermeneutischen Problems

vom Problem des Fremden zum Problem der Verfremdung bei Gadamer deutlich zu

machen. Es wird sich zeigen, daß eine solche Wendung zugleich eine Auflösung des

Problems des Fremden im eigentlichen Sinne des Wortes bedeutet und eine Wendung

der hermeneutischen Aufgabe vom Verstehen von Fremdem zum Verstehen von

Eigenem im Sinne der Verständigung mit eigenen Kulturtraditionen herbeigeführt hat.

Um den Zusammenhang dieser Wendung zu verstehen, ist es günstig, zunächst auf

den Wesenswandel des Fremdheitsproblems bei Gadamer einzugehen.

2.1. Der Wandel des Fremdheitsproblems: vom Verständnisproblem zum

Verfremdungsproblem

Im vorigen Kapitel wurde herausgestellt, daß das Problem des Fremden in der

Tradition der Schleiermacherschen Hermeneutik sich als ein allgemeines Problem des

Nichtverstehens und Mißverstehens von fremder Rede und als Anlaß für die

hermeneutischen Bemühungen des Verstehens darstellt. Die Fremdheit in der 117 Gadamer: Kleine Schriften, Bd. 1, S. 105.

55

Hermeneutik stellt sich als eine relative dar, nachdem Schleiermacher den

Aufgabenbereich der Hermeneutik im Hinblick auf die relative Verschiedenheit der

Individualitäten zwischen den beiden Polen der gänzlichen Fremdheit und der

gänzlichen Vertrautheit bestimmt hat118. Dilthey hat diese Konzeption von Fremdheit

als allgemeines Verstehensproblem übernommen und meint: „Die Auslegung wäre

unmöglich, wenn die Lebensäußerungen gänzlich fremd wären. Sie wäre unnötig,

wenn in ihnen nichts fremd wäre. Zwischen diesen beiden äußersten Gegensätzen

liegt sie also. Sie wird überall erfordert, wo etwas fremd ist, das die Kunst des

Verstehens zu eigen machen soll.“119

Gadamer knüpft an diese Bestimmung an und weist zur Verortung der Hermeneutik

auch auf die Polarität von Fremdheit und Vertrautheit hin, obwohl er im Rahmen

dieser Polarität eine andere Aufgabe des Verstehens im Auge hat als jene

Schleiermachers und Diltheys:

„Es besteht wirklich eine Polarität von Vertrautheit und Fremdheit, auf die sich die Aufgabe der Hermeneutik gründet. Nur daß diese nicht mit Schleiermacher psychologisch als die Spannweite, die das Geheimnis der Individualität birgt, zu verstehen ist, sondern wahrhaft hermeneutisch, d.h. im Hinblick auf ein Gesagtes, die Sprache, mit der die Überlieferung uns anredet, die Sage, die sie uns sagt. Auch hier ist eine Spannung gegeben. Sie spielt zwischen Fremdheit und Vertrautheit, die die Überlieferung für uns hat, zwischen der historisch gemeinten, abständigen Gegenständlichkeit und der Zugehörigkeit zu einer Tradition. In diesem Zwischen ist der wahre Ort der Hermeneutik“ (WM, 300, Hervorhebung im Orig.).

Die Polarität von Fremdheit und Vertrautheit, die auf den historischen Abstand und

die individuelle Differenz zwischen dem Sprecher und dem Hörer bzw. zwischen dem

Autor und dem Interpreten als Problemlage angewiesen ist, auf die die ursprüngliche

118 Ich habe auf die Stelle bei Schleiermacher bereits oben hingewiesen (s. o. Kap.1.1.1.). 119 Wilhelm Dilthey: Entwürfe zur Kritik der historischen Vernunft, Ges. Schriften Bd. VII, S. 225.

56

Aufgabe der allgemeinen Hermeneutik gegründet war, wird hier auf das

Spannungsverhältnis zwischen „Zugehörigkeit“ und „Abstandnahme“ zu einer

Tradition übertragen. Damit wird der Sinn der Fremdheit und das Problem des

Fremden in der Hermeneutik Gadamers umgewandelt.

Es ist klar, daß Gadamer hier eine Position gegen die Fremdheit als die „historisch

gemeinte, abständige Gegenständlichkeit“ einnimmt und für die ontologisch und

normativ gemeinte „Zugehörigkeit“ zur eigenen Tradition 120 als „ursprüngliche

Vertrautheit“ eintritt. Denn genau diese Fremdheit im Sinne der

historisch-methodologischen „Verfremdung“ bzw. wissenschaftlichen

„Vergegenständlichung“ 121 will die philosophische Hermeneutik Gadamers

überwinden. Die Verfremdung der Überlieferung durch das historische Bewußtsein

hat nach Gadamers Auffassung erst mit Spinozas historischer Interpretation der

Heiligen Schrift in der neuzeitlichen Aufklärung begonnen (WM, 184; 297), sich dann

durch Schleiermachers Begründung der allgemeinen Hermeneutik in der Romantik

„radikalisiert“ (WM, 180; 202f; 297f), und schließlich wurde sie durch Diltheys

hermeneutische Begründung der Geisteswissenschaften und durch seine

Untersuchung zur Entstehung der Hermeneutik „auf ihre Weise festgelegt“ (WM, 170;

281).

120 Vgl. dazu die Auseinandersetzung Thomas Bettendorfs mit dem Denken Gadamers. Zu Recht hat Bettendorf die „Zugehörigkeit“ als das Hauptthema der philosophischen Hermeneutik Gadamers hervorgehoben und seinerseits die „Zugehörigkeit“ jeweils als „Teilhabe am gemeinsamen Sinn“, als „Er-Innerung“ und als „vorgängige Erschlossenheit“ herausgestellt. Thomas Bettendorf: Hermeneutik und Dialog: eine Auseinandersetzung mit dem Denken Hans-Georg Gadamers, Frankfurt a. M. 1984, s. bes. S. 19-45. 121 Vgl. z.B. Gadamer: Geschichtlichkeit und Wahrheit, Ges. Werk, Bd. 10: Hermeneutik im Rückblick, S. 247-258. S. 257: „Objektivität bedeutet Vergegenständlichung [...]. “ Vgl. ähnlich dazu Gunter Scholtz: Zum Historismusproblem in der Hermeneutik. In: Historismus am Ende des 20. Jahrhunderts. Eine internationale Diskussion, hg. v. Gunter Scholtz, Berlin 1997, S. 192-214, S. 210.

57

2.1.1. Das historische Bewußtsein und die Entfremdungserfahrung der

Überlieferung

Das historische Bewußtsein ist Gadamers Auffassung nach durch die

Entfremdungserfahrung der Überlieferung entstanden und bestimmt seither die

Funktion der Hermeneutik innerhalb der Geisteswissenschaften:

„Nicht nur die literarische Überlieferung ist entfremdeter und neuer, lebendiger Aneignung bedürftiger Geist. Vielmehr ist alles, was nicht mehr unmittelbar in seiner Welt steht und sich in ihr und an sie aussagt, mithin alle Überlieferung, Kunst sowohl wie alle anderen geistigen Schöpfungen der Vergangenheit, Recht, Religion, Philosophie usw., ihrem ursprünglichen Sinn entfremdet und auf den aufschließenden und vermittelnden Geist angewiesen, den wir mit den Griechen nach Hermes, dem Götterboten, benennen. Es ist die Entstehung des historischen Bewußtseins, der die Hermeneutik eine zentrale Funktion innerhalb der Geisteswissenschaften verdankt“ (WM, 170, Hervorhebung im Orig.).

Die Entstehung des historischen Bewußtseins und die Aufdeckung der Funktion der

Hermeneutik in den Geisteswissenschaften wird hier mit der Erfahrung der durch den

Zeitenabstand und durch die geschichtlichen Wandlungen entstandenen Entfremdung

der Überlieferung in Zusammenhang gebracht. Das historische Bewußtsein ist

demnach das Bewußtsein von den geschichtlichen Wandlungen des Sinnes der

Überlieferung, deren ürsprünglichen Sinn im Laufe der Zeit verloren gegangen ist und

uns fremd erscheint. Die Aufgabe der historisch-methodologischen Hermeneutik

besteht dem zufolge darin, die Fremdheit bzw. das Fremde als den entfremdeten,

ursprünglichen Sinn der Überlieferung aufzuschließen und zu vermitteln, was

wiederum zugleich einen Versuch der Überwindung des Zeitenabstandes bedeutet.

Schleiermachers Hermeneutik sei zum Beispiel „ganz darauf gerichtet, die

ursprüngliche Bestimmung eines Werkes im Verständnis wiederherzustellen. Denn

58

Kunst und Literatur, die uns aus der Vergangenheit überliefert sind, sind ihrer

ursprünglichen Welt entrissen,“ erklärt Gadamer (WM, 171).

Doch für Gadamer ist diese Aufgabenbestimmung der Hermeneutik, die

methodisch auf die objektive Rekonstruktion des entfremdeten ursprünglichen Sinns

der Überlieferung abzielt, nicht richtig gestellt. Vielmehr bedeutet der

Überwindungsversuch der Hermeneutik durch das Rekonstruieren des ursprünglichen

Sinnes der Überlieferung als „Wiederherstellung des Ursprünglichen“ für Gadamer

„nur die Mitteilung eines erstorbenen Sinnes“ (WM, 172), die er mit zwei

Hauptgründen abzuwehren versucht: Zum einen ist die Bestimmung der Aufgabe des

Verstehens als die objektive Rekonstruktion des ursprünglichen Sinns für Gadamer

ein vergegenständlichendes Verfahren des Verstehens, welches eine Abstandnahme

zur Überlieferung bedeutet und die „wahre Bedeutung“ der Überlieferung nicht

richtig erkennt. Zum anderen bedeutet Wiederherstellung des Ursprünglichen für

Gadamer, „angesichts der Geschichtlichkeit unseres Seins“, „ein ohnmächtiges

Beginnen“ (WM, 172), eine Illusion, eine „Naivität“. Das wiederhergestellte, aus der

Entfremdung zurückgeholte Leben sei nicht das ursprüngliche. Es gewinne lediglich

in der Fortdauer der Entfremdung ein sekundäres Dasein der Bildung. Gadamer

bestreitet hier ganz und gar die Notwendigkeit sowie die Möglichkeit eines

methodisch-progressiven Verfahrens des Verstehens von Fremdem in den

Geisteswissenschaften122.

Insofern bedeutet das Problem der Fremdheit in den Traditionen der Hermeneutik

zweierlei, nämlich einmal Fremdheit als die Erfahrung konkreter

122 Vgl. die ähnliche Ansicht von Karl-Otto Apel: Szientistik, Hermeneutik, Ideologiekritik. Entwurf einer Wissenschaftslehre in erkenntnisanthropologischer Sicht, in: Hermeneutik und Ideologiekritik, hg. v. Rüdiger Bubner, Frankfurt a. M. 1975, S.7-44. Auch in: ders.: Transformation der Philosophie, Bd. 2. Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, Frankfurt a. M. 1976, S. 96-127. Apel teilt die Ansicht, daß Gadamer den Sinn und die Möglichkeit einer methodisch-progressiven Objektivation des Sinns in den hermeneutischen Wissenschaften bestreite, die zur „Entmachtung der geschichtlichen Tradition führt“. Zit. S. 31.

59

Verständnisschwierigkeit, die durch die Entfremdung der Überlieferung und die

Verschiedenheit der Individualität von Sprache und Sprecher entsteht und als Ursache

des Nichtverstehens und Mißverstehens gilt, deren Überwindung die primäre Aufgabe

der historisch-methodologischen Hermeneutik der Schleiermacher-Schule ist; und

zum anderen Fremdheit als „Verfremdung“ bzw. „wissenschaftliche

Vergegenständlichung“ der Überlieferung, deren Überwindung die Aufgabe der

philosophischen Hermeneutik Gadamers bildet.

Es bleibt jedoch zu fragen, weshalb die Überwindung der Sinnentfremdung durch

die objektive Rekonstruktion des ursprünglichen, entfremdeten Sinns der

Überlieferung bei der historisch-methodologischen Hermeneutik eine

„Verfremdung“ der Überlieferung hervorbringt bzw. zur „Entmachtung“ der

geschichtlichen Tradition führen könnte, wie Gadamer es hier der Hermeneutik der

historisch-methodologischen Schule vorwirft. Hat Schleiermacher das Verstehen nicht

gerade als „Annäherung“ zum Anderen und Fremden beschrieben, wie wir im vorigen

Kapitel herausgestellt haben? Will Schleiermachers Hermeneutik nicht gerade den

Abstand zwischen dem Interpretandum und dem Interpreten durch das progressive

Verfahren des Verstehens überbrücken helfen, wie Gadamer es als „Aufgabe der

Überwindung des Zeitenabstandes“ angedeutet hat? Die Antworten darauf können

anhand der Rekonstruktion der Auseinandersetzung Gadamers mit der allgemeinen

Hermeneutik Schleiermachers am besten gezeigt werden.

2.1.2. Die Universalität der Fremdheitserfahrung bei Schleiermacher und die

Verfremdung der Tradition

In seiner Auseinandersetzung mit der romantischen Hermeneutik schreibt Gadamer,

daß die „Universalität“ der Hermeneutik bei Schleiermacher erst durch dessen

60

Interpretation des Verstehensproblems als eines universellen Phänomens entstanden

sei. „Er sucht die theoretische Begründung des den Theologen und Philologen

gemeinsamen Verfahrens zu gewinnen, indem er hinter beider Anliegen auf ein

ursprüngliches Verhältnis des Verstehens von Gedanken zurückgeht“ (WM, 182).

Während Friedrich Ast, der Philologe und unmittelbare Vorläufer Schleiermachers, in

der „inhaltlichen Einheit der Überlieferung“ „die Einheit des griechischen und

christlichen Lebens“ hervorbringen wollte, sucht Schleiermacher „die Einheit der

Hermeneutik nicht mehr in der inhaltlichen Einheit der Überlieferung, auf die das

Verstehen angewandt werden soll, sondern abgelöst von aller inhaltlichen

Besonderung in der Einheit eines Verfahrens“ (WM, 182). Demnach hat sich

Schleiermachers Begründung der allgemeinen Hermeneutik von der Aufgabe der

Wiederherstellung der inhaltlichen Einheit der griechischen und christlichen Tradition

abgelöst und der Einheit des Verstehensverfahrens zugewandt. Gadamer ist der

Meinung, daß Schleiermachers Idee einer universalen Hermeneutik aus der

Vorstellung entstanden sei, „daß die Erfahrung der Fremdheit und die Möglichkeit des

Mißverstehens eine universelle ist“ (WM, 182f).

„Aber gerade die Ausweitung der hermeneutischen Aufgabe auf das ‚bedeutsame Gespräch’, die für Schleiermacher besonders charakteristisch ist, zeigt, wie sich der Sinn der Fremdheit, deren Überwindung die Hermeneutik leisten soll, gegenüber der bisherigen Aufgabenstellung der Hermeneutik grundsätzlich gewandelt hat. In einem neuen, universalen Sinn ist Fremdheit mit der Individualität des Du unauflöslich gegeben“ (WM, 183).

Gadamer betont mit Recht, daß die Fremdheit in der Hermeneutik Schleiermachers

unauflöslich mit der Individualität des Du123 verbunden ist. Das Verstehen wird eben

123 Vgl. dazu ähnliches von Gunter Scholtz: „Die Fremdheit gründet in der Verschiedenheit der Individualitäten; aber auch die fortschreitende Geschichte zeitigt ‚Entfremdungen’.“ Gunter Scholtz: Die Philosophie Schleiermachers, Darmstadt 1984, S. 146.

61

deshalb bei Schleiermacher als ein progressives Verfahren der Annäherung zum

Anderen und Fremden bezeichnet124. „Indem Schleiermacher dergestalt das Verstehen

auf das Problem der Individualität zuspitzt, stellt sich ihm die Aufgabe einer

Hermeneutik als eine universelle dar. Denn die beiden Extreme der Fremdheit und der

Vertrautheit sind mit der relativen Differenz aller Individualität gegeben,“ so Gadamer

(WM, 193).

Mit seiner Hervorhebung der Fremdheitserfahrung sowie der Möglichkeit des

Mißverstehens als Charakteristika für die „Universalität“ der allgemeinen

Hermeneutik Schleiermachers macht Gadamer die Überwindung der Fremdheit als

Aufgabe der Hermeneutik geltend und leitet danach zu seinen eigenen Überlegungen

zur Fremdheit und zu der Aufgabe des Verstehens über 125 . Schleiermachers

Beschreibung der Fremdheit als Ursache des Mißverstehens, die durch die

Verschiedenheit der Individualität des Du, durch den Zeitenabstand, die Veränderung

von Sprachgewohnheiten, den Wandel von Wortbedeutungen und Vorstellungsweisen

verursacht wird, und „seine Festlegung der Aufgabe der Hermeneutik auf Vermeiden

derartiger Mißverständnisse“ 126, ist Gadamers Auffassung nach unangemessen, um

das Phänomen des Verstehens zu begreifen. Gadamer meint dagegen:

124 Das zeigt sich sowohl in seinem ersten Entwurf zur Hermeneutik aus der Zeit zwischen 1810 und 1819, in dem er die Operation des Verstehens im Bezug auf das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem am Beispiel des Verstehenlernens des Kindes als „nur durch Approximation möglich“ (HK, 61) erklärt, als auch in den Akademiereden des Jahres 1929, wo jede Lösung der Aufgabe des Auslegens „immer nur als eine Annäherung“ (HK, 146) bezeichnet wurde. 125 Vgl. Waldenfels’ Hinweis auf die Überwindung der Fremdheit als Aufgabe der Hermeneutik bei Gadamer. Es ist ein bißchen irreführend, wenn Waldenfels die Überwindung der Fremdheit, die Gadamer hier zur Aufgabe der Hermeneutik macht, als eine Art Nachfolge Schleiermachers beschreibt: „So erscheint es nicht verwunderlich, daß Gadamer, Schleiermacher folgend, die Überwindung der Fremdheit zur eigentlichen Aufgabe der Hermeneutik erklärt.” Denn die Fremdheit, die Gadamers Hermeneutik zu überwinden hat, ist nicht dieselbe wie die bei Schleiermacher. Bernhard Waldenfels: Phänomenologie des Fremden 4, S. 71. 126 Gadamer: Kleine Schriften, Bd. I, S. 104f. Die Definition der Hermeneutik von Schleiermacher, die Gadamer hier attackiert, ist aber bloß eine Formulierung Schleiermachers über das Ziel der Auslegung, die sich als ‚die laxere Praxis’ erweist, wie es bei den Spezialhermeneutiken etwa in Theologie, Jurisprudenz und Philologie zu sehen ist, wie wir im ersten Kapitel herausgearbeitet haben. Diese ‚laxere Praxis’ in der Kunst geht, Schleiermachers Auffassung nach, davon aus, „daß sich das Verstehen von selbst ergibt: und drückt das Ziel negativ aus ‚Mißverstand soll vermieden werden‘“. Und der Grund solcher Ansicht ist Schleiermachers Meinung nach die Voraussetzung der „Identität der Sprache

62

„Nicht das Mißverständnis und nicht die Fremdheit ist das Erste, so daß die Vermeidung des Mißverstandes die eindeutige Aufgabe wäre, sondern umgekehrt ermöglicht erst das Getragensein durch das Vertraute und das Einverständnis das Hinausgehen in das Fremde, das Aufnehmen aus dem Fremden und damit die Erweiterung und Bereicherung unserer eigenen Welterfahrung“ 127 (Hervorhebung von mir, Chen).

Mit dem „Getragensein durch das Vertraute und das Einverständnis“ meint Gadamer

eben die Zugehörigkeit zur eigenen Tradition. Insofern gilt es Gadamer nicht, das

Fremde im Sinne des Unbekannten, des Mißverständlichen oder des Problematischen

als primäres Problem des Verstehens zu thematisieren und konkrete Lösungen dafür

zu finden, sondern umgekehrt, die Tradition als das ursprünglich Vertraute und das

originäre Einverständnis für die Möglichkeit des Verstehens vorauszusetzen. Was

Gadamer interessiert, ist nicht das Phänomen des Nichtverstehens oder Mißverstehens

als solches, sondern das Phänomen des Verstehens im eigentlichen Sinne des Wortes.

Gadamers Voraussetzung einer ursprünglichen Vertrautheit zwischen dem

Interpretandum und dem Interpreten kann Geltung beanspruchen, nur wenn beide

gleicher Herkunft sind. Es bleibt jedoch zu fragen, ob die eigene Tradition, das

ursprünglich Vertraute als die hinreichende Bedingung der Möglichkeit des

Verstehens vom Fremden gelten könnte, vor allem wenn der Verstehende aus einer

fremden Kulturtradition kommt und eine ursprüngliche Vertrautheit mit der Tradition

des Zuverstehenden nicht besitzt. Zu Recht hat Nicole Ruchlak die Voraussetzung

eines ursprünglichen Einverständnisses und einer originären Vertrautheit zwischen

dem Interpretandum und dem Interpreten als „ein grundlegendes Defizit“ des und der Combinationsweise in Redenden und Hörenden“, die aber im Hinblick auf die Verschiedenheit der Individualität, insbesondere der Verschiedenheit der Sprachen und der Kulturen in Redenen und Hörenden, nicht gelten kann. Dagegen soll die Hermeneutik bei Schleiermacher von der „strengeren Praxis“ handeln, die davon ausgeht, „daß sich das Mißverstand von selbst ergiebt und das Verstehen auf jedem Punkt muß gewollt und gesucht werden“ (HK, 86), eben weil die Identität der Sprache und der Kompositionsweise in Redenden und Hörenden nicht vorauszusetzen ist. Diese Dimension kultureller Fremdheit und Differenz als Ursache des Nichtverstehens und Mißverstehens in der Hermeneutik Schleiermachers wird von Gadamer überhaupt nicht beachtet. 127 Gadamer: Kleine Schriften, Bd. I, S.111.

63

hermeneutischen Konzepts Gadamers nachgewiesen, „da es die sozialphilosophische

Relevanz der radikalen Differenz zwischen den Individuen letztlich ausklammert“128.

In Wirklichkeit ist die Vertrautheit mit der eigener Tradition eher verhindernd als

befördernd, um den kulturell Fremden oder fremde Traditionen zu verstehen. Ja, laut

Helmuth Plessner ist die allzu große Vertrautheit sogar hinderlich, die eigene

Tradition zu verstehen129.

Schleiermachers allgemeine Hermeneutik, die sich von der Theologie, Jurisprudenz

und Philologie ablöst und die das Bemühen um Verstehen überall da für nötig hält, wo

sich kein unmittelbares Verstehen ergibt und wo mit der Möglichkeit eines

Mißverstehens gerechnet werden muß, bedeutet für Gadamer „die Auflösung der

Vorbildlichkeit des klassischen Altertums“ sowie „die Preisgabe der dogmatischen

Einheit des Kanons” (WM, 181f), so daß die inhaltliche Einheit der Überlieferung

nicht mehr gewährleistet werden kann. „Weder die Heilswahrheit der Heiligen Schrift

noch die Vorbildlichkeit der Klassiker sollte ein Verfahren beeinflussen, das in jedem

Text seinen Lebensausdruck zu erfassen wußte und die Wahrheit des Gesagten dabei

dahingestellt ließ,“ so Gadamer über die „Fragwürdigkeit“ der Hermeneutik

Schleiermachers und der Romantik (WM, 201). Mit der inhaltlichen Einheit der

Überlieferung ist hier eindeutig die inhaltliche Einheit beider Traditionen („die

Einheit des griechischen und christlichen Lebens”) gemeint, die zugleich

ausschließlich auf die abendländischen Kulturtraditionen beschränkt ist. Insofern wird

der Begriff der Fremdheit als „Verfremdung“ der Überlieferung eindeutig auf die

Verfremdung als Ablösung von dem normativen Einheits- und Wahrheitsanspruch

abendländischer Kulturtraditionen festgelegt. Implizit vorausgesetzt ist dabei, daß es

128 Nicole Ruchlak: Alterität als hermeneutische Perspektive, in: Hans-Marin Schönherr-Mann (Hg.): Hermeneutik als Ethik, Müchen 2004, S. 151-167, Zit. S. 160. 129 Helmuth Plessner: Mit anderen Augen. In: ders.: Aspekte einer philosophischen Anthropologie, Stuttgart 1982, S. 164ff.

64

einen einheitlichen, gemeinsamen Sinn beider Traditionen gibt bzw. geben sollte und

daß die Heilswahrheit der Heiligen Schrift und die Vorbildlichkeit der Klassiker jedes

Verfahren des Verstehens in den Geisteswissenschaften beeinflussen sollte. Dadurch

wird nicht nur der Begriff der historischen Überlieferung auf die Überlieferung

abendländischer Kulturtradition reduziert und im Vergleich zu der von Schleiermacher

anerkannten Vielfalt und den Eigenwerten historischer Überlieferungen aus

verschiedenen Zeitepochen und Kulturtraditionen auf unangemessene Weise verengt,

sondern die Aufgabe des Verstehens wird folglich auch auf die „Sinnkontinuität der

abendländischen Kulturüberlieferung“ (WM, 214) beschränkt.

Der Unterschied zwischen dem Problem des Fremden und dem

Verfremdungsproblem liegt folglich zum einen darin, daß letzteres eine ursprüngliche

Vertrautheit und ein Einverständnis mit der Überlieferung voraussetzt, während jenes

von der Verschiedenheit der Individualität zwischen Sprecher und Hörer ausgeht und

auf die Probleme der Nichtselbstverständlichkeit und Unverständlichkeit der

Überlieferung verwiesen ist; zum anderen, daß das Problem des Fremden sowohl das

geschichtlich als auch kulturell Fremde einschließt, während das Problem der

Verfremdung sich ausschließlich auf die eigene Kulturüberlieferung beschränkt. Das

uns ursprünglich Fremde, d.h. Unbekannte, vor allem kulturell Fremde, könnte nicht

„verfremdet“ werden, wenn Verfremdung im eigentlichen Sinne des Wortes

Wegnahme des „Selbstverständlichen und Bekannten“130 bedeutet. Eben in diesem

Sinne verwendet Gadamer den Begriff der Verfremdung, um die

historisch-methodologische Hermeneutik zu kritisieren. 130 Vgl. Th. Weber, Art. ‹Verfremdung›, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11, hg. v. Joachim Ritter u. Karlfried Gründer, Darmstadt, S. 653f.: „Wirkungsgeschichtlich ist der Begriff mit der Theorie und ästhetischen Praxis B. Brechts verknüpft, der Verfremdung bzw. Verfremdungseffekt ab 1936 zur Kennzeichnung des zentralen Moments seiner Dramatik verwendet, die er der aristotelischen, auf «Einfühlung» zielenden Tradtition entgegenstellt. «Einen Vorgang oder Charakter verfremden» heißt bei Brecht «zunächst einfach, dem Vorgang oder dem Charakter das Selbstverständliche, Bekannte, Einleuchtende zu nehmen und über ihnen Staunen und Neugierde zu erzeugen».“

65

Das bedeutet, daß Gadamer hier das hermeneutische Problem der Fremdheit vom

Problem der Verständnisschwierigkeit zum Problem der Verfremdung der eigenen

Tradition hinführt. Das hermeneutische Problem des Verstehens bei Gadamer wird

dementsprechend vom Problem des Fremdverstehens zum Problem des

Selbstverstehens umgewandelt, welches auf die Wiederherstellung der Sinnkontinuität

der Überlieferung in der inhaltlichen Einheit der eigenen Kulturtraditionen abzielt.

Das Wesen des Fremdheitsproblems in der Hermeneutik Gadamers ist folglich ein

gegenüber der allgemeinen Hermeneutik Schleiermachers gewandeltes: Die

Fremdheit wird vom allgemeinen Verständnisproblem umgedeutet zur

„Verfremdung“ als „Abstandnahme“ zur eigenen Tradition. Während der Begriff der

Fremdheit in der allgemeinen Hermeneutik Schleiermachers nicht nur auf die

geschichtlichen Wandlungen der Sprachen, sondern auch auf die Verschiedenheit der

Individualität von Sprachen und Sprecher ausgerichtet ist, was zuletzt auf die

Verschiedenheit der Kulturen und Religionen als „kulturelle Fremdheit“ erweitert

worden war und sich nicht auf die Überlieferung eigener Kulturtraditionen beschränkt,

wird das Problem der Fremdheit bei Gadamer zur Verfremdung als Bruch mit dem

normativen Geltungsanspruch der Überlieferung und zielt ausschließlich auf die

Wiederherstellung der sittlichen Verbindung mit eigenen Kulturtraditionen ab.

2.2. Zugehörigkeit als Konzept gegen die Verfremdung der Tradition

Entgegen dem historischen und dem hermeneutischen Bewußtsein der

historisch-methodologischen Hermeneutik versucht Gadamer das

wirkungsgeschichtliche Bewußtsein als Prinzip der Hermeneutik hervorzuheben und

die „Geschichtlichkeit des Verstehens“ im Anschluß an Heideggers Analyse der

Geschichtlichkeit des Daseins im Verstehen der geschichtlichen Überlieferung

66

aufzuzeigen. An die Stelle des auf die Andersheit des Anderen abzielenden

hermeneutischen Bewußtseins tritt hier ein auf die Zugehörigkeit zur eigenen

Tradition abzielendes wirkungsgeschichtliches Bewußtsein in den Vordergrund.

„Zugehörigkeit“ wird Gadamer zufolge von Graf Yorck als „die Besonderheit der

Seinsart“, d.h. die „Seinsart der Geschichtlichkeit“, die dem Erkennenden und dem

Erkannten gemeinsam ist, der Diltheyschen Voraussetzung der „Gleichartigkeit der

Menschennatur“ (als Bedingung der Möglichkeit des Verstehens) gegenübergestellt

(WM, 267). Gadamer meint:

„’Zugehörigkeit’ ist nicht deshalb eine Bedingung für den ursprünglichen Sinn historischen Interesses, weil Themenwahl und Fragestellung außerwissenschaftlichen, subjektiven Motivationen unterliegen [...] sondern weil Zugehörigkeit zu Traditionen genau so ursprünglich und wesenhaft zu der geschichtlichen Endlichkeit des Daseins gehört wie sein Entworfensein auf zukünftige Möglichkeiten seiner selbst“ (WM, 266).

Hier wird die Zugehörigkeit zu Traditionen mit der Geschichtlichkeit des

menschlichen Lebens in engste Beziehung gebracht. Diese existenziale Struktur des

Verstehens erreiche ihre Konkretion im historischen Verstehen, „indem konkrete

Bindungen von Sitte und Überlieferung und ihnen entsprechende Möglichkeiten der

eigenen Zukunft im Verstehen selber wirksam werden“ (WM, 268). Insofern gilt es

für Gadamer, die sittliche Bindung zur Tradition, d.h. „das Moment der Tradition im

historischen Verhalten zu erkennen“ und „auf seine hermeneutische Produktivität zu

befragen“ (WM, 287)131.

131 Die „Zugehörigkeit zu Traditionen“ bezeichne Figal zufolg zugleich die Wende Gadamers von der Hermeneutik der Faktizität Heideggers zu seiner eigenen Version einer Hermeneutik der Faktizität. Figal meint: „Die Hermeneutik ist zur Selbstaufklärung eines wirkungsgeschichtlichen Bewußtseins geworden, das sich in seinen Möglichkeiten zu verstehen der Tradition verdankt, auf die es sich richtet. Sofern die Tradition das im prägnanten Sinne des Wortes Vorgegebene ist, das unhintergehbar alle Möglichkeiten, sich zu ihm zu verhalten, freisetzt, ist damit der Gedanke einer ‚unergründbaren und unableitbaren Faktizität des Daseins’ erreicht.“ Günter Figal: Gadamer im Kontext. Zur Gestalt und den Perspektiven philosophischer Hermeneutik, in: Gadamer verstehen. Understanding Gadamer, hg. v. Mirko Wischke/ Michael Hofer, Darmstadt 2003, S.141-156. Hier S. 148.

67

Genau diese „Zugehörigkeit zu Traditionen“ (WM, 266) soll Gadamers Konzept

gegen die Verfremdung der Überlieferung sein, die sowohl als ontologische als auch

als normative Bedingung des hermeneutischen Verstehens, zu verstehen ist. Das heißt,

statt des ursprünglichen, d.i. des historischen Sinns der Überlieferung, soll im

Verstehen der normative Sinn der Tradition vermittelt werden (WM, 291), welches er

am Beispiel des Klassischen zu zeigen versucht. Als ontologische Bedingung bedeutet

die Zugehörigkeit des Interpreten zur Tradition die geschichtliche Bedingtheit des

Verstehens (im Sinne der Traditionsgebundenheit als Endlichkeit und Beschränktheit

des Verstehens) und gilt als Gadamers Einwand gegen das Objektivitätsideal der

geisteswissenschaftlichen Forschung. Als normative Bedingung des hermeneutischen

Verstehens soll die Zugehörigkeit zur Tradition die geschichtliche Bewegtheit und den

wahren Sinn des Verstehens (im Sinne der Sinnkontinuität und Fortwirkung der

Tradition) andeuten, die in Konzeptionen wie „Gleichzeitigkeit“,

„Horizontverschmelzung“ und „Applikation“ als integriertes Moment des Verstehens

verankert sind.

2.2.1. Tradition als Grundlage aller hermeneutischen Bemühungen

Die erste Konzeption, die Gadamer zur Überwindung der Verfremdung der

Überlieferung entworfen hat, ist die Rehabilitierung von Autorität und Tradition als

„legitime“, „wahre“ Vorurteile, die durch die Aufklärung diskreditiert worden seien.

Sein Ansatzpunkt ist, daß es legitime Vorurteile gebe, daß Tradition eine Form der

Autorität und eine Quelle der wahren Vorurteile sei. Im Gegensatz zur Aufklärung, in

der die Vernunft die letzte Quelle aller Autorität darstellt, hebt Gadamer unter

Berufung auf die romantische Kritik an der Aufklärung die Bedeutung der Tradition

im geschichtlichen Verstehen hervor. „Wir verdanken in der Tat der Romantik diese

68

Berichtigung der Aufklärung, daß außerhalb der Vernunftgründe auch Tradition ein

Recht behält und in weitem Maße unsere Einrichtungen und Verhalten bestimmt,“ so

Gadamer (WM, 285). „Die Wirklichkeit der Sitten z. B. ist und bleibt in weitem

Umfang eine Geltung aus Herkommen und Überlieferung. Sie werden in Freiheit

übernommen, aber keineswegs aus freier Einsicht geschaffen oder in ihrer Geltung

begründet. Eben das ist es vielmehr, was wir Tradition nennen: ohne Begründung zu

gelten,“ fährt Gadamer fort (WM, 285). „Es kennzeichnet geradezu die Überlegenheit

der antiken Ethik über die Moralphilosophie der Neuzeit,“ so Gadamer, „daß sie im

Blick auf die Unentbehrlichkeit der Tradition den Übergang der Ethik in die ‚Politik’,

die Kunst der rechten Gesetzgebung, begründet“ (WM, 285).

Gadamer versucht dann die Legitimation der Autorität der Tradition am Beispiel

der Autorität von Personen zu erklären, welche ihren Grund „in einem Akt der

Anerkennung und der Erkenntnis – der Erkenntnis nämlich, daß der andere einem an

Urteil und Einsicht überlegen ist und daß daher sein Urteil vorgeht,“ hat (WM, 284).

„Sie beruht auf Anerkennung und insofern auf einer Handlung der Vernunft selbst, die,

ihrer Grenzen inne, anderen bessere Einsicht zutraut“, so Gadamer (ebd.). Die

Anerkennung der Autorität schließe die Einsicht in die Überlegenheit des Anderen ein

und insofern beruhe sie auf Erkenntnis. Damit sollte die Autorität der Tradition wie

die Autorität von Personen durch den Akt der Anerkennung als einer Handlung der

Vernunft mit Erkenntnis legitimiert werden.132. Es ist nicht abzustreiten, daß in den

Traditionen die Erfahrung von Wahrheit und die Gewinnung von Erkenntnis möglich

ist. Allein stellt sich die Frage, ob die Anerkennung der Geltung bzw. der Werte des

132 Vgl. dazu die Unterscheidung der Anerkennungsinstanzen in der Hermeneutik von Gunter Scholtz: Anerkennung als Element der Hermeneutik, in chines. Übers. (承認之為詮釋學要素) in: World Philosophy, Bejing 2006, Nr. 3, S. 33-41. Auch in: Die geistigen Grundlagen einer Kultur der Anerkennung, hg. v. H. K. Keul u. J. Rüsen, demnächst Bukarest [Manuskript]. Nach Scholtz ist „Anerkennung“ als „Element der Hermeneutik“ zu bezeichnen, da es in allen Hermenutiken Anerkennung vollzogen wird, sei es dem Interpretandum, hier der Überlieferung, dem Autor oder dem Interpreten gegenüber.

69

Interpretandums die Überlegenheit desselben voraussetzen muß, und ob die

„Autorität“ tatsächlich auf der „Überlegenheit“ von Urteil und Einsicht beruht. Führt

die Idee der Autorität nicht leicht zur Monopolisierung der einen bestimmten

Tradition und zur alleinigen Herrschaft derselben gegenüber allen anderen

Traditionsbeständen oder anderen Traditionen? Die Anerkennung der Geltung

traditierter Werke muß nicht zur Festlegung ihrer Autorität als einem festen allein

geltenden Maßstab über allen anderen führen. Vor allem im Falle der Autorität von

Personen läßt sich am Beispiel der Diktatoren leicht bestätigen, daß die Autorität

überhaupt nicht auf der Überlegenheit von Urteil und Erkenntnis, sondern auf der

Macht und Gewaltanwendung beruht133, und daß die Anerkennung der Autorität

solcher Personen nicht eine Handlung der Vernunft, sondern eine Handlung blinder

Gehorsamkeit bedeutet.

In einer vielstimmigen divergenten Tradition sieht Gadamer eine Gefahr, und erst

recht ist ihm das Bewußtsein der Traditionsvielfalt suspekt, und deshalb steht er der

historischen Arbeit der Geisteswissenschaften kritisch gegenüber. „Die große

Leistungen der Romantik, die Erweckung der Zeitenfrühe, das Vernehmen der

Stimme der Völker in Liedern, die Sammlung der Märchen und der Sagen, die Pflege

des alten Brauchtums, die Entdeckung der Sprachen als Weltanschauungen, das

Studium der »Religion und Weisheit der Inder« – sie alle haben historische

Forschung ausgelöst, die langsam, Schritt für Schritt die ahnungsreiche

Wiedererweckung in abständige historische Erkenntnis verwandelte,“ erklärt

Gadamer die zwiespältige Leistung der Romantik und ihren Einfluß auf die

historischen Forschung (WM, 279f). Schleiermachers Begründung der allgemeinen

133 Vgl. dazu den Hinweis von Wei-Chieh Lin auf Habermas’ Kritik an dem von Gadamer herausgestellte Verhältnis zwischen Autorität und Erkenntnis, welches auf Gadamers „konservativer Überzeugung“ beruhe. Wei-Chieh Lin: Verstehen und sittliche Praxis. Ein Vergleich zwischen dem Kofuzianismus Zhu Xis und der philosophischen Hermeneutik Gadamers. Frankfurt a. M. 2001, S. 94. Unten Anmerk.174.

70

Hermeneutik, die sich von dem normativen Anspruch der philologischen und der

theologischen Hermeneutik ablöst und auf die Einheit des Verstehensverfahrens

gründet, beruht eben auf einer solchen Anerkennung der Vielfalt und der Eigenwerte

der Sprachen und Kulturen, Weltansichten und Wertsysteme.

Diese große Leistung der Romantik, die eine entscheidende Rolle für die

historische Forschung und für das Verstehen von vergangenen und fremden Kulturen

in der Geschichte der Geisteswissenschaften eingenommen hatten, haben in Gadamers

Augen jedoch negative Folgen. Er meint:

„Daß sich die restaurative Haltung der Romantik mit dem Grundanliegen der Aufklärung zu der Wirklichkeit der historischen Geisteswissenschaften verbinden konnte, drückt nur aus, daß es der gleiche Bruch mit der Sinnkontinuität der Überlieferung ist, der beiden zugrunde liegt“ (WM, 279f, Hervorhebung von mir, Chen).

Mit dem Bruch mit der Sinnkontinuität der Überlieferung, der der Romantik und der

Aufklärung zugrundeliegt, meint Gadamer eben die Preisgabe des dogmatischen

Geltungsanspruches der Überlieferung durch das historische Bewußtsein, die er am

Beispiel der historischen Bibelkritik Spinozas in der neuzeitlichen Aufklärung und der

Begründung der allgemeinen Hermeneutik Schleiermachers in der Romantik

aufzuzeigen versucht.

Dieser Bruch mit dem dogmatischen Wahrheitsanspruch der Überlieferung eigener

Kulturtradition zeigt sich besonders deutlich in der Ausführung Diltheys über das

historische Bewußtsein:

„Das historische Bewußtsein von der Endlichkeit jeder geschichtlichen Erscheinung, jedes menschlichen oder gesellschaftlichen Zustandes, von der Relativität jeder Art von Glauben ist der letzte Schritt zur Befreiung des Menschen. Mit ihm erreicht der Mensch die Souveränität, jedem Erlebnis seinen Gehalt abzugewinnen, sich ihm ganz hinzugeben, unbefangen, als wäre kein

71

System von Philosophie oder Glauben, das Menschen binden könnte. Das Leben wird frei vom Erkennen durch Begriffe; der Geist wird souverän allen Spinneweben dogmatischen Denkens gegenüber“ 134.

Gadamer meint: „Indem sie [die Geisteswissenschaften] die weiten Räume der

Geschichte forschend und verstehend durchdringen, erweitern sie zwar den geistigen

Horizont der Menschheit um das Ganze ihrer Vergangenheit, aber das

Wahrheitsstreben der Gegenwart wird so nicht nur nicht befriedigt, es wird sich selber

gleichsam bedenklich“135. Der historische Sinn, den die Geisteswissenschaften in sich

ausbilden, bringe eine Gewöhnung an wechselnde Maßstäbe mit sich, die im

Gebrauch der eigenen Maße zur Unsicherheit führe. „Der Historismus, der überall

geschichtliche Bedingtheit sieht, hat den pragmatischen Sinn der geschichtlichen

Studien zerstört. Seine verfeinerte Kunst des Verstehens schwächt die Kraft zu

unbedingter Wertung, in der die sittliche Realität des Lebens besteht. Seine

erkenntnistheoretische Zuspitzung ist der Relativismus, seine Konsequenz der

Nihilismus,“ kritisiert Gadamer136.

Das historisch-methodologisch verfahrende hermeneutische Verstehen in den

Geisteswissenschaften, das die Vielfalt und die Wandelbarkeit der Kulturen und

Wertsysteme in der Geschichte der Menschheit kenntlich gemacht hat, hat Gadamers

134 Dilthey, Ges. Schriften, Bd. VII, S. 290f. Diltheys Anliegen war, vom geschichtlichen Leben aus die geschichtliche Welt zu erfassen. Es gibt für ihn nur den Weg von der Deutung des Lebens zur geschichtlichen Welt. Das Leben ist Dilthey zufolge aber nur da im Erleben, Verstehen und geschichtlichen Auffassen. „Wir sind der Möglichkeit offen, daß Sinn und Bedeutung erst im Menschen und seiner Geschichte entstehen. Aber nicht im Einzelmenschen, sondern im geschichtlichen Menschen. Denn der Mensch ist ein geschichtliches (Wesen),“ so Dilthey zum Schluß seiner Abhandlung über Die Erkenntnis des universalhistorischen Zusammenhanges. Wilhelm Dilthey: Ges. Schrift Bd. VII, S. 291. Das Leben wird bei Dilthey „das Organon für die Auffassung der geschichtlichen Lebendigkeit“. Vgl. den Hinweis von Leonhard von Renthe-Fink: Geschichtlichkeit. Ihr terminologischer und begrifflicher Ursprung bei Hegel, Haym, Dilthey und Yorck, Göttingen 1968, S. 114: „Geschichtlichkeit als geschichtliche Lebendigkeit wird allein vom Leben aus verstanden, erkannt und begriffen. Dilthey bringe den Standpunkt zur Geltung, ‚daß Leben das primäre Datum ist, von dem alle, auch die allgemeinsten Kategorien deriviert sind. Daher die Nähe des Verständnisses, die Wärme der Darstellung’“ . 135 Gadamer: Wahrheit in den Geisteswissenschaften (1953), Ges. Werke Bd. 2, Tübingen 1993 (1986), S. 38. 136 Gadamer: Wahrheit in den Geisteswissenschaften, a.a.O., S. 38.

72

Ansicht nach – in Übereinstimmung mit Nietzsches Betrachtungen über „Nutzen und

Nachteil der Historie für das Leben“ – eben diesen Nachteil für das gegenwärtige

„wahrheitsstrebende“ Leben: es schwäche die Kraft zu unbedingter Wertung, indem

der dogmatische Wahrheitsanspruch der Tradition relativiert bzw. aufgehoben wird.

Karl-Otto Apel bezeichnet solches hermeneutisches Verstehen bei Schleiermacher und

Dilthey als „das normativ unverbindliche aber wissenschaftlich allgemeingültige

Verstehen der hermeneutischen »Geistes-Wissenschaften«“, das an die Stelle des

„normativ verbindlichen Verstehens der vorwissenschaftlichen

Traditionsvermittlung“ trete137. Mit dem normativ Verbindlichen des Verstehens ist

eben der Norm- und Wahrheitsanspruch der Tradition gemeint.

Eben hier liegt der Punkt, an dem Gadamers philosophische Hermeneutik ansetzt.

Er möchte nachweisen, daß in den Geisteswissenschaften „trotz aller Methodik ihres

Verfahrens ein Einschlag von Tradition wirksam ist“ (WM, 287), und zwar im

normativen und wirkungsgeschichtlichen Sinne. Er meint:

„In unserem Verhalten zur Vergangenheit, das wir ständig betätigen, ist jedenfalls nicht Abstandnahme und Freiheit vom Überlieferten das eigentliche Anliegen. Wir stehen vielmehr ständig in Überlieferung, und dieses Darinstehen ist kein vergegenständlichendes Verhalten, so daß das, was die Überlieferung sagt, als ein anderes, Fremdes gedacht wäre – es ist immer schon ein Eigenes, Vorbild und Abschreckung, ein Sichwiedererkennen, in dem für unser späteres historisches Nachurteil kaum noch Erkennen, sondern unbefangenste Anverwandlung der Überlieferung zu gewahren ist“ (WM, 286f).

Damit ist normativ gemeint, daß das Verstehen in den Geisteswissenschaften mit dem

Fortleben von Tradition eine Voraussetzung teilt, nämlich „sich von der Überlieferung

angesprochen zu sehen“ (WM, 287, Hervorheb. im Orig.; vgl. WM, 273, 295, 300,

304 u.ö.). Das Angesprochensein bedeutet bei Gadamer, daß wir uns etwas von der 137 Karl-Otto Apel: Szientistik, Hermeneutik und Ideologiekritik. Entwurf einer Wissenschaftslehre in erkenntnisanthropologischer Sicht, in: Hermeneutik und Ideologiekritik, a.a.O., S. 30.

73

Überlieferung bedeuten lassen.

„Bedeutung erschließt sich nicht, wie Dilthey meint, im Abstand des Verstehens, sondern dadurch, daß wir selber in dem Wirkungszusammenhang der Geschichte stehen. Geschichtliches Verstehen ist selber immer Erfahrung von Wirkung und Weiterwirken. Seine Befangenheit bedeutet geradezu seine geschichtliche Wirkungskraft“ 138.

An dieser Stelle wird deutlich, daß die Zugehörigkeit zur eigenen Tradition der

Zugehörigkeit zur Geschichte gleichbedeutend wird. Die Eingebundenheit des

Interpreten in die eigene Tradition soll hier nicht mehr die Beschränktheit bzw.

Befangenheit, sondern die Möglichkeit des geschichtlichen Verstehens bedeuten. Die

Möglichkeit der Diskrepanz zwischen der Tradition des Interpreten und der Tradition

des Überlieferten scheint hier nicht berücksichtigt zu sein. Hier ist die

Wirkungsgeschichte gradlinig gedacht139. Die Bedeutung der Überlieferung für den

jeweiligen Interpreten wird als die Wirkung und Weiterwirkung der Überlieferung im

Vollzug des Verstehens verstanden, weil die Neubestimmung der Bedeutung der

Überlieferung bereits mit der Wahl des Forschungsthemas, der Weckung des

Forschungsinteresses und der Gewinnung der neuen Fragestellung beginnt. Im

Kontext der Wirkungsgeschichte betrachtet, erweist sich das Verstehen historischer

Überlieferung als ein Vorgang der Wirkung und Weiterwirkung der Überlieferung

selbst und gewinnt dadurch den Charakter eines „Überlieferungsgeschehens“ (WM,

343, 488), da durch den Akt des Verstehens die Gegenwart mit der Vergangenheit

138 Gadamer: Das Problem der Geschichte in der neueren deutschen Philosophie, Ges. Werke, Bd. 2, S. 34f. 139 Vgl. dazu die kritische Überlegungen von Hans Krämer. Für Hans Krämer ist „die Vorstellung von einem linearen Geschichtsverlauf wieder zu abstrakt, gemessen an nicht-linearen, nach Richtung, Kombination und Tempo unbestimmten Geschichtsprozessen.“ Vielmehr sollte Krämer zufolge unterschieden werden „zwischen linearen, zyklischen, helikoiden, retrograden und noch komplexeren Verlaufsformen, eingeschlossen teleologische Approximations- oder gar Emergenzprozesse.“ Hans Krämer: Die Grundlagen kulturwissenschaftlichen Erkenntnis. Kritische Überlegungen zu Gadamer. In: Kultur verstehen. Zur Geschichte und Theorie der Geisteswissenschaften, hg. v. G. Kühne-Bertram, H.-U. Lessing, V. Steenblock, Würzburg 2003, S. 85-96, s. bes. S. 90f.

74

vermittelt wird.

„Die Wirkung der fortlebenden Tradition und die Wirkung der historischen

Forschung bilden eine Wirkungseinheit, deren Analyse immer nur ein Geflecht von

Wechselwirkungen anzutreffen vermöchte,“ fährt Gadamer fort. Daher sind die

Selbstbesinnung und die Autobiographie – Diltheys Ausgangspunkte der historischen

Vernunft – für Gadamer nichts Primäres und reichen als Basis für das hermeneutische

Problem nicht aus, „weil durch sie die Geschichte reprivatisiert wird“ (WM, 281). Er

meint:

„Lange bevor wir uns in der Rückbesinnung selber verstehen, verstehen wir uns auf selbstverständliche Weise in Familie, Gesellschaft und Staat, in denen wir leben. Der Fokus der Subjektivität ist ein Zerrspiegel. Die Selbstbesinnung des Individuums ist nur ein Flackern im geschlossenen Stromkreis des geschichtlichen Lebens. Darum sind die Vorurteile des einzelnen weit mehr als seine Urteile die geschichtliche Wirklichkeit seines Seins“ (WM, 281, Hervorheb. im Orig.).

Daran anschließend kommt Gadamer zu dem Schluß, daß Diltheys Ausgangspunkt,

„das Innesein der Erlebnisse“, die Brücke zu den geschichtlichen Realitäten nicht

schlagen könne, „weil die großen geschichtlichen Wirklichkeiten, Gesellschaft und

Staat, in Wahrheit schon immer vorgängig für jedes ‚Erlebnis’ bestimmend

sind“ (WM, 281). „In Wahrheit gehört die Geschichte nicht uns, sondern wir gehören

ihr,“ betont Gadamer (ebd.). Damit gelangt Gadamer zu seiner These, daß am Anfang

aller historischen Hermeneutik „die Auflösung des abstrakten Gegensatzes zwischen

Tradition und Historie, zwischen Geschichte und Wissen von ihr“ stehen muß (WM,

287, Hervorheb. im Orig.).

Es ist deutlich zu erkennen, daß Gadamer den Begriff der Tradition mehrdeutig

verwendet. Mal bedeutet Tradition die Herkunft und die Lebenswelt wie Familie,

Gesellschaft und Staat als sittliche Wirklichkeit, aus der man kommt und in der man

75

lebt. Mal bedeutet Tradition die Tradition der geisteswissenschaftlichen Forschung

und der Philosophie. Ein andersmal aber bedeutet Tradition die ganze Vergangenheit

bzw. die ganze Geschichte der Menschheit, also die ganze geschichtliche

Vorgegebenheit, die Gadamer in Anlehnung an Hegel ‚Substanz’ nennt140. Im Ganzen

betrachtet weist der Begriff der Tradition bei Gadamer die „Vorstruktur“ des

Verstehens für alle wissenschaftlichen und vorwissenschaftlichen Erkenntnisse auf.

Indem Gadamer den Gegensatz zwischen Tradition und Historie, zwischen Geschichte

und Wissen von ihr auflöst und die Wechselwirkung zwischen fortlebender Tradition

und historischer Forschung konstatiert, läßt sich das Verhältnis zwischen den

verschiedenen Bedeutungen von „Tradition“ und historischer Erkenntnis bei ihm

kaum noch bestimmen141. Im Zusammenhang der Wirkungsgeschichte betrachtet

könnte man mit Droysen meinen, daß das Wissen von der Geschichte selbst ein Teil

der Forschungsgeschichte wird. Das kann aber nicht bedeuten, daß Geschichte der

historischen Forschung oder einer bestimmten Tradition gleicht. Das bedeutet

zugleich eine Homogenisierung der Vielfalt der Traditionsbestände und eine

Vereinfachung der Darstellung von Geschichte, welche in Wirklichkeit vielstimmig ist,

140 Vgl. Günter Figal: Gadamer im Kontext, a.a.O., s. Bes. S.149. Nach Figal ist Gadamers Hermeneutik der Faktizität in ihrem Kern eine „immanente Kritik an der Geistphilosophie Hegels“. An ihr als einer Konzeption des ‚Sichwissens’ nehme sie Maß und gelange so zu der für sie eigentümlichen Auffassung des Geschichtlichen. Figal bezieht sich auf die Formulierung Gadamers über sein hermeneutisches Programm: „‚Alles Sichwissen erhebt sich aus geschichtlicher Vorgegebenheit, die wir mit Hegel ‚Substanz’ nennen, weil sie alles subjektive Meinen und Verhalten trägt und damit auch alle Möglichkeit, eine Überlieferung in ihrer geschichtlichen Andersheit zu verstehen vorzeichnet und begrenzt. Die Aufgabe der philosophischen Hermeneutik lässt sich von hier aus gerade so charakterisieren: sie habe den Weg der Hegelschen Phänomenologie des Geistes insoweit zurückzugehen, als man in aller Subjektivität die sie bestimmende Substanzialität aufweist’ (WM, 307) . Substanz in diesem Sinne ist für Gadamer die Geschichte als Tradition,“ meint Figal. 141 Die Auflösung des Gegensatzes von Geschichte und Wissen von ihr stammt bekanntlich von Droysen, auf den sich Gadamer ausdrücklich berufen hat. „Sein grundlegender Gesichtspunkt ist: Kontinuität ist das Wesen der Geschichte, weil Geschichte im Unterschied zur Natur das Moment der Zeit einschließt. Droysen zitiert dafür immer wieder die aristotelische Aussage von der Seele, daß sie eine Zunahme in sich selbst (epidosis eis hauto) sei. Im Gegensatz zu der bloßen Wiederholungsform der Natur ist die Geschichte durch solche Steigerung in sich selbst charakterisiert. Das heißt aber: durch ein Bewahren und Hinausgehen über das Bewahrte. Beides aber schließt Sichwissen ein. Die Geschichte selbst ist also nicht nur ein Wissensgegenstand, sondern ist in ihrem Sein bestimmt durch das Sich-wissen. »Das Wissen von ihr ist sie selbst « (Historik §15),“ so Gadamer (WM, 213).

76

wie Scholtz zu Recht zu bedenken gibt142.

Diese Nichtunterscheidung bedeutet zugleich eine Nivellierung der Differenz

zwischen geschichtlichen Wirklichkeiten und historischer Forschung, zwischen dem

Zuverstehenden und dem Verstehenden. Das ist auch der Grund, aus dem Horst Turk

ein doppeltes Problem bei Gadamer gesehen hat: „daß die Auslegung zur

Selbstauslegung der Geschichte wird (in die Gewalt der »konkreten« Augenblicke

oder Situation der Geschichte gerät) und daß der Begriff der Geschichte auf diese

Selbstauslegung eingeschränkt wird (die Geschichte zur Geschichte der

Textauslegung wird)“ 143. Dieses Problem tritt auf, sobald geschichtliche Wirklichkeit

und historische Forschung gleichgesetzt werden. Historische Forschung kann aber

höchstens einen Teil der geschichtlichen Wirklichkeit zeigen und gehört selbst zur

Forschungsgeschichte als Teil der geschichtlichen Wirklichkeit.

2.2.2. Geschichtlichkeit des Verstehens als Prinzip

Um die Eingebundenheit in die eigene Tradition als berechtigte Quelle der wahren

Vorurteile zu verdeutlichen, stellt Gadamer den hermeneutischen Zirkel von

Schleiermacher und Heidegger als zwei gegensätzliche Modelle dar, die der

jeweiligen hermeneutische Situation des Interpreten entsprechen. Gadamer sieht den

Gipfel der Theorie des Verstehens bei Schleiermacher in seiner Lehre vom

divinatorischen Akt, durch den man sich ganz in den Verfasser versetzt, um von da

aus alles Fremde und Befremdende des Textes zur Auflösung zu bringen. 142 Vgl. dazu die einschlägigen Untersuchungen von Gunter Scholtz: Das Historismusproblem und die Geisteswissenschaften im 20. Jahrhundert, in: ders.: Zwischen Wissenschaftsanspruch und Orientierungsbedürfnis. Zu Grundlage und Wandel der Geisteswissenschaften, Frankfurt a. M. 1991, S. 130-157, bes. S. 141f; ders.: Historismus und Wahrheit in der Wissenschaftstheorie, a. a. O., S. 158-200. 143 Horst Turk: Wahrheit oder Methode? H.-G. Gadamers Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, in: Hermeneutische Positionen, hg. v. Hendrik Birus, Göttingen 1982, S. 120-150. Hier S. 131.

77

Schleiermachers Beschreibung der Zirkelbewegung des Verstehens als Hin und Her

zwischen Ganzem und Teilen des Textes ist für Gadamer von rein formaler Natur, da

Schleiermachers Begründung der allgemeinen Hermeneutik „über die ‚Partikularität’

einer [...] Versöhnung von Antike und Christentum“ hinausgeht, und „die Aufgabe der

Hermeneutik in formaler Allgemeinheit“ faßt (WM, 298). Dagegen ist der Zirkel

Heideggers kein „‚methodischer’ Zirkel, sondern beschreibt ein ontologisches

Strukturmoment des Verstehens“ (WM, 298). Der hermeneutische Zirkel bei

Heidegger ist „weder subjektiv noch objektiv, sondern beschreibt das Verstehen als

das Ineinanderspiel der Bewegung der Überlieferung und der Bewegung des

Interpreten, daß das Verständnis des Textes von der vorgreifenden Bewegung des

Vorverständnisses dauerhaft bestimmt bleibt. Der Zirkel von Ganzem und Teil wird

im vollendeten Verstehen nicht zur Auflösung gebracht, sondern im Gegenteil am

eigentlichsten vollzogen“ (WM, 298, Hervorhebung von Chen).

„Die Antizipation von Sinn, die unser Verständnis eines Textes leitet, ist nicht eine Handlung der Subjektivität, sondern bestimmt sich aus der Gemeinsamkeit, die uns mit der Überlieferung verbindet. Diese Gemeinsamkeit aber ist in unserem Verhältnis zur Überlieferung in beständiger Bildung begriffen. Sie ist nicht einfach eine Voraussetzung, unter der wir immer schon stehen, sondern wir erstellen sie selbst, sofern wir verstehen, am Überlieferungsgeschehen teilhaben und es dadurch selber weiter mitbestimmen“ (WM, 298).

Gadamer meint: „Wie das wirkliche Leben, so spricht uns auch die Geschichte nur

dann an, wenn sie in unser vorgängiges Urteil über Dinge und Menschen und Zeiten

hineinspricht.“

„Alles Verstehen von Bedeutsamem setzt voraus, daß wir einen Zusammenhang solcher Vorurteile mitbringen. Heidegger hat diesen Tatbestand als den

78

hermeneutischen Zirkel beschrieben: wir verstehen nur das, was wir schon wissen, hören nur das heraus, was wir hineinlesen.“144

Der Sinn dieses hermeneutischen Zirkels besteht nach Gadamer in dem „Vorgriff der

Vollkommenheit“, d.h. nicht nur, „daß ein Text seine Meinung vollkommen

aussprechen soll, sondern auch, daß das, was er sagt, die vollkommene Wahrheit

ist“ (WM, 299, Hervorheb. im Orig.). Weil „nur das verständlich ist, was wirklich

eine vollkommene Einheit von Sinn darstellt. Der Vorgriff der Vollkommenheit, der

all unser Verstehen leitet, erweist sich mithin selber als ein jeweils inhaltlich

bestimmter. Es wird nicht nur eine immanente Sinneinheit vorausgesetzt, die dem

Lesenden die Führung gibt, sondern das Verständnis des Lesers wird auch ständig von

transzendenten Sinnerwartungen geleitet, die aus dem Verhältnis zur Wahrheit des

Gemeinten entspringen“ (WM, 299). Gadamer sagt,

„Auch hier bewährt sich, daß Verstehen primär heißt, sich in der Sache verstehen, und erst sekundär, die Meinung des anderen als solche abheben und verstehen. Die erste aller hermeneutischen Bedingungen bleibt somit das Vorverständnis, das im Zu-tun-haben mit der gleichen Sache entspringt“ (WM, 299).

Hier wird die Antizipation von Sinn von dem „Vorurteil der Vollkommenheit“ als

unserem Vorverständnis abgeleitet, das „die vollkommene Wahrheit“ eines Textes

vorwegnimmt und „im Zu-tun-haben mit der gleichen Sache“ der Überlieferung

begründet liegt. Es stellt sich nun die Frage, ob es möglich ist, das Bedeutsame des

Fremden bzw. die Sache des Unbekannten zu verstehen, wenn wir nur das verstehen,

was wir schon wissen, nur das heraushören, was wir hineinlesen. In einem solchen

Zirkel scheint das unbekannte Fremde bereits ausgeschlossen zu sein. Die

textkritische Frage, was zu tun ist, wenn die Voraussetzung der Vollkommenheit sich

144 Gadamer: Das Problem der Geschichte in der neueren deutschen Philosophie, in: Ges. Werke Bd. 2, S. 27-36, S. 34.

79

als unzureichend erweist, d.h. wenn der Text nicht verständlich wird, hat Gadamer

schlicht beiseite gelassen (WM, 299). Dies bestätigt unsere Vermutung, daß

Gadamer stets vom gelungenen, problemlosen Verstehen ausgeht.

Gadamers Überlegung führt dazu, daß, wer einen Text verstehen will, immer schon

in seiner Tradition als Wirkungsgeschichte steht und mit seinen eigenen Vorurteilen

mit dem Text umgehen muß. Sowohl die Tradition, aus der der Interpret kommt und

in der er lebt, als auch die Tradition der Forschung, aus der die Überlieferung kommt,

bestimmen das Verstehen geschichtlicher Überlieferung immer schon im voraus.

Damit wird die Möglichkeit der Erkenntnis der Geschichte durch die Einsicht in die

Eingebundenheit in die eigene Tradition, d.h. in die Wirkungen der

Wirkungsgeschichte, eingeschränkt. Denn „wenn wir aus der für unsere

hermeneutische Situation im ganzen bestimmenden historischen Distanz eine

historische Erscheinung zu verstehen suchen, unterliegen wir immer bereits den

Wirkungen der Wirkungsgeschichte. Sie bestimmt im voraus, was sich uns als

fragwürdig und als Gegenstand der Erforschung zeigt,“ so Gadamer (WM, 305f).

Daher kritisiert Gadamer den historischen Objektivismus: „Die Naivität des

sogenannten Historismus besteht darin, daß er sich einer solcher Reflexion entzieht

und im Vertrauen auf die Methodik eines Verfahrens seine eigene Geschichtlichkeit

vergißt“ (WM, 306). Er meint, ein wirklich historisches Denken muß die eigene

Geschichtlichkeit mitdenken. „Während die romantische Hermeneutik in der

Gleichartigkeit der Menschennatur ein ungeschichtliches Substrat für ihre Theorie des

Verstehens in Anspruch genommen und damit den kongenial Verstehenden aus aller

geschichtlichen Bedingtheit herausgelöst hatte,“ so Gadamer, „führt die Selbstkritik

des historischen Bewußtseins am Ende dazu, nicht nur im Geschehen, sondern ebenso

noch im Verstehen geschichtliche Bewegtheit zu erkennen“ (WM, 295). Es läßt sich

jedoch mit Hans Ineichen fragen, ob die geschichtliche Bedingtheit des Interpreten

80

wie des Autors in der Hermeneutik bei Schleiermacher und Dilthey tatsächlich

vernachlässigt wird, wie Gadamer hier meint145.

Statt die „Gleichartigkeit der Menschennatur“ soll jetzt die „Geschichtlichkeit“ als

geschichtliche Bedingtheit und geschichtliche Bewegtheit der tragende Grund des

Verstehens sein, weil „die geschichtliche Forschung von der geschichtlichen

Bewegung getragen ist, in der das Leben selbst steht“ (WM, 289). Daraus folgt, daß

das Verstehen für Gadamer nicht so sehr als eine Handlung der Subjektivität zu

denken ist, sondern als „Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen, in dem sich

Vergangenheit und Gegenwart beständig vermitteln“ (WM, 295, Hervorheb. im Orig.).

Diese Vermittlung zwischen Vergangenheit und Gegenwart im

Überlieferungsgeschehen bezeichnet er als „Horizontverschmelzung“. „Im Walten der

Tradition findet ständig solche Verschmelzung statt. Denn dort wächst Altes und

Neues immer wieder zu lebendiger Geltung zusammen, ohne daß sich überhaupt das

eine oder andere ausdrücklich voneinander abheben,“ so Gadamer (WM, 311).

Dadurch wird die „Dezentrierung des verstehenden Subjekts“ 146 bzw. die

„Abdämpfung der Subjektivität“147 des Verstehenden Ichs am deutlichsten vollzogen.

Die Überlieferung ist wie der historisch Andere, „der meine Ichzentriertheit bricht,

indem er mir etwas zu verstehen gibt,“ meint Gadamer148.

Radikaler noch als der von Gadamer kritisierte Historismus, der „überall

geschichtliche Bedingtheit sieht“, sieht Gadamer nicht nur in aller menschlichen

Existenz, sondern auch in der Vernunft (als der Kraft der Reflexion) die geschichtliche

145 Vgl. Hans Ineichen: Philosophische Hermeneutik, Freiburg/ München 1991, S. 123. 146 Bettendorf bezeichnet die Dezentrierung des verstehenden Subjekts als die Aufgabe der Hermeneutik Gadamers. Thomas Bettendorf: Hermeneutik und Dialog: eine Auseinandersetzung mit dem Denken Gadamers, Frankfurt a. M. 1984. S. 45ff. 147 Vgl. Michael Hofer: Die „Abdämpfung der Subjektivität“. Drei Beispiele aus der amerikanischen bzw. französischen Gadamer-Rezeption, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 54 (2000), S. 593-611. 148 Gadamer: Zwischen Phänomenologie und Dialektik. Versuch einer Selbstkritik, Ges. Werke Bd. 2, S. 3-23, hier S. 9.

81

Bedingtheit und ihre Grenze, indem er sagt: „Vernunft ist für uns nur als reale

geschichtliche, d.h. schlechthin: sie ist nicht ihrer selbst Herr, sondern bleibt stets auf

die Gegebenheiten angewiesen, an denen sie sich betätigten“ (WM, 280) 149. Gadamer

will zeigen, daß die Überwindung aller Vorurteile sich selber als ein Vorurteil

erweisen werde, da alle menschliche Existenz, auch die freieste, begrenzt und auf

mannigfaltige Weise bedingt sei. Die erkenntnistheoretische Frage sei folglich „von

Grund auf anders zu stellen“ (ebd.).

2.2.3. Vorurteile als ontologische Bedingungen des Verstehens

Nach Gadamer kommt das Verstehen „erst in seine eigentliche Möglichkeit, wenn

die Vormeinungen, die es einsetzt, nicht beliebig sind“ und der Auslegende „die in

ihm lebenden Vormeinungen ausdrücklich auf ihre Legitimation, und das ist, auf

Herkunft und Geltung prüft“ (WM, 272). Jedem Text gegenüber stellt sich die

Aufgabe, „den eigenen Sprachgebrauch – oder im Falle einer Fremdsprache den uns

aus den Schriftstellern oder dem täglichen Umgang bekannten Sprachgebrauch – nicht

einfach ungeprüft einzusetzen“, d.h. „aus dem Sprachgebrauch der Zeit bzw. des

Autors unser Verständnis des Textes erst zu gewinnen“ (WM, 272). Hier scheint

Gadamer mit der methodischen Ausrichtung der Schleiermacherschen Hermeneutik

einig zu sein. Aber eben nur scheinbar, denn Gadamer stellt grundsätzlich in Frage,

wie diese allgemeine Forderung überhaupt erfüllbar wird, also „wie man aus dem

Bannkreis seiner eigenen Vormeinungen überhaupt herausfinden soll?“ (WM, 272f).

Dafür gibt Gadamer eine recht einfache Antwort. Er meint: „Lediglich Offenheit

149 Hier sieht man die Abweichung Gadamers von der trandzendentalphilosophischen Überzeugung von der Autonomie der Vernunft, die „dem Streben nach Gewissheit, das für methodische Verfahren kennzeichnend sei, viel zu nahe kommt“, wie Michael Hofer über das kritische Verhältnis Gadamers zur Transzendentalphilosophie gezeigt hat. Vgl. Michael Hofer: Hermeneutische Reflexion? In: Mirko Wische / Michael Hofer (Hg.): Gadamer Verstehen, a. a. O., S. 57-83, hier S. 59.

82

für die Meinung des anderen oder des Textes wird gefordert“ (WM, 273). Weiter fährt

Gadamer fort:

„Wer einen Text verstehen will, ist vielmehr bereit, sich von ihm etwas sagen zu lassen. Daher muß ein hermeneutisch geschultes Bewußtsein für die Andersheit des Textes von vornherein empfänglich sein. Solche Empfänglichkeit setzt aber weder sachliche Neutralität noch gar Selbstauslöschung voraus, sondern schließt die abhebende Aneignung der eigenen Vormeinungen und Vorurteile ein. Es gilt, der eigenen Voreingenommenheit innezusein, damit der Text sich selbst in seiner Andersheit darstellt und damit in die Möglichkeit kommt, seine sachliche Wahrheit gegen die eigene Vormeinung auszuspielen“ (WM, 273f; vgl. WM, 304).

Gadamer scheint der Meinung zu sein, daß durch das Innesein unserer eigenen

Vormeinungen und Vorurteile der Text in seiner Andersheit verstanden wird. Die

Frage ist, wie der Text durch unsere Vormeinungen und Vorurteile nicht

mißverstanden werden kann, wenn unser Verstehen stets von unseren Traditionen wie

unserer Familie, Gesellschaft und Staat dauerhaft bestimmt bleibt, wie Gadamer

behauptet. Besteht hier nicht vielmehr die Gefahr, sich das Andere im Verstehen

anzueignen und damit in seiner Andersheit zu verkennen? Wie kann ein Text vor

Mißverständnissen bzw. vor „falschen“ Vorurteilen geschützt werden, wenn Gadamer

doch zwischen „wahren Vorurteile“, unter denen wir verstehen, und den „falschen

Vorurteilen“, unter denen wir mißverstehen, unterscheidet? (WM, 304)

Für die erkenntnistheoretische Frage danach, wie sich wahre Vorurteile von

falschen Vorurteilen unterscheiden lassen, verweist Gadamer auf den Zeitenabstand

als Lösung. „In Wahrheit kommt es darauf an, den Abstand der Zeit als eine positive

und produktive Möglichkeit des Verstehens zu erkennen. Er ist nicht ein gähnender

Abgrund, sondern ist ausgefüllt durch die Kontinuität des Herkommens und der

Tradition, in deren Lichte uns alle Überlieferung sich zeigt,“ so Gadamer (WM, 302).

83

Der Abstand der Zeit, der ursprünglich als Ursache der Sinnentfremdung und Grund

der historischen Forschung betrachtet wurde, wird hier als die durch die Kontinuität

des Herkommens und der Tradition ausgefüllte Zeit als Geschichte bzw.

geschichtliche Wirklichkeit gedeutet. Der Abstand der Zeit wirkt wie ein „Filter“ (WM,

304), der die wahren Vorurteile von den falschen zu scheiden vermag.

Es fällt jedoch schwer, ein solches Verfahren nachzuvollziehen. Denn bei Gadamer

erfahren wir, daß die Vorurteile und Vormeinungen, die das Bewußtsein des

Interpreten besetzt halten, ihm als solche nicht zur freien Verfügung stehen, d.h. der

Interpret sei nicht imstande, „von sich aus vorgängig die produktiven Vorurteile, die

das Verstehen ermöglichen, von denjenigen Vorurteilen zu unterscheiden, die das

Verstehen verhindern und zu Mißverständnissen führen“ (WM, 301). Die

Vormeinungen und Vorurteile sind demnach gleichbedeutend mit den Traditionen als

Quellen der Vorurteile und Vorkenntnisse, die dem Interpreten zwar vorgegeben sind,

aber keineswegs zu seiner freien Verfügung stehen. Gadamer sagt zwar: „Die

Scheidung muß vielmehr im Verstehen selbst geschehen“ (WM, 302). Aber wie das

„im Verstehen selbst“ geschehen kann, macht seine Darstellung kaum verständlich.

Es ist schwer vorstellbar, daß die ‚falschen‘ Vorurteile sich im Laufe der Zeit ohne

irgendeinen Bezug auf die geistigen Anstrengungen und Bemühungen des Interpreten

‚automatisch‘ von den ‚wahren‘ Vorurteilen trennen. Die Kontinuität des

Herkommens und der Tradition besagt nichts anderes als „die geschichtlichen

Wirklichkeiten“, also die Geschichte selbst, die doch noch zu verstehen bleibt. Auch

wenn sie als unsere Vorkenntnisse der Überlieferung verstanden werden sollten, so

sind sie ebenfalls unsere Vorurteile im Gadamerschen Sinne. So kommen wir der

Lösung der Frage nach der Unterscheidung von ‚wahren‘ und ‚falschen‘ Vorurteilen

noch nicht näher. Wie der Zeitenabstand die Scheidung der wahren von falschen

Vorurteilen, d.i. richtiger von falschen Interpretationen leisten kann, bleibt bei

84

Gadamer ein ungelöstes Problem, da ihm ein brauchbares Kriterium für die

Unterscheidung zwischen richtigen und falschen Interpretationen, zwischen

Verständnis und Mißverständnis fehlt.

Der Grund liegt darin, daß die Frage nach dem Kriterium für die Unterscheidung

zwischen richtigen und falschen Interpretationen eine wissenschaftlich-

methodologisch relevante Frage ist, die Gadamer gerade als „falschen

Methodologismus“ bekämpfen möchte. „Es kann a priori nicht genügen,“ wie Apel

mit Recht bemerkt, „die Frage nach der Möglichkeit des Verstehens dadurch

beantworten zu wollen, daß man die Struktur eines Seinsgeschehens (der

Horizontverschmelzung oder der Vermittlung der Gegenwart mit der Vergangenheit)

aufzeigt, die im Mißverstehen ebenso wie im adäquaten Verstehen als

Geschehens-Struktur realisiert werden muß.“ 150 „Vielmehr muß ein Kriterium dafür

angegeben werden, wie sich das adäquate Verstehen vom Mißverstehen unterscheidet,

um die Frage nach der Möglichkeit des Verstehens zu beantworten,“ so Apel151.

Gadamer selbst hat das Ungenügen seiner Konzeption des Zeitenabstands für die

Frage nach der Möglichkeit des Verstehens in dem Versuch einer Selbstkritik zwar

eingestanden, aber eine befriedigende Antwort auf die Frage nach dem Kriterium für

die Unterscheidung zwischen wahren Vorurteilen und falschen Vorurteilen, zwischen

Verstehen und Mißverstehen hat er nie gegeben152. Das zeigt gerade die Grenze der

150 Vgl. dazu die Kritik von Karl-Otto Apel: Transformation der Philosophie, Bd. 1, S. 44f. Apel geht davon aus, daß die Frage nach der Möglichkeit des Verstehens nicht expliziert werden könne, ohne zugleich die methodologisch relevante Frage nach der Gültigkeit des Verstehens mit aufzuwerfen. 151 Apel, a.a.O., S. 45. 152 Vgl. hierzu Gadamer: Zwischen Phänomenologie und Dialektik. Versuch einer Selbstkritik (1985), Ges. Werke, Bd. 2, S. 3-23, s. bes. S. 8f.: „An einigen Punkten meiner Argumentation empfindet man besonders, daß mein Ausgangspunkt von den historischen Geisteswissenschaften einseitig ist. Insbesondere hat die Einführung der hermeneutischen Bedeutung des Zeitenabstandes, so überzeugend sie in sich ist, die grundsätzliche Bedeutung der Andersheit des anderen und damit die fundamentale Rolle, die der Sprache als Gespräch zukommt, schlecht vorbereitet. Es wäre der Sache angemessener gewesen, zunächst in einer allgemeinen Form von der hermeneutischen Funktion des Abstandes zu sprechen. Es muß nicht immer um einen geschichtlichen Abstand handeln, und es ist auch durchaus nicht immer der Zeitenabstand als solcher, der imstande ist, falsche Überresonanzen und verzerrende Applikaktionen zu überwinden. Der Abstand erweist sich sehr wohl auch in Gleichzeitigkeit als ein

85

gadamerschen Hermeneutik für die Praxis der hermeneutischen

Geisteswissenschaften.

2.2. 4. Unmittelbarkeit des Verstehens und Selbstverständlichkeit der Schrift

Eine andere Konzeption zur „Überwindung“ der Verfremdung der Überlieferung

findet man bei Gadamer in seiner Erhebung der Sprachlichkeit des Verstehens zum

universalen Medium hermeneutischer Erfahrung, die in ihrer überlieferten Form meist

durch ihre Schriftlichkeit charakterisiert ist. Seine Erhebung der

„Schriftlichkeit“ dient wiederum dazu, die „Gleichtzeitigkeit“ und die

„Selbstverständlichkeit“ der Schrift als den Schlüssel der „Überwindung“ von

Entfremdung und Verfremdung der Überlieferung bzw. als „das Wunder des

Verstehens“ darzustellen.

Nach Gadamer entsteht die Entfremdung der Überlieferung durch die schriftliche

Fixiertheit, durch die Schriftlichkeit: „Es gibt nichts so Fremdes und zugleich

Verständnisforderndes wie Schrift. […] Schrift und was an ihr teil hat, die Literatur,

ist die ins Fremdeste entäußerte Verständlichkeit des Geistes“ (WM, 168f). Dennoch:

„In ihrer Entzifferung und ihrer Deutung geschieht ein Wunder, die Verwandlung von etwas Fremdem und Totem in schlechthinniges Zugleichsein und Vertrautsein. [...] Wer schriftlich Überliefertes zu lesen weiß, bezeugt und vollbringt die reine Gegenwart der Vergangenheit“ (WM, 169).

Die „Verwandlung von etwas Fremdem und Totem in schlechthinniges Zugleichsein

und Vertrautsein“ ist also „das Wunder“ des Verstehens bzw. des Lesens. An die

Gleichzeitigkeit stiftende Schriftlichkeit gekoppelt, scheint es, als ob die schriftliche

hermeneutisches Moment, z.B. in der Begegnung zwischen Personen, die im Gespräch erst den gemeinsamen Grund suchen, und vollends in der Begegnung mit Personen, die dabei fremde Sprachen sprechen oder in fremden Kulturen leben.“

86

Überlieferung „wie gegenwärtig zu uns spricht“. Die durch die Schriftlichkeit

bedingte Abgelöstheit des Textes von seinem Verfasser ist somit bei Gadamer weniger

als Ursache der Verständnisschwierigkeit und des Mißverständnisses, sondern

vielmehr als der Garant der Zugänglichkeit über alle Zeiten zu verstehen.

Dafür beruft sich Gadamer auf den theologischen Begriff der „Gleichzeitigkeit“ bei

Kierkegaard. Er meint, „‚Gleichzeitig’ heißt bei Kierkegaard nicht Zugleichsein,

sondern formuliert die Aufgabe, die an den Glaubenden gestellt ist, das, was nicht

zugleich ist, die eigene Gegenwart und die Heilstat Christi, so total miteinander zu

vermitteln, daß diese dennoch wie ein gegenwärtiges (statt im Abstand des Damals)

erfahren und ernst genommen wird“ (WM, 132). Das „Wort der Predigt“ ist für

Gadamer das Beispiel für solch eine totale Vermittlung, die „die Vermittlung der

Gleichzeitigkeit zu leisten“ hat und der „im Problem der Hermeneutik die Führung

zukommt“ (WM, 132). Das Wort hat hier bei Gadamer eine christlich geprägte

Bedeutung, die sehr an das Wort Gottes erinnert. Während das Verstehen in der

allgemeinen Hermeneutik Schleiermachers auf humane Rede und Schrift abzielt,

bezieht sich das Verstehen bei Gadamer zwar ebenfalls auf die Überlieferungen der

griechischen und christlichen Traditionen, allerdings mehr, sofern sie im

Zusammenhang mit dem Text, „den Gott mit eigener Hand geschrieben hat, dem liber

naturae“ stehen. Ein Text, der in Gadamers Augen „auch alle Wissenschaften, von der

Physik bis zur Soziologie und Anthropologie, umfaßt.“153

153 Gadamer: Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik. Metakritische Erörterungen zu Wahrheit und Methode (1967), in: Ges. Werke, Bd. 2, Tübingen 1993, S. 233. Nicht nur hier, sondern schon in Wahrheit und Methode hat Gadamer die Christologie zum eigentlichen Grund der hermeneutischen Erfahrung ernannt. „In der Mitte der Durchdringung der christlichen Theologie durch griechischen Gedanken der Logik keimt vielmehr etwas Neues auf: Die Mitte der Sprache, in der sich das Mittlertum des Inkarnationsgeschehens erst zu seiner vollen Wahrheit bringt. Die Christologie wird zum Wegbereiter einer neuen Anthropologie, die den Geist des Menschen in seiner Endlichkeit mit der göttlichen Unendlichkeit auf eine neue Weise vermittelt. Hier wird das, was wir die hermeneutische Erfahrung geannt haben, seinen eigentlichen Grund finden,“ so Gadamer (WM, 432). Vgl. Dazu David Carpenter: „Emanation, Incarnation, and the Truth-Event in Gadamer’s Truth and Method”, in: Hermeneutics and Truth, ed. by Brice R. Wachterhauser, Illinois 1994, S. 98-122. Gadamers Kritik an Schleiermacher und Humboldt verdeutlicht diesen Unterschied zwischen der philosophischen und der

87

Das Verstehen schriftlicher Überlieferungen hat für Gadamer eine ähnliche Aufgabe

wie das Verstehen des Wortes Gottes, das ebenfalls „die Vermittlung der

Gleichzeitigkeit zu leisten“ hat. Denn die Schrift verstehen, so Gadamer, „heißt nicht

primär, auf vergangenes Leben zurückschließen, sondern bedeutet gegenwärtige

Teilhabe an Gesagtem“ (WM, 395). Daraus folgt, daß es sich dabei „nicht eigentlich

um ein Verhältnis zwischen zwei Personen, etwa zwischen dem Leser und dem Autor

(der vielleicht ganz unbekannt ist)“ handelt, sondern „um Teilhabe an der Mitteilung,

die der Text uns macht“ (WM, 395). Beim Verstehen von Texten geht es Gadamer

also nicht darum, herauszuarbeiten, was der Autor mit seinem Text sagen wollte,

sondern darum, was der Text uns sagt bzw. für uns heute bedeutet. Er sagt dies an

andere Stelle noch deutlicher:

“es ist zwar richtig, daß wir das von einem Autor Gemeinte in seinem Sinne zu verstehen haben. Aber in seinem Sinne heißt nicht: wie er es selber gemeint hat. Vielmehr bedeutet es, daß das Verstehen auch noch über das subjektive Meinen des Autors hinausgehen kann und vielleicht sogar notwendig und immer hinausgeht“ (Hervorhebung von mir, Chen)154.

Der Grund dafür liegt eben in der Schriftlichkeit, also in der Abgelöstheit der Schrift

von ihrem Autor. Dadurch gewinne die Sprache in der Schriftlichkeit ihre wahre

„Geistigkeit”, denn „der schriftlichen Überlieferung gegenüber ist das verstehende

Bewußtsein in seine volle Souveränität gelangt“, und es ist „die Idealität des Wortes,

die alles Sprachliche über die endliche und vergängliche Bestimmung, wie sie Resten

gewesenen Daseins sonst zukommt, hinaushebt“ (WM, 394).

romantischen Hermeneutik: „Weder Schleiermacher noch Humboldt haben aber ihre Position wirklich zu Ende gedacht. Sie mögen die Individualität, die Schranke der Fremdheit, die unser Verstehen zu überwinden hat, noch so sehr betonen, am Ende findet doch lediglich in einem unendlichen Bewußtsein das Verstehen seine Vollendung und der Gedanke der Individualität seine Begründung. Es ist die pantheistische Eingeschlossenheit aller Individualität ins Absolute, die das Wunder des Verstehens ermöglicht. So durchdringen sich auch hier Sein und Wissen im Absoluten“ (WM, 347). 154 Gadamer: Die philosophischen Grundlagen des 20. Jahrhunderts. In: Kleine Schriften I, Tübingen 1967, S. 140-148.

88

Folglich sei die Schrift nicht als ein Stück der Vergangenheit, sondern als „die

Kontinuität des Gedächtnisses“ zu betrachten, weil sie sich immer schon über dieselbe

„in die Sphäre des Sinnes“ erhoben hat. So wird Schriftlichkeit die

„Selbstentfremdung“ der Schrift. Ihre Überwindung ist dann „das Lesen des Textes“,

welches „die höchste Aufgabe des Verstehens“ ist (WM, 394). „Lesendes Bewußtsein

ist notwendig geschichtliches und mit der geschichtlichen Überlieferung in Freiheit

kommunizierendes Bewußtsein“ (WM, 394). Das bedeutet „die Ablösung von dem

Schreiber oder Verfasser ebenso wie die von der bestimmten Adresse eines

Empfängers oder Lesers“ (WM, 395).

Die Ablösung des Textes von dem Verfasser aufgrund der Schriftlichkeit beinhaltet

zugleich die Vorstellung einer Autonomie des Textsinns: „In der Schriftlichkeit ist

dieser Sinn des Gesprochenen rein für sich da, völlig abgelöst von allen emotionalen

Momenten des Ausdrucks und der Kundgabe. Ein Text will nicht als Lebensausdruck

verstanden werden, sondern in dem, was er sagt“ (WM, 396). Dabei ist klar, daß

Gadamer hier den heutigen Sinn, das heißt, die Bedeutung des Textes für uns heute,

gegenüber dem historisch gemeinten ursprüngliche Sinn des Textes bevorzugt.

Allerdings verweist er auch auf Platons Andeutungen der Schwäche der Schrift, die

nach Gadamer darin besteht, „daß der schriftlichen Rede niemand zu Hilfe zu

kommen vermag, wenn sie dem gewollten oder dem unfreiwilligen Mißverstehen

anheimfällt“ (ebd.). Daher soll der Sinn des Gesagten neu zur Aussage kommen, „rein

aufgrund des durch die Schriftzeichen überlieferten Wortlauts“ (WM, 397).

Der Autor hat kein Recht mehr, über seinen eigenen Text zu sprechen, er kann den

Sinn seines Textes nicht einmal mitbestimmen, sofern dieser durch die Schrift vom

Autor abgelöst ist. Die Subjektivität des Autors wird dadurch ausgeblendet und

entmachtet, sofern jetzt nicht mehr der Autor über den Sinn seines Text entscheidet,

sondern „das lesende Bewußtsein“ des Interpreten, das „die volle Souveränität“ über

89

den Text erlangt. Es ist eindeutig zu sehen, daß es Gadamer nicht darum geht, den

Text als den vom Autor gemeinten zu verstehen. Merkwürdig ist dabei, daß Gadamer

(wie oben gezeigt wurde) das Verstehen gerade hinsichtlich der Geschichtlichkeit

nicht als eine „Handlung der Subjektivität“, sondern als „Einrücken in ein

Überlieferungsgeschehen“ (WM, 295) betrachten möchte. Zugleich erhält aber das

lesende Bewußtsein des Interpreten die volle Souveränität gegenüber der Schrift, was

gerade die Subjektivität des lesenden Interpreten in den Vordergrund rückt. Hier

scheint die „Dezentrierung des verstehenden Subjekts“ 155 bei Gadamer nicht

vollständig gelungen zu sein. Wenn die von Schleiermacher und Dilthey

vorausgesetzte „allgemeine Menschennatur“ bzw. „die allgemeine Vernunft“ 156 für

Gadamer ein „ungeschichtliches Substrat“ bilden, und das historische Bewußtsein als

Ursache der Verfremdung der Überlieferung von ihm kritisiert wird, wie erklärt sich

dann dieses souverän lesende Bewußtsein? Wie unterscheidet sich das souverän

lesende Bewußtsein von dem von ihm kritisierten allgemeinen historischen

Bewußtsein? Hier wird die ambivalente Haltung Gadamers gegenüber dem

Bewußtsein deutlich.

Der Sinn des Textes wird also bei Gadamer als ein völlig vom Autor abgelöster,

unbestimmter Sinn betrachtet, welcher aber immer wieder neu zur Aussage kommen

sollte. Damit ist aber immer noch nicht klar, was „Sinn des Textes“ bzw. „Sinn des

Gesagten“ bei ihm eigentlich bedeuten soll. Denn auf der einen Seite bezeichnet

155 Vgl. Thomas Bettendorf: Hermeneutik und Dialog. Kritische Auseinandersetzungen mit dem Denken Hans-Georg Gadamers, Frankfurt a. M. 1984, S. 45ff. Bettendorf hat „die Dezentrierung des verstehenden Subjekts“ als die Aufgabe der philosophischen Hermeneutik Gadamers bezeichnet, die er im Hinblick auf Gadamers Kritik an der Subjektivierung der Ästhetik durch Kant zeigt. 156 Sowohl Schleiermacher als auch Dilthey setzen eine Gemeinsamkeit der Individuen für die Möglichkeit des Verstehens der Menschen untereinander voraus. Schleiermacher setzt in seiner Ethik eine bezüglich der ganzen Menschheit identische Vernunft voraus, die in den Einzelpersonen verteilt gegeben ist und das Zusammenwirken von Einzelperson und Gemeinschaft ermöglicht. F. Schleiermacher, E 96f (= WAII), vgl. Dilthey: Leben Schleiermachers, S. 295; G. Scholtz: Ethik und Hermeneutik, S.135. Bei Dilthey äußert sich die Gemeinsamkeit der Individuen „in der Selbigkeit der Vernunft, der Sympathie im Gefühlsleben, der gegenseitigen Bindung in Pflicht und Recht, die vom Bewußtsein des Sollens begleitet ist.“ W. Dilthey: Ges. Schriften, Bd. VII, S. 141.

90

Gadamer die Schriftlichkeit als „die abstrakte Idealität der Sprache“ (WM, 396). Der

Sinn einer schriftlichen Aufzeichnung ist daher „grundsätzlich identifizierbar und

wiederholbar“ (ebd.). Aber auf der anderen Seite sagt er:

„Das in der Wiederholung Identische allein ist es, das in der schriftlichen Aufzeichnung wirklich niedergelegt war. Damit ist zugleich klar, daß Wiederholen hier nicht im strengen Sinne gemeint sein kann. Es meint nicht die Zurückbeziehung auf ein ursprünglich Erstes, in dem etwas gesagt oder geschrieben ist, als solches. Lesendes Verstehen ist nicht ein Wiederholen von etwas Vergangenem, sondern Teilhabe an einem gegenwärtigen Sinn“ (WM, 396).

Dies wirft weitere Fragen auf: Gibt es bei Gadamer einen „Sinn des Textes an sich“,

wenn er hinsichtlich der Abgelöstheit des Textsinns vom Autor behauptet, daß „der

Sinn des Gesprochenen rein für sich da“ ist und es ein „in der Wiederholung

Identisches“ gibt? Wie ist dieser „rein für sich da-seiende Sinn des Gesprochenen“ zu

erkennen, wenn es nicht der vom Autor gemeinte Sinn sein sollte? Wie ist „der Sinn

einer schriftlichen Aufzeichnung“ zu bestimmen, wenn es nicht das ursprünglich

Gesagte oder Geschriebene sein soll? Einerseits sagt Gadamer, daß der Sinn einer

schriftlichen Aufzeichnung grundsätzlich identifizierbar und wiederholbar sei,

andererseits sei das Wiederholen nicht die Zurückbeziehung auf ein ursprünglich

Erstes. Was für eine Art Wiederholung ist es also, wenn der zu wiederholende Sinn

nicht der ursprünglich Erste ist? Hier kann höchstens der Akt des Verstehens selbst

wiederholt werden. Darüber hinaus meint Gadamer, „daß man immer anders versteht,

wenn man überhaupt versteht“ (WM, 302). Demnach kann der Sinn des Textes, der

‚wiederholt werden muß‘, nicht bestimmbar sein.

„Was schriftlich fixiert ist, hat sich von der Kontingenz seines Ursprungs und seines Urhebers abgelöst und für neuen Bezug positiv freigegeben. Normbegriffe wie die Meinung des Verfassers oder das Verständnis des ursprünglichen Lesers

91

repräsentieren in Wahrheit nur eine leere Stelle, die sich von Gelegenheit zu Gelegenheit des Verstehens ausfüllt“ (WM, 399).

Das heißt, im Hinblick auf die Schriftlichkeit und die Geschichtlichkeit ist der Sinn

des Textes nicht durch die Meinung des Verfassers oder das Verständnis des

ursprünglichen Lesers bestimmt. Denn das auslegende Wort ist das Wort des

Auslegers.

„Jede Aneignung der Überlieferung ist eine geschichtlich andere [...] eine jede ist vielmehr die Erfahrung einer ‚Ansicht’ der Sache selbst. Eines und dasselbe und doch ein anderes zu sein, dieses Paradox, das von jedem Überlieferungsinhalt gilt, erweist alle Auslegung als in Wahrheit spekulativ. Die Hermeneutik hat daher den Dogmatismus eines ‚Sinnes an sich’ [...] zu durchschauen“ (WM, 476f)

Es ist zu vermuten, daß Gadamer mit dem „gegenwärtigen Sinn“ die Bedeutung des

Textes für den jeweiligen Interpreten meint. Insofern scheint es sinnvoll, eine

Unterscheidung zu treffen zwischen dem Sinn des Textes als

grammatisch-linguistischem, der wiederholbar und wiedererkennbar ist, und der

Bedeutung des Textes im Bezug auf den jeweiligen Kontext, in dem der Text

verstanden werden kann, wie Hirsch und Betti es im Gegensatz zu Gadamer getan

haben. Daß Gadamer den „Sinn“ des Textes von vornherein völlig von dem

ursprünglichen Sinn des Textes ablösen möchte, könnte der Grund dafür sein, daß er

nicht mehr in der Lage ist, das Verhältnis zwischen dem ursprünglichen Sinn des

Textes und dem gegenwärtigen Sinn zu erklären. Die von ihm beanspruchte

Sinnkontinuität der Überlieferung, die sich nicht auf den ursprünglichen Sinn der

Überlieferung beruft, bleibt deshalb ebenso wie „der Sinn des Textes selbst“ unklar

und unbestimmt.

Der Text ist für Gadamer vom Standpunkt eines jeden Lesers aus nur „ein bloßes

92

Zwischenprodukt, eine Phase im Verständigungsgeschehen”157. Gadamer hält den

allgemein anerkannten hermeneutischen Grundsatz, daß man nichts in einen Text

hineinlegen soll, was Verfasser und ursprünglicher Leser nicht im Sinn haben konnten,

nur in extremen Fällen für anwendbar (WM, 301). Denn:

“Der wirkliche Sinn eines Textes, wie er den Interpreten anspricht, hängt eben nicht von dem Okkasionellen ab, das der Verfasser und sein ursprüngliches Publikum darstellen. Er geht zum mindesten nicht darin auf. Denn er ist immer auch durch die geschichtliche Situation des Interpreten mitbestimmt und damit das Ganze des objektiven Geschichtsganges. […] Nicht nur gelegentlich, sondern immer übertrifft der Sinn eines Textes seinen Autor. Daher ist Verstehen kein nur reproduktives, sondern auch ein produktives Verhalten“ (WM, 301).

Hier kritisiert Gadamer zunächst Schleiermachers hermeneutischen Ansatz, der sich

für objektive und angemessene Verfahrensweisen der Auslegung mit Rücksicht auf

den Verfasser und sein ursprüngliches Publikum ausspricht.158 Darüber hinaus stellt er

gegenüber der berühmten Formel von Schleiermacher – man müsse zuerst versuchen,

den Autor ebensogut zu verstehen, wie er sich selbst verstanden hat, um ihn sodann

besser zu verstehen zu suchen – eine Gegenformel auf: man verstehe anders, wenn

man überhaupt verstehe (WM, 302). Dadurch wird, so Gadamer, der von der

romantischen Hermeneutik gezogenen Kreis durchbrochen:

„Sofern jetzt nicht die Individualität und ihre Meinung, sondern die sachliche Wahrheit gemeint ist, wird ein Text nicht als bloßer Lebensausdruck verstanden, sondern wird in seinem Wahrheitsanspruch ernst genommen. Daß auch das, ja gerade das ‚Verstehen’ heißt, war ehedem eine Selbstverständlichkeit – ich erinnere etwa an das aus Chladenius Zitierte“ (WM, 302; vgl. WM, 186).

Gadamer meint hier die von ihm zitierte allgemeine Auslegungslehre von Chladenius,

157 Gadamer: Ges. Werke, Bd. 2, S. 341. 158 Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik, hg. u. eingel. von Manfred Frank, Frankfürt a. M. 1977, S. 101.

93

die Gadamer zufolge die Selbstverständlichkeit der Wahrheit der Schrift zeigen

sollte159. Dieser aber ist bezüglich der Wahrheit des Textes nicht eindeutig. Denn

einerseits soll der Gedanke des Autors verstanden werden, andererseits aber enthält

für Chladenius der Text Wahrheit160. Es trifft auch nicht zu, daß die „romantische

Hermeneutik“, also die Hermeneutik Schleiermachers, den Wahrheitsanspruch des

Textes vergaß; man sieht es daran, daß zur Hermeneutik die Kritik hinzutrat.

Außerdem entgeht Gadamer, daß sich Chladenius in Widersprüche verstrickt. Weder

Chladenius noch Schleiermacher haben den Text von den Gedanken und Intentionen

des Autors ganz abgelöst.

Wenn man aber Gadamers Konzeption von der Sinnautonomie des Textes folgt, so

besteht die Gefahr, daß Willkür und Beliebigkeit in der Interpretation nicht mehr

auszuschließen sind. Es muß im Auge behalten werden, daß Gadamer sich gegen den

wissenschaftlichen Anspruch der Methode und die darauf begründete Objektivität

stellt und die von Schleiermacher postulierte Aufgabe der Rekonstruktion des

ursprünglichen Sinnes als „rohen historisch-hermeneutischen Kanon“ bezeichnet.

Infolgedessen ist es schwer, in der philosophischen Hermeneutik Gadamers eine

Antwort auf die Frage zu finden, wie man angemessene von unangemessenen,

legitime von illegitimen Interpretation unterscheiden kann. Eben weil die

Interpretation als Wiederherstellung des Sinnes gilt, ist es wichtig zu fragen, welcher

Sinn des Textes wiederhergestellt werden soll. Die einzige Norm, unter die Gadamer

die Interpretation gestellt hat, ist die von ihm so genannte „sachliche Norm“: „weil es

159 Johann Martin Chladenius: Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften, Leipzig 1742. Nachdruck mit einer Einleitung von Lutz Geldsetzer (Düsseldorf 1969).Gadamer meint, für Chladenius sei die Auslegungsbedürftigkeit ein Sonderfall, „weil man im allgemeinen eine Stelle unmittelbar versteht, sofern man die Sache kennt, die in der Stelle abgehandelt wird“ (WM, 186). 160 Diesen Hinweis verdanke ich der Abhandlung von Gunter Scholtz: Das Unverständliche bei Chladenius und Schlegel, in: Grenzen des Verstehens. Philosophische und humanwissenschaftliche Perspektiven, hg. v. Gudrum Kühne-Bertram/Gunter Scholtz, Göttingen 2002, S. 17-33, bes. S. 23. Scholtz weist darauf hin, daß Chladenius nicht nur schwankt, „ob es die Absicht des Verfassers oder seine Rede zu verstehen gilt, sondern auch, ob das Verstehen sich auf die geäußerte Meinung des Autors oder auf die Wahrheit seiner Aussage richten soll.“

94

auf die Mitteilung des wahren Sinnes eines Textes ankommt, ist seine Auslegung

bereits unter eine sachliche Norm gestellt“ (WM, 398). Anknüpfend an die

platonische Dialektik schreibt Gadamer: „die besondere Schwäche der Schrift, ihre

gegenüber der lebendigen Rede gesteigerte Hilfsbedürftigkeit, hat die Kehrseite, daß

sie die dialektische Aufgabe des Verstehens mit verdoppelter Klarheit hervortreten

läßt“ (ebd.). Das heißt: „den Sinn des Gesagten stärker zu machen“ (ebd.). Gadamer

konstatiert dazu:

„Was im Text gesagt ist, muß von aller Kontingenz, die ihm anhaftet, abgelöst und in seiner vollen Idealität erfaßt werden, in der es allein Geltung hat. So läßt die schriftliche Fixierung, gerade weil sie den Aussagesinn von dem Aussagenden ganz ablöst, in dem verstehenden Leser den Anwalt seines Wahrheitsanspruches entstehen. Der Lesende hat, was ihn anspricht und was er versteht, eben damit in seiner Geltung erfahren. Was er verstand, ist immer schon mehr als eine fremde Meinung – es ist immer schon mögliche Wahrheit. Das ist es, was durch die Ablösung des Gesprochenen von dem Sprecher und durch den Bestand von Dauer, den die Schrift verleiht, zutage kommt“ (WM, 398; vgl. WM, 399).

Das bedeutet nämlich, daß das Verstehen bei Gadamer nicht auf die Meinung oder den

vom Autor gemeinten Sinn, sondern auf die sachliche Wahrheit des Textes gerichtet

ist. Der Text erhebt somit den Anspruch, als Wahrheit verstanden zu werden. Die

Frage ist aber, ob jeder Text den Anspruch auf Wahrheit erheben könnte, ob jede

Schrift die gleiche hohe Stellung wie kanonische Schriften beanspruchen dürfte. Mir

scheint eine solche Formulierung von der Textinterpretation als Teilhabe an der

Wahrheit eine Art religiöse Erfahrung von Wahrheit ähnlich zu sein, die nur für den

jeweiligen Erfahrenden allein zählt und insofern nichts mit dem wissenschaftlichen

Anspruch auf Objektivität oder Gültigkeit des Wissens zu tun hat.

Darüber hinaus läßt sich fragen, ob der Text „den Anwalt seines

Wahrheitsanspruches“ „in dem verstehenden Leser“ allein entstehen lassen sollte. Soll

95

dies also bedeuten, daß der Leser allein entscheidet, ob die Schrift eine Aussage der

Wahrheit ist? Wie ist es aber dann, wenn verschiedene Leser verschiedene Meinungen

über die Wahrheit der Schrift haben, was nicht selten der Fall ist? Was geschieht,

wenn jeder Leser die Erkenntnis der alleinigen Wahrheit für sich beansprucht? Welche

ist dann die echte Wahrheit? Ist der wirkliche Sinn des Textes nach Gadamer

überhaupt noch bestimmbar oder ist jede Interpretation wahr, da jeder Leser an der

Wahrheit teilnimmt? Wir erinneren daran, daß bei Gadamer ein Kriterium für die

Unterscheidung zwischen wahren und falschen Vorurteilen bzw. Interpretationen fehlt.

Insofern ist der Wahrheitsanspruch im Hinblick auf den Konflikt der Interpretationen

als eine Interpretationsnorm nicht dienlich, da der Sinn des Textes ebenso wie die

Wahrheit bei Gadamer unbestimmt bleibt. 161 Denn der Wahrheitsanspruch von

Aussagen führt aus der Hermeneutik heraus, zur Kritik. 162 Die Aufgabe der

Interpretation liegt eben nicht darin, die Aussage des Anderen auf ihren

Wahrheitsgehalt zu prüfen, sondern vielmehr die Aussage des Anderen genau so

aufzufassen, wie sie vom Autor gemeint ist.

2.3. Wesenswandel der hermeneutischen Aufgabe

Der Wesenswandel des Fremdheitsproblems bei Gadamer führt dazu, daß die

eigentliche Aufgabe der Hermeneutik im Bezug auf die Überwindung der Fremdheit

von Sinnrekonstruktion zur Verständigung über die Sache umgewandelt wurde. Die

Aufgabe des Verstehens ist es nicht mehr, den Sinngehalt des Fremden zu erfassen

bzw. zu erschließen, sondern sich mit dem Text über eine Sache zu verständigen und 161 Vgl. Jean Grondin: Hermeneutische Wahrheit? Zum Wahrheitsbegriff Hans-Georg Gadamers, Königstein 1982. 162 Vgl. dazu Scholtz’ Kritik an Gadamers Wahrheitsanspruch. Im Hinblick auf den Wahrheitsanspruch der Interpretation hat Scholtz Gadamer zurückgewiesen. Er ist der Meinung, “daß der Interpret die Pflicht hat, die Rede eines anderen so aufzufassen, wie sie gemeint ist, mag man sie für wahr oder für falsch halten.” Gunter Scholtz: Ethik und Hermeneutik, a. a. O., S. 144.

96

Einverständnis in der Sache zu erzielen. Dieses läßt sich anhand seiner

Auseinandersetzung mit der Hermeneutik Schleiermachers und Spinozas am

deutlichsten herausstellen.

2.3.1. Vom Sinnverständnis zur Verständigung über die Sache: Verstehen als

Gespräch

Gadamer sieht in dem Satz Schleiermachers, ‚Verstehen heißt zunächst, sich

miteinander verstehen’, eine wichtige Wendung in der Geschichte der Hermeneutik,

die bei Schleiermacher selbst aber gar keine Rolle spiele163 und seit Schleiermacher

aus der Fragestellung der Hermeneutik gänzlich verschwunden sei, die aber zugleich

das Problem der Hermeneutik beherrsche und Schleiermachers Stellung in der

Geschichte der Hermeneutik erst verständlich mache (WM, 183). So lesen wir bei

Gadamer,

„Verständnis ist zunächst Einverständnis. So verstehen die Menschen einander zumeist unmittelbar, bzw. sie verständigen sich bis zur Erzielung des Einverständnisses. Verständigung ist also immer Verständigung über etwas. Sich verstehen ist Sichverstehen in etwas. Die Sprache sagt es schon, daß das Worüber und Worin nicht nur ein an sich beliebiger Gegenstand der Rede ist, von dem unabhängig das wechselseitige Sichverstehen seinen Weg suchte, sondern vielmehr Weg und Ziel des Sichverstehens selber“ (WM, 183f., Hervorhebung von mir, Chen).

Es zeigt sich, daß das Verstehen bei Gadamer weniger ein Problem des Verstehens

von Fremdem im Sinne eines noch zu erreichenden Ziels ist, wie etwa bei

163 Das ist sicherlich eine ungerechte Bemerkung von Gadamer. Denn sowohl Schleiermacher als auch Dilthey gehen vom zwischenmenschlichen Verkehr aus. Die Wichtigkeit und Sittlichkeit gegenseitigen Verstehens in der Hermeneutik bei Schleiermacher und Dilthey habe ich bereits oben aufgewiesen (s. o. Kap. 1, S. 12). Das gegenseitige Verstehen unter Menschen spielt eine unübersehbar wichtige Rolle in den hermeneutischen Überlegungen bei Schleiermacher und Dilthey. Diese enge Beziehung zwischen Ethik und Hermeneutik bei Schleiermacher wurde bei Gadamer nicht zur Kenntnis genommen.

97

Schleiermacher, sondern vielmehr „Weg und Ziel des Sichverstehens selber“, welches

dem Erkenntnisvollzug selbst ähnelt164, was zur Folge hat, daß die Unterscheidung

zwischen Selbstverständnis und Textverständnis bei Gadamer verschwimmt165.

Für Gadamer gibt es die eigentliche Aufgabe des Verstehens nur da, wo ein

Meinungsunterschied zwischen Interpreten und Autor entsteht:

„Das eigentliche Problem des Verstehens bricht offenbar auf, wenn sich bei der Bemühung um inhaltliches Verständnis die Reflexions-Frage erhebt: Wie kommt er zu seiner Meinung? Denn es ist klar, daß eine solche Fragestellung eine Fremdheit ganz anderer Art bekundet und letztlich einen Verzicht auf gemeinsamen Sinn bedeutet“ (WM, 184).

Die an der Meinung des Autors festgemachte Reflexionsfrage bekundet für Gadamer

„eine Fremdheit ganz anderer Art“ und bedeutet „einen Verzicht auf gemeinsamen

Sinn“, welcher eben einen Abstand zu der Meinung der Überlieferung zeigt. Das

eigentliche Problem des Verstehens bei Gadamer besteht sonach nicht darin, ein

inhaltliches Verständnis des Textes, im grammatisch-historischen Sinne, zu erwerben,

sondern im Erzielen einer Übereinstimmung in der Sache zwischen Text und Interpret.

Dieses „Einverständnis in der Sache“ als gleiche Meinung soll also nach Gadamer die

eigentliche Aufgabe des Verstehens sein. Das spezifische Problem der Hermeneutik

ist folglich „kein Problem der richtigen Sprachbeherrschung, sondern der rechten

Verständigung über eine Sache“ (WM, 388). Das eigentliche Problem des Verstehens

liegt bei Gadamer also nicht mehr in der Gewinnung von inhaltlichem Verständnis,

sondern in dem sachlichen Meinungsunterschied zwischen Text und Interpreten. Und

das Einverständnis in der Sache der Überlieferung wird das Ziel des hermeneutischen

164 Vgl. G. Scholtz: Ethik und Hermeneutik, S. 141f. 165 Vgl. dazu Scholtz’ Hinweis auf Gadamers „Überwindung“ des Historismus anhand der Auflösung der Unterscheidung von Tatsachen und Werten, die sich dann in der Auflösung der Unterscheidung von Selbstverständnis und Textverständnis konkretisiert. Gunter Scholtz: Zum Historismusstreit in der Hermeneutik, a.a.O., S. 200.

98

Verstehens. Die Aufgabe des Verstehens wurde vom Erfassen vom fremden Sinn

umgewandelt zur Verständigung über die Sache, wie es in seinem Modell des

„hermeneutischen Gesprächs“ noch deutlicher zum Ausdruck kommt.

Für Gadamer ist Spinozas historische Interpretationsmethode der Bibelkritik166 ein

gutes Beispiel für eine derartige Fragestellung. „Nur weil es unbegreifliche Dinge (res

imperceptibiles) in den Erzählungen der Bibel gebe, sei deren Verständnis davon

abhängig, daß wir den Sinn des Autors aus dem Ganzen seiner Schrift zu eruieren

vermögen. Und da ist es in der Tat gleichgültig, ob das Gemeinte unserer Einsicht

entspricht – denn wir wollen ja nur den Sinn der Sätze (den sensus orationum), nicht

aber ihre Wahrheit (veritas) erkennen,“ kritisiert Gadamer (WM, 185). Wobei zu

bemerken ist, daß Spinoza zwar zwischen Sinn und Wahrheit der Rede unterscheidet,

aber nicht davon ausgeht, daß sich beide Aspekte gegenseitig ausschließen. Die

historische Forschung und die Unterscheidung zwischen Sinn und Wahrheit der Rede

dient vielmehr dazu, die Wahrheit der Rede von der Vernunft prüfen zu können167.

Gegenüber Spinozas Betonung der Notwendigkeit der historischen Interpretation

„im Geiste des Verfassers“ findet Gadamer die Hermeneutik Chladenius’ „sachlich

166 Gadamer bezieht sich hier auf das 7. Kapitel des »Tractatus theologico-politicus« von Spinoza. Siehe Baruch de Spinoza: Tractatus Theologico-Politicus, De Interpretatione Scripturae, Cap. VII. Zitiert nach: Theologisch-politischer Traktat. Hg. v. C. Gebhardt, Leipzig 1908. S. 135-145. 167 In der Darstellung über die Schritte der Ausarbeitung der Geschichte der Schrift, die eine Zusammenstellung und Ordnung der Aussprüche nach Hauptgesichtspunkten sowie Anmerkung der dunkelen Stellen einschließen, unterscheidet Spinoza zwischen dem Sinn und der Wahrheit der Rede: “Zuerst muß die Geschichte die Aussprüche eines jeden Buches zusammenstellen und sie nach Hauptgesichtspunkten ordnen, damit man alles, was sich über einen und denselben Gegenstand findet, gleich zur Hand hat. Dann muß sie alle Aussprüche anmerken, die zweideutig oder dunkel sind oder sich widersprechen scheinen. Dunkel oder klar nenne ich Aussprüche, je nachdem ihr Sinn aus dem Zusammenhang schwer oder leicht mit der Vernunft zu verstehen ist; denn bloß um den Sinn der Rede, nicht um ihre Wahrheit handelt es sich. Ja, man muß sich vor allem hüten, solange der Sinn der Schrift in Frage ist, daß man sich nicht durch die eigenen Erwägungen, soweit sie auf den Prinzipien natürlicher Erkenntnis beruhen (ganz zu schweigen von den Vorurteilen), dazu verleiten läßt, den wahren Sinn einer Stelle mit der Wahrheit ihres Inhalts zu verwechseln. Der Sinn ist bloß aus dem Sprachgebrauch zu ermitteln, oder aus solchen Erwägungen, die nur die Schrift als Grundlage kennen. Der Grund solcher Unterscheidung liegt darin, daß die Göttlichkeit Gottes nicht durch Wunder überzeugend gemacht werden kann, […] ganz abgesehen davon, daß ja auch falsche Propheten Wunder vollbringen konnten.“ Zitiert nach: Seminar: Philosophische Hermeneutik, hg. H.-G. Gadamer/ G. Boehm,Stuttgart 1976, S. 55, S. 54. Hier wird sehr deutlich, aus welchem Grund Spinoza die Unterscheidung zwischen Sinn und Wahrheit der Rede für notwendig hält.

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zutreffender“ (WM, 186). „Nicht nur, daß der Fall der ‚Auslegung historischer

Bücher’ für ihn [Chladenius] gar nicht der wichtigste Punkt ist – in jedem Falle

handelt es sich um den sachlichen Inhalt der Schriften, und das ganze Problem der

Auslegung stellt sich ihm im Grunde als ein pädagogisches und ist okkasioneller

Natur“, erklärt Gadamer (ebd.).

Damit stellt Gadamer den Kontrast zwischen Spinoza und Chladenius deutlich

heraus: Während für Spinoza die Auslegung der Heiligen Schrift von Anfang an

notwendig unter Berücksichtigung der geschichtlichen Umstände der verschiedenen

Autoren vollzogen werden muß, um die Wahrheit der Schrift zu verstehen, ist für

Chladenius die Auslegungsbedürftigkeit einer Stelle grundsätzlich ein Sonderfall, weil

„man im allgemeinen eine Stelle unmittelbar versteht, sofern man die Sache kennt, die

in der Stelle abgehandelt wird, sei es, daß man von der Stelle an die Sache erinnert

wird, sei es, daß man erst durch die Stelle zur Erkenntnis der Sache gelangt“ (WM,

186). „Unzweifelhaft ist somit für das Verstehen hier noch das Sachverständnis, die

sachliche Einsicht, das Entscheidende – es ist kein historisches noch gar ein

psychologisch-genetisches Verfahren,“ betont Gadamer (WM, 186f, Hervorhebung im

Orig.). Damit wird die Selbstverständlichkeit des Textsinnes und die Unmittelbarkeit

des Verstehens betont. Die Möglichkeit des Mißverstehens und des Nichtverstehens

wird hier zugunsten der Betonung der Selbstverständlichkeit und der Unmittelbarkeit

des Verstehens außer Betracht gelassen.

Der Vorrang des Sachverständnisses in der Hermeneutik von Chladenius führe dazu,

daß die Norm für das Verständnis eines Buches keineswegs die Meinung des Autors,

sondern die sachliche Wahrheit sei: „Bereits Chladenius stellt fest: Einen Autor

vollkommen verstehen, sei nicht dasselbe wie, eine Rede oder Schrift vollkommen

verstehen (§86),“ betont Gadamer (WM, 187). Hieraus läßt sich erkennen, aus

welchem Grund das Sachverständnis in Gadamers Hermeneutik immer den Vorrang

100

hat und die Meinung des Autors als sekundär bezeichnet wird. Mit dieser

Hervorhebung des Kontrastes zwischen Spinozas und Chladenius’ Hermeneutik wird

auch deutlich, daß Gadamer die Unterscheidung zwischen Sinn und Wahrheit der

Rede sowie die Notwendigkeit historischer Interpretation unter Berücksichtigung der

Meinung des Autors grundsätzlich in Frage stellt. Die historische Interpretation der

Heiligen Schrift bei Spinoza bedeutet für Gadamer einen “Verzicht auf gemeinsamen

Sinn” (WM, 184), also einen “Verzicht auf Einverständnis in der Sache” (WM, 297),

das zum „Bruch mit der Sinnkontinuität der Überlieferung“ führe.

Es versteht sich, daß es Gadamer hier um „den gemeinsamen Sinn“ als die Sache

bzw. die sachliche Wahrheit der Heiligen Schriften und der Klassiker geht, die nicht

durch die historische Interpretation oder die Meinung der Interpreten in Frage gestellt

oder beeinträchtigt werden soll. Denn er sieht darin „eine katastrophale Folge für das

Christentum“, weil „ein adäquates Verständnis der Schrift die Anerkennung der

Verschiedenheit ihrer Verfasser, also die Preisgabe der dogmatischen Einheit des

Kanon voraussetzt“ (WM, 180). Mit dem „Einverständnis in der Sache“ (WM, 180ff,

297ff u.ö.) meint Gadamer dagegen „die inhaltliche Einheit der Überlieferung“, die

bei allem Verstehen und aller Verständigung wiederhergestellt werden soll. Diese zielt

jedoch ausschließlich auf die inhaltliche Einheit der Überlieferung beider Traditionen

(der griechischen Antike und des Christentums) ab, welche Gadamer zufolge einmal

durch Luther und Melanchton vereinigt (WM, 178) und dann von dem Philologen

Friedrich Ast vorbildlich als Aufgabe der Hermeneutik weiter bestimmt wurde (WM,

297).

Das zeigt sich nicht nur (wie oben dargestellt) in seiner Betonung der Vorrangigkeit

des Sachverständnisses in Chladenius‘ Hermeneutik gegenüber der historischen

Interpretation der Bibelhermeneutik bei Spinoza, sondern auch in seiner Kritik an der

Begründung der allgemeinen Hermeneutik bei Schleiermacher.

101

Für Gadamer ist die Begründung der allgemeinen Hermeneutik bei Schleiermacher

mustergültig zur Bezeichnung des Wesenswandels der Hermeneutik zwischen

Aufklärung und Romantik, da in dieser allgemeinen Hermeneutik nicht nur eine

Wendung hin zum historischen Bewußtsein, das schon bei Semler und Ernesti erkannt

und von Dilthey als eine „Befreiung der Auslegung vom Dogma“ 168 bezeichnet

wurde, sondern auch „die Auflösung des normativen Anspruchs des klassischen

Altertums“, und „die Preisgabe der dogmatischen Einheit des Kanon“ zu erkennen sei

(WM, 180f). Die „Universalität“ der Hermeneutik Schleiermachers liegt Gadamers

Auffassung nach in der „Abgelöstheit von dem Wahrheitsanspruch des Textes“ (WM,

200). Indem Schleiermacher in seiner allgemeinen Hermeneutik die Aussage, „die ein

Text darstellt, unter Absehung von ihrem Erkenntnisgehalt als eine freie

Produktion“ (ebd.), und „den Akt des Verstehens als den rekonstruktiven Vollzug

einer Produktion“ (WM, 196) sieht, wird „die vom Sachverständnis geführte Kritik

aus dem Bereich der wissenschaftlichen Auslegung“ (WM, 200) herausgedrängt, so

zumindest Gadamer 169 . Es ist aber eine „höchst fragwürdige

Unterscheidung“ zwischen dem „Sachverständnis“ und dem „Textverständnis“, die

Gadamer hier macht. Gadamers Kritik unterstellt, daß es bei der historischen

Interpretation nicht um das Sachverständnis, sondern um das Autorverständnis gehe,

was sich psychologisch vollziehe. Im Gegenteil soll das Autorverständnis eben zu

einem besseren Verständnis von der von ihm behandelten Sache beitragen. Insofern

kann man mit Hans Ineichen fragen, ob man das Verständnis des Textes vom

Verständnis der Sachen einfach trennen kann170, wie das Gadamer hier voraussetzt. Es

168 Dilthey: Ges. Schriften, Bd. V, S. 326. 169 Das ist gewiß eine unberechtigte Kritik Gadamers. Denn wir wissen, daß Hermeneutik und Kritik für Schleiermacher zwei einander bedingende und ergänzende Disziplinen sind. Siehe: Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik, a. a. O.. Vgl. dazu Gunter Scholtz: Ethik und Hermeneutik, S. 144. 170 Vgl. Hans Ineichen: Philosophische Hermeneutik, Freiburg/München 1991, S. 123. Nach Ineichen werde die Gleichsetzung vom Sachverständnis und Textverständnis durch Gadamers „höchst fragwürdige Unterscheidung“ zu etwas Problematischen stilisiert.

102

läßt sich jedenfalls nicht behaupten, daß es sich in der Hermeneutik

Schleiermachers nicht um das Verständnis der vom Autor behandelten Sache handelt.

Gadamers Betonung der Selbstverständlichkeit der Schrift bedeutet zugleich eine

Entproblematisierung des Verstehens überhaupt171. Das Verstehen ist überhaupt kein

Problem für Gadamer. Das Verstehen geschieht einfach, da Gadamer ausschließlich

vom gelungenen Verstehen spricht. Die Möglichkeit des Mißverstehens und

Nichtverstehens wegen der Unklarheit, Mehrdeutigkeit oder Fremdheit des Textsinnes

kommt bei Gadamer überhaupt nicht vor. Das eigentliche Problem der Hermeneutik

bei Gadmer ist nicht das Verstehen im Sinne des Sinnverständnisses, sondern das

Wiederherstellen des ausbleibenden, gestörten Einverständnisses in der sachlichen

Wahrheit der Tradition.

Hieran wird der Unterschied zwischen Gadamer und Schleiermacher deutlich.

Während bei Schleiermacher die Fremdheit mit Bezug auf die Verschiedenheit der

Individualität der Sprachen und der Sprecher als der Grund der Schwierigkeit sowie

auch als das allgemeine Problem des Verstehens angesehen wurde und Hermeneutik

dementsprechend als theoretische Anleitung und Prinzipienwissenschaft für die

Lösung solcher Verständnisschwierigkeiten konzipiert war, wurde die Fremdheit bei

Gadamer hinsichtlich der Selbstverständlichkeit des Textsinnes, nicht so sehr als

Problem des Verständnisses des Sinngehaltes, sondern vielmehr als Problem der

Verständigung über die Sache betrachtet. Das heißt, während die allgemeine

Hermeneutik Schleiermachers von den Bemühungen zur Erfüllung der von Gadamer

so genannten „Vorbedingungen“ (wie sprachliche, sachliche und menschliche 171 Vgl. ähnlich dazu den Hinweis Werner Kogges auf die Entproblematisierung des Verstehens und den Widerspruch bei Gadamer: „Am deutlichsten zeigt sich, wie widersprüchlich Wahrheit und Methode einerseits die Bedingtheit jeglichen Verstehens in den Bedingungen aufweist, andererseits Verstehen als unbedingte Selbstdarstellung von Welt völlig entproblematisiert, in Gadamers Ausführungen über den Begriff der Welt selbst.“ Werner Kogge: Verstehen und Fremdheit in der philosophischen Hermeneutik. Heidegger und Gadamer, Hildesheim 2001, S. 139. Dieser Selbstdarstellungscharakter der Welt und die Betonung der Selbstverständlichkeit der Schrift weisen darauf hin, daß es sich bei Gadamer stets um problemloses Verstehen handelt.

103

Kenntnisse als Bedingungen des Verstehens) handelt, die bei Schleiermacher erst

durch die grammatische und die psychologische Interpretation schrittweise

herausgearbeitet werden können, geht es Gadamer um die Verständigungsfrage, die

auf das Einverständnis in der Sache des im Text Dargestellten abzielt.

Die hermeneutische Aufgabe des Verstehens wird infolgedessen durch Gadamer

vom Sinnverständnis zur Verständigung über die Sache umgewandelt. In diesem

Zusammenhang begreift Gadamer seine philosophische Hermeneutik als eine „Kunst

der Verständigung“ und faßt unter ihren Aufgabenbereich alle Bereiche

zwischenmenschlicher Verständigung. Das eigentliche und bleibende Problem bleibt

dann die zu erzielende Übereinstimmung in der Sache der Tradition. Daher begreift

Gadamer das Verfahren des Verstehens als Resultat eines „Gesprächs“ mit dem Text

(WM, 297, 308, 368ff, 374, 391). Die Gemeinsamkeit zwischen dem Textverständnis

und der Verständigung im Gespräch besteht Gadamer zufolge vor allem darin, daß

„jedes Verstehen und jede Verständigung eine Sache im Auge hat, die vor einen

gestellt ist“ (WM, 384). Das impliziert, daß der Verstehende mit sachlicher Einsicht

mit dem Text umgehen sollte, daß man also bereits eine Vorstellung von der Sache des

Textes hat.

Gadamer beschreibt das Verstehen von Schriftlichem als eine „Bewegung in einer

Dimension von Sinnhaftem“, das in sich verständlich ist und als solches „keinen

Rückgang auf die Subjektivität des anderen motiviert“. Deshalb ist es die Aufgabe der

Hermeneutik, „dieses Wunder des Verstehens aufzuklären, das nicht eine

geheimnisvolle Kommunion der Seelen, sondern eine Teilhabe am gemeinsamen Sinn

ist“ (WM, 297). Dabei wird die Möglichkeit des Mißverstehens oder Nichtverstehens

immer schon beiseite gelassen. Allein fragt sich, ob das Verstehen von Schriftlichem

wirklich immer so problemlos geschieht, ob die Schrift wirklich so selbstverständlich

wäre.

104

Das Verstehen als das Ins-Gespräch-Kommen mit dem Text bei Gadamer ist aber

nicht als ein Dialog zwischen zwei Personen wie Autor und Interpret zu denken,

welches aus dem ethischen Verhältnis zwischen zwei Personen entspringt, sondern als

ein Dialog zwischen dem Interpreten und seiner eigenen Kulturüberlieferung, welcher

aus dem „Lebensverhältnis“ bzw. der sittlichen Verbindung des Interpreten zu seiner

eigenen Kulturtradition zu verstehen ist. Denn: „Das Ziel aller Verständigung und

alles Verstehens ist das Einverständnis in der Sache. So hat die Hermeneutik von

jeher die Aufgabe, ausbleibendes oder gestörtes Einverständnis herzustellen,“ betont

Gadamer (WM, 297, Hervorhebung von Chen).

Um diesen Punkt sichtbar zu machen, greift Gadamer auf die Geschichte der

Hermeneutik zurück.

„Die Geschichte der Hermeneutik kann das bestätigen, wenn man z.B. an Augustin denkt, wo das Alte Testament mit der christlichen Botschaft vermittelt werden soll, oder an den frühen Protestantismus, dem das gleiche Problem gestellt war, oder endlich an das Zeitalter der Aufklärung, wo es freilich einem Verzicht auf Einverständnis nahekommt, wenn der vollkommene Verstand eines Textes nur auf dem Wege historischer Interpretation erreicht werden soll. Es ist nun etwas qualitativ Neues, wenn die Romantik und Schleiermacher ein geschichtliches Bewußtsein von universalem Umfang begründen, indem sie die verbindliche Gestalt der Tradition, aus der sie kommen und in der sie stehen, nicht mehr als feste Grundlage für alle hermeneutische Bemühung gelten lassen“ (ebd.).

Dagegen habe Gadamers Ansicht nach der Philologe Friedrich Ast, ein Vorläufer

Schleiermachers, ein besseres Verständnis der Aufgabe der Hermeneutik, weil er

forderte, „sie [Hermeneutik] solle das Einverständnis zwischen Antike und

Christentum, zwischen einer neugesehenen wahren Antike und der christlichen

Tradition herstellen“ (WM, 297f). Asts Hermeneutik ist nicht nur etwas Neues für

Gadamer, sonders auch etwas sehr Vorbildliches: „Sofern sie [...] die beiden

105

Traditionen, in denen sie sich weiß, zu einer sinnhaften Übereinstimmung zu bringen

sucht, hält eine solche Hermeneutik grundsätzlich an der Aufgabe aller bisherigen

Hermeneutik fest, im Verstehen ein inhaltliches Einverständnis zu gewinnen,“ hebt

Gadamer die Bedeutung solcher Aufgabenbestimmung der Hermeneutik bei Ast

gegenüber Schleiermacher hervor (WM, 298).

Es ist eindeutig zu sehen, daß es das Hauptanliegen der Hermeneutik Gadamers war,

die Übereinstimmung beider Traditionen wieder in den Aufgabenbereich der

Hermeneutik zurückzubringen, die Gadamer zufolge durch Schleiermachers

Begründung der allgemeinen Hermeneutik abgelöst ist. Es läßt sich nicht bezweifeln,

daß er sich auch bemüht, diese beiden Traditionen „zu einer sinnhaften

Übereinstimmung zu bringen“. Der entscheidende Grund, aus dem Gadamer

Schleiermachers allgemeine Hermeneutik kritisiert, liegt darin, daß der dogmatische

Anspruch auf das Einverständnis in der Sache der Tradition in der allgemeinen

Hermeneutik Schleiermachers aufgegeben ist. Der Hermeneutik Schleiermachers und

Diltheys geht es Gadamer zufolge nur darum, „den historischen Horizont zu

gewinnen“, „den Horizont des anderen kennenzulernen“ (WM, 308), nicht aber „im

Verstehen ein inhaltliches Einverständnis zu gewinnen“ (WM, 298), also nicht „in der

Überlieferung für einen selber gültige und verständliche Wahrheit zu finden“ (WM,

309). Die für uns entscheidende Frage ist, ob solcher Anspruch auf sachliches

Einverständnis im Verstehen aller historischen Überlieferungen in den

Geisteswissenschaften angemessen ist und ob alle Überlieferungen den Anspruch

erheben dürfte, als fraglose Wahrheit verstanden zu werden.

Es versteht sich, daß Gadamer hier die „Selbstverständlichkeit der Wahrheit“ dem

Vorgang des Verstehens gleichsetzen möchte, sofern im Verstehen die Wahrheit der

Heiligen Schrift und die Vorbildlichkeit der griechischen Antike unmittelbar vermittelt

und eingesehen werden sollte. Eine Ablösung vom Wahrheitsanspruch des Textes

106

bedeutet für ihn eben „einen Verzicht auf Einverständnis in der Sache“ und einen

„Bruch mit der Sinnkontinuität der Überlieferung“, den es zu überwinden gilt, wie im

ersten Abschnitt gezeigt wurde. Insofern geht es im hermeneutischen Gespräch bei

Gadamer eigentlich nicht um die Verständigung zwischen zwei Personen, sondern um

die Verständigung mit eigenen Kulturtraditionen, die auf die Wiederherstellung des

„ausbleibenden, gestörten Einverständnisses“ in der sachlichen Wahrheit der Tradition

abzielt.

2.3.2. Verstehen als Auslegen und Anwenden

Um dem Wahrheitsanspruch der Tradition ihr Recht im Verstehen historischer

Überlieferung wiederzugeben, stellt Gadamer sich die Aufgabe, „die

geisteswissenschaftliche Hermeneutik von der juristischen und philologischen

Hermeneutik her neu zu bestimmen“ (WM, 316, Hervorhebung im Orig.). Er meint,

daß „die romantische Hermeneutik und ihre Krönung in der psychologischen

Auslegung, d.h. dem Enträtseln und Ergründen der anderen Individualitäten, das

Problem des Verstehens viel zu einseitig faßt“ (ebd.). So greift Gadamer auf die

Geschichte der Hermeneutik zurück, in der es neben der philologischen eine

theologische und eine juristische Hermeneutik gab, die „gemeinsam mit der

philosophischen Hermeneutik erst den vollen Begriff der Hermeneutik

ausfüllten,“ und meint, daß „im Verstehen immer so etwas wie eine Anwendung des

zu verstehenden Textes auf die gegenwärtige Situation des Interpreten

stattfindet“ (WM, 313). Denn „damals galt es als ganz selbstverständlich, daß die

Hermeneutik die Aufgabe hat, den Sinn eines Textes der konkreten Situation

anzupassen, in die hinein er spricht,“ erklärt Gadamer (ebd.).

Sein Beispiel dafür ist der ‚Dolmetscher des göttlichen Willens’. Gadamer

107

behauptet, die Aufgabe jedes Dolmetschers sei nicht nur die Wiedergabe dessen, was

der Verhandlungspartner wirklich gesagt habe, sondern „er muß dessen Meinung so

zur Geltung bringen, wie es ihm aus der echten Gesprächssituation nötig

scheint“ (WM, 313). Er meint:

„Ein Gesetz will nicht historisch verstanden werden, sondern soll sich in seiner Rechtsgeltung durch die Auslegung konkretisieren. Ebenso will ein religiöser Verkündigungstext nicht als ein bloßes historisches Dokument aufgefaßt werden, sondern er soll so verstanden werden, daß er seine Heilswirkung ausübt. Das schließt in beiden Fällen ein, daß der Text, ob Gesetz oder Heilsbotschaft, wenn er angemessen verstanden werden soll, d.h. dem Anspruch, den der Text erhebt, entsprechend, in jedem Augenblick, d.h. in jeder konkreten Situation, neu und anders verstanden werden muß. Verstehen ist hier immer schon Anwenden“ (WM, 314).

Daraus folgt, daß sowohl im gerichtlichen Urteil wie auch in der Predigt der Text

„seine Anwendung im konkreten Augenblick der Auslegung erlangt“ (WM, 314).

Verstehen wird somit Auslegen und Anwenden zugleich. Damit erhebt Gadamer die

konkrete Situation des Interpreten und das Zur-Geltung-bringen des zuverstehenden

Textes zur Hauptsache. Er bezieht die praktische, zeitlich konkrete Situation des

Interpreten in den Geisteswissenschaften in die Überlegung mit ein. Er geht davon aus,

daß auch das in den Geisteswissenschaften geübte Verstehen ein wesenhaft

geschichtliches sei, d.h. daß auch dort ein Text nur verstanden wird, wenn er jeweils

anders verstanden wird. Das Verstehen eines Textes wird hier unmittelbar als die

Anwendung des zu verstehenden Textes gekennzeichnet und zwar als historische

Variable aufgrund der konkreten Situation des Interpreten, die die „geschichtliche

Bewegtheit des Verstehens“ bedingt. Hiervon ausgehend gelangt Gadamer zu seiner

These, daß die Aufgabe einer historischen Hermeneutik darin bestehe, „daß sie das

Spannungsverhältnis durchreflektiert, das zwischen der Selbigkeit der gemeinsamen

108

Sache und der wechselnden Situation besteht, in der dieselbe verstanden werden

soll“ (WM, 314). Er fügt nun hinzu, „daß das Verstehen nicht so sehr eine Methode ist,

durch die sich das erkennende Bewußtsein einem von ihm gewählten Gegenstand

zuwendet und ihn zu objektiver Erkenntnis bringt, als vielmehr das Darinstehen in

einem Überlieferungsgeschehen zur Voraussetzung hat“ (WM, 314).

Für Gadamer ist die Aufteilung in die „Subjektivität des Interpreten“ und die

„Objektivität des zu verstehenden Sinnes“ in der romantischen Hermeneutik

unbefriedigend unter dem Gesichtspunkt der Integration der drei Bestandteile der

hermeneutischen Methode (Verstehen, Auslegung, Anwendung). Er wendet sich

gegen die Voraussetzung der „Kongenialität“, die die Übereinstimmung des

„Schöpfers“ mit dem „Interpreten eines Werkes“ fordert und für das vollkommene

Verstehen unentbehrlich ist. Nach seiner Auffassung besteht das Wunder des

Verstehens vielmehr darin, daß es keiner Kongenialität bedürfe, um das wahrhaft

Bedeutsame und das ursprünglich Sinnhafte in der Überlieferung zu erkennen. „Wir

vermögen uns vielmehr dem überlegenen Anspruch des Textes zu öffnen und der

Bedeutung verstehend zu entsprechen, in der er zu uns spricht“ (WM, 316). Er meint:

„Die Hermeneutik im Bereich der Philologie und der historischen Geisteswissenschaften ist überhaupt nicht ‚Herrschaftswissen’, d.h. Aneignung als Besitzergreifung, sondern ordnet sich selbst dem beherrschenden Anspruch des Textes unter. Dafür aber ist die juristische und die theologische Hermeneutik das wahre Vorbild. Auslegung des gesetzlichen Willens, Auslegung der göttlichen Verheißung zu sein, das sind offenkundig nicht Herrschafts-, sondern Dienstformen. Im Dienst dessen, was gelten soll, sind sie Auslegungen, die Applikation einschließen“ (WM, 316).

Gadamers Überlegung führt schließlich dazu, daß auch die historische Hermeneutik

eine Leistung der Applikation zu vollbringen hat, weil auch sie „der Geltung von Sinn

dient, indem sie ausdrücklich und bewußt den Zeitenabstand überbrückt, der den

109

Interpreten vom Texte trennt und die Sinnentfremdung überwindet, die dem Texte

widerfahren ist“ (WM, 316).

Im Falle des juristischen Urteils und der religiösen Predigt hat Gadamer den

normativen Anspruch des Textes durch die Integration von Verstehen, Auslegen und

Anwenden überzeugend dargestellt. Das Urteil erwies sich als die Auslegung und

Anwendung des Gesetzes durch den Richter, indem das Gesetz schon vom Richter

verstanden sein muß. Bei der Predigt verhält es sich ähnlich. Bis hierher kann man mit

Gadamer übereinstimmen. Doch trifft auch seine Behauptung zu, daß dies für alles

Verstehen in den Geisteswissenschaften in gleicher Weise gelte? Erfordert tatsächlich

jedes Verstehen immer schon eine Anwendung des zu verstehenden Textes auf die

gegenwärtige Situation des Interpreten? Die Aufgabe des Rechtshistorikers zum

Beispiel ist doch vollkommen anders als die des Richters im Gerichtssaal172. Diesen

Anspruch auf Anwendung des zu verstehenden Textes auf die gegenwärtige Situation

des Interpreten hat Scholtz am Beispiel der Interpretation älterer Gesetze sehr

überzeugend zurückgewiesen: „Nun wird man aber nicht behaupten wollen, alle

Gesetze vergangener Jahrhunderte gehörten nach wie vor zu der Überlieferung, die ‚in

die Gegenwart hineinspricht’, sondern zugeben müssen, daß viele Gesetze der

Vergangenheit ihre Bedeutung für die Gegenwart schlicht verloren haben. Durch

keine Hermeneutik werden sie ihre Geltung zurückerlangen, und in den meisten

Fällen werden wir dies auch begrüßen“173. Darüber hinaus können und dürfen nicht

alle Texte den Anspruch auf Wahrheit oder unbedingte Geltung beanspruchen.

Politische Propaganda von Diktatoren zum Beispiel darf keinen Geltungsanspruch für

die gegenwärtige Situation des Historikers erheben.

172 Vgl. dazu die Kritik von Franz Wieacker: Notizen zur rechtshistorischen Hermeneutik. Nachrichten der Ak. d. Wiss. Göttingen, phil.-hist. Kl., Göttingen 1963, S. 1-22. 173 Gunter Scholtz: Das Interpretandum in der philosophischen Hermeneutik Gadamers, in: Gadamer verstehen, a.a.O., S. 13-34, Zit. S. 15f.

110

Darüber hinaus besteht die Gefahr, daß Unwahrheiten oder Mißverständnisse

zugunsten der gegenwärtigen Situation des Interpreten als Wahrheit in der Auslegung

zur Geltung gebracht werden könnten, wenn der Interpret allein über die Wahrheit des

zu verstehenden Textes entscheidet. Ist es nicht naiv, die Wahrheit der Überlieferung

mit der Wahrheit der Auslegung gleichzusetzen, indem das Textverstehen als

Applikation des verstandenen Sinns bzw. der Wahrheit auf die jeweilige Situation des

Interpreten bezeichnet wird? Gadamer sagt:

„Wir haben gesehen: Einen Text verstehen, heißt immer schon, ihn auf uns selbst anwenden. Wissen, daß ein Text, auch wenn er immer anders verstanden werden muß, doch derselbe Text ist, der sich uns jeweils darstellt. Daß damit der Wahrheitsanspruch einer jeden Auslegung nicht im geringsten relativiert wird, wird daran deutlich, daß aller Auslegung wesensmäßig Sprachlichkeit zukommt. Die sprachliche Ausdrücklichkeit, die ein Verstehen durch Auslegung gewinnt, erzeugt nicht einen zweiten Sinn neben dem verstandenen und ausgelegten“ (WM, 401f).

Mit der Sprachlichkeit aller Auslegung verbunden, wird der Wahrheitsanspruch der

Schrift zu dem Wahrheitsanspruch jeglicher Auslegung. Der Interpret wird so zum

alleinigen Verwalter der Wahrheit der Auslegung. Die Frage ist nun, wie der

Wahrheitsanspruch einer jeglichen Auslegung nicht relativ sein kann, wenn die Schrift

bzw. der Text „immer anders verstanden werden muß“ (WM, 401f), und der

gemeinsame Sinn sowie die Sache als die inhaltliche Einheit der Überlieferung

unbestimmt bleibt und allein vom Interpreten abhängt. Walter Schulz hat bemerkt, daß

hier das Erbe des Relativismus am Werke ist, indem diese Einheit „in die Vielheit

verschiedener Weltsichten, oder wie man nun sagt, in die Vielheit verschiedener

Horizonte zersplittert“ 174 . Hier scheint sich Gadamer selbst dem Problem der

Verzerrung der Perspektiven nicht entziehen zu können. Wenn aber alle inhaltlichen 174 Walter Schulz: Anmerkungen zur Hermeneutik Gadamers, in: Hermeneutik und Dialekitik I, hg. von R. Bubner/K. Cramer/R. Wiehl, Tübingen 1970, S. 304-316. Hier S. 308.

111

Einheiten relativierbar sind, dann kann einzig „die formale Einheit des Gespräches

mit der Vergangenheit“ nicht relativierbar sein. „Sie ist die einzige Einheit, die

‚unbedingt’ ist,“ so Schulz 175.

2.3.3. Universale Sprachlichkeit als universale Verständlichkeit?

Die Schwierigkeit des Verstehens fremder Sprachen und fremder Überlieferungen

wurde bei Gadamer so formuliert:

„Wer in einer Sprache lebt, ist von der unübertrefflichen Angemessenheit der Worte, die er gebraucht, zu den Sachen, die er meint, erfüllt. Es scheint wie ausgeschlossen, daß andere Worte fremder Sprachen dieselben Sachen ebenso angemessen nennen können. [...] Je empfindlicher unser historisches Bewußtsein reagiert, desto mehr scheint es die Unübersetzbarkeit des Fremden zu empfinden. Damit wird aber die innige Einheit von Wort und Sache zu einem hermeneutischen Skandalon“ (WM, 406).

Es gilt aber für Gadamer, diesen Gedankengang als scheinhaft zu durchschauen. Denn

die Sprache bedeutet für Gadamer „die Sprache der Vernunft“, die „eine alle

Schranken überwindende Unendlichkeit in sich tragen muß“ (WM, 405). Die

„überlegene Allgemeinheit“, mit der „sich die Vernunft über die Schranken jeder

gegebenen Sprachverfassung erhebt,“ gilt hier als Argument dafür, daß es immer

schon möglich ist, eine fremde Überlieferung zu verstehen, auch wenn wir in der

Sprache, die wir sprechen, „gebannt“ sind (WM, 406). Damit wird dem Verstehen bei

Gadamer grundsätzlich keine Grenze gesetzt.

Hier drängt sich die Frage auf, wie sich die Vernunft mit der überlegenen

Allgemeinheit über die Schranken jeder gegebenen Sprachverfassung erheben kann,

wenn die Vernunft nicht Herr ihrer selbst ist und „stets auf die Gegebenheiten 175 Walter Schulz, a.a.O..

112

angewiesen“ bleibt, wie Gadamer selbst auf die geschichtliche Bedingtheit der

Vernunft hingewiesen hat. Einerseits will Gadamer die Macht der Vernunft durch die

geschichtlichen Gegebenheiten annullieren, so daß sie für ihn nur eine „reale

geschichtliche“ (WM, 280), also geschichtlich bedingte sein soll. Wir erinnern uns

daran, daß Gadamer Diltheys Voraussetzung der „Gleichartigkeit der

Menschennatur“ für das Verstehen gerade als „ungeschichtliches Substrat“ kritisiert

(WM, 295) und Diltheys Konzeption der Schrankenlosigkeit der historischen Vernunft

als einen Wahn, als „eine falsche Selbstinterpretation unseres geschichtlichen Seins

und Bewußtseins“176 kritisiert. Andererseits behauptet er, daß sich die Vernunft mit

der „überlegenen Allgemeinheit“ „über die Schranken jeder gegebenen

Sprachverfassung erheben“ kann. Das scheint ein Widerspruch zu sein. Der

Widerspruch bei Gadamer zeigt sich auch darin, daß er einerseits „die Versetzung des

Historikers in die ideele Gleichzeitigkeit mit seinem Gegenstand“ als eine

„Psychologie des Verstehens“ und als „ästhetisch“ kritisiert (WM, 236), andererseits

aber das Wunder des Lesens als „die Erzeugung und Hervorbringung der reinen

Gegenwart der Vergangenheit“ beschreibt.

Wenn die Vernunft von Gadamer selbst als eine reale geschichtliche verstanden

wird, die auch geschichtlich bedingt sein muß, wie kann sich eine solche geschichtlich

bedingte Vernunft „über die Schranken jeder gegebenen Sprachverfassung erheben“?

Stimmt es, daß alles, was sprachlich ist, tatsächlich verständlich ist? Mir scheint es

genauso zu stimmen, daß alles, was sprachlich ist, auch mißverständlich sein kann.

Sprache ist gewiß ein wichtiges Medium der Vermittlung zwischen Vergangenheit und

Gegenwart, zwischen Ich und Du, zwischen dem Denken des Einzelnen und der

Gemeinschaft. Es ist aber zu naiv zu glauben, daß durch die Hervorhebung der

Sprachlichkeit als dem universalen Medium der Traditions- und Weltvermittlung das 176 Gadamer: Ges. Werke, Bd. 2, S. 331.

113

Problem des Fremden und des Mißverstehens gelöst wird.

„Das Sein des Kunstwerks war kein Ansichsein, von dem sich seine Wiedergabe oder die Kontingenz seiner Erscheinung unterscheidet [...]. Ebenso war [...] die Bedeutung eines Ereignisses oder der Sinn eines Textes, kein fester an sich seiender Gegenstand, den es nur festzustellen gilt. Auch das historische Bewußtsein schloß in Wahrheit die Vermittlung von Vergangenheit und Gegenwart ein. Indem wir nun als das universale Medium solcher Vermittlung die Sprachlichkeit erkannten, weitete sich unsere Fragestellung von ihren konkreten Ausgangspunkten, der Kritik am ästhetischen und historischen Bewußtsein und der an ihre Stelle zu setzenden Hermeneutik, zu einer universalen Fragerichtung aus. Denn sprachlich und damit verständlich ist das menschliche Weltverhältnis schlechthin und von Grund aus. Hermeneutik ist, wie wir sahen, insofern ein universaler Aspekt der Philosophie und nicht nur die methodische Basis der sogenannten Geisteswissenschaften“ (WM, 479, Hervorhebung von mir, Chen).

Die hermeneutische Erfahrung beruht, so Gadamer, auf dem „Geschehenscharakter

der Sprache“. Es sei buchstäblich richtiger zu sagen, „daß die Sprache uns spricht, als

daß wir sie sprechen, [...] daß dieses Geschehen nicht unser Tun an der Sache,

sondern das Tun der Sache selbst ist“ (WM, 467). Nach Hans Albert bezeichnet diese

Formulierung gerade den Offenbarungscharakter des Verstehens bei Gadamer. „Das

Sein selbst meldet sich zu Wort und offenbart sich dem Verstehenden, wie früher in

der theologisch bestimmten Metaphysik Gott sich in der Natur offenbart hatte,“ so

Albert177. Insofern wird nicht nur das Sein der Kunstwerke und das der Geschichte,

sondern auch das der Sprache in ihrer Selbstdarstellung und Selbstverständlichkeit

charakterisiert.

Daß alle Auslegung wesensmäßig nur im Rahmen der Sprachlichkeit stattfindet,

garantiert nicht, daß alle Auslegung den Wahrheitsanspruch der Schrift erfüllt. Die

Sprachlichkeit kann nicht das Kriterium für die Wahrheit der Aussage und die 177 Hans Albert: Kritik der reinen Hermeneutik. Der Antirealismus und das Problem des Verstehens, Tübingen 1994, S. 72f.

114

Wahrheit der Auslegung sein. Gadamer will zwar den Unterschied von richtiger und

falscher Interpretation nicht aufgeben, jedoch führt seine Radikalisierung der

Autonomie des Textes und der Abgelöstheit vom Autor dazu, daß ihm ein

angemessenes Kriterium für die Richtigkeitsprüfung fehlt. Seine Erhebung der

Sprachlichkeit und Schriftlichkeit über die zeitlichen Grenzen widerspricht seiner

Konzeption der Geschichtlichkeit, in der das Wiedererkennen des vermeintlich

ursprünglichen, entfremdeten Sinns der Schrift unmöglich erscheint, während die

Gleichzeitigkeit und Selbstverständlichkeit der Schrift gerade für das problemlose

bzw. grenzenlose Verstehen der Überlieferung steht.

Die Frage ist nun, ob sich das „lesende Bewußtsein“, also das „mit der

geschichtlichen Überlieferung in Freiheit kommunizierende Bewußtsein“ bei

Gadamer, von der „geheimnisvollen Kommunion der Seelen“ (WM, 297) bei

Schleiermacher und Dilthey unterscheidet. Ist es nicht vielmehr so, daß an die Stelle

des Diltheyschen historischen Bewußtseins bzw. der historischen Vernunft, die die

„Souveränität eines allseitigen und unendlichen Verstehens“ (WM, 236) der

geschichtlichen Überlieferung gegenüber hat und von Gadamer kritisiert wird, nun

das zu seiner vollen Souveränität gelangte „verstehende Bewußtsein“ tritt? An die

Stelle der Vergegenwärtigung der vergangenen Schrift tritt bei Gadamer also eine

„Gleichzeitigkeit der Schrift“ mit jeder Gegenwart, die durch das Lesen die reine

Gegenwart der Vergangenheit erzeugen und hervorbringen kann. Es fragt sich, ob wir

es hier nicht auch mit einer „Ästhetisierung“, einer „undurchschaute[n]

Idealisierung“ zu tun haben.

Die Erhebung der Sprachlichkeit zum universalen Medium, die Herausarbeitung

der Schriftlichkeit mit ihrer Selbstverständlichkeit und Gleichzeitigkeit, können uns

nicht helfen, wenn der Text nicht verständlich wird oder wenn der Sinn des Textes

mehrdeutig ist. Die Behauptung, daß alles Verstehen sprachlich und alle Sprachen

115

verständlich seien, reicht nicht aus, die konkreten Verständnisschwierigkeiten sowie

den Konflikt diverser Interpretationen zu lösen. Gadamer erkennt den Anspruch auf

Richtigkeit der Interpretation zwar an (WM, 401), verwirft aber die

methodisch-orientierte technische Hermeneutik Schleiermachers und bietet keine

Antwort auf die Frage nach dem Entscheidungskriterium für die Richtigkeit des

Verständnisses oder die Wahrheit der Interpretation. Für ihn ist der Verstehensvollzug

stets „die Konkretion des Sinnes selbst“. Die ontologische Wendung Gadamers

ebenso wie jene Heideggers kann die Probleme des Fremden nicht beseitigen. Ricoeur

hat eingesehen, daß die radikale Fragestellung Heideggers die Probleme der

traditionellen Hermeneutik nicht nur ungelöst läßt, sondern sie auch aus dem

Blickfeld rückt.178 Das gleiche trifft auch auf Gadamers philosophische Hermeneutik

zu.

Weiter stellt sich die Frage, ob Gadamers Gründung des Verstehens auf die

Tradition als Quelle der Vorurteile und Vorverständnisse ebenfalls Bedingungen für

das Verstehen fremder Kulturen aufzeigen kann und ob Konzeptionen wie

Selbstverständlichkeit und Gleichzeitigkeit der Schrift die konkreten Probleme wie

den Konflikt der Interpretationen oder Verstehensschwierigkeiten auf Grund

kultureller Fremdheit und individuellen Unterschieds zu lösen vermag.

Die Fremdheit, die aufgrund des geschichtlichen und kulturellen Abstandes bzw.

der relativen Differenz zwischen Ich und Du, zwischen Eigenem und Fremdem, ferner

zwischen eigenen und fremden Kulturtraditionen entstanden und alles andere als

„selbstverständlich“ oder „unmittelbar verständlich“ ist, wird in der von Gadamer

178 Für Ricoeur werden die Probleme, wie das der Begründung der Geisteswissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften und das des Konflikts der rivalisierenden Interpretationen, in einer Fundamentalhermeneutik „tatsächlich nicht berücksichtigt; und dies mit Absicht, denn eine solche Hermeneutik ist nicht dazu angelegt, sie zu lösen, sondern sie aufzulösen. [...] er [Heidegger] wollte uns dazu anleiten, die historische Erkenntnis dem ontologischen Verstehen unterzuordnen wie eine abgeleitete Form einer ursprünglichen.“ Paul Ricoeur: Hermeneutik und Strukturalismus. Der Konflikt der Interpretationen I, München 1973, Zit. S. 19.

116

hervorgehobenen „Selbstverständlichkeit“ der Überlieferung und „Zugehörigkeit zur

Tradition“ nivelliert und entproblematisiert. Axel Horstmann macht darauf

aufmerksam, daß das Wissen der älteren Hermeneutik Friedrich Schleiermachers und

August Boeckhs um die „kulturelle Fremdheit“ unter der Wirkung der

philosophischen Hermeneutik Gadamers und seiner Betonung des einen gemeinsamen

Überlieferungszusammenhangs, der einen gemeinsamen Tradition und der einen

gemeinsamen Geschichte in Vergessenheit geraten sei179. Tatsächlich wird das alte

Wissen der älteren Hermeneutik um die kulturelle Fremdheit unter der Wirkung der

philosophischen Hermeneutik Gadamers an den Rand gedrängt. Erst bei Betti und

Hirsch wird die Bedeutung der älteren Hermeneutik für das Verstehen von

fremdkulturellen Überlieferungen wieder ans Licht gebracht. So kommen wir zu

Hirsch.

179 Vgl. hierzu den Hinweis von Axel Horstmann in seinem Aufsatz: Interkulturelle Hermeneutik – eine neue Theorie des Verstehens?, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 47 (1999) 3, S.427-448. Horstmann ist der Ansicht, in der älteren Hermeneutik „eine ausschließlich ‚intrakulturell’ orientierte Verstehenslehre zu sehen, hieße zu verkennen, daß es die Beispieldisziplinen dieser älteren Hermeneutik und neben den genannten namentlich orientalistischen Fächern doch immer auch mit kultureller ‚Fremdheit’ zu tun hatten und daß dies seinen Niederschlag auch in der hermeneutischen Theoriebildung gefunden hat.“ Ein gutes Beispiel sei A. Boeckhs Überlegungen zum Problem der „ägyptischen Philologie“, wo nicht einmal die Sprache als solche „gegeben“ sei. (August Boeckh, Enzyklopädie und Methodenlehre der philologischen Wissenschaften, hg. v. E. Bratuscheck, 1. Hauptteil: Formale Theorie der philologischen Wissenschaft. Darmstadt 1966; Nachdruck der 2. von R. Klussmann besorgten Auflage, Leipzig 1886, 54).

117

3. Gültigkeit der Interpretation des Fremden als Thema der Hermeneutik bei

Hirsch

Das Problem des Fremden in der Hermeneutik bei Hirsch wird von vornherein im

Rahmen der Diskussion über die Möglichkeit und Notwendigkeit rekonstruktiver

Interpretation fremder Texte und fremder Kulturen aus ethischen Gründen

behandelt180. Hirsch bezieht seine hermeneutischen Überlegungen sowohl auf das

„romantische“ Ideal vom „kulturellen Pluralismus“ („cultural pluralism“) als Sinn und

Aufgabe der geisteswissenschaftlichen Forschung zurück, das von Herder,

Schleiermacher und Ranke repräsentiert wird, als auch auf die erkenntnistheoretische

und methodologische Reflexion über die Grundlage der Geisteswissenschaften bei

Dilthey und auf die Hervorhebung der schriftlichen Lebensäußerungen als „fremdem

Gedankengut“ bei Betti 181 . Ähnlich wie Schleiermacher (der Individualität zum

Repräsentanten der menschheitlichen Idee erklärt) und Dilthey (für den fremde

Personen und ihre schriftlich fixierten Lebensäußerungen Gegenstände

geisteswissenschaftlicher Forschung waren) hat Betti die Bedeutung der Hermeneutik

aus dem Verhältnis des Interpreten zu seinen Mitmenschen heraus betrachtet, indem er 180 Vgl. dazu Gelders Untersuchung über die „ethische Begründung“ der Wissenschaftlichkeit der Literaturwissenschaft bei Hirsch. Kathrin Gelder: Zur Wissenschaftlichkeit der Literaturwissenschaft. Rekonstruktion und kritische Evaluation der Interpretationstheorie von Eric Donald Hirsch, Frankfurt a. M./Bern/New York 1985, s. bes. S. 25-61. Es ist gewiß einer der wichtigsten Ansatzpunkte von Hirsch, „die Unvermeidbarkeit ethischer Entscheidungen bei der Bestimmung von Zielsetzungen und Normen in der Literaturwissenschaft“ hervorzuheben, wie Gelder mit Recht herausgestellt hat. Dennoch, der Intention Hirschs nach trifft die ethische Begründung der Wissenschaftlichkeit nicht nur auf die Zielsetzungen und Normen in der Literaturwissenschaft zu, sondern auf alle Aufgabenbestimmungen der Geisteswissenschaften, da er seine Theorie als einen Beitrag zur allgemeinen Hermeneutik sieht und die ethische Dimension der Hermeneutik hervorzuheben versucht. 181 Nach Betti ist der Interpret dazu berufen: „das fremde Gedankengut in sich nachzubilden und von innen her, als etwas Eigenwerdendes nachzuerzeugen, und trotzdem, obwohl es sein eigen wird, soll er es sich gleichwohl als ein Anderssein, als etwas Objektives und Fremdes gegenüberstellen. Es befinden sich somit im Widerstreit, einerseits die von der Spontanietät des Verstehens nicht zu trennende Subjektivität und andererseits die Objektivität, die Fremdheit des zu ermittelnden Sinnes. Es wird gleich einleuchten, wie aus dieser Antinomie die ganze Dialektik des Auslegungsprozesses herfließt und auf ihr eine allgemeine Theorie der Auslegung aufgebaut werden kann, wie sich übrigens aus der Antinomie zwischen Fürsichsein des Subjekts und dem Andersseins des Objekts die Dialektik jedes Erkenntnisprozesses entwickelt.“ Emilio Betti: Hermeneutik als allgemeine Methodik der Geisteswissenschaften, Tübingen 1962, S. 7.

118

sagt: „Nichts liegt dem Menschen so sehr am Herzen, als sich mit seinen

Mitmenschen zu verstehen. [...] alles was von fremdem Geist an den unsrigen

herantritt, richtet eine Anforderung an unser Verständnisvermögen in der Erwartung

erschlossen zu werde.“182 Es wird sich zeigen, daß Hirsch solche Ansichten von Betti

teilt, die wiederum auf die hermeneutischen Konzeptionen von Schleiermacher und

Dilthey zurückgeführt werden können. Insofern kann die Konzeption der

Interpretation in der Tradition der Schleiermacherschen Hermeneutik als ein

erkennendes Verhalten zum fremden Leben betrachtet werden, das eben die ethische

Dimension der Hermeneutik ausmacht, wie wir sehen werden.

Hirsch versteht sein Buch Validity in Interpretation 183 als einen Beitrag zur

allgemeinen Hermeneutik mit besonderem Augenmerk auf dem Problem der

Gültigkeit184 („the problem of validity“), weil ihm dieser Aspekt vernachlässigt zu

werden erscheint: „the very concept of absolute valid interpretation has come to be

regarded with profound scepticism“ (VI, viii). Daher kündigt Hirsch im Vorwort von

Validity seine Grundposition an:

182 Bettis Anliegen war es, „die Idee der Hermeneutik als einer allgemeinen Methodik der Geisteswissenschaften zu umreißen; dabei einen Beitrag zum Unterschied von Auslegung und Sinngebung zu liefern, um die Objektivität der Ergebnisse des Auslegungsprozesses gegenüber neueren Anfechtungen zu verteidigen.“ Emilio Betti: a. a. O., S. 13. 183 Eric Donald Hirsch: Validity in Interpretation, New Haven, London 1967. Im Text als VI mit Seitenzahl zitiert (= VI). Deutsche Übersetztung: Prinzipien der Interpretation, übersetzt v. Adelaide Anne Späth, München 1972. Im Text als PI mit Seitenzahl zitiert (= PI). Wo mir die englischen Ausdrücke wichtig sind, zitiere ich die Originalausgabe, sonst die deutsche Übersetzung. 184 Das engliche Wort „valid“ bei Hirsch bedeutet nicht ohne weiteres „richtig“, wie Späth übersetzt hat. Vgl. die deutsche Übersetzung von Späth. Wir übersetzen „valid interpretation“ mit „gültige Interpretation“ statt „richtige Interpretation“, um der Flexibilität der Hirschschen Argumentation zu entsprechen. „Valid“ bedeutet vielmehr „gültig“ im weiteren Sinne des Wortes. Denn es geht bei ihm nicht um die Behauptung der absoluten Richtigkeit oder der Gewißheit der Interpretation, wie Madison ihm zu Unrecht vorwirft, sondern lediglich um die Begründung der Möglichkeit allgemeingültiger Interpretation („objective valid interpretation“). Madisons Kritik an Hirschs Begriff der ‚Richtigkeit’ ist nicht ohne Mißverständnis des Wortes „validity“ geübt worden und weicht ziemlich stark von dem von Hirsch gemeinten Sinn ab. Das ist eben ein Beispiel für das Problem der Interpretation, das Hirsch in seiner Theorie zu lösen sucht. Siehe G. B. Madison: Eine Kritik an Hirschs Begriff der ‚Richtigkeit’, in: Die Hermeneutik und die Wissenschaft, hg. von H.-G. Gadamer u. G. Bohem, Frankfurt a. M. 1978, S. 393-425.

119

„The theoretical aim of a genuine discipline, scientific or humanistic, is the attainment of truth, and its practical aim is agreement that truth has probably been achieved. Thus the practical goal of every genuine discipline is consensus – the winning of firmly grounded agreement that one set of conclusion is more probable than others – and this is precisely the goal of valid interpretation” (VI, viiif).

Demnach ist das theoretische Ziel einer wissenschaftlichen Disziplin die Gewinnung

von Wahrheit, und das praktische Ziel ist die Übereinstimmung darüber, daß Wahrheit

wahrscheinlich erreicht wurde. Folglich ist es das praktische Ziel jeder echten

Wissenschaft, einen Konsens, also eine fest begründete Übereinstimmung darüber zu

erreichen, daß eine Gruppe von Schlußfolgerungen wahrscheinlicher ist als die andere,

„und genau dies ist das Ziel der gültigen Interpretation.“ Insofern ist es das

Hauptanliegen der Hermeneutik von Hirsch, die Notwendigkeit sowie die Möglichkeit

rekognitiver Interpretation („re-cognitive interpretation“)185 von fremden Texten und

fremden Kulturüberlieferungen zu begründen und die Prinzipien für objektiv gültige

Interpretationen herauszustellen.

Die Frage ist nun, wie läßt sich ein Konsens in der Interpretation gewinnen?

Welche Normen der Interpretation lassen sich als wissenschaftlich sinnvoll

herausstellen? Ist objektives Verstehen und Interpretieren von Fremdem überhaupt

möglich? Wie läßt sich „Objektivität“ in der Hermeneutik als sinnvoller

wissenschaftlicher Anspruch begründen? Im folgenden soll zunächst darauf

eingegangen werden, wie und aus welchem Grund Hirsch für die Notwendigkeit und

185 Hirsch bezieht sich hier auf namentlich Emilio Bettis Begriff der „rekognitiven Interpretation“. Siehe Emilio Betti: Teoria generale della interpretazione, 2 Bde, Milan 1955, Bd. 1, S. 343-432. Für Betti ist der Auslegungsprozeß „überhaupt dazu bestimmt, das epistemologische Problem des Verstehens zu lösen. [...] Hier ist also das Verstehen ein Wiedererkennen und Nachkonstruieren des Sinnes, mithin des durch die Formen seiner Objektivation zum denkenden Geiste sprechenden Geistes, der sich jenem in gemeinsamen Menschentum verwandt fühlt.“ In: ders.: Zur Grundlegung einer allgemeinen Auslegungslehre: ein hermeneutisches Manifest, in: Festschrift für Ernst Rabel (1954) II, S. 70-168, S. 91ff.; vgl. ders.: Hermeneutik als allgemeine Methodik der Geisteswissenschaften, Tübingen 1962. Der Begriff der „rekognitiven Interpretation“ evoziert natürlich den Verstehensbegriff von August Boeckh: „Erkenntnis des Erkannten“.

120

die Möglichkeit objektiv gültiger Interpretation fremder Texte und fremder

Kulturtraditionen argumentiert, um danach die rekognitive Interpretation als ein

Modell für das Verstehen fremder Texte und fremder Kulturen bei ihm genauer

aufzuzeigen.

3.1. Ethische Begründung der Notwendigkeit rekognitiver Interpretation

An Diltheys Bestimmung der Aufgabe der Hermeneutik anknüpfend, die „die

Allgemeingültigkeit der Interpretation theoretisch begründen [soll], auf welcher alle

Sicherheit der Geschichte beruht“186, versucht Hirsch die Notwendigkeit historischer

Rekonstruktion als objektiv gültige Interpretation aus ethischer Perspektive zu

begründen, die er am Leitfaden der Geschichte des Interpretationsstreits zwischen

anachronistischer und historischer Interpretation entfaltet. Die Möglichkeit zur

rekonstruktiven Interpretation als objektiv gültiger Interpretation fremder Texte und

fremder Kulturen wird anhand der Einbeziehung der Autorintention als der formalen

Bedingung gültiger Interpretation innerhalb der Möglichkeit sprachlicher Normen

begründet. Hirsch versteht seine gesamte hermeneutische Konzeption als einen

Versuch, die Diltheyschen Konzeptionen wie „Sichhineinfühlen“ und „Verstehen“ mit

Hilfe der Husserlschen Erkenntnistheorie und der Sprachtheorien von Saussure und

Wittgenstein zu begründen.187

186 Dilthey: Die Entstehung der Hermeneutik, Ges. Schriften, Bd. V, S. 331. 187 Hirsch: Validity, S. 242, Anmerkung.

121

3.1.1. Das Wesen des Textes und der Konflikt der Interpretationen

Im Gegensatz zu Gadamers Betonung der Selbstverständlichkeit der

Überlieferung, die zu uns spreche, geht Hirsch vom Konflikt der Interpretationen aus,

welcher den praktischen Problembereich der Hermeneutik darstellt und der auf den

Text bezogen werden muß. Im Hinblick auf das Wesen des Textes geht Hirsch wie

Gadamer davon aus, daß ein Text erst einen Sinn hat, nachdem er rekonstruiert bzw.

interpretiert worden ist. Nach Gadamer stellt sich der Begriff des Textes „nur im

Zusammenhang der Interpretation und von ihr aus als das eigentlich Gegebene, zu

Verstehende“ dar.188 Ähnlich klingt es bei Hirsch, wenn er sagt: “the nature of a text is

to have no meaning except that which an interpreter wills into existence.“189 Im

Grunde genommen sind beide der gleichen Meinung, nämlich, daß der Text erst einen

Sinn hat, nachdem der Interpret diesen in seiner Interpretation konstruiert hat, aber

eben nur im Hinblick auf das Wesen des Textes und der Interpretation. Denn was sie

unter dem Sinn des Textes verstehen, ist wohl ganz verschieden. Dies führt dazu, daß

beide ganz unterschiedliche hermeneutische Forderungen formulieren.

Da „the nature of a text is to mean whatever we construe it to mean,“ und „the

nature of interpretation is to construe from a sign-system (for short, ‘text’) something

more than its physical presence,” brauchen wir, so Hirsch, eine Norm. Und die

Theorie der Interpretation soll normative Kriterien für die Unterscheidung zwischen

guter und schlechter, legitimer und illegitimer Interpretation eines Textes anbieten.

Hier geht es Hirsch nicht darum, Normen für die literarischen Qualitäten oder für die

Beurteilung der Wahrheit eines Textes, sondern Normen für die Gültigkeit der

Interpretation eines Textes herauszustellen, die auf die Rekonstruktion des originären

188 Gadamer: Text und Interpretation, Ges. Werke Bd. 2, S. 340. 189 E.D.Hirsch: The Aims of Interpretation, Chicago and London 1976, S. 75. Weiter im Text als AI mit Seitenzahl zitiert (= AI).

122

Textsinns abzielt190. Dennoch ist Hirsch bewußt, daß die Theorie allein das Wesen der

Interpretation nicht ändern kann. Denn ontologisch gesehen sind alle Interpretationen

gleich wahr („ontologically equal“), sie sind alle „equally real“ (AI, 76).

Im Gegensatz zu Gadamer, der die Möglichkeit und Notwendigkeit der

Übereinstimmung des gegenwärtigen Sinnes mit dem ursprünglichen Sinn des Textes

bestreitet und die Autonomie des Textes aufgrund der Abgelöstheit des Textsinns von

seinem Verfasser gegenüber der gegenwärtigen Situation des Interpreten am Beispiel

der Literatur, der Gesetze und der Heiligen Schriften betont, geht Hirsch davon aus,

daß die Hermeneutik „die Rekonstruktion der Ziele und der Einstellungen des Autors

betonen muß, um die Anweisungen und Normen für die Konstruktion des Textsinns

ableiten zu können“ (VI, 224, Übersetzung von mir).

Als ersten Schritt versucht Hirsch das Recht des Autors zu rehabilitieren, das durch

die Verbannung des Autors in der Literaturtheorie191 und in der philosophischen

190 Dieser Punkt wurde häufig von Literaturkritikern übersehen. Christopher E. Arthur zum Beispiel will aus der Interpretationstheorie die Normen für die Bewertung literarischer Qualität erstellen, indem er die Hermeneutik von Gadamer und Hirsch am Maßstab der kanonischen Werke mißt, die aber nicht die Aufgabenbestimmung der Interpretationstheorie von Gadamer und Hirsch betrifft. „Neither quite explains what prior expectations bring him to literature in the first place, nor why he finds a particular work worthy of exegesis.” Christopher E. Arthur, Gadamer and Hirsch: The canonical Work and the Interpreter’s Intention. In: Cultural Hermeneutics 4 (1977) 183-197, S. 184. Arthurs Kritik an Gadamer und Hirsch trifft nicht zu, wenn man den Sinn des Verstehens bei Gadamer und Hirsch mitbetrachtet. Für Gadamer liegt der Sinn des Verstehens in der totalen Vermittlung von Wahrheit und Geschichte. Bei Hirsch bedeutet Textinterpretation eine Erweiterung eigener Horizonte und Vermittlung der verschiedenen Ideen zwischen den Menschen und Kulturen. Arthurs Kritik trifft auf Hirsch besonders deshalb nicht zu, weil seine Frage eine Bewertung eines Werkes vor der Interpretation implizit vorausgesetzt hat, was aber widersinnig erscheint. Wie kann man wissen, ob ein Werk interpretationswürdig oder –bedürftig ist, ohne es zuerst zu verstehen zu suchen? Arthurs Frage scheint eine Verwechselung der Aufgabe der Hermeneutik (bzw. des Verstehens) mit der der Kritik (bzw. der Bewertung, Beurteilung) zu beinhalten. Die Literaturtheorie bzw. –kritik behandelt die Frage nach den Werten und Kriterien für die Beurteilung der literarischen Qualität verschiedener Schriften, während es bei der Hermeneutik um die Frage danach geht, wie fremde Rede, vor allem fremder Text, interpretiert werden kann und soll. Beide haben mit Textinterpretation zu tun. Die Aufgabe der allgemeinen Hermeneutik besteht jedoch hauptsächlich darin, Prinzipien allgemeingültiger Interpretation herauszustellen, und dient als Grundlage der Kritik. 191 Zur Interpretationskritik in den Literaturtheorien siehe die Untersuchungen von Axel Spree: Kritik der Interpretation. Analytische Untersuchungen zu interpretationskritischen Literaturtheorien, Paderborn/ München 1995. Bezüglich der Verbannung des Autors hat Spree auf Roland Barthes‘ These vom „Tod des Autors“ als Grundbegriff der Literaturkritik hingewiesen. Hier S. 155f. In der Hermeneutik hat diese Situation mit der „Schwäche der Schrift“ zu tun, auf die sich Gadamer besonders berufen hat. Hirsch erkennt dies als das Wesen des Textes und den Grund der Konflikte der Interpretation.

123

Hermeneutik Gadamers zu verschwinden droht. Er meint, die von T. S. Eliot und

seinen Verbündeten angeführte These, daß die Bedeutung des Textes unabhängig vom

Willen des Autors sei, wurde mit der Literaturtheorie verbunden, „daß die beste

Dichtung unpersönlich, objektiv und autonom sei, daß sie ihr eigenes Leben führe,

völlig abgeschnitten von dem ihres Schöpfers“ (PI, 15). „Dieser gleiche Gedanke der

semantischen Autonomie“ wurde später dann „aus anderen Gründen“ auch „von

Heidegger und seinen Anhängern vorgetragen,“ so Hirsch. Der Grund liegt Hirsch

zufolge darin, daß die Theorie von der Unwichtigkeit des Autors sich äußerst günstig

auf Literaturkritik und philologische Gelehrsamkeit auswirkte, weil sie das Zentrum

der Untersuchung vom Autor auf sein Werk verlagerte (PI, 16). Aber indem man den

Autor als den Bestimmenden für den Sinn seines Textes dermaßen verbannte, blieb

kein eindeutiges Kriterium mehr für die Gültigkeit einer Interpretation, weil

“interpreters can and do disagree” (VI, 4).

Hirsch ist der Meinung, daß die Theorien der semantischen Autonomie solche

Konflikte in der Interpretation nicht lösen können, weil sie die Tatsache ignorieren,

daß Sinn im Bewußtsein entsteht: „meaning is an affair of consciousness not of

words“ (VI, 4). „Whenever meaning is connected to words, a person is making the

connection, and the particular meanings he lends to them are never the only legitimate

ones under the norms and conventions of his language,” erklärt Hirsch (VI, 4). Es gibt

innerhalb der Normen und der Konventionen der Sprache neben dem durch den Autor

intendierten Sinn noch mehrere mögliche Wortsinne und Textsinne. Daher können die

Textsinne, die die Leser bzw. der Interpret konstruieren, „entweder vom Autor und

Leser geteilt werden oder nur zu dem Leser allein gehören,“ so Hirsch (VI, 23).

Folglich muß die Frage nach der Norm der Interpretation nicht im Hinblick auf das

Wesen des Textes, sondern auf die Zielsetzung der Interpretation selbst gestellt

werden. Daher konstatiert Hirsch:

124

„Any normative concept in interpretation implies a choice that is required not by the nature of written texts but rather by the goal that the interpret sets himself. […] [T]he object of Interpretation is no automatic given, but a task that the interpreter sets himself. He decides what he wants to actualize and what purpose his actualization should achieve” (VI, 24f, Hervorheb. im Orig.).

Die Norm der Interpretation ist hier mit der Zielsetzung der Interpretation verbunden,

die der Interpret sich gestellt hat. Da aber die Entscheidung für die Norm der

Interpretation als Zielsetzung bzw. Aufgabenbestimmung der Interpretation Hirschs

Auffassung nach “a free social and ethical act” (VI, 26) ist, kann jeder Leser oder

Interpret in der Tat für sich beliebig entscheiden, was für eine Norm er für seine

Interpretation eines Textes aufnehmen oder ablehnen möchte. Aber „indem man seine

Interpretation für gültig behauptet,“ sagt Hirsch, „so wird man unmittelbar im Netz

der logischen Notwendigkeit gefangen“ (VI, 26, vgl. PI, 46).

Der Grund für die Notwendigkeit einer Norm für die gültige Interpretation liegt

ganz einfach darin, daß immer dann, wenn die Gültigkeit bzw. Richtigkeit der eigenen

Interpretation behauptet wird, notwendigerweise ein Kriterium dafür befragt werden

muß. Ohne ein solches Kriterium wären alle Interpretationen gleich gültig. Wenn alle

Interpretationen schlechthin gleich gültig wären, dann wäre es eben gleichgültig, ob

es sich um eine wissenschaftlich begründete Interpretation oder aber nur um eine

private persönliche Erfahrung des Lesens von Texte handelt. Daher ist die

Herausstellung der Normen Hirschs Meinung nach erforderlich, „um die guten von

den schlechten, die legitimen von den illegitimen Interpretationen unterscheiden zu

können, auch wenn Theorie allein die Natur der Interpretation nicht ändern kann“ (VI,

26). Das einzig überzeugende normative Prinzip der Interpretation für Hirsch ist dann

das alte Ideal der Wiederherstellung des vom Autor gemeinten Sinns des Textes („the

old-fashioned ideal of rightly understanding what the author meant”). Hirschs

125

Argument beruht folglich nicht auf den starken moralischen Argumenten für die

wiedererkennende Interpretation, sondern auf der Tatsache, „daß sie die einzige

Interpretation ist, die ein determiniertes Ziel besitzt und folglich auch die einzige, die

den Anspruch erheben kann, zu gültigen Ergebnissen in einer normalen und

praktischen Sinn des Wortes zu führen“ (PI, 46).

Demnach wird der vom Autor gemeinte Textsinn mit dem Sinn des Textes

gleichgesetzt. Was der Text bedeutet ist das, was der Autor damit sagen will. Insofern

kann Hirschs Hermeneutik als eine Erneuerung der hermeneutischen Konzeptionen

von Schleiermacher, Boeckh und Dilthey betrachtet werden, indem das alte Ideal der

Rekonstruktion des vom Autor gemeinten Textsinns als das normative Prinzip der

Hermeneutik von ihm rehabilitiert und die Möglichkeit objektiv gültiger

Interpretation erneut begründet wird.

Daß Hirsch hier die Mannigfaltigkeit und die Unkontrollierbarkeit der

Interpretation im Hinblick auf das Wesen des Textes und die freie Wahl der

Zielsetzung der Interpretation einsieht, ist deutlich. Es ist auch der Grund dafür, daß

er versucht, den Sinn des Textes durch das Einbeziehen der Autorintention zu

bestimmen und die Möglichkeit der Interpretation dadurch zu beschränken. Aber die

Möglichkeit, die Interpretationen beschränken und unterscheiden zu können, ist nur

ein Grund für die Bestimmung des Textsinns durch den Autor. Es gibt einen noch

wichtigeren Grund bei Hirsch, den Sinn des Textes als „what the author meant“ zu

definieren, nämlich den Sinn der Textinterpretation.

Der Hauptgrund für die Beschäftigung mit Texten, besonders mit alten, liegt

Hirschs Auffassung nach darin, daß dadurch der eigene Horizont erweitert werden

kann, indem man sich die immensen Möglichkeiten menschlichen Tuns und Denkens

erschließt, d.h. indem man sieht und fühlt, was andere gesehen und gefühlt haben, und

weiß, was sie wußten:

126

„the main reason for studying texts, particularly old ones, is to expand the mind by introducing it to the immense possibilities in human actions and thoughts – to see and feel what other men have seen and felt, to know what they have known. Furthermore, none of these expansive benefits comes to the man who simply discovers his own meanings in someone else’s text and who, instead of encountering another person, merely encounters himself “ (VI, 25).

Der Text bedeutet für Hirsch wie für Schleiermacher, Dilthey und Betti die

Artikulation und Objektivierung der Lebenserfahrungen sowie der Gedanken eines

Autors. Das Verstehen und Interpretieren von Texten bedeutet für Hirsch wie für

Dilthey das Sichhineinfühlen bzw. das Nacherleben fremder Lebensäußerungen.

Interpretation ist Nachkonstruktion und Nacherleben des von dem Anderen Erlebten

bzw. Gewußten im Diltheyschen Sinne. Einen Text interpretieren heißt dann, nicht nur

die Gedanken und die Lebenserfahrungen des Autors nachzuvollziehen, sondern dies

auch den anderen Lesern zu vermitteln. Daher ist der Interpret bei Hirsch mehr als ein

Leser. Seine Aufgabe ist über ein bloßes Verständnis hinaus die Rekonstruktion und

das „Verständlichmachen“192. Folglich hat der Interpret die Aufgabe, den Sinn des

Textes, den der Autor durch den Text objektiviert hat, in seiner Interpretation

nachzukonstruieren und den anderen Lesern zu vermitteln bzw. verständlich zu

machen. Daher sagt Hirsch:

„The interpreter’s primary task is to reproduce in himself the author’s ‚logic’, his attitudes, his cultural givens, in short, his world. Even though the process of verification is highly complex and difficult, the ultimate verificative principle is very simple – the imaginative reconstruction of the speaking subject” (VI, 242).

Die primäre Aufgabe des Interpreten ist es dann, die Logik, die Einstellungen, die 192 Das Verständlichmachen als wichtige Aufgabe geisteswissenschaftlicher Interpretation wurde bei Gadamer durchaus außer Acht gelassen und von Frithjof Rodi im Hinblick auf das Problem des Nichtselbstverständlichen und Problematischen besonders hervorgehoben. Dazu Frithjof Rodi: Über einige Grundbegriffe einer Philosophie der Geisteswissenschaften, in: Dilthey-Jahrbuch für Philosophie und Geschichte der Geisteswissenschaften, hg. v. F. Rodi, Bd. 1/1983, S. 13-38.

127

kulturellen Besonderheiten, also die Welt des Autors zu rekonstruieren. Es ist eine

imaginäre Rekonstruktion des sprechenden Subjekts. Insofern hat die Rekonstruktion

des ursprünglich vom Autor gemeinten Sinns des Textes als Aufgabe der

Interpretation den Vorrang.

3.1.2. Ethische Dimension der Interpretation von kulturell Fremdem

Als erster der Gegenwartswissenschaftler hat Hirsch die ethische Dimension der

allgemeinen Hermeneutik Schleiermachers hervorgehoben193. Hirsch weist in dem

Aufsatz Three Dimensions of Hermeneutics194 darauf hin, daß es eine Verwechselung

von drei verschiedenen Dimensionen der Interpretation in den Diskussionen über

Hermeneutik gibt, die für den Streit zwischen verschiedenen Interpretationstheorien

verantwortlich ist. Hirsch meint, man sollte die deskriptive, die normative und die

metaphysische Dimension der Hermeneutik voneinander unterscheiden, welche auf

jeweils verschiedene Ausrichtungen der Interpretationstheorien verweisen. Die

deskriptive Hermeneutik behandelt hauptsächlich eine Analyse des üblichen

Verfahrens und des Wesens der Interpretation, während es bei der normativen

Hermeneutik um die Zielsetzung und Aufgabenbestimmung der Interpretation geht.

Unter metaphysischer Hermeneutik versteht Hirsch die hermeneutische Philosophie

der Heidegger-Schule, die durch ihren historischen Skeptizismus im Geschäft der

Interpretation einen Verlust von Orientierungsvermögen hervorbringen kann.

Als Beispiel für die normative Dimension der Interpretation wählt Hirsch den Streit

zwischen der anachronistischen bzw. allegorischen und historischen

193 Vgl. den Hinweis von Scholtz. Nach Scholtz ist Hirsch als der erste, der die ethische Dimension der Hermeneutik bei Schleiermacher nachweist. Gunter Scholtz: Ethik und Hermeneutik, Frankfurt a. M. 1995, S. 144. 194 Eric Donald Hirsch: Three Dimensions of Hermeneutics, in: New Literary History, III (1972) 2, S. 245-262, auch in: ders.: The Aims of Interpretation, a. a. O., S. 74-92.

128

Interpretationstheorie, die sich über „die beste Interpretation“ streiten und die seiner

Meinung nach aus ethischen Motiven entstanden sind. Hirschs Beispiele hierfür sind

die mittelalterliche Exegese und der hermeneutische Kanon der Interpretation von

Schleiermacher. Für die Interpreten des Mittelalters war die christliche Allegorese von

Texten Homers und Virgils als anachronistische Interpretation besser als die

historische Rekonstruktion des originären, nicht-christlichen Sinns. Durch den

Schleiermacherschen Kanon, daß „alles was noch einer näheren Bestimmung bedarf

in einer gegebene Rede, nur aus dem dem Verfasser und seinem ursprünglichen

Publikum gemeinsamen Sprachgebiet bestimmt werden“ 195 darf, wurden solche

anachronistischen Allegorien jedoch illegitim, da Homer und Virgil eben nicht

christlich waren und die christliche Bedeutung nicht intendiert haben könnten. Daß

aber ein antiker Text im Mittelalter als christliche Allegorie interpretiert worden war,

zeigt wiederum, daß er eben so interpretiert werden kann. Insofern ist das

mittelalterliche Prinzip logisch gesehen stärker als der Kanon von Schleiermacher,

denn: „the nature of a text is to mean whatever we construe it to mean“ (AI, 75).

Das bedeutet aber, daß Schleiermachers Bevorzugung der Rekonstruktion des

originären Sinns als Aufgabe der Interpretation weder von der empirischen

Wirklichkeit noch von der theoretischen bzw. logischen Notwendigkeit, sondern von

einer ethischen Entscheidung her zu erklären ist, welche auf einem Wert-Vorrang

(„value-preference“) beruht. „His preference for original meaning over anachronistic

meaning is ultimately an ethical choice,” behauptet Hirsch (AI, 77). Ein solcher

hermeneutischer Kanon enthält die normative Dimension der Interpretation und stellt

eben die ethische Dimension der Hermeneutik dar. Der Grund für die Bevorzugung

des originären Sinns durch einen Humanisten der Renaissance oder einen Romantiker

wie Schleiermacher liegt Hirschs Meinung nach in folgender Annahme: „every 195 Schleiermacher: Hermeneutik, hg. v. Heinz Kimmerle, Heidelberg 1959, S.90.

129

culture has infinite value in its own right; each culture is a note in the divine

symphony, as Herder rhapsodize; or as Ranke preached, every age is immediate to

God“ (AI, 78). Jede Zeitepoche, jede Nation und jede Kultur soll in ihrer

Individualität, in ihrer Einzigartigkeit begriffen und verstanden werden, weil jede

Zeitepoche und jede Kultur ihre eigenen Werte in sich enthält.196 Dies sind eben die

Grundideen des „älteren Historismus“197 aus dem 18. Jahrhundert. Nach Hirsch

beginnt der Historismus mit dem Glauben an eine göttliche Gegebenheit der Kulturen,

„with the belief that all human cultures were immediate to God; that was its root

concept in its inaugural years from Herder to Ranke. Every cultural era was, to use

Herder’s metaphor, another melody in the divine symphony, and every melody had its

own divine individuality.” Dieser Historismus bestehe auf dem Eigenwert der

Kulturen: “every culture was worth knowing for its own sake, as ‘it really was’” (VI,

40f). Die Individualität, die Einzigartigkeit und der Eigenwert aller Zeitepochen und

jeder Kultur war der Ansatzpunkt der Hermeneutik der Romantik und des historischen

Bewußtseins am Ende des 18. und im 19. Jahrhundert. Die Forderung nach

196 Zur Kulturphilosophie und Geschichtsphilosophie Herders siehe: Johann Gottfried Herder. Geschichte und Kultur. Hg. von Martin Bollacher, Würzburg 1994; Nationen und Kulturen. Zum 250. Geburtstag Johann Gottfried Herders. Hg. von Regine Otto, Würzburg 1996, und weitere Literatur dort. 197 Über den Begriff des »Historismus« und seinen geschichtlichen Wandel siehe die einschlägige Untersuchungen von Gunter Scholtz: Das Historismusproblem und die Geisteswissenschaften im 20. Jahrhundert, in: ders.: Zwischen Wissenschaftsanspruch und Orientierungsbedürfnis. Zur Grundlage und Wandel der Geisteswissenschaften , Frankfurt a. M. 1991, S. 130-157, und weitere Literatur dort. Unter dem Begriff des Historismus sind nach Scholtzs Untersuchung fünf Grundbedeutungen zu unterscheiden: 1. universelle geschichtliche Betrachtung, 2. Geschichtsmetaphysik, 3. Romantizismus und Traditionalismus, 4. Objektivismus und Positivismus, 5. Relativismus. Der ältere Historismus bezieht sich hier auf die 1. und 2. Bedeutung, für welche die ganze Geschichte der Menschheit vernünftig und göttlich sei. Der Historismus bedeutet hier „die Ausweitung der geschichtlichen, genetischen Betrachtungsweise auf alle Phänomene der Kultur, also universelle geschichtliche Betrachtung der menschlichen Welt, die dadurch als geschichtliche, als geschichtsbestimmte Welt in den Blick kommt.“ Unter den Vertretern des älteren Historismus werden W. von Humboldt und J. G. Droysen eingeordnet. Nach Scholtz bilden historischer Positivismus und Relativismus die beiden Seiten des Historismusproblems der Gegenwart. Mehr dazu, ders.: Zum Historismusstreit in der Hermeneutik, in: Historismus am Ende des 20. Jahrhunderts, hg. v. G. Scholtz, Berlin 1997, S. 192-214; Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme. Das logische Problem der Geschichtsphilosophie, Aalen 1977 (2. Neudruck der Ausg. Tübingen 1922); Friedrich Meinecke: Die Entstehung des Historismus, Werke Bd. 3, hg. u. eingeleit. v. Carl Hinrichs, München 1965; ders.: Zur Entstehungsgeschichte des Historismus und des Schleiermacherschen Individualitätsgedankens. Werke, Bd. 4, Stuttgart 1959, S. 341-357.

130

Perspektivenerweiterung und Erfahrungsgewinnung durch die hermeneutische Praxis

und durch Aneignung fremder Sichtweisen gehört eben dem Ideal des älteren

Historismus an198. Gegenwärtige Diskussionen über die Möglichkeit‚ interkultureller

Vermittlung’ der Kulturverständnisse könnten auf das romantische Ideal des

kulturellen Pluralismus zurückgeführt werden199.

Dennoch, dieses romantische Ideal des kulturellen Pluralismus und der damit

verbundene wissenschaftliche Anspruch auf eine Objektivität des Verstehens und

Interpretierens gegenüber vergangenen Zeitepochen und fremden Kulturen wurde

zum Beginn des 20. Jahrhunderts von Vertretern des »radikalen Historismus« von

verschiedenen Seiten her in Frage gestellt. Die Betonung der Individualität

verschiedener Kulturen wurde Hirschs Ansicht nach später zum Anlaß, eine

unüberbrückbare Kluft zwischen den Kulturen zu sehen. “The earlier emphasis on

individuality which had given significance to the study of other cultures in their own

right became, by one or two turns of the Hegelian gyre, an emphasis on the

impossibility of studying other cultures in their own right,“ so Hirsch in einem

Hinweis auf den Wandel des Historismus zum radikalen Historismus (VI, 41).

Die Ursache dieses Wandels sieht Hirsch vor allem in der Idee der

„Geschichtlichkeit“ 200 , die als eine Art Bedingtheit des Menschen durch die

Geschichte in Diltheys Konzeption des historischen Bewußtseins201 auftaucht, die

198 Vgl. dazu Gunter Scholtz: Historismus und Wahrheit in der Wissenschaftstheorie, in: ders.: Zwischen Wissenschaftsanspruch und Orientierungsbedürfnis, a. a. O., S. 158-200, hier S. 176. 199 Nach Bollacher kannte Herder zwar den Begriff der ‚interkulturellen’ Vermittlung noch nicht, „orientierte sich aber in seinem Denken und Schreiben an einem Kulturverständnis, das das eigene Volk wie die Völker dieser Erde sowohl in ihrem individuellen Soseins als auch in ihrem unlösbaren gegenseitigen Verflochtensein zu würdigen wußte.“ Martin Bollacher (Hg.): Johann Gottfried Herder. Geschichte und Kultur, Würzburg 1994, Vorwort. 200 Über den Wandel und die damit verbundenen Problematik des Geschichtlichkeitsbegriffs siehe die Untersuchung von Ludwig von Renthe-Fink: Geschichtlichkeit. Ihr terminologischer und begrifflicher Ursprung bei Hegel, Haym, Dilthey und York, Göttingen 1968, und die Abhandlung von Gerhard Bauer, »Geschichtlichkeit«. Wege und Irrwege eines Begriffs, Berlin 1963. 201 Hirsch bezieht sich hier auf den Satz von Dilthey: „denn man stösst hier eben an die Geschichtlichkeit des menschlichen Bewusstseins als eine Grundeigenschaft desselben“, aus den Gesammelten Schriften, Bd. VIII , hg. v. Georg Misch, S. 38. Es ist zu bemerken, daß der Begriff der

131

aber schon bei Herder202 angelegt und später von Heidegger203 radikalisiert wurde:

„From Dilthey’s conception that human consciousness was constituted by its historical givens – an idea that was implicit in Herder – it was not a very long step to Heidegger’s conception of the temporality and historicity of human being” (ebd.).

Nach Hirsch gehören der Pragmatismus der Jurisprudenz, die Bultmann-Nachfolger in

der Theologie sowie die Literaturtheorie der semantischen Autonomie, vor allem aber

die Hermeneutik von Heidegger und Gadamer zum radikalen Historismus, welcher

das Geschäft der wiedererkennenden Interpretation durch die Behauptung bedrohe,

daß die Vergangenheit uns wesentlich fremd wurde, so daß wir keinen authentischen

Zugang mehr zu ihr haben und den Sinn älterer Texte nicht, wie er wirklich war,

verstehen können (VI, 40). Solche Betonung von radikaler Differenz der Kulturen und

der Zeitepochen neigt Hirschs Meinung nach dazu, das Gefühl für Gemeinsamkeit bei

allem historischen Wandel auszulöschen:

„[T]he popular emphasis on the radical difference of cultural eras – or even on the radical difference between one decade and another – has tended to obliterate

Geschichtlichkeit bei Dilthey vieldeutig ist, und die Bedingtheit des Menschen durch die Geschichte nur eine davon ist, wie Gerhard Bauer herausgearbeitet hat. Siehe Bauer: a.a.O. „Diltheys Historismus“, in: ders.: »Geschichtlichkeit «, S. 60-72, bes. S. 63f. 202 Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Hg. v. Martin Bollacher, Frankfurt a. Main 1989. Nach Simon wird Herders Historismus „durch die Momente der Einfühlung in vergangene geschichtliche Gestalten, der Auffassung ihrer irreduziblen Individualität, des Verbots ihrer Vergleichbarkeit und der Ablehnung von Wertmaßstäben beschrieben.“ Ralf Simon: Historismus und Metaerzählung. Methodische Überlegungen zur Erzählbarkeit von Geschichte in Herders Geschichtsphilosophie. In: Nationen und Kulturen, a.a.O., S. 77-95. Zit. S. 77. Über den Historismus Herders siehe: Johann Gottfried Herder. Geschichte und Kultur. Hg. von Martin Bollacher, Würzburg 1994, und weitere Literatur dort. 203 Zum Begriff und Problem der Geschichtlichkeit bei Heidegger vergleiche die Untersuchung von Karlfried Gründer: Martin Heideggers Wissenschaftskritik in ihren geschichtlichen Zusammenhängen, in: ders.: Reflexion der Kontinuitäten. Zum Geschichtsdenken der letzten Jahrzehnten, Göttingen 1982, S. 29-47. Nach Gründer bedeutete Geschichtlichkeit bei Heidegger die Eigentlichkeit des Daseins, die in der Jemeinigkeit und der Jeweiligkeit des Daseins liege und eine Leugnung einer Wesensallgemeinheit des Menschen bedeutete. Dies würde Gründers Meinung nach gerade eine neue Aporie in Heideggers Denken bilden, denn „die Leugnung einer Wesensallgemeinheit des Menschen muß unvermeidbar als eine allgemeine Kennzeichnung des menschlichen Daseins erscheinen. Heidegger spricht ja nicht von diesem oder jenem Menschen als diesem oder jenem, sondern seine Phänomenologie formalisiert die Geschichtlichkeit als solche.“

132

sensitivity to sameness amid historical change and has lent broad credence to the view that we cannot ‚truly’ understand the texts of another age” (VI, 42).

Damit wird nicht nur die Möglichkeit eines gleichen Verständnisses von historischen

Texten, sondern auch die Möglichkeit des Verständnisses von fremden Kulturen in

Frage gestellt. Folglich wird auch das Gefühl für die Gemeinsamkeiten der Kulturen

und der Menschheit von einer Auslöschung bedroht. Insofern stehen die

hermeneutischen Überlegungen über die Notwendigkeit und Möglichkeit

rekonstruktiver Interpretation bei Hirsch nicht nur im Kontext des Historismusstreits

um die Möglichkeit allgemeingültiger Erkenntnisse von der Geschichte, sondern auch

im Kontext des Streites um die Bedeutung und die Verstehbarkeit des kulturell

Fremden.

Wir erinnern uns daran, daß sowohl bei Schleiermacher als auch bei Dilthey die

Betonung der Individualität der Sprachen und der Kulturen in den

geisteswissenschaftlichen Forschungen auf die Überschreitung der Schranken eigener

Zeitepochen und eigener Kultur, also auf die Erweiterung eigener Horizonte und die

Bereicherung der Kenntnisse der Menschheit abzielt, wie wir im ersten Kapitel

gezeigt haben. Die Betonung der Individualität bzw. Verschiedenheit der Sprachen

und der Kulturen bei Schleiermacher und Dilthey ist jedoch unter der Voraussetzung

der gemeinsamen Menschennatur zu verstehen, die als Voraussetzung für die

Möglichkeit des Verstehens der Menschen untereinander überhaupt gilt, die aber von

Gadamer im Hinblick auf die Geschichtlichkeit des Daseins und des Verstehens als

„ungeschichtliches Substrat“ verworfen wurde, wie wir im 2. Kapitel gezeigt haben.

In dem hier aufgezeigten Zusammenhang unterscheidet Hirsch jedenfalls vorsichtig

zwischen „radikalem Historismus” und der allgemeinen Konvention, daß jede Zeit die

Texte der Vergangenheit für sich selbst re-interpretieren solle (VI, 42). Er meint, die

allgemeine Konvention „that every age must reinterpret for itself the texts of the past”

133

ist nicht mit dem Dogma des radikalen Historismus gleichzusetzen, „that every age

understands the texts of the past differently, and that no age truly understands them as

they were“, weil Re-Interpretation und das „Anders-verstehen“ nicht dasselbe sind.

Für Hirsch ist das Verstehen etwas anderes als die geschriebene Interpretation, auch

wenn in der Interpretation das Verstandene dargestellt wird. Das Verstehen vollzieht

sich in der Sprache des Textes, die geschriebene Interpretation aber ist Auslegung: sie

stellt das Verstandene in eigener Sprache dar. Die Auslegung oder Interpretation fällt

je nach Adressat und Situation verschieden aus. Vor allem in der Gleichsetzung von

Interpretation und Anders-Verstehen wird die unvermeidbare Verschiedenheit der

Verständnisse in den Vordergrund gestellt. Die Möglichkeit eines gleichen

Verständnisses bzw. allgemeingültigen Wissens in der historischer Rekonstruktion

wird jedoch ausgeschlossen.

Insofern liegt es für Hirsch nahe, eine Kritik an Heideggers hermeneutischer

Philosophie und Gadamers philosophischer Hermeneutik zu üben. Heideggers

Konzeption von Welt und „hermeneutischem Zirkel“ sind seiner Meinung nach nicht

nur unfruchtbar sondern schädlich für die Praxis der Interpretation.

3.1.3. Unzulänglichkeit metaphysischer Hermeneutik

Nach Hirsch ist Heideggers Expansion des hermeneutischen Zirkels eine

Hervorhebung der „Welt“ als einem Ganzen, das nicht nur das Verfahren der

Textinterpretation, sondern auch all unser Wissen und all unsere Erfahrungen

vorbestimmt. Folgt man der These Heideggers, dann wäre die geschichtliche Welt all

unseren Erfahrungen vorgegeben und folglich auch konstitutiv für jede

Textinterpretation. Unsere Gegenwart wäre dann bloß die Folge aus dem

Vorgegebenen und Vorgeschehenen. Trifft dies zu, so wäre der wissenschaftliche

134

Anspruch auf die Objektivität historischer Rekonstruktion eine Illusion, weil wir

unsere eigene Welt nicht ausschließen können, in welcher und durch welche allein die

Vergangenheit sich uns zeigt.

Indessen scheint die Anwendung solcher metaphysischer Überlegungen auf die

Textinterpretation für Hirsch voreilig zu sein, und zwar aus zwei Gründen. Erstens:

die metaphysische Hermeneutik Heideggers „says nothing about subtle questions of

degree” (AI, 82, Hervorhebung von mir). In der metaphysischen Hermeneutik wird

zwar argumentiert, daß in jeder historischen Rekonstruktion bestimmte

anachronistische Züge unentbehrlich sind, aber über die graduellen Unterschiede und

Gemeinsamkeiten der Interpretationen kann diese Metaphysik nichts sagen: “It argues

that some degree of anachronism is necessarily present in any historical

reconstruction, but as to whether a particular reconstruction is severely or trivially

compromised the principle says nothing” (AI, 83). Hirsch führt hierzu die

Hamlet-Rezeption der vergangenen Jahrhunderte als Beispiel an.

Die Geschichte der Interpretation zeigt Hirschs Meinung nach, daß es

bemerkenswerte Gemeinsamkeiten in der Hamlet-Rezeption des 19. und 20.

Jahrhunderts und eindeutige Konflikte der Interpretationen innerhalb des jeweiligen

Jahrhunderts gibt. “Obviously, the pre-given historical world cannot be the decisive

factor that accounts in such cases for the similarities between different periods or the

un-reconcilable differences of interpretation within the same period” (AI, 82f).

Folglich kann die vorgegebene historische Welt nicht der entscheidende Faktor für die

Erklärung der Ähnlichkeiten der Interpretationen zwischen verschiedenen

Zeitepochen und der unübersehbaren Verschiedenheit der Interpretationen innerhalb

der gleichen Periode sein. Analog dazu kann die vorgegebene historische Welt die

Gemeinsamkeiten der Weltanschauungen verschiedener Kulturen und die

Verschiedenheit der Weltanschauungen innerhalb gleicher Kulturtraditionen auch

135

nicht erklären, wenn wir den Begriff Kultur im weitesten Sinne verstehen. Das gilt

auch für das Verstehen der Menschen untereinander, intra- und interkulturell

betrachtet.

Hirschs Argument gegen die Radikalisierung der Verschiedenheit geschichtlicher

Interpretationen der Zeitepochen und der Kulturen in der hermeneutischen

Philosophie Heideggers basiert darauf, daß es nicht nur Verschiedenheiten, sondern

auch Gemeinsamkeiten zwischen den Interpretationen verschiedener Zeitepochen gibt,

was auch auf die Möglichkeit eines gemeinsamen bzw. allgemeingültigen

Verständnisses, eines Konsenses hinweist, was wiederum die Möglichkeit

allgemeingültigen Verstehens und Interpretierens von fremden Texten und fremden

Kulturen aufzeigt. Die Geschichtlichkeit als die Geworfenheit und Bedingtheit des

menschlichen Daseins bei Heidegger hingegen suggeriert eher eine absolute

Verschiedenheit und Andersheit der Menschen, der Zeitepochen und der Kulturen und

bedeutet so eine Leugnung der Wesensallgemeinheit des Menschen und der

Möglichkeit der Allgemeingültigkeit geschichtlicher Erkenntnisse.

Ein noch wichtigerer Grund für Hirsch, sich gegen Heideggers „metaphysische

Hermeneutik“ auszusprechen, liegt darin, daß Heideggers Konzeption vom

hermeneutischen Zirkel in entscheidender Hinsicht falsch sein kann. Das Prinzip des

hermeneutischen Zirkels “does not lead inevitably to dogmatic historical skepticism,”

behauptet Hirsch. Wenn eine Interpretation auf die ganze Welt des Interpreten gebaut

wäre, dann würde sie zweifellos anders ausfallen als irgendein vergangener Sinn, da

die ganze geistige Welt einer Person anders ist als die geistige Welt vergangener

Zeiten. Dennoch bleibt es für Hirsch fraglich, ob das Ganze (hier die Welt des

Interpreten), welches den Sinn bzw. unser Verstehen vor-strukturiert bzw.

vor-bestimmt, auf diese Weise verstanden werden muß. Hirsch meint:

136

“The very introduction of »historicity« as a chief characteristic of Welt means

that a boundary has been drawn, since historicity is not the chief component of a person’s spiritual world. It is, rather, a limited domain of shared cultural experience apart from the bigger domain of unshared experience that makes up a person’s world” (AI, 83).

Die Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins kann daher nicht der

Hauptbestandteil der geistigen Welt einer Person sein. Sie ist vielmehr nur ein

beschränkter Bereich der geteilten kulturellen Erfahrung, welche sich von dem

größeren Bereich der ungeteilten Erfahrung unterscheidet, die die Welt einer Person

bildet. Insofern gilt es nach Hirsch, die Welt, die eine Interpretation vorstrukturiert, als

„a highly selective sub-cosmos of an interpreter’s world” zu betrachten. (AI, 84).

Im Hinblick auf die Bedingungen des Verstehens ist es nicht die Welt des

Interpreten, auch nicht der ontologisch angedeutete hermeneutische Zirkel, worin der

Interpret geworfen ist bzw. sich befindet, die über den Sinn des zu verstehenden

Textes entscheiden, sondern die bezüglich des Verstehens des Textes benötigten

Vorkenntnisse, die einen höchst selektiven Subkosmos des Interpreten ausmachen.

Das heißt, die Verstehbarkeit des Textes hängt nicht von der ganzen Welt des

Interpreten ab, sondern von der auf den Text bezogenen spezifischen Welt der

Vorkenntnisse des Interpreten, die aus den erlernten sprachlichen Normen und

Konventionen entstanden sind.

Das gleiche gilt auch für seine Kritik an der Konzeption der „Zugehörigkeit“ zur

Tradition bei Gadamer. Bei Gadamer werden die Vorurteile und die Zugehörigkeit zur

Tradition zu Grundbedingungen des Verstehens erhoben. Nach Hirsch kann Gadamers

Konzeption von Tradition jedoch nicht als der entscheidende Faktor bzw. das

normative Prinzip für die Interpretation gelten.

137

„For the concept of tradition with respect to a text is no more or less than the history of how a text has been interpreted. Every new interpretation by its existence belongs to and alters the tradition. Consequently, tradition cannot really function as a stable, normative concept, since it is in fact a changing, descriptive concept” (VI, 250).

Hirschs Pointe besteht darin, daß Gadamers Konzeption der Tradition nichts anderes

als die Geschichte der Textinterpretation bedeutet. Nach dieser Konzeption würde

jede neue Interpretation nicht nur der Tradition zugehören, sondern auch die Tradition

selbst gleich verändern, denn Gadamer selbst hat gesagt: „Tradition ist selbst nur in

beständigem Anderswerden“204. Das heißt, die Tradition ändert sich mit jeder neuen

Interpretation. Sie ist in Wirklichkeit ein sich ständig änderndes Konzept. Folglich

kann „Tradition“ Hirschs Meinung nach nicht als ein stabiles und normatives Prinzip

der Interpretation gelten.

Dagegen versucht Hirsch, dem romantischen Ideal vom kulturellen Pluralismus

folgend, in seinen hermeneutischen Schriften „the original meaning“ (of the author)

als „the best meaning“ und „the dominant ethical norm for interpretation“ zu

begründen, nicht nur, weil alle gültige Interpretation auf das Wiedererkennen des vom

Autor gemeinten Textsinns gegründet ist, sondern auch weil es für ihn „verständlicher

und humanistischer ist, die Pluralität der Kulturen zu empfangen als in eigener

Tradition und eigener Kultur gefangen zu bleiben“ (VI, 248). Diese Idee kann als

Hirschs Gegenthese und Kritik an der Radikalisierung des Geschichtlichkeitsbegriffs

bei Heidegger und Gadamer betrachtet werden, welcher zum ontologischen Begriff

des hermeneutischen Zirkels umgedeutet wurde und die faktische Bedingung und

Beschränkung alles Verstehens der Menschen darstellt.

Hirsch gibt zu bedenken, ob Metaphysik „irgendeine praktische Natur für die

hermeneutische Theorie anbietet“ (AI, 84). Die Gründe seiner Zweifel an der 204 Gadamer: Replik zu »Hermeneutik und Ideologiekritik«, Ges. Werke, Bd. 2, S. 251-275, hier S. 268.

138

Fruchtbarkeit der Heideggerschen Hermeneutik für die Praxis der Interpretation

liegen darin, daß die metaphysische Hermeneutik Heideggers sowohl bei der

Entscheidung für Aussagen der Interpretation als auch für die Begründung der

Entscheidung zwischen verschiedenen Aufgaben der Interpretation machtlos sei (AI,

85). „It does not demonstrate that fairly accurate reconstruction is impossible; it does

not […] even prove that absolutely accurate reconstruction doesn’t actually occur, for

metaphysics has no power to legislate what is or is not the case in the realm of the

possible. It cannot, therefore, help us in specific instances,” erklärt Hirsch (AI, 84).

Folglich können die Zielsetzungen der Interpretation Hirschs Meinung nach weder auf

die Metaphysik noch auf die neutrale Analyse des Wesens der Interpretation

gegründet werden. “We have to enter the realm of ethics. For, after rejecting

ill-founded attempts to derive values and goals from the presumed nature of

interpretation, or from the nature of Being, what really remains is ethical persuasion,”

so Hirsch (ebd.).

Der Zweifel an der Möglichkeit objektiven Verstehens ist darauf gegründet, daß die

Standortgebundenheit des Verstehenden unentbehrlich bleibt, d.h. daß wir nicht

vorurteilsfrei einen Text verstehen können, wenn wir dazu benötigte Vorkenntnisse

oder Vorverständnisse mit Gadamer schlicht „Vorurteile“ nennen. Dennoch scheint es

gerade verwirrend zu sein, Vorverständnis mit Vorurteilen zu verwechseln und aus

diesem Grund den Objektivitätsanspruch abzulehnen. Denn Objektivität der

Interpretation liegt Hirschs Auffassung nach nicht darin, daß wir mit Sicherheit den

Sinn des Textes vollkommen bzw. vollständig rekonstruieren können, sondern darin,

daß es für diejenigen allgemein möglich sei, den originären Sinn des Textes

wiederzuerkennen, die sich bemühen, sich mit der Sprache des Textes und des Autors

vertraut zu machen und sich dem Sinn des Textes schrittweise anzunähern, auch wenn

die Rekonstruktion immer unvollkommen bleiben muß.

139

Hirsch geht davon aus, daß wissenschaftliche Interpretation nicht nur mit der

Wissenschaftlichkeit der Interpretation zu tun hat, sondern auch im Zusammenhang

des sozial-ethischen Verhältnisses zwischen Text, Autor und Interpret begriffen

werden muß, weil der Text für ihn stets der Text eines Anderen ist und die Interpreten

die Vermittlung des Aussagesinnes eines Anderen als Fremden zur Aufgabe haben.

Textinterpretation schließt bei Hirsch eine ethische Haltung gegenüber dem Autor als

einem Anderen ein. Dazu gehört eben die möglichst treue Vermittlung des vom Autor

als einem Anderen intendierten Textsinns bzw. Aussagesinns. Das betrifft aber nicht

nur das Verstehen und Interpretieren klassischer Texte oder Texte in fremden

Sprachen, sondern auch das Verstehen und Interpretieren zeitgenössischer,

fremdkultureller Reden und Lebensäußerungen. Dabei sollte die Möglichkeit

wiedererkennender Interpretation als Rekonstruktion des ursprünglich vom Autor

gemeinten Sinns des Textes ihr Recht zurückerhalten. Das Problem für ihn bleibt dann

zu zeigen, daß der vom Autor intendierte Wortsinn determiniert und reproduzierbar ist.

Dafür wird nicht nur eine Erklärung der Bestimmbarkeit und Wiedererkennbarkeit des

Textsinns erforderlich, sondern auch eine wissenschaftlich begründete Norm für die

Gültigkeit der Interpretation notwendig

Hieraus läßt sich erkennen, daß das Problem des Fremden in der Hermeneutik bei

Hirsch sich um die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit und Gültigkeit

wiedererkennender Interpretation von fremden Texten und fremden Kulturen dreht

und mehr aus ethischen und humanistischen als aus wissenschaftstheoretischen

Gründen behandelt wird. Insofern kann die hermeneutische Theorie von Hirsch als

eine Hermeneutik des Fremden verstanden und im Kontrast zu Gadamers

„Hermeneutik der Traditionsaneignung“ betrachtet werden.

Im folgenden werden wir darauf eingehen, wie die Möglichkeit des Verstehens und

der wiedererkennenden Interpretation bei Hirsch auf der Determiniertheit und

140

Reproduzierbarkeit des vom Autor intendierten Sinns des Textes basiert und wie die

Objektivität und die Gültigkeit rekognitiver Interpretation davon ausgehend begründet

wird.

3.2. Bedingungen der Möglichkeit rekonstruktiver Interpretation

Die Verstehbarkeit und Wiedererkennbarkeit des Textsinns wird bei Hirsch anhand

der Erhebung der Determiniertheit und der Reproduzierbarkeit des Wortsinns im

Hinblick auf die „Doppelseitigkeit der Rede“ („the double-sidedness of speech“) unter

den allgemeinen Normen der Sprache und dem individuellen Prinzip der

Autorintention erklärt. Dabei wird eine Dialektik von Hypothesenbildung und

Hypothesenbestätigung aus der Genre-Konzeption und dem „Genre-Trait-Modell“ als

ein progressives Verfahren der Interpretation und als eine moderne Version des

hermeneutischen Zirkels herausgestellt.

3.2.1. Determiniertheit und Reproduzierbarkeit des Wortsinns

Hirsch geht davon aus, daß alle Formen geschriebener Interpretation und alle

interpretativen Ziele, die über ein bloß privates Erlebnis hinausgehen, es erfordern,

daß der Sinn von irgendeinem Autor determiniert und reproduzierbar sein muß. Denn

„selbst wenn der ursprüngliche Autor abgelehnt oder nicht beachtet wird, bildet doch

jede Auslegung des Textes einen Sinn, der einen Autor besitzen muß, wenigstens den

Kritiker selbst,“ argumentiert Hirsch (PI, 46; vgl. VI, 27). Der Sinn des Autors, auf

den die „rekognitive“ Interpretation abzielt, soll daher als die Grundlage für alle

anderen interpretativen Ziele gelten.

Hirsch vertritt die These, daß die Rede von Natur aus doppelseitig ist, weil Rede

141

nicht bloßer Sinn-Ausdruck („expression of meaning“) ist, sondern auch

Sinn-Interpretation („interpretation of meaning“) bedeutet: “each pole existing

through and for the other, and each completely pointless without the other“ (VI, 68).

Das bedeutet, daß die Rede sowohl mit der „Besonderheit des Sinnes“ („the

particularity of meaning“) als auch mit der „Gemeinschaftlichkeit der

Interpretation“ („the sociality of interpretation“) zu tun hat.

Das erinnert an Schleiermachers Ausführungen über die Vermittlungsfunktion der

Rede und „die zwei Momente, worauf sich alles Verstehen bezieht“ (HK, 80ff). Nach

Schleiermacher ist das Reden „die Vermittlung für die Gemeinschaftlichkeit des

Denkens“ und „die Vermittlung des Denkens für den Einzelnen“ (HK, 80). Jede Rede

setzt eine gegebene Sprache voraus, und „die Mitt[h]eilung se[t]zt auf jeden Fall die

Gemeinschaftlichkeit der Sprache [,] also eine gewisse Kenntniß derselben

voraus“ (ebd.). Die Gemeinschaftlichkeit der Sprache bedeutet eben die Teilbarkeit

bzw. die Mitteilungsfunktion der Sprache, durch welche Menschen einander verstehen

und miteinander Gedanken austauschen können. „Wie jede Rede eine zwiefache

Beziehung hat auf die Gesammtheit der Sprache und auf das gesammte Denken ihres

Urhebers: so besteht auch alles Verstehen auf den zwei Momenten[:] die Rede zu

verstehen als herausgenommen aus der Sprache und sie zu verstehen als Thatsache im

Denkenden,“ sagt Schleiermacher (HK, 81). Demnach ist jede Rede sowohl auf die

Gesamtheit der Sprache als auch auf die individuellen Gedanken des Sprechers

bezogen.

Angesichts dieser Doppelseitigkeit der Rede kann der Sinn der Rede nur aufgrund

der Kenntnisse der in der Rede gesprochenen Sprache und der Kenntnisse der

subjektiv bedingten Verwendungsweise und Mitteilungsintention des Sprechers

verstanden werden, was zugleich für Hirsch ein Paradox bedeutet, weil die

allgemeinen Normen der Sprache sehr umfangreich und variable sind, während die

142

Normen für die Bestimmung des Sinnes einer bestimmten sprachlichen Äußerung wie

einer Rede oder eines Textes definitiv und determinierend sein müssen (VI, 69).

Um dieses Paradox zu lösen hat Hirsch sich auf die Sprachtheorien von Cassirer205

und Saussure 206 berufen. Nach Hirsch ist der Wortsinn bei Cassirer aus den

wechselseitigen Bestimmungen von objektiven sprachlichen Möglichkeiten und

subjektiven Spezifikationen solcher Möglichkeiten entstanden. Der Wortsinn ist der

innerhalb der Möglichkeiten der sprachlichen Normen durch die subjektive

Spezifikation des Autors entstandene Sinn des Wortes. „Ebenso wie die Sprache

Subjektivität bildet und färbt, färbt auch die Subjektivität die Sprache. Der subjektive

Akt des Autors oder Sprechers ist für den Wortsinn unentbehrlich; jede Theorie, die

den Autor als sinnbestimmendes Element abschaffen will, indem sie behauptet, der

Textsinn sei völlig objektiv determiniert, jagt Truggebilden nach,” betont Hirsch (PI,

280, vgl. VI, 225f). Der subjektive Akt eines Autors oder Sprechers ist der

notwendige Faktor für die Bestimmung des Wortsinns eines Textes bzw. einer Rede.

Hirschs Pointe besteht darin, daß ohne die subjektive Bestimmung des Sprechers der

Sinn des Wortes bzw. des Textes unbestimmbar wäre. Die Doppelseitigkeit der Rede

bzw. des Textes wird als die wechselseitige Abhängigkeit des Wortsinns von

allgemeinen Normen der Sprache und individueller Intention des Autors dargestellt.

Saussures Unterscheidung zwischen langue (“Sprache”) als dem „System der

sprachlichen Möglichkeiten” („the system of linguistic possibilities shared by a

speech community at a given point of time“) und parole (“Rede”) als “Wirklichkeit”

(„the actual verbal utterances of individuals who draw upon it”) hat eine ähnliche

Bedeutung für Hirsch. „Ein Text kann nur die ‘parole’ eines Sprechers oder Autors

205 Siehe Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen, Bd.1, Die Sprache, Darmstadt 2. Aufl. 1953. 206 Siehe Ferdinand de Saussure: Course de linguistique générale, englische Übersetzung: Course In General Linguistics, eds. C. Bally and A. Sechehaye, trans. W. Baskin, New York 1959; deutsche Übersetzung: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, hg. v. C. Bally, Berlin 1967.

143

repräsentieren,“ sagt Hirsch (VI, 234). Das bedeutet nämlich, daß eine Rede oder ein

Text eines Sprechers oder eines Autors bedarf. Saussures Unterscheidung zwischen

Sprache als den Möglichkeiten innerhalb eines gegebenen sprachlichen Systems und

Rede als wirklicher sprachlicher Äußerung eines Individuums ist für Hirsch wichtig,

weil die Determiniertheit des Textsinns durch die beimmende Intention des Sprechers

festgestellt und die besonderen Probleme bei umstrittenen Texten durch die Sprache

als sprachlichen Möglichkeiten geklärt werden könnten (VI, 232f).

3.2.2. Autorintention und Teilbarkeit der Sprache

Die Doppelseitigkeit der Rede und die wechselseitigen Bestimmungen des

Wortsinns durch allgemeine sprachliche Normen und individuelle subjektive Willen

zeigen, daß sowohl „the determining will of an author” als auch “the norms of

language” den Sinn der Rede bestimmen, sie beide “expose an unavoidable limitation

on the possibilities of verbal meaning“ (VI, 27f). Die Möglichkeit der Interpretation

eines Textes wird sowohl von dem bestimmenden Willen eines Autors oder eines

Interpreten als auch unter den Normen der Sprache bestimmt bzw. beschränkt.

Die allgemeinen Normen der Sprache allein reichen für die Bestimmung des

Wortsinns deshalb nicht aus, „weil die Normen der Sprache nicht aus einer

einheitlichen Sammlung von Einschränkungen, Erfordernissen und

Erwartungsmustern bestehen, sondern daß sie eine ungeheure Menge verschiedener

Grundregeln darstellt, die bei verschiedenen Äußerungen stark voneinander

abweichen, worauf Wittgenstein klar und deutlich hingewiesen hat“ (PI, 50; vgl. VI,

31) 207. Die Normen der Sprache „ändern sich mit jeder zu interpretierenden Art von

207 Wittgenstein hat die „Bedeutung“ eines Wortes im Hinblick auf „die Mannigfaltigkeit der Werkzeuge der Sprache und ihrer Verwendungsweisen“ sowie „die Mannigfaltigkeit der Wort- und Satzarten“ als seinen „Gebrauch in der Sprache“ definiert. Vgl. Ludwig Wittgenstein: Philosophische

144

Äußerung,“ sagt Hirsch, Wittgenstein zustimmend (ebd.). Ein Text ist eben eine

besondere Art von Äußerung, die mehr als einen Komplex von Sinn hat. Im Bezug auf

die Bestimmung des Wortsinns durch die Normen der Sprache hat Hirsch sich gegen

die Thesen von Metalinguisten und den Verfechtern der Muttersprachen-Theorie

gewendet, die behaupten, daß die Sprache die Gedanken und den Sinn eines Sprechers

unausweichlich bestimmen könne. Nach Hirsch gehen jedoch diese Behauptungen

viel zu weit. Denn

„diese Beobachtungen machen nicht den unbeweisbaren und unwahrscheinlichen Schluß nötig, daß eine einmalige Verwendung der Sprache auch immer einen einmaligen Sinn bestimmt. Das Argument, daß eine Muttersprache denjenigen, die sie sprechen, unausweichlich eine bestimmte Weltanschauung aufzwingt, ignoriert die bemerkenswerte Verschiedenheit der Anschauungen und Haltungen von Sprechern gleicher Muttersprache” (PI, 48, Hervorhebung von mir, Chen).

Hirschs Pointe besteht darin, daß unsere Muttersprache zwar bei der Bildung unserer

Weltanschauung eine wichtige Rolle spielt, wie Humboldts epochemachende

Auffassung der Sprache als energeia208 gezeigt hat, sie kann aber nicht allein den

Sinn einer sprachlichen Äußerung bestimmen. Der Begriff der Sprache oder der

Muttersprache ist genauso umfangreich und variabel wie die Normen der Sprache, so

daß damit die Verschiedenheit der Weltanschauungen der Menschen gleicher Sprache

nicht erklärt werden kann. Und umgekehrt kann dadurch die Gemeinsamkeit der

Weltansichten der Menschen verschiedener Sprache ebenso wenig erklärt werden.

Denn der Grund der Verschiedenheit der Weltanschauungen der Menschen liegt nicht

ausschließlich in der Sprache, sonst würden alle Menschen, die die gleiche

Muttersprache sprechen, gleiche Weltansichten haben. Er liegt vielmehr in der

Untersuchungen, Frankfurt a. M. 1967, s. bes. S. 24f, 35f. 208 Vgl. Wilhelm von Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, in: ders.: Schriften zur Sprache, hg. v. Michael Böhler, Stuttgart 1995, s. bes. S. 36, 45ff, 53f.

145

Verschiedenheit der Individualität des Individuums, die auch die Verschiedenheit der

Weltanschauungen und Wertvorstellungen von Angehörigen gleicher Familien,

gleicher Volksstämme oder gleicher Kulturtraditionen erklären kann, wie

Schleiermacher uns hinsichtlich des Fremdheitsproblems gelehrt hat. Die

Doppelseitigkeit der Rede impliziert schon die enge Verbindung zwischen der

Sprache als allgemeinem Mitteilungsmittel und dem individuellen Willen und

Gedanken des Sprechers.

Daher sagt Hirsch, daß „die Theorie der Interpretation nicht lediglich sprachliche

Normen als Syntax, Grammatik, Bedeutungskerne, Bedeutungsfelder, Gewohnheiten,

Engramme, Verbote u.s.w. zu beschreiben braucht, die alle äußerst variabel sind und

sich wahrscheinlich nicht in angemessener Weise beschreiben lassen“ (PI, 51; vgl. VI,

31). Für ihn ist es viel wichtiger, die Vermittlungsfunktion der Rede oder des Textes

unter dem Prinzip der Teilbarkeit der Sprache hervorzuheben, also „die riesigen, nicht

zu umgrenzenden Sinnräume, die durch die Sprache repräsentiert werden, in den

Mittelpunkt zu rücken, einschließlich des emotionalen und durch Haltung

vorgegebenen Sinnes“ (ebd.). Das Prinzip der Teilbarkeit ist für Hirsch das

entscheidende Element aller sprachlichen Normen, welches eben die

Mitteilungsfunktion der Sprache darstellt. Aus diesen Gründen wird der Wortsinn des

Autors bei Hirsch wie folgt dargestellt:

„An author´s verbal meaning is limited by linguistic possibilities but is determined by his actualizing and specifying some of those possibilities. Correspondingly, the verbal meaning that an interpreter construes is determined by his act of will, limited by those same possibilities. […] Verbal meaning is whatever an author wills to convey by his use of linguistic symbols and which can be so conveyed” (VI, 47ff).

Der Wortsinn des Autors ist sonach der durch die Aktualisierung und Spezifizierung

146

des Autors aus Möglichkeiten der Sprache bestimmte Sinn des Wortes. Das gleiche

gilt auch für den vom Interpreten konstruierten Wortsinn, der sowohl vom Akt seines

Willens als auch von den gleichen Möglichkeiten der Sprache bestimmt ist. „Verbal

meaning“ bei Hirsch ist dann der Wortsinn, der innerhalb der sprachlichen Normen

nur beschränkte Möglichkeiten von Sinn hat und sowohl durch die Intention des

Autors als auch durch die des Interpreten bestimmt werden kann.

Folglich müssen die Normen der Interpretation Hirschs Meinung nach sowohl die

allgemeinen Normen der Sprache, welche elastisch und variabel sind, als auch die

Normen für die Determiniertheit des Wortsinns von bestimmten Äußerungen wie die

Intention und den Willen des Autors einschließen, weil beide den Sinn des Textes

bestimmen. Die Autorintention ist die Norm für die Determiniertheit des Wortsinns

bzw. Textsinns, und die Teilbarkeit der Sprache ist dann die Norm für die

Reproduzierbarkeit bzw. Wiedererkennbarkeit des Wortsinns.

Aus diesem Zusammenhang geht hervor, daß Hirsch die Reproduzierbarkeit und

die Determiniertheit des Wortsinns als die formalen Bedingungen wiedererkennender

Interpretation hervorzuheben sucht. „Verbal meaning“ als eine Reihenfolge von

schriftlichen Zeichen ist für Hirsch nur eine Seite des Textsinns hinsichtlich der

sprachlichen Normen. Er betrachtet den Sinn des Textes jedoch nicht nur unter dem

Gesichtspunkt der Sprachlichkeit und der Schriftlichkeit des Textes, wie es bei

Gadamer der Fall ist. Er sucht hier, den Sinn des Textes durch die Autorintention als

die subjektive Aktivität des Autors zu bestimmen. Der Textsinn bei Hirsch, der zwar

den Normen und Konventionen der Sprache, nämlich „the social principle of

linguistic genre“ unterliegt, ist aber hauptsächlich durch das Prinzip der

Autorintention („the individual principle of authorial will“) bestimmt worden (VI,

127). Die Unvermeidbarkeit der Einbeziehung der Autorintention in die Bestimmung

des Textsinns gilt als ein wichtiger Einwand Hirschs gegen die Theorien, die die

147

Subjektivität des Sprechers leugnen und einem Text schlicht als „ein Stück

Sprache“ („a piece of language“) betrachten.

Hirschs spezifische Wendung besteht darin, daß aufgrund des sprachlichen

Charakters des Textes und der Ausdrucksintention des Autors hier nämlich die

Reproduzierbarkeit (als die Teilbarkeit der Sprache) und die Determiniertheit (als die

Ausdrucksintention des Autors) des Wortsinns das Verstehen und die Interpretation

des Textes überhaupt erst möglich machen.

„Reproducibility is a quality of verbal meaning that makes interpretation possible: if meaning were not reproducible, it could not be actualized by someone else and therefore could not be understood or interpreted. Determinacy, on the other hand, is a quality of meaning required in order that there be something to reproduce. Determinacy is a necessary attribute of any sharable meaning, since an indeterminacy cannot be shared: if a meaning were indeterminate, it would have no boundaries, no self-identity, and therefore could have no identity with a meaning entertained by someone else” (VI, 44).

Reproduzierbarkeit ist demnach die Eigenschaft eines Wortsinns, die das Verstehen

und die Interpretation ermöglicht; die Determiniertheit ist eine Eigenschaft des Sinnes,

die wir brauchen, damit es etwas zu reproduzieren gibt. Insofern hat ein determinierter

Wortsinn einen determinierenden Willen zur Voraussetzung. „Determinacy, then, first

of all means self-identity. This is the minimum requirement for sharability. Without it

neither communication nor validity in interpretation would be possible,” so Hirsch

(VI, 45).

Determiniertheit bedeutet in erster Linie Selbst-Identität und gilt als die minimale

Bedingung für die Teilbarkeit des Wortsinns, ohne welche weder die Kommunikation

noch die Gültigkeit in der Interpretation möglich wäre. „Aber der Wille eines Autors

als förmliche Voraussetzung eines jeden determinierten Wortsinns besagt nicht, daß

Wille und Sinn dasselbe sind, ebenso wenig ist der Wortsinn mit dem ‚Inhalt’

148

identisch, dessen sich ein Autor bewußt ist,“ betont Hirsch (PI, 70). Der Wortsinn ist

nicht mit dem Inhalt des Bewußtseins eines Autors zu identifizieren. Der Wille oder

die Intention des Autors ist nicht der Sinngehalt des Wortes selbst, sondern der

bestimmende Faktor des Sinnes. Die Determiniertheit des Wortsinns durch den

bestimmenden Willen des Autors konstituiert hauptsächlich die Begrenztheit des

Wortsinns, welcher als ein Ganzes selbst-identisch bleiben muß, um wiedererkennbar

und kommunizierbar zu sein.

Daraus folgt, daß der Begriff des Wortsinns bei Hirsch gar nicht so streng ist, wie

es auf den ersten Blick scheint. Jeder Sinn, der sich aus den vom Autor

zusammengesetzten schriftlichen Zeichen innerhalb der Möglichkeit sprachlicher

Normen ergibt, könnte der vom Autor intendierte Sinn sein. Insofern kann ich

Burhanettin Tatar’s These nicht teilen, die davon ausgeht, daß in Hirschs Theorie der

Sinn des Textes nichts mit den Kontexten zu tun habe, unter denen der Sinn

rekonstruiert sei, und daß „the being of the meaning“ auf die Autorintention reduziert

worden sei 209. Denn bei Hirsch gibt es mehrere Möglichkeiten, den Sinn des Textes

zu erschließen. Autorintention gilt für Hirsch nur als normatives Prinzip für die

Determiniertheit des Textsinns und für die Gültigkeit einer Interpretation.

Autorintention ist zwar der bestimmende Faktor des Textsinns, ist aber nicht identisch

mit dem Textsinn. Darüber hinaus unterscheidet Hirsch vorsichtig zwischen der

Intention des Autors, die den Sinn des Textes entscheidet, und den anderen privaten

Intentionen bzw. den anderen Teilen der Subjektivität des Autors, die nichts mit dem

Sinn des Textes zu tun haben. Das ist auch der Grund für Hirsch, sich als „in

wesentlicher Übereinstimmung mit den amerikanischen Anti-Intentionalisten“ zu

bekennen, weil sie „zu Recht private Assoziationen vom Wortsinn ausschließen“ (PI,

209 Burhanetti Tatar: Interpretation and the Problem of the Intention of the Author: H.-G. Gadamer vs E.D. Hirsch, Washington 1998, S. 116f.

149

298; vgl. VI, 243) 210 . Insofern ist es durchaus falsch, Hirsch als einen

„Intentionalisten“ zu bezeichnen211.

Man übersieht dabei, daß Hirschs Definition des Wortsinns als des vom Autor

intendierten bzw. determinierten Sinns nicht eine interpretative Methode, sondern ein

normatives Prinzip ist, das eher einen formalen Charakter hat.

3.2.3. Typus-Charakter des Wortsinns: Wortsinn als „willed type“ und „shared

type“

Wir haben oben gezeigt, daß Hirsch die Determiniertheit und die

Reproduzierbarkeit des vom Autor intendierten Wortsinns als die Grundbedingungen

wiedererkennender Interpretation zu begründen versucht. Die Autorintention ist

sozusagen die formale Bedingung für die Determiniertheit des Wortsinns und die

normative Bedingung für die Gültigkeit der Interpretation. Die Reproduzierbarkeit des

Wortsinns wird bei Hirsch aufgrund der Teilbarkeit der Sprache als der Bedingung der

Möglichkeit rekonstruktiver Interpretation angedeutet. Die von Hirsch erhobene

Determiniertheit und Reproduzierbarkeit des Wortsinns bleiben bisher aber bloße

formale Bedingungen für die Möglichkeit wiedererkennender Interpretation. Wie läßt

sich die Möglichkeit wiedererkennender Interpretation konkret nachweisen?

210 Hirsch bemerkt in einer Anmerkung in Validity in Interpretation (S. 243, unten):„It should be clear that I am here in essential agreement with the American anti-intentionalists (term used in the ordinary sense). I think they are right to exclude private associations from verbal meaning. But it is of some practical consequence to insist that verbal meaning is that aspect of an author’s meaning, which is interpersonally communicable. This implies that his verbal meaning is that which, under linguistic norms, one can understand, even if one must sometimes work hard to do so.” Aus diesem Grund sind all die Thesen, die davon ausgehen, Hirschs Interpretationstheorie sei intentionalistisch, zurückzuweisen. 211 Burhanettin Tatar zum Beispiel bezeichnet die hermeneutischen Konzeptionen von Hirsch und Betti als „intentionalist models of interpretation“. Burhanetti Tatar, a. a. O., S. 116. Vgl. die Diskussionen um den „semantischen Intentionalismus“ in: Intentionalität und Verstehen, hg. v. Forum für Philosophie Bad Homburg, Frankfurt a. M. 1990; und die Diskussionen um Axel Bühlers These des „hermeneutischen Intentionalismus als Konzeption von den Zielen der Interpretation“ in: Ethik und Sozialwissenschaften, 4 (1993) Heft 4, S. 511-585.

150

Nach den zunächst rein formalen Bestimmungen versucht Hirsch die Möglichkeit

wiedererkennender Interpretation weiterhin im sprachlichen Charakter des Wortsinns

und des Verstehens festzumachen. Er hebt den Typus-Charakter des Wortsinns und die

Genre-gebundenheit allen Verstehens und Interpretierens hervor, um die

Verständlichkeit und die Wiedererkennbarkeit des Wortsinns wie auch des Textsinns

als die sprachlichen Bedingungen allen Verstehens und wiedererkennender

Interpretation zu begründen. Dabei wird das Verstehen und Interpretieren von Texten

nicht als ein Erkenntnisvollzug selbst dargestellt, in dem alles unmittelbar verstanden

wird, wie es bei Gadamer der Fall ist, sondern als ein Mittel auf dem Weg der

Erkenntnis, also als ein sich allmählich entwickelnder, progressiver Prozeß des

Lernens und ein progressives Verfahren der Sinn-Konstruktion, welches sich in

wechselseitiger Bestimmung von Sinn-Erwartung, Züge-Prüfung und Sinn-Revision

vollzieht.

Die Determiniertheit und Teilbarkeit des Wortsinns hängen Hirschs Auffassung

nach davon ab, daß der Wortsinn einem Typus von Sinn angehört beziehungsweise

einen Typus-Charakter aufweist, indem er sagt: „The determinacy and sharability of

verbal meaning resides in its being a type” (VI, 51). Der besondere Typ eines Sinnes

wird durch den bestimmenden Willen des Autors festgelegt. Daher wird der Wortsinn

hier bei Hirsch als „der gewollte Typ“ definiert, „den der Autor mit sprachlichen

Symbolen ausdrückt, und der von anderen durch diese Symbole verstanden werden

kann“ (PI, 72).

Für Hirsch ist die Betonung des Typus-Charakters des Wortsinns deshalb wichtig,

weil „nur dadurch die Auffassung vom Wortsinn als determiniertem Gegenstand des

Bewußtseins, der aber gleichzeitig über den Inhalt des Bewußtsein hinausgeht,

möglich ist“ (PI, 72). Nach Hirsch ist ein Typ eine Einheit mit zwei entscheidenden

Charakteristika. Er ist zunächst „eine Einheit, die eine Grenze besitzt, auf Grund derer

151

etwas zu ihm gehört oder nicht.“ Das zweite entscheidende Charakteristikum eines

Typs ist, „daß er immer durch mehr als einen Fall wiedergegeben werden kann” (PI,

72). Daraus folgt, daß jeder Wortsinn einem erkennbaren Typ von Sinn zugehören

muß, um kommunikativ zu sein, da er sonst nicht teilbar sein könnte. „Der Wortsinn

kann aber niemals auf einen einheitlichen konkreten Inhalt begrenzt werden. Er kann

sich zwar auf ein einheitliches Ganzes beziehen, aber nur durch Mittel, die über

einheitliche Ganzheiten hinausgehen; dieses Überschreiten hat immer den Charakter

einer Typisierung,“ betont Hirsch (PI, 72f). Folglich muß der Wortsinn sowohl ein

„willed type“ (als ein vom Autor „gewollter“ Sinn) als auch ein „shared type“ (als ein

von anderen „teilbarer“ Sinn) sein, welcher sich als ein Ganzes von möglichem Sinn

darstellt und niemals auf einen einzigen konkreten Inhalt begrenzen läßt.

An diesen Punkt anschließend versucht Hirsch das Verhältnis zwischen Sinn und

Implikation zu erklären und den Unterschied zwischen Sinn und Bedeutung zur

Geltung zu bringen. Denn die Tatsache, daß der Wortsinn irgendeine Grenze besitzen

muß, um mitteilbar und fähig für eine gültige Interpretation zu sein, schließt den

sogenannten unbewußten Sinn nicht aus. Die Frage ist nun, wie sich der bewußte bzw.

„gewollte“ Wortsinn von dem unbewußten, aber möglichen Wortsinn unterscheiden

läßt. Nach Hirsch ist das Prinzip für die Annahme oder Ablehnung eines unbewußten

Sinnes das gleiche wie das für den bewußten Sinn. Er meint:

„Die Identität des Wortsinns mit sich selbst hängt von einem Zusammenhang ab, der zumindest teilweise analog zu physikalischer Kontinuität ist. Wenn ein Text Züge aufweist, die auf einen unbewußten Sinn hindeuten (das gilt sogar für bewußten Sinn), dann gehören sie zum Wortsinn des Textes nur dann, wenn sie mit dem bewußt gewollten Typ in einem Zusammenhang stehen, der den Sinn als Ganzes definiert. Steht so ein Sinn mit dem gewollten Typ nicht in Zusammenhang, dann gehört er nicht zum Wortsinn, der per definitionem gewollt ist“ (PI, 77; vgl. VI, 54).

152

Der gewollte Typ von Wortsinn kann Hirschs Meinung nach nur ein Teil der

sprachlichen Konventionen sein, welcher dem sichtbaren Teil eines Eisbergs ähnelt.

Unter dem Wasser muß aber mit einem größeren unsichtbaren Teil des Eisbergs

gerechnet werden. Die Variabilität und Breite des Wortsinns schließen sowohl

bewußten als auch unbewußten Sinn ein, wie der Eisberg aus einem sichtbaren und

unsichtbaren Teil besteht.

Die Frage ist nun, wie man entscheiden soll, ob ein bestimmter Sinn mit dem

gewollten Typ in Zusammenhang bzw. in Kohärenz steht oder nicht. Die

Eisberg-Metapher soll bei Hirsch dazu dienen, diese Frage durch das Prinzip der

Kohärenz („the principle of coherence“) und das Prinzip der Grenze („the principle of

boundary“) (VI, 54; vgl. PI, 77) zu beantworten.

„Alles was kontinuierlich in den sichtbaren Teil eines Eisbergs übergeht, liegt innerhalb seiner Grenzen, und alles was innerhalb seiner Grenzen liegt, fällt unter das Kriterium der Kontinuität. Die zwei Begriffe definieren sich gegenseitig; das Prinzip der Grenze hängt [...] von dem Begriff des Typs ab. Jeder Sinn, der einen Zug oder Züge besitzt, durch die ein Typ definiert wird, gehört zu diesem Typ, und jeder Sinn, der diese Züge nicht besitzt, gehört nicht dazu. Das Prinzip der Kontinuität ist das der Mitgliedschaft zu einem Typ“ (PI, 77).

Da ein Wortsinn ein Typ und ein Ganzes ist, wird bei Hirsch zwischen einem

Untersinn einer Äußerung und einer ganzen Reihe von Untersinnen, die sie besitzen,

unterschieden. Diese ganze Reihe von Untersinnen einer Äußerung nennt Hirsch den

„Sinn der Äußerung“. Jeden Untersinn, der zu dieser Reihe gehört, nennt Hirsch eine

„Implikation“.

Wir haben oben dargestellt, daß der Wortsinn bei Hirsch notwendigerweise den

Charakter eines durch sprachliche Zeichen zu übermittelnden gewollten Typs besitzt.

Als ein Sinn-Typ ist der Wortsinn Hirschs Auffassung nach als ein Ganzes, eine

153

Einheit zu betrachten, die aber in mehr als einem Einzelfall verkörpert ist oder durch

mehr als einen Einzelfall wiedergegeben werden kann. Daher gehört eine Implikation

zum Wortsinn „wie ein Teil zum Ganzen“ (PI, 88). Eine Implikation ist eben nur ein

möglicher Einzelfall des Wortsinns bzw. ein möglicher Zug des Sinn-Typs. Daher sagt

Hirsch: „Eine Implikation gehört zu einem Sinn wie ein Zug zu einem Typ gehört“ (PI,

91). Das bedeutet nämlich, daß der Sinn-Typ teilbar sein muß, damit eine Implikation

zu einem Wortsinn gehören kann, sonst kann der Interpret nicht wissen, wie er

Implikationen hervorbringen soll; er würde nicht wissen, welche Züge zu dem Typ

gehören und welche nicht. Weiter erklärt Hirsch:

“Implications are derived from a shared type that has been learned, and therefore the generation of implications depends on the interpreter’s previous experiences of the shared type. The principle for generating implications is, ultimately and in the broadest sense, a learned convention” (VI, 66. Hervorhebung von mir).

Das heißt, Implikationen werden von einem geteilten und gelernten Typ abgeleitet.

Die Hervorbringung von Implikationen hängt deshalb vom früheren Erlebnis des

geteilten Sinn-Typs durch den Interpreten ab. Nach Hirsch hat der Sinn-Typ den

Charakter der „Familienähnlichkeit“ der Sprache im Wittgensteinschen Sinne (VI,

70f). Daher sagt er: „Der Interpret kann die Charakteristika des Typs nur auf eine

Weise kennenlernen, indem er sie nämlich lernt“ (PI, 90). “Das Prinzip für die

Hervorbringung von Implikationen ist letztlich im weiteren Sinne eine gelernte

Konvention,“ sagt Hirsch (PI, 91). „Der gewollte Typ muß ein geteilter Typ sein,

damit Kommunikation stattfinden kann. Damit wird aber nur gesagt, daß der gewollte

Typ sich im Rahmen bekannter Konventionen befinden muß, damit er geteilt werden

kann – eine Notwendigkeit, die dem Konzept der Teilbarkeit von Anfang an

innewohnte,“ erklärt Hirsch (PI, 91f). Insofern wird das Vorhandensein geteilter bzw.

gelernter Konventionen als die notwendige Voraussetzung für die Teilbarkeit des

154

Wortsinns herausgestellt.

Damit gelangt Hirsch zu folgendem Schluß: „Da ein Typ in mehr als einem

Einzelfall verkörpert sein kann, sind seine bestimmenden Charakteristika allen Fällen

dieses Typs gemeinsam. Da der Typ weiterhin durch mehr als einen Einzelfall

wiedergegeben werden kann, kann er von mehr als einer Person geteilt oder gewußt

werden. Wenn eine zweite Person die Charakteristika des Typs in Erfahrung gebracht

hat, kann sie diese Charakteristika ‘hervorbringen’, ohne daß diese ihr explizite

übermittelt worden sind” (PI, 90f).

3.2.4. Genre-gebundenheit allen Verstehens und Interpretierens: der

hermeneutische Zirkel

Da die Implikationen von einem geteilten und gelernten Sinn-Typ abgeleitet

werden, wird das Verstehen und die Interpretation von einem geteilten Typ, von der

„Genre-Konzeption“ abgeleitet. Die Genre-Konzeption ist nach Hirsch die Idee des

Textsinns als eines Ganzen, die beim Vorgang der Interpretation durch

„Sinnerwartungen“ („expectations“) begleitet ist. Die Rolle des Genres als der

Vorstellung von einem Sinn-Typ bei der Interpretation hat Hirsch wie folgt

geschildert:

„Der Sinn, der gerade verstanden wird, hat sich normal und mehr oder weniger erwartungsgemäß enthüllt, bis völlig unerwartete Wort- oder Ausdruckstypen vorkommen. Wenn das geschieht, kann ein Interpret entweder alles von ihm bis dahin Verstandene revidieren und einen neuen und anderen Sinntyp annehmen, oder er kann den Schluß ziehen, daß er den Sinn, welcher Art dieser auch immer sein mag, nicht verstanden hat“ (PI, 97; vgl. VI, 72).

Solche Erfahrungen, bei denen ein Mißverständnis während des Vorgangs der

155

Interpretation erkannt wird, „veranschaulichen“ Hirschs Meinung nach „einen höchst

wichtigen, normalerweise verborgenen Aspekt der Sprache“ (ebd.). Sie zeigen, „daß

völlig unabhängig von der Wortwahl des Sprechers und was noch bemerkenswerter ist,

völlig unabhängig vom Kontext einer Äußerung, die von einem Interpreten

verstandenen Sinndetails in erheblichem Maße von seinen Sinnerwartungen bestimmt

und gebildet werden. Diese Erwartungen ergeben sich wiederum aus der Auffassung

des Interpreten vom gerade ausgedrückten Sinntyp,“ erklärt Hirsch (PI, 98). Das heißt,

indem wir unsere generische Auffassung revidieren, haben wir bereits wieder von

vorne begonnen, bis schließlich unser ganzes Verständnis von der neuen generischen

Auffassung gebildet und zum Teil bestimmt worden ist. Das ist ein Beweis dafür, daß

„jedes Verständnis des Wortsinns notwendigerweise vom Genre bestimmt wird“ (PI,

102).

Für Hirsch sind solche Erwartungen stets eine notwendige Voraussetzung für das

Verständnis, „weil der Interpret nur durch sie die Wörter, auf die er trifft, sinnvoll

auslegen kann“ (ebd.). Da aber Erwartungen nicht aus dem Nichts entstehen, müssen

sie zum größten Teil aus früheren Erlebnissen hervorgebracht werden. Das heißt, „wir

erwarten in diesem Typ von Äußerung diesen Typ von Zügen, weil wir aus Erfahrung

wissen, daß solche Züge sich bei solchen Äußerungen finden“ (ebd.). Die

Erwartungen sind wie das bisher gewonnene Vorverständnis bzw. die erlernten

Konventionen der Sprache das, was unser Verstehen von Texten schrittweise leitet

oder aber verleitet.

Diese Beschreibung der Genre-gebundenheit des Verstehens bildet für Hirsch eine

neue Version vom „hermeneutischen Zirkel“. Nach Hirsch bietet solch eine Definition

des hermeneutischen Zirkels in den termini von Genre und Einzelzug anstatt von Teil

und Ganzem „nicht nur eine exaktere Beschreibung des interpretativen Vorgangs,

sondern sie löst auch das widerspenstige Paradox auf“ (PI, 104). Der hermeneutische

156

Zirkel von Ganzem und Teil wird hier bei Hirsch durch den Zirkel von Genre (als

Vorstellung vom Ganzen) und Einzelzügen ersetzt und als ein progressives Verfahren

der Interpretation dargestellt, welches sich in wechselseitigen Bestimmungen von

Sinn-Erwartungen und Sinn-Revisionen vollzieht. Diese Vorstellung von einem Genre

bei Hirsch ist aber nicht etwas Festes, sondern etwas, das sich beim Vorgang des

Verstehens verändert, weil die Möglichkeit des Erfahrens von Mißverständnissen und

der Revision im Vollzug des Verstehens miteingerechnet ist.

„Sie ist zunächst vage und unausgefüllt; später, mit zunehmendem Verständnis, wird das Genre expliziter, der durch ihn ausgelöste Erwartungsbereich wird viel enger. Diese spätere, explizitere und engere generische Konzeption muß natürlich unter die ursprüngliche, weitere generische Konzeption subsumiert werden, wie eben eine Variante unter eine Gattung zu subsumieren ist.“ (PI 104).

Dieses System der Erwartungen, das zunächst vage ist, später expliziter wird, bildet

eben die unser Verständnis bestimmende Vorstellung vom Ganzen. Der wichtige

Punkt ist hier, daß das Verständnis des Textsinns sich im Vorgang der Interpretation

schrittweise aufbaut und revidierbar ist und daß das Mißverständnis im selben

Vorgang der Interpretation vom Interpreten selbst erkannt und korrigiert werden kann.

Die Konzeption des Genres in der Interpretation ist für Hirsch von entscheidender

Bedeutung, weil dadurch das Problem des Paradoxes zwischen der Individualität des

Sinnes („the individuality of meaning“) und der Variabilität der Interpretation („the

variability of interpretation“) gelöst werden kann, indem behauptet wird, „daß ein

Sprecher und ein Interpret nicht nur die variablen und instabilen Normen der Sprache

beherrschen, sondern sich auch in den besonderen Normen eines besonderen Genres

gut auskennen muß“ (VI, 71). Nur solch eine Brücke kann die Besonderheit eines

Sinnes („particularity of meaning“) mit der Gemeinschaftlichkeit der Interpretation

(„the sociality of interpretation“) verbinden (ebd.). Das bedeutet, daß die

157

Genre-Konzeption als die Sinnerwartung bzw. die Vorstellung von einem Sinn-Typ

nicht nur für den Interpreten beim Vorgang der Interpretation, sondern auch für den

Sprecher bzw. den Autor beim Vorgang der Rede oder des Schreibens gilt.

„Der Sprecher kann die Sozialisierung seiner Erwartungen nur dann erreichen,

wenn er die ihm selbst und seinem Interpreten gemeinsamen typischen früheren

Verwendungsweisen und Erlebnisse kennt,“ meint Hirsch (PI, 107). Daraus folgt, daß

der Sinntyp „stets notwendigerweise an Typen des Sprachgebrauchs gebunden“ ist.

„Dieses ganze komplexe System von gemeinsamen Erlebnissen, von Zügen des

Sprachgebrauchs und Sinnerwartungen, auf die sich der Sprecher verläßt, bilden die

generische Konzeption, die seine Äußerung bestimmt“ (ebd.). Sonach ist dieses

System von gemeinsamen Erlebnissen und Zügen des Sprachgebrauchs und

Sinnerwartungen eben ein System von geteilten und gelernten Konventionen. Daher

sagt Hirsch, „daß Verständnis sich nur vollziehen kann, wenn der Interpret unter dem

gleichen System von Erwartungen vorgeht“ (PI, 107).

Diese gemeinsame generische Konzeption, die sowohl für den Sinn als auch für das

Verstehen konstitutiv ist, nennt Hirsch „das wahre Genre der Äußerung“ („the

intrinsic genre“) (PI, 108). Ein „intrinsic genre“ ist für ihn „ein System von

Konventionen“. Denn: „everything depends on something learned,“ so Hirsch (VI,

92). Das Wort “Konvention” umfaßt Hirschs Auffassung nach das ganze System von

Verwendungsweisen, Regeln, Gewohnheiten, formalen Notwendigkeiten und

Wahrscheinlichkeiten, welches einen Typ von Wortsinn konstituiert. Das System von

Konventionen wird als teilbar und erlernbar dargestellt. Die Gewinnung des wahren

Genres bedarf auch der Kongenialität des Interpreten, da das richtige Erraten des

Wortsinns von den Sinntyp-Erlebnissen des Interpreten abhängt. Insofern ist hier ein

gradueller Unterschied des Verständnisses bzw. der Interpretation unter den

Interpreten denkbar. Das Verständnis und die Vollständigkeit der Interpretation sind

158

sozusagen durch das individuelle Talent und die Sinntyp-Erfahrungen des Interpreten

bedingt.

Das impliziert wiederum, daß jede Interpretation nur eine mögliche Repräsentation

des Textsinns sein kann und daß der Inhalt des Textsinns nicht auf eine einzige

Interpretation beschränkt werden darf. „Textual meaning“ bei Hirsch ist dann der

Textsinn, der innerhalb der sprachlichen Normen nur beschränkte Möglichkeiten von

Sinn hat und sowohl durch die Intention des Autors als auch durch die des Interpreten

bestimmt ist. Daher kann der vom Autor intendierte Sinn des Textes innerhalb solcher

Möglichkeiten vom Interpreten auch erkannt und verstanden werden, wenn die

Interpreten das gleiche System von Konventionen wie das des Autors kennengelernt

haben.

In diesem Zusammenhang hebt Hirsch eine interessante Konzeption von Verstehen

hervor, um sich gegen den radikalen Historismus zu wenden, für welchen das

Verstehen und Rekonstruieren von vergangenen und fremden Kulturüberlieferungen

unmöglich erscheint. Hirsch meint:

„All understanding of cultural entities past or present is constructed. The various languages of a culture (taking ‘language’ in the broadest possible sense) are acquired through learning, and not inborn. Furthermore, since all the various languages of a culture are learned by more than one person, they can, implicitly, be learned by any person who takes the trouble to acquire them“ (VI, 43).

Die unterschiedlichen Sprachen einer Kultur sind durch das Erlernen von mehr als

einer Person erworben und können im Prinzip von jedem gelernt werden, der sich die

Mühe gibt. All unser Verstehen von Kulturgebilden sowie Sprachen, sei es

vergangenen oder gegenwärtigen, ist Hirschs Meinung nach ein progressives

Verfahren des Lernens, Sinn zu konstruieren. Gerade deshalb können fremde

Sprachen und fremde Kulturen auch von uns gelernt und verstanden werden.

159

Verstehen ist sonach ein Vorgang des Erlernens von Sinnkonstruktion. Das Verstehen

als ein Lernprozeß bedeutet zugleich, daß im Vollzug des Verstehens das Gelernte und

das Vorverstandene aufgrund der neu gewonnenen Erkenntnisse korrigiert werden

können, wie wir oben im Genre-Züge-Modell bei Hirsch gesehen haben. Daher gibt es

bei Hirsch keine Unmittelbarkeit und Gewißheit des Verständnisses im Vollzug des

Verstehens: „There is no immediacy in understanding either a contemporary or a

predecessor, and there is no certainty. In all cases, what we understand is a

construction, and if the construction happens to be unthinking and automatic, it is not

necessarily more vital and authentic for that” (VI, 43). Alles, was wir von einem Text

verstehen, ist Hirschs Auffassung nach eine Sinnkonstruktion und kann höchstens die

Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit beanspruchen.

3.3. Prinzipien objektiv gültiger Interpretation und Geltungsprüfung

Es ist eindeutig zu sehen, daß Hirsch zwar versucht, den Sinn des Textes mit dem

ursprünglich vom Autor intendierten Sinn gleichzusetzen und daß er die

Wiederherstellung des ursprünglichen Textsinns als die Aufgabe und die Grundlage

aller gültigen Interpretation fordert. Ihm geht es jedoch nicht darum, die Gewißheit

der Übereinstimmung der Interpretation mit dem originären Sinn des Textes

vorauszusetzen, sondern lediglich darum, eine Norm der gültigen Interpretation durch

das Einbeziehen der Autorintention in den Sinn des Textes vorzustellen und dadurch

eine Möglichkeit zu schaffen, die Interpretationen zu beschränken, zu unterscheiden

und vor allem Willkür und Beliebigkeit zu vermeiden, denn: „no one can establish

another’s meaning with certainty“ (VI, 236). Das Ziel eines Interpreten liegt folglich

darin, “to show that a given reading is more probable than others” (VI, 236). Insofern

hat die Hermeneutik bei Hirsch die Aufgabe, nicht die Methode der Interpretation,

160

sondern die Prinzipien der Geltungsprüfung der Interpretation hervorzubringen.

3.3.1. Objektivität der Interpretation und Subjektivität des Sprechers

Die Doppelseitigkeit der Rede und die wechselseitige Bestimmung des Wortsinns

bzw. Textsinns von allgemeinen Normen der Sprache und individuellem Prinzip der

Autorintention sind bei Hirsch mit dem Paradox zwischen Objektivität der

Interpretation und Subjektivität des Sprechers verbunden, das zugleich den

Ansatzpunkt seiner Theorie bildet und an die These der Dialektik zwischen

Objektivität der Interpretation und Subjektivität des Sprechers bei Betti erinnert,

nämlich: „objectivity in textual interpretation requires explicit reference to the

speaker’s subjectivity“ (VI, 237, Hervorhebung von mir, Chen). Also, die Objektivität

der Textinterpretation bedarf der expliziten Referenz auf die Subjektivität des

Sprechers.

Das sprechende Subjekt ist nach Hirsch jedoch mit der Subjektivität des Autors als

einer wirklichen, historischen Person nicht identisch. Es entspricht vielmehr nur

einem ziemlich beschränkten und besonderen Aspekt der Subjektivität des Autors.

Das sprechende Subjekt ist so zu sagen jener Teil des Autors, welcher den Wortsinn

bestimmt. Hier macht Hirsch auf den Unterschied zwischen dem sprechenden Subjekt

(„the speaking subject“) und der Subjektivität des Autors („the subjectivity of the

author“) in der Interpretation aufmerksam. Hirsch sieht die primäre Aufgabe der

Interpretation zwar darin, die Welt des Autors zu rekonstruieren. Mit der Welt des

Autors meint Hirsch aber nicht die ganze Welt, sondern die Logik, die Einstellung und

das kulturelle Erbe des Autors, die sich im Text oder in der Rede widerspiegeln und

objektiviert sind. Daher ist das letzte Prinzip der Interpretation für Hirsch “the

imaginative reconstruction of the speaking subject” (VI, 242).

161

Für Hirsch bedeutet das sprechende Subjekt eben nur jenen „sehr begrenzten und

speziellen Aspekt der gesamten Subjektivität des Autors“ (PI, 298), der den Wortsinn

bzw. den Textsinn bestimmt. Dieser Unterschied ist am deutlichsten zu erkennen im

Falle der Lüge. „Bei einer Lüge nimmt das sprechende Subjekt an, daß es die

Wahrheit sagt, während das tatsächliche Subjekt ein privates Bewußtsein der

Täuschungsabsicht behält,“ erklärt Hirsch (PI, 299; vgl.VI, 244). Darüber hinaus sind

das Drama und die Ironie für Hirsch auch gute Beispiele für die Erklärung des

Unterschieds zwischen „dem sprechenden Subjekt“ („the speaking subject”) und „der

Subjektivität des Autors“ („subjectivity of the author”). Er sagt: „In a play [...] the

total meaning of an utterance is not the intentional object of the dramatic character;

that meaning is simply a component in the more complex intention of the dramatist”

(VI, 243). Ähnliches gilt auch im Falle der Ironie. „Irony, for example, always entails

a comprehension of two contrasting stances (intentional levels) by a third and final

complex intention. The speaking subject may be defined as the final and most

comprehensive level of awareness determinative of verbal meaning,” führt Hirsch fort

(VI, 244). Der Grund hierfür liegt darin, daß ein Autor eine Haltung einnehmen kann,

die sich von seinen innersten Haltungen unterscheiden; „ebenso muß auch der

Interpret stets eine Haltung einnehmen, die von seiner eigenen verschieden ist,“ so

Hirsch (PI, 299). Insofern sind die privaten Erfahrungen des Autors für den Vorgang

der Interpretation ohne Bedeutung. “In construing and verifying verbal meaning, only

the speaking subject counts” (VI, 244). Der einzige relevante Aspekt der Subjektivität

ist derjenige, der den Sinn des Textes bestimmt. „The only relevant aspect of

subjectivity is that which determines verbal meaning or, in Husserl’s terms, content,”

sagt Hirsch. (ebd.). Das ist auch der Grund für Hirsch, sich als „in wesentlicher

Übereinstimmung mit den amerikanischen Anti-Intentionalisten“ zu bekennen, weil

162

„sie zu Recht private Assoziationen vom Wortsinn ausschließen“212.

Die Bestrebung nach einer Begründung der Möglichkeit und Gültigkeit

wiedererkennender Interpretation bei Hirsch hängt mit seiner Verteidigung der

Objektivität wissenschaftlicher Interpretation zusammen. Zur Erklärung der

Objektivität der Interpretation hat Hirsch sich auf Husserls Logische

Untersuchungen213 berufen. Husserl sah sich darin „in immer steigendem Maße zu

allgemeinen kritischen Reflexionen über das Wesen der Logik und zumal über das

Verhältnis zwischen der Subjektivität des Erkennens und der Objektivität des

Erkenntnisinhaltes gedrängt.“214 „Er [Husserl] ging jedoch nicht von einem strengen

platonischen Idealismus aus, nach welchem Sinne eine eigene, von Sinnerlebnissen

getrennte Existenz besitzen. Er betonte statt dessen die Objektivität des Sinnes, indem

er die beobachtbare Beziehung zwischen ihm und jenen durchaus geistigen Vorgängen,

in denen er aktualisiert wird, analysiert; Objektivität und Beständigkeit des Sinns

werden nämlich durch jene Sinnerlebnisse selbst bestätigt,“ meint Hirsch (PI, 271, vgl.

VI, 217). Damit scheint Hirsch zu sagen, daß die Objektivität der Interpretation

gerade in der Objektivität als Objektivation und Beständigkeit des Textsinnes liegt,

weil Interpretation ein Sinnerlebnis ist. Werden die Objektivität und Beständigkeit des

Sinns durch Sinnerlebnisse selbst bestätigt, wird die Objektivität der Sinnerlebnisse

selbst auch bestätigt.

Nach Hirsch ist es Husserls Anhaltspunkt, daß „different intentional acts (on

different occasions) ‚intend’ an identical intentional object“ (VI, 218). Das bedeutet,

daß verschiedene intentionale Akte ein identisches Objekt intendieren können, oder 212 Hirsch bezieht sein Argument hier auf Eduard Sprangers Konzeption des ‚kulturellen Subjekts’ (‚cultural subject’) und dessen Aufsatz: „Zur Theorie des Verstehens und zur geisteswissenschaftlichen Psychologie“ (in: Festschrift Johannes Volkelt zum 70. Geburtstag, München 1918, S. 369) in einer Anmerkung in Validity in Interpretation, S. 243. Vgl. oben Kap.3.2.3., S. 152. 213 Edmund Husserl: Logische Untersuchungen, 3 Bde, Tübingen 1968. Hirsch bezieht sich hauptsächlich auf den zweiten Band. 214 Edmund Husserl: Logische Untersuchungen, Bd. 1, Prolegomena zur reinen Logik, Tübingen 1968, Vorwort, vii.

163

daß ein identisches Objekt von verschiedenen intentionalen Akten intendiert bzw.

erkannt werden kann, sei es in der Wiederherstellung im Gedächtnis derselben Person,

sei es im Textsinn, den verschiedene Interpreten zu verstehen haben. Das würde

bedeuten, daß die Objektivität der Interpretation darin liegt, daß der identische

Textsinn von verschiedenen Interpreten wiedererkannt und rekonstruiert werden kann.

Hierauf könnte auch die Möglichkeit objektiver Erkenntnisse als allgemeingültiger

Erkenntnisse von vergangenen Zeiten und fremden Kulturen gegründet werden.

Daher versucht Hirsch, sich auf die Begriffe „intentionales Objekt“ und „intentionaler

Akt“ von Husserl berufend, den Charakter von „verbal meaning“ zu verdeutlichen.

Für Hirsch ist verbal meaning nur eine besondere Art von Sinn (“meaning”), der,

wie andere, auch ein intentionales Objekt ist („an intentional object, that is, something

there for consciousness“). Er kann daher auch von verschiedenen intentionalen Akten

“intendiert” werden, d.h. verschiedene intentionale Akte können den gleichen

Textsinn intendieren. Daher ist verbal meaning per Definition „jener Aspekt einer

‘Intention’ des Sprechers, der innerhalb sprachlicher Konventionen mit anderen geteilt

werden kann“ (PI, 273; vgl. VI, 218).

Um einen Überblick zu bekommen, faßt Hirsch Husserls Analyse wie folgt

zusammen:

„Verbal meaning, being an intentional object, is unchanging, that is, it may be reproduced by different intentional acts, and remains self-identical through all these reproductions. Verbal meaning is the sharable content of the speaker’s intentional object. Since this meaning is both unchanging and interpersonal, it may be reproduced by the mental act of different persons” (VI, 219).

Als ein intentionales Objekt ist der Wortsinn unveränderlich, d.i. er kann durch

verschiedene intentionale Akte reproduziert werden und bleibt bei all diesen

Reproduktionen mit sich selbst identisch. Der Wortsinn ist der mit anderen teilbare

164

Inhalt des intentionalen Objekts des Sprechers. Da dieser Sinn sowohl unveränderlich

als auch überpersönlich ist, kann er durch geistige Akte verschiedener Personen

reproduziert werden. Für Hirsch ist Husserls These historistisch, indem Husserl

behaupte, daß jede besondere, geschriebene oder gesprochene sprachliche Äußerung

geschichtlich bestimmt sei, “for even though he insists that verbal meaning is

unchanging, he also insists that any particular verbal utterance, written or spoken, is

historically determined” (VI, 219). Damit kommt Hirsch zu dem Schluß, daß „der

Sinn ein für alle mal durch den Charakter der Intention des Sprechers bestimmt

ist“ (ebd.). Hiervon ausgehend gelangt Hirsch zu seiner These, daß verbal meaning

als der ursprünglich vom Autor intendierte Sinn von den anderen bzw. verschiedenen

Interpreten wiedererkannt werden und immer derselbe bleiben kann.

3.3.2. Unterscheidung zwischen Sinn und Bedeutung, Interpretation und Kritik

Das Einbeziehen der Autorintention in die Bestimmung des Textsinns bei Hirsch

deutet den Unterschied zwischen ihm und Gadamer an. Gadamer geht von der

Selbstverständlichkeit der Schriftlichkeit des Textes aus, um die Ablösung des

Textsinns vom Autor und die Autonomie des Textes zu behaupten, wie wir im 2.

Kapitel herausgestellt haben. Für Gadamer ist die neue Aussage, bzw. das

Andersverstehen des Textes, wichtiger als die Wiederherstellung des originären

Textsinnes, den der Autor im Sinne hatte. Indem Gadamer den ursprünglich vom

Autor gemeinten Textsinn von dem Sinn des Textes ablöst, ist es jedoch schwer

einzusehen, wie der Sinn einer schriftlichen Aufzeichnung „grundsätzlich

identifizierbar und wiederholbar“ sein kann, vor allem wenn das Wiederholen „nicht

die Zurückbeziehung auf ein ursprünglich Erstes, in dem etwas gesagt oder

geschrieben ist, als solches“ ist (WM, 396). Das Problem bei Gadamer liegt darin, daß

165

mit dem zu wiederholenden Sinn nicht der ursprüngliche gemeint ist. Das in der

Wiederholung Identische „allein ist es, das in der schriftlichen Aufzeichnung wirklich

niedergelegt war“ (ebd.). Damit wird der Sinn des Textes bei Gadamer ins Unendliche

geführt und bleibt unbestimmbar. So könnten bei Gadamer weder Determiniertheit

noch Reproduzierbarkeit des Textsinns im Hinblick auf die Schriftlichkeit und die

Autonomie des Textes bestehen.

Daher kritisiert Hirsch Gadamer: “to view the text as an autonomous piece of

language and interpretation as an infinite process is really to deny that the text has any

determinate meaning” (VI, 249). Nach Hirschs Ansicht ist Gadamers Hervorhebung

der Autonomie der Sprache und der Unendlichkeit des Verfahrens der Interpretation

eine Verleugnung der Determiniertheit des Textsinnes. Ihm scheint die Formulierung

von Gadamer zu sagen, daß der Sinn des Textes “self-identical and repeatable” sei,

und im nächsten Augenblick sei das Wiederholen nicht wirklich ein Wiederholen, und

das Identische sei nicht wirklich ein Identisches (VI, 252). Das Problem bei Gadamer

liegt Hirschs Auffassung nach in seiner Gleichsetzung vom meaning und significance.

Der fundamentale Unterschied, den Gadamer übersehen hat, sei der zwischen dem

Sinn eines Textes und der Bedeutung dieses Textsinns für die gegenwärtige Situation.

“The fundamental distinction overlooked by Gadamer is that between the meaning of

a text and the significance of that meaning to a present situation. It will not do to say

in one breath that a written text has a self-identical and repeatable meaning and in the

next that the meaning of a text changes” (VI, 255).

Dagegen versucht Hirsch, unter Berufung auf Freges Unterscheidung zwischen

Sinn und Bedeutung 215 , den Unterschied zwischen meaning und significance

hervorzuheben. Hirsch meint: „The distinction between meaning and significance of a

215 Gottlob Frege: Über Sinn und Bedeutung. In: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, 100 (1892), S. 25-50.

166

text was first clearly made by Frege in his article ‚Über Sinn und Bedeutung’, where

he demonstrated that although the meanings of two texts may be different, their

referent or truth-value may be identical“ (VI, 211). Bei Frege liegt der Unterschied

zwischen Sinn und Bedeutung darin, daß der jeweilige Sinn von zwei Texten zwar

verschieden sein kann, ihre Bezüge bzw. Bedeutungen oder Wahrheitswerte könnten

aber identisch sein. Ähnlich wird die Unterscheidung zwischen meaning und

significance bei Hirsch folgendermaßen formuliert:

„Meaning is that which is represented by a text; it is what the author meant by his use of a particular sign sequence; it is what the signs represent. Significance, one the other hand, names a relationship between that meaning and a person, or a conception, or a situation, or indeed anything imaginable” (VI, 8).

Für Hirsch ist meaning der Sinn des Textes, also das, was der Autor durch seine

Verwendung von bestimmten linguistischen Zeichen ausdrücken möchte und das, was

diese schriftlichen Aufzeichnungen repräsentieren. Significance ist dann der Textsinn

im Bezug auf eine andere Person als Leser oder Interpreten, auf eine Konzeption oder

eine Situation, also die Bedeutung des Textes für alles mögliche, welche von Zeit zu

Zeit, von Person zu Person, von Sache zu Sache verschieden sein kann.

Eine für die Theorie und Praxis der Interpretation entscheidende Frage ist nun:

Wie lassen sich die möglichen Implikationen, die wirklich zu dem „gewollten“ Sinn

des Textes gehören, von denen, die nicht dazu gehören, unterscheiden? Dazu sagt

Hirsch: „Die Determiniertheit des Wortsinns hängt völlig von der Determiniertheit der

Implikationen ab, d.h. von der Existenz eines Prinzips, das ihre Zugehörigkeit oder ihr

Ausschluß regelt. Das wichtigste Prinzip einer vorläufigen Unterscheidung ist

zweifellos das, welches den Wortsinn von der Bedeutung trennt“ (PI, 86f; VI, 62).

Hier versucht Hirsch diese Unterscheidung nochmals zur Geltung zu bringen, bevor er

167

sich dem allgemeinen Problem der Implikation zuwendet216.

Die Bedeutung ist Hirschs Meinung nach „jeder Sinn, der eine Beziehung zu dem

so definierten Wortsinn aufweist“ (PI, 87). „Bedeutung ist immer das Verhältnis eines

Sinnes zu etwas, niemals der Sinn in etwas. Bedeutung schließt immer eine

Beziehung zwischen dem, was in jemandes Wortsinn ist, und dem, was nicht dazu

gehört, ein, selbst wenn diese Beziehung etwas mit dem Autor selbst oder mit seinem

Gegenstand zu tun hat“, betont Hirsch (ebd.). So gesehen ist die Bedeutung eines

Wortes oder eines Textes grenzenlos, im Vergleich zur Begrenztheit und Einheit des

Wortsinns oder Textsinns. „Nicht nur kann sein Wortsinn zu allen erdenklichen

Verhältnissen in Beziehung gesetzt werden (historischen, linguistischen,

psychologischen, physischen, metaphysischen, persönlichen, familiären und

nationalen), sondern er kann auch zu verschiedenen Zeiten zu den sich wandelnden

Zuständen aller möglichen Verhältnisse in Beziehung gesetzt werden“, erklärt Hirsch

(PI, 87f). Eine Implikation dagegen gehört aber zu einem Sinn, wie ein Einzelzug zu

einem Sinntyp gehört. Sie ist nur ein Teil bzw. ein Einzelfall des Wortsinns. Damit ist

der Unterschied zwischen Implikation (als Teil bzw. Einzelfall des Wortsinns) und

Bedeutung (als Wortsinn in Beziehung auf etwas anderes) bei Hirsch geklärt.

Durch diese Unterscheidung gelingt es Hirsch, die Wiedererkennbarkeit des

Textsinnes und die Verschiedenheit der Interpretationen zu erklären. Er sagt:

„The meaning of a text is that which the author meant by his use of particular linguistic symbols. Being linguistic, this meaning is communal, that is, self-identical and reproducible, it is the same whenever and wherever it is understood by another. However, each time this meaning is construed, its meaning to the construer (its significance) is different. Since his situation is

216 Hirsch bezieht sich hier auf August Boeckhs Unterscheidung zwischen „Wortsinn an sich“ und „Wortsinn in Beziehung auf reale Verhältnisse“, die auf seine Aufgabenbestimmung der Hermeneutik bezogen ist. Siehe August Boeckh: Enzyklopädie und Methodenlehre der philologischen Wissenschaften, hg. v. Ernst Bratuscheck, Darmstadt 1966, S. 81ff. Nachdruck der 2., von Rudolf Klussmann besorgten Auflage, Leipzig 1886.

168

different, so is the character of his relationship to the construed meaning” (VI, 255).

Der Sinn des Textes bleibt aufgrund des sprachlichen Charakters im Laufe der Zeit

unverändert und kann dadurch immer wieder von jedem Interpreten wiedererkannt

und verstanden werden, da der Sinn kommunikativ, d.h. selbst-identisch und

wiederholbar ist, während die Bedeutung des Textes in bezug auf den Kontext und die

Situation des jeweiligen Interpreten jeweils anders sein kann.

Es scheint Hirschs Absicht zu sein, durch die Unterscheidung zwischen Textsinn

und Bedeutung, die Möglichkeit des Identischen so wie die des Unterschieds in der

Interpretation zu erklären. Insofern ist Hirschs Unterscheidung zwischen Textsinn und

Bedeutung zuzustimmen, indem er die Wiederherstellung des ursprünglichen

Textsinns als Grundlage aller gültigen Interpretationen voraussetzt. Das Problem

bleibt nur noch, daß der ursprüngliche Sinn des Textes nie ganz von der Bedeutung

des Textes getrennt werden kann217. Dennoch ist zu bemerken, daß bei Hirsch die

Wiederholung des ursprünglichen Textsinnes in der Interpretation nur als eine

Möglichkeit der Übereinstimmung der Interpretation mit dem Textsinn dargestellt ist,

während diese Möglichkeit bei Gadamer hinsichtlich der Geschichtlichkeit

ausgeschlossen bleibt. Das heißt, bei Hirsch geht es lediglich darum, einen Hinweis

auf die Möglichkeit der Übereinstimmung der Interpretation mit dem ursprünglichen

Textsinns darzulegen, indem er die Identität und die Wiederholbarkeit des Textsinns

anhand der Unterscheidung zwischen Textsinn und Bedeutung hervorhebt.

Es ist eindeutig zu sehen, daß Hirsch zwar versucht, den Sinn des Textes mit dem

vom Autor intendierten Sinn zu identifizieren, ohne aber die anderen Möglichkeiten 217 Hier liegt offensichtlich ein Problem vor, wie Manfred Frank mit dem Hinweis auf die Dialektik von Allgemeinem und Individuellem bei Schleiermacher gezeigt hat: „Die Dialektik von Allgemeinem und Individuellem macht es faktisch unmöglich, über den verbal meaning einer Äußerung unabhängig von ihrer significance (und zwar sowohl auf Seiten des Autors wie des Interpreten) zu urteilen, da diese den Verwendungssinn jener erst festlegt, die »Bedeutung « mithin im »Sinn« gründet.“ Manfred Frank, Das individuelle Allgemeine, Frankfurt a. M. 1977, S. 255f.

169

des Textsinns zu übersehen. Ihm geht es offenbar nicht darum, zu behaupten, daß der

von uns erkannte Sinn des Textes der ursprünglich vom Autor gemeinte Textsinn sein

muß, sondern darum, daß der ursprünglich vom Autor intendierte Sinn aus dem Text

wiederzuerkennen und nur durch das Einbeziehen der Autorintention bestimmbar ist.

Mit der Unterscheidung zwischen meaning und significance kommt Hirsch dazu, in

Berufung auf August Boeckhs Unterscheidung zwischen Hermeneutik und Kritik den

Gegenstand der Hermeneutik als „textual meaning in and for itself“ vom Gegenstand

der Kritik als „that meaning in its bearing on something else“ d.h. „the significance of

the text“ zu unterscheiden, wodurch auch eine Unterscheidung zwischen

„Interpretation“ und „Kritik“ deutlich zu erkennen ist. Boeckh hat bekanntlich in

seinem Hauptwerk Enzyklopädie die Hermeneutik und die Kritik ihrer Aufgabe und

ihren Gegenständen nach als gesonderte Momente des Verstehens unterschieden. Die

Aufgabe der Hermeneutik ist es, „die Gegenstände an sich zu verstehen“; die Aufgabe

der Kritik ist „das Verhältnis der Lesart zu ihrer Umgebung, oder das Verhältnis, in

welchem die Beschaffenheit jenes Werkes zu der Individualität des betreffenden

Schriftstellers steht.“218 Dennoch setzen Hermeneutik und Kritik Boeckhs Auffassung

nach einander wechselseitig voraus.

Boeckhs Unterscheidung zwischen Interpretation und Kritik ist für Hirsch

einleuchtend, insofern er die Interpretation als die Konstruktion des Textsinnes an sich,

welchen der Text explizit oder implizit repräsentiert, und die Kritik als die auf die

Ergebnisse der Textinterpretation aufgebaute Interpretation des Textsinns im größeren

Kontext darstellt:

“Boeckh’s discussion of this distinction is illuminating: interpretation is the construction of textual meaning as such; it explicates (legt aus) those meanings, and only those meanings, which the text explicitly or implicitly represents.

218 A.a.O. S. 77.

170

Criticism, on the other hand, builds on the results of interpretation; it confronts textual meaning not as such, but as a component within a larger context“ (VI, 210).

Die Kritik wird bei Boeckh als „diejenige philologische Funktion“ definiert, wodurch

„ein Gegenstand nicht aus sich selbst und um seiner selbst willen, sondern zur

Festsetzung eines Verhältnisses und einer Beziehung auf etwas Anderes verstanden

werden soll, dergestalt, dass das Erkennen dieses Verhältnisses selbst der Zweck

ist.”219

„The object of interpretation is textual meaning in and for itself and may be called the meaning of the text. The object of criticism, on the other hand, is that meaning in its bearing on something else (standards of value, present concerns, etc), and this object may therefore be called the significance of the text“ (VI, S.210).

Die Hermeneutik dient daher als die Grundlage für die Kritik.

Neben der Unterscheidung zwischen Sinn und Bedeutung macht Hirsch auf den

Unterschied zwischen Sinn und Sache in der Hermeneutik aufmerksam, den er am

Beispiel der Lutherischen Lehre „Qui non intelliget res non potest ex verbis sensum

ellicere“ zu zeigen versucht (VI, 248; vgl. S.92). Der Satz von Luther besagt: Wer die

Sache nicht versteht, kann auch nicht den Sinn aus den Wörtern herausziehen. Dies ist

der Punkt, an dem Hirsch Gadamer kritisiert. Für Gadamer ist die Sache entscheidend

für den Sinn des Textes, nicht der Autor. Hirsch macht darauf aufmerksam, „daß

Luther hier zwischen res und sensus vorsichtig unterscheidet, während Gadamer es

nicht tut“ (VI, 248, übersetzt v. mir). „Indeed, Gadamer identifies meaning and

subject matter – as though meaning were an autonomous entity quite independent of

consciousness – which is a repudiation not simply of psychologism but of

219 A.a.O. S. 170.

171

consciousness itself“ (ebd.). Gadamers Gleichsetzung von Sinn und Sache bedeutet

für Hirsch eine Leugnung des Bewußtseins in der Bestimmung des Textsinns, als ob

der Textsinn eine vom Bewußtsein unabhängige Autonomie besäße.

Hirschs Pointe besteht darin, daß ohne die subjektive Bestimmung des Autors der

Sinn des Textes unbestimmbar wäre. Folglich könnte es auch kein sachgemäßes

Sinnverständnis und Sachverständnis von Texten geben, wenn man Gadamers

Hermeneutik folgt220. Wir haben im 2. Kapitel gezeigt, daß das Verstehen in der

Hermeneutik bei Gadamer mehr an der Verständigung über die Sache als der

sachlichen Wahrheit des Textes, als am Verständnis von Textsinn orientiert ist, indem

er das Verstehen und die Interpretation von Heiligen Schriften und Gesetzen als

Beispiel nennt. Gadamer bestimmt die Übereinstimmung in der Sache als das Ziel

allen Verstehens und aller Verständigung und stellt sich die Aufgabe, „die

geisteswissenschaftliche Hermeneutik von der theologischen und juristischen

Hermeneutik her neu zu bestimmen“ (WM, 316). Das ist auch der Grund dafür, daß

der Wille und die Intention des Autors von ihm für unwichtig erklärt und die

Rekonstruktion des vom Autor gemeinten Textsinn als Aufgabe der Interpretation

abgewertet wird. Hier bieten sich uns erneut die Überlegungen an, ob es überhaupt

notwendig ist, das Recht des Autors als des Anderen bei der Bestimmung des

Textsinns in der Textinterpretation aufzuheben, und ob es noch möglich ist, ohne eine

Übereinstimmung im Sinnverständnis eine Übereinstimmung in der Sache zu erzielen,

selbst wenn das Sachverständnis eine durchaus berechtigte Aufgabe

geisteswissenschaftlicher Hermeneutik sein soll. Insofern ist Hirschs Kritik an

Gadamer durchaus berechtigt.

Die Wiedererkennbarkeit des Textsinns als Bedingung wiedererkennender

220 Ich haben oben (Kapitel 2.3.1., S. 103.) auf Hans Ineichens Kritik an Gadamers fragwürdiger Trennung des Sinnverständnisses von dem Verständnis der Sache eines Textes hingewiesen.

172

Interpretation ist bei Hirsch auch die Bedingung für die Möglichkeit

zwischenmenschlicher Kommunikation. Denn ohne diese Wiederholbarkeit des

Textsinns als Voraussetzung des Verstehens und Interpretierens wäre auch das

Verstehen der Menschen untereinander nicht möglich. Daher kritisiert Hirsch

Heidegger und Gadamer:

„Heidegger, on Gadamer´s interpretation, denies that past meaning can be reproduced in the present because the past is ontologically alien to the present. The being of a past meaning cannot become the being of a present meaning, for being is temporal and differences in time are consequently differences in being. If this is the argument on which Gadamer wishes to found his doctrine of historicity, he should acknowledge that it is ultimately an argument against written communication in general and not just against communication between historical eras” (VI, 256).

Die Leugnung der Möglichkeit zur historischen Rekonstruktion des Textsinns aus

einer vergangenen Zeit aufgrund der Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins und

des Verstehens bei Heidegger und Gadamer bedeutet für Hirsch nicht nur eine

Leugnung der Möglichkeit der Kommunikation zwischen verschiedenen Zeiten,

sondern auch eine Leugnung der Möglichkeit der schriftlichen Kommunikation im

allgemeinen.

3.3.3. Autorintention als universales Prinzip gültiger Interpretation

Hirschs Anliegen ist es, durch das Einbeziehen der Autorintention in die

Bestimmung des Textsinns die Determiniertheit und die Reproduzierbarkeit des

Textsinns zu begründen und die Möglichkeit der Rekonstruktion des ursprünglichen

Sinnes dadurch zu verteidigen. Es sagt: „Defining textual meaning as the verbal

intention of the author argues implicitly that hermeneutics must stress a reconstruction

173

of the author’s aims and attitudes in order to evolve guides and norms for construing

the meaning of his text“ (VI, 224).

Es bleibt jedoch zu fragen, wie die guten von den schlechten, die legitimen von den

illegitimen Interpretationen zu unterscheiden sind, wenn Hirsch von der Annahme

ausgeht: “theory should try to provide normative criteria for discriminating good from

bad, legitimate from illegitimate constructions of a text“ (AI, 75).

Im Gegensatz zum radikalen Historismus, der an der Möglichkeit historischer

Rekonstruktion als gültiger Interpretation zweifelt, geht Hirsch davon aus, daß das

Ziel der gültigen Interpretation „nicht einfach aufgrund der Unsicherheit und

Ungewißheit der Interpretation als ein nutzloses Ziel weggelassen werden“ soll. Denn

„Gewißheit ist nicht das gleiche wie Gültigkeit, und Wissen von Unklarheit muß nicht

unbedingt unklares Wissen sein,“ sagt Hirsch (VI, Vorwort, ix). Ihm geht es folglich

nicht um die Sicherung und die Suche nach der „besten“, „absolut

richtigen“ Interpretation, sondern um die Möglichkeit der Gewinnung von Konsensus

unter den Interpreten über die Gültigkeit der Interpretation, weil jede Interpretation

eines Textes in gewisser Hinsicht anders als jede andere Interpretation desselben ist.

Eben diese Tatsache, daß es sehr unterschiedliche mögliche Implikationen gibt,

fordert eine Theorie der Interpretation und Gültigkeit: “The variability of possible

implications is the very fact that requires a theory of interpretation and validity” (VI,

123).

Das Prinzip für das Einschließen oder Ausschließen der Implikationen liegt Hirschs

Auffassung nach darin, „to ask whether they are embraced by the author’s will to

mean ‘all traits belong to this particular type’” (VI, 124). Selbst für die Interpretation

der Heiligen Schriften und literarischen Werke gilt das Prinzip der Einschränkung der

Implikationen unter dem „willed type“ des Autors. Hirsch meint:

174

„The ‚sensus plenior’, a conception in scriptural interpretation under which the text’s meaning goes beyond anything the human author could have consciously intended, is, of course, a totally unnecessary entity. The human author’s willed meaning can always go beyond what he consciously intended so long as it remains within his willed type, and if the meaning is conceived of as going beyond even that, then we must have recourse to a divine Author speaking through the human one. In that case it is His willed type we are trying to interpret, and the human author is irrelevant. We must not confuse his text with God’s. In either instance the notion of a sense beyond the author’s is illegitimate. The same point holds, of course, for inspiration in poetry: either we are interpreting the poet’s text or that of the muse who possesses him, one or the other” (VI, 126).

„Validity requires a norm – a meaning that is stable and determinate no matter how broad its range of implication and application. A stable and determinate meaning requires that an author’s determining will, and it is sometimes important, therefore, to decide which author is the one being interpreted when we confront texts that have been spoken and re-spoken. All valid interpretation of every sort is found on the re-cognition of what an author meant,“ stellt Hirsch fest (VI, 126, Hervorhebung von mir).

Hier macht Hirsch auf den Unterschied zwischen einem humanen Autor und einem

göttlichen Autor der Heiligen Schriften aufmerksam.

Demnach ist die Unterscheidung zwischen verschiedenen Sorten von Texten

Hirschs Auffassung nach weiterhin notwendig. „The fact that two different minds can

intend quite different meanings by the same word sequence should not by now be

surprising. Nothing is gained by conflating and confusing different ‘texts’ as though

they were somehow the same simply because they both use the same word sequence,”

meint Hirsch (ebd.). Gadamers Konzeption von Text ist Hirschs Meinung nach zu

sehr auf kanonische Werke wie die Bibel und die Verfassung beschränkt. „For

Gadamer all texts are like the Constitution and the Bible“ (VI, 123). Dagegen versteht

Hirsch unter Texten nicht nur kanonische Werke wie Gesetze, Verfassung oder die

Bibel, bei denen die Autorintention für Gadamer unwichtig erscheint, sondern Texte,

die verschiedenen Genres angehören, die aber unter dem gleichen Prinzip der

175

Autorintention zu verstehen und interpretieren sind. Selbst die Gesetze oder die

Verfassung sind mit der Intention des Gesetzgebers verbunden, die eine Ordnung der

Gesellschaft herstellen oder die Gerechtigkeit in einem Staat erhalten möchte.

3.3.4. Prinzip der Wahrscheinlichkeit und interpretativer Evidenz

Hirschs Überlegung führt schließlich dazu, daß jede Interpretation nur einen

Teilbereich erfassen kann. Er sagt:

„Every interpretation is partial. No single interpretation can possibly exhaust the meanings of a text. Therefore, to the extent that different interpretations bring into relief different aspects of textual meaning, the diversity of interpretations should be welcomed; they all contribute to understanding. The more interpretation one knows, the fuller will be one’s understanding” (VI, 128).

Auch die Definition von Wortsinn als des vom Autor intendierten Sinnes kann,

Hirschs Ansicht nach, den Sinn des Textes nicht wirklich beschränken. „The

definition places no rigid limit on the number of implications verbal meaning might

have” (VI, 139). Da es mehr als eine Implikation von Wortsinn gibt, ist es die

Aufgabe des Interpreten, „to distinguish what a text implies from what it does not

imply; he must give the text its full due, but he must also preserve norms and

limits“ (VI, 219). Daher liegt das Problem für die hermeneutische Theorie Hirschs

Meinung nach darin, “a principle for judging whether various possible implications

should or should not be admitted” zu finden (ebd.). Insofern geht es in der

Hermeneutik bei Hirsch um das Prinzip der Geltungsprüfung der Interpretation. Das

Ziel der Geltungsprüfung ist es: „eine bestimmte interpretative Hypothese als richtig

festzustellen und dadurch die einzig mögliche Grundlage für einen Consensus

omnium bezüglich des Textes herzustellen“ (PI, S.216; vgl. VI, 169f). Dieser Konsens

176

würde Hirschs Auffassung nach jedoch nicht eine bestimmte Interpretation stützen,

sondern eher „den ganzen Sinn, auf den sich verschiedene Interpretationen beziehen

können – eine besondere Art von wahrem Genre, das Implikationen bestimmen

kann“ (PI, 216; vgl. VI, 170). Insofern sollten die Probleme der Interpretation bei

Hirsch nicht mit den Problemen des Verständnisses verwechselt werden:

“Der systematische Teil der Interpretation beginnt, wo der Prozeß des Verständnisses aufhört. Das Verständnis kommt zu einer Erschließung des Sinns; die Aufgabe der Geltungsprüfung besteht darin, unterschiedliche Erschließungen, zu denen das Verständnis gelangt ist, gegeneinander abzuwägen. Die Geltungsprüfung ist folglich die fundamentale Aufgabe der Interpretation als Disziplin, da da, wo Übereinstimmung bereits besteht, kein praktisches Bedürfnis für die Feststellung der Richtigkeit vorliegt” (PI, 216f; vgl.VI, 170).

Um den falschen Eindruck zu vermeiden, daß die Feststellung der interpretativen

Richtigkeit oder der Konsens, den sie zu erreichen sucht, in irgendeiner Weise

permanent ist, zieht Hirsch hier den Begriff „validation“ („Geltungsprüfung“) dem

endgültiger klingenden Wort „verification“ („Verifizierung“) vor: „To verify is to

show that a conclusion is true; to validate ist to show that a conclusion is probably

true on the basis of what is known“ (VI, 171) 221 . Daher muß das Ziel der

Interpretation als Disziplin ein bescheidenes sein, nämlich „die so definierte

Richtigkeit festzustellen“ (PI, 217). Daraus ergibt sich, daß Interpretation für Hirsch

implizit eine stets fortschreitende, “progressive discipline” ist: „Ihre neuen

Schlußfolgerungen, auf größeres Wissen gegründet, sind wahrscheinlicher als die

früheren Schlußfolgerungen, die sie zurückgewiesen hat“ (PI, 217; vgl. VI, 171).

Folglich besteht das Ziel der Feststellung der Richtigkeit bei Hirsch nicht 221 Hier vollzieht sich nach Hirschs eigener Angabe seine Wendung von „verification“ zu „validation“. Der Grund solcher Wendung liegt Hirsch zufolge darin, daß es im täglichen Gebrauch von einer „gültigen Schlußfolgerung“ dann gesprochen würde, wenn sie durch überzeugende Argumentation erreicht wurde, auch wenn sie möglicherweise nicht mit Sicherheit richtig ist. „Der Ausdruck, „eine verifizierte Schlußfolgerung“, deutet andererseits auf direkte Bestätigung und Gewißheit hin,“ so Hirsch (PI, 217 unten Anmerkung 2.).

177

notwendigerweise darin, einen einzelnen Sieger zwischen zwei solchen Hypothesen

festzustellen, sondern darin, zu einem objektiven Schluß über die relative

Wahrscheinlichkeit einer jeden Hypothese zu gelangen. Eine der wichtigsten

Funktionen der Geltungsprüfung für die Interpretation liegt folglich darin, „zu zeigen,

daß zwei oder mehr unterschiedliche Interpretationen gleichermaßen gültig sind.

Damit kann diese Prüfung der Forschung einen Ansporn geben, da zwei

unterschiedliche Interpretationen nicht zugleich richtig sein können“ (PI, 219f; vgl. VI,

173).

Diese Unterscheidung zwischen der momentanen Gültigkeit einer Interpretation

(die festgestellt werden kann) und ihrer letztlichen Richtigkeit (über die niemals

endgültig entschieden werden kann) bedeutet für Hirsch jedoch nicht, daß richtige

Interpretationen unmöglich seien. Denn Hirsch geht davon aus, daß Richtigkeit nach

wie vor das Ziel der Interpretation sein muß, und daß dies in der Tat erreicht werden

kann, obwohl man niemals wissen kann, ob es erreicht worden ist. „Wir können im

Besitz der Wahrheit sein, ohne sicher zu sein, daß wir sie besitzen; und auch in der

Abwesenheit von Gewißheit können wir Wissen haben, Wissen über das

Wahrscheinliche,“ so Hirsch (PI, 220; vgl. IV,173).

Damit leitet Hirsch zur Logik der Geltungsprüfung der Interpretation über. Bei

Hirsch gehören die Prinzipien der Wahrscheinlichkeit und interpretatives

Beweismaterial zur Logik der Geltungsprüfung. Für ihn ist eine interpretative

Hypothese letztlich ein „Wahrscheinlichkeitsurteil“ („a probability judgment“), das

durch „interpretative Evidenz“ gestützt wird (VI, 180). Das Wahrscheinlichkeitsurteil

ist „compounded of numerous subhypotheses (i.e. constructions of individual words

and phrases) which are also probability judgments supported by evidence,” erklärt

Hirsch (ebd.). Folglich hängt die Objektivität der Interpretation als Disziplin von

unserer Fähigkeit ab, “eine objektiv begründete Wahl zwischen zwei

178

unterschiedlichen Wahrscheinlichkeitsurteilen auf der Basis des ihnen gemeinsamen

Beweismaterials zu treffen“ (PI, 229). Die Objektivität einer solchen Erkenntnis über

Texte ist Hirschs Auffassung nach „immer in Zweifel gezogen worden, und wird auch

weiterhin in Zweifel gezogen werden, solange Literaturkritik durch ihre Tendenz, sich

für bestimmte Thesen einzusetzen, sie aber nicht mit gleichem Interesse einer

Bewertung zu unterziehen, beeinträchtig wird“ (PI, 220). Damit ist klar, daß es bei

Hirsch nicht um die „Gewißheit der Richtigkeit”, sondern um die „Wahrscheinlichkeit

der Gültigkeit“ der Interpretation geht. Die Objektivität der Interpretation als

Disziplin hängt folglich von unserer Fähigkeit ab, eine objektiv begründete Wahl

zwischen zwei unterschiedlichen Wahrscheinlichkeitsurteilen auf der Basis des ihnen

gemeinsamen Beweismaterials zu treffen. Solche Erkenntnis bleibt für Hirsch

objektiv und auf solide etablierte Prinzipien gegründet 222 . Folglich liegt die

Objektivität der Interpretation bei Hirsch nicht in der Methode der Interpretation,

sondern in der objektiv begründeten Geltungsprüfung der Interpretation.

Dieses Wissen von der Wahrscheinlichkeit der Gültigkeit einer Interpretation kann

nur durch die Geltungsprüfung gewährleistet werden. Daher macht Hirsch die

Geltungsprüfung (“validation”) zum Prinzip der Interpretation. Das ist auch der Punkt,

an dem Paul Ricoeur sich an Hirsch anschließt (und mit Hirsch übereinstimmend

findet). Nach Ricoeur eröffnet uns die Logik der Validierung von Hirsch „einen

Interpretationsrahmen zwischen Dogmatismus und Skeptizismus,“ 223 und die

Validierung einer Textinterpretation erbringt „ein wissenschaftlich brauchbares

222 Hirsch bezieht seine Argumente hier auf J. M. Keynes Auffassung über Wahrscheinlichkeitsurteil. Hirsch meint: „Keynes wies (in A Treatise on Probability), darauf hin, daß die Anlehnung eines Wahrscheinlichkeitsurteils im Lichte neuen Beweismaterials die Objektivität oder Gültigkeit des früheren Urteils in keine Weise berührt. Dessen Gültigkeit war ganz und gar eine Funktion des Beweismaterials, auf das es gegründet war“ (PI, 220, unten Anmerkung). Vgl. J.M. Keynes: A Treatise on Probability, ed. by Torchback, New York 1962, s. bes. S. 3-9. 223 Paul Ricoeur: Der Text als Modell: hermeneutisches Verstehen (1971), in: H.-G. Gadamer u. G. Boehm (Hg.): Die Hermeneutik und die Wissenschaften, Frankfurt a. M. 1978, S. 83-117. Hier S. 105.

179

Wissen über den Text.“224

Die Gültigkeit einer Interpretation hängt davon ab, ob sie sich auf den vom Autor

intendierten Textsinn bezieht und ob sie durch Beweismaterial gestützt wird. Insofern

gilt die Autorintention bei Hirsch nach wie vor als ein normatives Prinzip für die

Geltungsprüfung der Interpretation. Das besagt nicht, daß die Intention des Autors

dadurch wirklich feststellbar ist. Dieses Problem tritt auf, sobald der Autor unbekannt

oder der Sinngehalt des Textes undeutlich ist.

Anders als bei Boeckh und Betti wird die Hermeneutik bei Hirsch nicht als eine

allgemeine Methodik, sondern als eine Disziplin der Interpretation dargestellt, die

nicht Kanons und Regeln, sondern Prinzipien der Geltungsprüfung der Interpretation

anbietet. Er meint: “There can be no canons of construction, but only canons which

help us to choose between alternative meanings that have already been constructed

from the text” (VI, 204). Es kann weder richtige Methoden noch interpretative Regeln

der Interpretation geben, die allgemein und zugleich praktisch sind. “There are no

correct ‘methods’ of interpretation, no uniquely appropriate categories“ (VI, 139).

Daher liegt die eigentliche Bedeutung der allgemeinen Hermeneutik Schleiermachers,

“not in his canons, but in his intelligent, lengthy, and digressive qualifications of

them” (VI, 202). Für Hirsch sind die praktischen Kanons der Interpretation

überwiegend “probability judgments based on past experience” (VI, 203). Denn: „no

possible set of rules or rites of preparation can generate or compel an insight into what

an author means“(ebd.).

“The act of understanding is at first a genial (or a mistaken) guess, and there are no methods for making guesses, no rules for generating insights. The methodical

activity of interpretation commences when we begin to test and criticize our guess. These two sides of the interpretive process, the hypothetical and the critical, are not of course neatly separated when we are pondering a text, for we

224 Ricoeur, a.a. O., S.104.

180

are constantly testing our guesses both large and small as we gradually build up a coherent structure of meaning” (VI, 203f, Hervorhebung von mir, Chen).

Das Verfahren des Verstehens bei Hirsch schließt zwei Vollzüge ein, nämlich den

Vollzug der Interpretation, in dem Hypothesen aufgestellt werden bzw. Sinn

konstruiert wird, und den Vollzug des Prüfens, in dem Hypothesen und

Schlußfolgerungen ständig geprüft und bestätigt werden. Diese Prozesse der

Interpretation sind Hirschs Meinung nach jedoch nicht voneinander zu trennen,

sondern bilden die beiden Seiten der Interpretation als Rekonstruktion des Textsinns.

„Während es also keine Methode und kein Modell der richtigen Interpretation gibt

und geben kann, kann es einen rücksichtslos kritischen Vorgang der Geltungsprüfung

geben, an dem viele Talente und viele Hände teilhaben können. Ebenso wie jeder

individuelle Interpretationsvorgang sowohl eine hypothetische als auch eine kritische

Funktion umfaßt, so besteht auch die Disziplin der Interpretation aus dem Haben der

Ideen und deren Überprüfung,“ so Hirsch (PI, 260; vgl. VI, 206).

Die Prinzipien dieser Logik sind Hirsch zufolge zugleich die Prinzipien, „nach

denen Wahrscheinlichkeitsurteile in allen Bereichen des Denkens gefällt werden”

(ebd.). Daraus folgt, daß die Prinzipien der Interpretation von verallgemeinerten

Maximen zu einer zunehmenden Besonderheit relevanter Beobachtungen tendieren.

Die Prinzipien, nach denen sich Wahrscheinlichkeitsurteile richten, erfordern, daß

jedes praktische interpretative Problem in seiner Besonderheit gelöst wird.

„The proper realm for generalizations in hermeneutics turns out to be the realm of principles, not of methods, for the principles underlying probability judgments require that every practical interpretive problem be solved in its particularity and not in accordance with maxims and approaches which usurp the name of theory” (VI, 207).

Das bedeutet, daß die hermeneutische Disziplin „positivistisch“ sein muß, um jedes

181

praktische Problem der Interpretation in seiner Besonderheit lösen zu können. Das

Grundproblem der Interpretation bleibt dann dasselbe, nämlich, „to guess what the

author meant“ (ebd.). Damit kommt Hirsch zu dem Schluß: „Wenn wir auch niemals

sicher sein können, daß unsere interpretativen Vermutungen richtig sind, so wissen

wir doch, daß sie richtig sein können und das Ziel der Interpretation als Disziplin

besteht darin, die Wahrscheinlichkeit ihrer Richtigkeit dauernd zu erhöhen” (PI, 262;

vgl. VI, 207). Insofern gründet sich die Hermeneutik als eine Disziplin der

Interpretation bei Hirsch „nicht auf eine Methodologie der Auslegung, sondern auf

eine Logik der Geltungsprüfung“ (VI, 207; vgl. PI, 261).

182

4. Hermeneutik zwischen eigener Tradition und fremder Kultur: Gadamer und

Hirsch im Vergleich

Im Ganzen betrachtet, lassen sich die Hermeneutiken von Gadamer und Hirsch

bezüglich des Fremdheitsproblems als die zwischen eigener Tradition und fremder

Kultur betrachten. Zum einen, weil die Konzeption von Hirsch auf das Verstehen

fremder Texte und fremder Kulturen gerichtet ist und das sittliche Verhältnis des

Interpreten zu fremdem Leben und fremden Kulturen in den Vordergrund stellt, was

auch sehr für die Bezeichnung Hermeneutik fremder Kulturen spricht, während

Gadamers Überlegungen auf die Wiederbelebung der normativen Werte eigener

Tradition abzielen und die sittlich Bindung des Interpreten an die eigene Tradition

hervorheben, weshalb sie einer Hermeneutik der eigenen Tradition zugeordnet werden

können. Zum anderen kann man jene Hermeneutiken so betrachten, weil dem

Verstehen in ihren Konzeptionen eine Vermittlungsfunktion zugeschrieben wird, die

sich in einer Dialektik zwischen Fremdheit und Vertrautheit abspielt, die aber nicht

nur das Verstehen von Texten der eigenen Kulturtradition, sondern auch das Verstehen

fremder Kulturen betrifft und damit auch das sittliche Verhältnis der Hermeneutik (in

Theorie und Praxis) zu eigener Tradition und fremder Kulturen ausmacht.

Insofern liegt es nahe, die Tragfähigkeit der hermeneutischen Konzeptionen von

Gadamer und Hirsch für das Problem des Fremden und für das Verstehen fremder

Kulturen in einem zusammenfassenden Vergleich zu verdeutlichen.

183

4.1. Traditionsvermittlung vs. Vermittlung fremder Meinung und fremder

Kulturen

In den vorigen Kapiteln wurde herausgestellt, daß die Wiederherstellung der

„gestörten normativen Sinneinheit“ der abendländischen Kulturtraditionen (die

Tradition der griechischen Antike und die Tradition des christlichen Glaubens) das

eigentliche Hauptanliegen der philosophischen Hermeneutik Gadamers war 225 ,

während die Begründung der Vermittlungsmöglichkeit und –notwendigkeit von

fremden Texten und fremden Kulturen durch rekognitive Interpretation den

Kernpunkt der philologisch-methodologischen Hermeneutik von Hirsch bildet.

Es wurde gezeigt, daß das Problem der Fremdheit, das Gadamer in seiner

philosophischen Hermeneutik überwinden möchte, nicht das Problem der kulturellen

Fremdheit ist, sondern das Problem der Verfremdung im Sinne der „Abstandnahme

von der eigenen Tradition“ durch eine kritisch distanzierende wissenschaftliche

Einstellung, die ihm zufolge seit der Entstehung des historischen Bewußtseins in der

Bibelhermeneutik Spinozas und seit der neuzeitlichen Aufklärung über

Schleiermachers Begründung der allgemeinen Hermeneutik in der Romantik bis zu

Diltheys hermeneutisch-methodologischer Begründung der Geisteswissenschaften am

Ende des 19. Jahrhundert allmählich auf den Weg gebracht wurde. Schuld daran

waren Gadamer zufolge „die Diskredierung des Vorurteils“ und der Tradition sowie

die Aufwertung der Vernunft als „letzte Quelle aller Autorität“ durch die Aufklärung

(WM 276ff). 225 Gadamer hat die Wiedergewinnung des Vorbildlichen und Maßgeblichen als das normative Motiv seiner Hermeneutik sowohl in Wahrheit und Methode als auch in Aufsätze über Hermeneutik mehrmals zum Ausdruck gebracht. In seiner Kritik an Schleiermachers Ablösung „von allem dogmatischen Interesse“ heißt es: „Weder die Heilswahrheit der Heiligen Schrift noch die Vorbildlichkeit der Klassiker sollte ein Verfahren beeinflussen, das in jedem Text seinen Lebensausdruck zu erfassen wußte und die Wahrheit des Gesagten dabei dahingestellt ließ“ (WM, 200f). „Es geht in der theologischen wie auch in der humanistischen Hermeneutik der Neuzeit um rechte Auslegung von solchen Texten, die das eigentlich Maßgebliche enthalten, das es zurückzugewinnen gilt“ (GW 2, 94f).

184

Um sich solchen „Vorurteilen gegen Vorurteile“ in der seit der Aufklärung

entstandenen Tendenz der „Verwissenschaftlichung“ des hermeneutischen Verstehens

und der „Überfremdung mit den objektivierenden Methoden der modernen

Wissenschaften“226 entgegenzustellen, versucht Gadamer die „Geschichtlichkeit“ im

Sinne der „Traditions- und Situationsgebundenheit“ als ontologische und normative

Bedingung des Verstehens zu verabsolutieren, womit er das „Vorurteilen“ im Sinne

des „niemals zu leugnenden Vorverständnisses“ jedes Verstehens227 unterstreichen

und die Bedeutung der Tradition für das Verstehen historischer Überlieferung und

damit den Sinn des Verstehens für die Fortwirkung und Fortsetzung der Tradition

erhellen möchte. „So erfüllt sich der Sinn der Zugehörigkeit, d.h. das Moment der

Tradition im historisch-hermeneutischen Verhalten, durch die Gemeinsamkeit

grundlegender und tragender Vorurteile,“ sagt Gadamer (WM, 300). Demnach müßte

jedes Verstehen und jede Auslegung faktisch von eigener Tradition (im Sinne der

eigenen Kultur und der eigenen Lebenswelt) getragen und bestimmt bleiben.

Sein Bedenken war die mögliche Konsequenz eines historisch-methodologischen

Bewußtseins in der Hermeneutik, das er auch „Historismus“ nannte, nämlich im Sinne

eines Wertrelativismus, der aus dem Bewußtsein der Vielfalt und Wandelbarkeit

menschlicher Kulturen und Wertsysteme entstehen und Desorientierungen

hervorbringen konnte. Seine Antwort auf das Verfremdungsproblem ist dann die

Rehabilitation der Autorität der Tradition als Wahrheitsquelle und

ontologisch-normative Bedingung des Verstehens. Gadamers Betonung der

„Zugehörigkeit zur Tradition“ will die vorlorengegange Überzeugungskraft

traditioneller Orientierungsmöglichkeiten wiederherstellen. Seine Beispiele für

226 Gadamer: Die Universalität des hermeneutischen Problem, Ges. Werke Bd. 2, S. 219-231, hier S. 220. 227 Vgl. Jens Loenhoff: Interkulturelle Verständigung. Zum Problem grenzüberschreitender

Kommunikation, Opladen 1992, S. 161.

185

traditionelle Orientierungsmöglichkeiten sind die philosophische Tradition der

griechischen Antike und die Tradition des christlichen Glaubens, die als das

Vorbildliche und Maßgebliche für das Verstehen in den Geisteswissenschaften weiter

Geltung haben sollen 228 . Insofern kann Gadamers Erhebung des

Wahrheitssanspruches der eigenen Tradition als eine Art Antwort auf das

Historismusproblem und auf den Wertrelativismus betrachtet werden229.

Damit wird die Aufgabe des hermeneutischen Verstehens bei Gadamer als die der

Traditionsvermittlung230 bzw. Traditionsaneignung besonders hervorgehoben. Eben in

diesem Sinne wird seine Hermeneutik von Michael Theunissen als eine auf die

„Traditionsaneignung“ gerichtete Hermeneutik genannt231, und von Gunter Scholtz

wird sie der „Hermeneutik der eigenen Tradition“232 zugeordnet, da es sich in

Wahrheit und Methode nicht nur um die Hervorhebung der Bedeutung der eigenen

Tradition für das Verstehen historischer Überlieferung handelt, sondern das Buch

selbst ein traditionsaneignender Versuch ist, indem Gadamer hier selbst die Tradition

der griechischen und abendländischen Philosophie und die Tradition des christlichen

228 Im Hinblick auf die Gegenwartssituation und den möglichen Beitrag der philosophischen Hermeneutik Gadamers für die Ethik meint Figal: „Der Verlust alltäglicher Selbstverständlichkeit hat sich durch das ‚Globalisierung’ genannte Phänomen beschleunigt; fremde Kulturen rücken einander näher und also gilt es, das Verhältnis unterschiedlicher Lebensorientierungen zueinander zu klären.“ Günter Figal: Ethik und Hermeneutik, in: Hermeneutik als Ethik, hg. v. München 2004, S.117-133. Hier S.119. Es bleibt jedoch zu fragen, ob Gadamers philosophische Hermeneutik das Verhältnis unterschiedlicher Lebensorientierungen zueinander überzeugend klären kann. Wie können fremde Kulturen zueinander näher kommen, wenn jede Kultur an ihren eigenen traditionellen Werte als unbedingte Wahrheit festhält, wie Gadamer hier die unbedingte Geltung eigener Kulturtradition als Maßstab alles Verstehens in den Geisteswissenschaften hervorhebt. Daraus kann keine Verständigungsmöglichkeit zwischen den Kulturen entstehen, die unterschiedliche Wertsysteme haben. 229 Vgl. dazu die Untersuchungen von Gunter Scholtz über „Das Historismusproblem und die Geisteswissenschaften im 20. Jahrhundert“, a.a.O., S.130-157. 230 Vgl. Karl-Otto Apel: Szientistik, Hermeneutik und Ideologiekritik, in: Hermeneutik und Ideologiekritik, hg. v. Rüdiger Bubner, Frankfurt a. M. 1975, S. 35. Für Apel gilt die „Traditionsvermittlung“ als die zentrale Aufgabe der philosophischen Hermeneutik Gadamers und als weiterhin notwendige Aufgabe der Geisteswissenschaften, die aber „eine andere Form annehmen muß als in der Zeit vor dem Aufkommen der historisch-hermeneutischen Geisteswissenschaften.“ 231 Theunissen hat die „Traditionsaneignung“ als das umfassende Thema von Wahrheit und Methode angedeutet, Michael Theunissen: Philosophische Hermeneutik als Phänomenologie der Traditionsaneignung. In: »Sein, das Verstanden werden kann, ist Sprache«. Hommage an Hans-Georg Gadamer, Frankfurt a. M. 2001, S.61-88. 232 Vgl. Gunter Scholtz: Zum Historismusstreit in der Hermeneutik, a.a.O. S. 213.

186

Glaubens in Übereinstimmung zu bringen sucht. Gadamer nennt es seine „eigene

kritische Besinnung“, die sich „der Wahrheit der Tradition“ erst wieder zuwendet und

sie zu erneuern sucht und die man „Traditionalismus“ nennen kann (WM, 286).

Folglich handelt es sich bei Gadamer weder um die Überwindung kultureller

Fremdheit noch um die Annäherung an fremde Meinungen oder fremde Kulturen

durch das hermeneutische Verstehen. Ganz im Gegenteil, ihm geht es um die

Wiederbelebung der unbedingten Geltung und Fortwirkung der sittlichen Normen der

eigenen Kulturtradition, aus der er kommt und in der er steht.

Das bedeutet zugleich eine Verwandlung des Fremdheitsproblems vom allgemeinen

Problem der Verständnisschwierigkeit von Texten in ein Problem der Verfremdung der

eigenen Tradition. Denn ursprünglich wurde, wie sich bei Schleiermacher zeigt, das

Problem des Fremden als das allgemeine Problem des Nichtverstehens und

Mißverstehens fremder Rede bestimmt, welches nicht nur beim Verstehen antiker

oder der in fremder Sprache gefaßten Schriften, sondern auch „im Gebiet der

Muttersprache und im unmittelbaren Verkehr mit Menschen“, also beim alltäglichen

Umgang mit anderen Mitmenschen vorkommen kann und dessen Überwindung früher

die Aufgabe der allgemeinen Hermeneutik war 233 . Bei Gadamer wird das

Spannungsverhältnis zwischen Fremdheit und Vertrautheit, das sich bei

Schleiermacher nicht nur zwischen Damals und Heute, sondern auch zwischen Ich

und Du als zwei Individuen und zwischen eigener und fremder Kulturen abspielt, auf

das Spannungsverhältnis zwischen „Zugehörigkeit“ und „geschichtlicher

Abständigkeit“ zur eigenen Tradition übertragen, da es sich ausschließlich um das

Verhältnis des Verstehenden zu seiner eigenen Tradition handelt.

Nach Ricoeur spiegelt dieses Spannungsverhältnis zwischen „Zugehörigkeit“ und

„Abstandnahme“ zur eigenen Tradition das Spannungsverhältnis zwischen Wahrheit 233 Siehe oben (Kapitel 1.1).

187

und Methode bei Gadamer wieder. Denn genau wie zwischen der Alternative von

Wahrheit und Methode, so müssen wir entweder die methodologische Einstellung

wählen, damit wir einen Anspruch auf Objektivität in den Geisteswissenschaften

stellen können, wobei wir aber dann den Verlust des ontologischen Verhältnisses zur

Tradition als geschichtlicher Wirklichkeit in Kauf nehmen müssen, oder wir müssen

uns für die Einstellung der Erfahrung von Wahrheit der Überlieferung entscheiden,

dann aber die Idee der Objektivität aufgeben234. Denn auf der einen Seite steht die

historisch distanzierende wissenschaftliche Einstellung, die in den

Geisteswissenschaften die dominierende Tendenz zur Objektivität möglich macht; auf

der anderen Seite aber bedeutet solche als Bedingung der Wissenschaftlichkeit

geltende Distanz zugleich einen Bruch mit dem fundamentalen und ursprünglichen

Verhältnis zur Tradition, zu der wir gehören und an der wir teilhaben, da wir sie in

einen Gegenstand der wissenschaftlichen Konstruktion verwandeln. Man muß sich

jedoch deutlich machen, daß die Geisteswissenschaften und mit ihnen auch die

Philosophie in der Neuzeit sich nicht nur mit Texten der eigenen Kulturtradition

begnügen und auch nicht begnügen dürften, wenn man nicht in der eigenen

Kulturtradition und in der eigenen Lebenswelt gefangen bleiben und die gegenwärtige

Situation der Intensivierung interkultureller Kontakte in allen Bereichen ignorieren

möchte.

Durch Gadamers Radikalisierung der Traditionszugehörigkeit als ontologischer und

normativer Bedingung des Verstehens kann die sittliche Bindung des Verstehenden an

seine eigene Kulturtradition zwar vielleicht wiederhergestellt oder sogar befestigt

werden. Das Verhältnis des Verstehenden zu Texten fremder Wertsysteme, fremder

Religionen und fremder Kulturen bleibt bei Gadamer aber ungeklärt und

234 Vgl. Paul Ricoeur: The Hermeneutical Function of Distanciation, in: Philosophy Today 17 (1973), S. 129-141. Ähnliches dazu vgl. Horst Turk: „Wahrheit oder Methode? H.-G. Gadamers »Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik«“, a. a. O.

188

problematisch. Während das in der romantischen Hermeneutik immer vorausgesetzte

Wissen um die kulturelle Fremdheit durch Gadamers Umdeutung des

Fremdheitsproblems in ein Verfremdungsproblem in Vergessenheit gebracht wird 235,

wird die Aufgabe des hermeneutischen Verstehens, die bei Schleiermacher, Boeckh,

Dilthey, Betti und Hirsch sich auf die ganze Vielheit der menschlichen Kulturen

bezieht, auf die eigene Kulturtradition und die eigene Lebenswelt reduziert und

eingeschränkt236.

Insofern ist in diesem Spannungsverhältnis zwischen „Zugehörigkeit“ und

„Abstandnahme“ zur eigenen Tradition bei Gadamer nicht nur die Alternative

zwischen Wahrheit und Methode, sondern auch die zwischen eigener Tradition und

fremden Kulturen zu erkennen. Denn die Kehrseite der Zugehörigkeit des Interpreten

zur eigenen Tradition bei Gadamer ist nicht nur die „geschichtliche

Abständigkeit“ zur eigenen Tradition sondern auch seine kritisch distanzierende

Haltung gegenüber fremden Wertsystemen und fremden Kulturen, die sich in seiner

„Verfremdungskritik“ an Schleiermacher und in seinem Vorwurf des

„Wertrelativismus“ gegenüber dem historischen Objektivismus Diltheys am

deutlichsten erkennen läßt.

Dagegen wird die Aufgabe der Hermeneutik bei Hirsch im Anschluß an das

romantische Ideal des kulturellen Pluralismus in der Vermittlung fremder Meinungen

und fremder Kulturen gesehen. Seine Wiederbelebung des alten Ideals rekonstruktiver

Interpretation des ursprünglich vom Autor gemeinten Textsinns basiert auf seiner

235 Vgl. dazu Axel Horstmann: Interkulturelle Hermeneutik – eine neue Theorie des Verstehens? In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 47 (1999) 3, S. 427-448. Axel Horstmann hat darauf hingewiesen, daß das Wissen der älteren Hermeneutik Schleiermachers und August Boeckhs um die kulturelle Fremdheit unter der Wirkung der philosophischen Hermeneutik Gadamers und seiner Betonung des einen gemeinsamen Überlieferungszusammenhangs, der einen gemeinsamen Tradition und der einen gemeinsamen Geschichte in Vergessenheit geraten sei. Horstmann verdanke ich vor allem den Hinweis auf August Boeckhs Überlegungen zum Problem der „ägyptischen Philologie“, wo nicht einmal die Sprache als solche „gegeben“ sei, und auf die „interkulturelle Orientierung“ solcher älteren Hermeneutik. 236 Vgl. Gunter Scholtz: Zum Historismusstreit in der Hermeneutik, a. a. O., S. 213.

189

ethischen Haltung gegenüber dem Autor als einem Anderen oder Fremden. Daher

wird die Möglichkeit des Verstehens von fremden Texten und fremden Kulturen bei

Hirsch in der Möglichkeit und Notwendigkeit philologisch-rekonstruktiver

Interpretation begründet.

Die Aufgabe der Interpretation bei Hirsch wird von vornherein aus dem sittlichen

Verhältnis des Interpreten zum Autor bzw. Sprecher und zum anderen Leser abgeleitet,

indem die Meinung bzw. die Intention des Autors als primärer Maßstab für die

Geltungspüfung der Interpretation betrachtet wird. Da der Interpret den fremden

Sinngehalt eines Textes weiteren Lesern vermitteln soll, enthält die rekognitive bzw.

rekonstruktive Interpretation bei Hirsch somit auch die Vermittlungsfunktion, die sich

aber nicht nur zwischen Text und Interpreten, sondern auch zwischen dem Autor und

anderen Lesern abspielt. Daher ist der Objektivitätsanspruch im Sinne der

intersubjektiv überprüfbaren Gültigkeit der Interpretation für Hirsch unerläßlich.

4.2 Wahrheit der Texte vs. Gültigkeit der Interpretation

Dieser Unterschied der Vermittlungsfunktion des Verstehens bei Gadamer und

Hirsch hängt damit zusammen, daß Hirsch an der Unterscheidung zwischen dem Sinn

(als Sinngehalt) eines Textes und dessen Bedeutung festhält und die Aufgabe der

Hermeneutik als möglichst richtiges Verstehen der Texte von der Aufgabe der Kritik

als Verständigung über die sachliche Wahrheit der Texte unterscheidet. Gadamer

dagegen möchte die Aufgabe der Hermeneutik auf die alte Tradition der biblischen

und juristischen Hermeneutik zurückführen, in der die Geltung der Texte immer schon

vorausgesetzt ist und in jedem Verstehen weiter gelten soll237. Daher wird Textsinn

237 Vgl. den Hinweis von Gunter Scholtz: Anerkennung als Element der Hermeneutik, in: Die geistigen Grundlagen einer Kultur der Anerkennung, hg. v. H. K. Keul u. J. Rüsen, demnächst Bukarest [Manuskript] S. 2: „Sowohl die Auslegung heiliger Schriften im religiösen Kultus als auch die

190

und sachlicher Wahrheit bei Gadamer gleichgesetzt. Das ist auch der Grund, warum

Gadamer in der historisch-methodologischen Hermeneutik Spinozas, Schleiermachers

und Diltheys einen „Bruch der Sinnkontinuität der Überlieferung“ sieht und warum er

ihnen eine „Verfremdung“ und „Entmachtung“ der Tradition vorwirft238.

Für Hirsch bedeutet das Verstehen das Verständnis des vom Autor gemeinten Sinns

und der gemeinten Sache des Textes und zielt nur darauf ab, den ursprünglich vom

Autor gemeinten Sinn und die Sache des Textes in der Interpretation zu rekonstruieren,

ohne den Anspruch auf ein Einverständnis des Interpreten mit dem im Text Gesagten

bzw. über die verhandelte Sache zu erheben, während das Verstehen von Texten bei

Gadamer als „Gespräch mit dem Text“ bzw. als „Abwandlungsmodus der

Dialogsituation“ begriffen werden muß239. Dementsprechend geht es Gadamer nicht

nur um ein Verständnis des Textes, sondern „um den Entwurf von Wahrheit in der

dialogischen Auseinandersetzung zwischen Text und Interpreten,“ wie Seebohm

sagt240 – wobei allerdings der Text die Wahrheit schon vorgibt.

Das hängt damit zusammen, daß der Text für Gadamer entweder stets einen so

hohen Status wie die kanonischen Schriften hat, die einen überlegenen Sinn und eine

unbedingte Geltung als Wahrheit beanspruchen, oder aber aufgrund der

„Wahrheit“ eigener Tradition verstanden werden soll. Die Unterlegenheit des

Verstehenden gegenüber dem Interpretandum als Gesprächspartner soll die

Überlegenheit der normativen Werte der eigenen Tradition und deren „überlegenen Interpretation der Gesetze in der Rechtsprechung setzen noch immer die Geltung der entsprechenden Texte voraus und bestätigen sie in jeweils neuer Situation. H.-G. Gadamer hat mit Blick auf diese Auslegungspraxis jenen ersten Grundtypus sogar zum leitenden Paradigma der Hermeneutik erklärt und zu erneuern gesucht.“ 238 Gadamer: Wahrheit und Methode, Ges. Werke Bd. 1, S. 180ff, 200f, 297f, u.ö.. 239 Nach Seebohm ist es wie ein „Grundsatz der fundamentalontologischen Theorie der Interpretation“, das Verstehen von Texten „als Abwandlungsmodus der Dialogsituation“ zu begreifen. Thomas H. Seebohm: Zur Kritik der hermeneutischen Vernunft, Bonn 1972, S. 85. Zum Thema des Gesprächsmodells in der Hermeneutik Gadamers siehe auch die Untersuchungen von Thomas Bettendorf: Hermeneutik und Dialog. Eine Auseinandersetzung mit dem Denken Hans-Georg Gadamers, Frankfurt a. M. 1984; Hans-Herbert Kögler: Die Macht des Dialogs. Kritische Hermeneutik nach Gadamer, Foucault und Rorty, Stuttgart 1992. 240 Thomas Seebohm, a. a. O., S. 85.

191

Sinn“ als die „feste Grundlage aller hermeneutischen Bemühungen“ unterstreichen.

Daher werden das Einverständnis und die Übereinstimmung in der Sache bei

Gadamer fast ausschließlich mit Beispielen biblischer Hermeneutik normativ zum

Ziel alles Verstehens und aller Verständigung erhoben241.

In dieser Weise können die Gesprächspartner in solchem Dialogsmodell keine

Gleichstellung haben. Insofern beschreibt Gadamer in Wirklichkeit nicht nur das, was

Verstehen ist und wie das Verstehen geschieht, wie er in seiner Antwort auf Emilio

Bettis Kritik sagte242, sondern auch das, was das Verstehen sein sollte, indem er den

Anspruch auf das Einverständnis in der sachlichen Norm eigener Tradition zum Ziel

alles Verstehens und aller Verständigung erhebt.

Daher wird das Verstehen bei Gadamer nicht als eine Handlung des verstehenden

Subjekts, sondern als „Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen“ und als

„Wahrheitsgeschehen“ betrachtet, weil der Sinn bzw. die Wahrheit der Überlieferung

dem Interpret unmittelbar vermittelt werden sollen, wie er ja auch die Gleichzeitigkeit

und die Unmittelbarkeit des Verstehens im Sinne der „totalen Vermittlung zwischen

der eigenen Gegenwart und der Heilstat Christi“ in Anlehnung an Kierkegaards

Begriff der Gleichzeitigkeit hervorhebt (WM, 132). Damit enthält das Verstehen bei

Gadamer nicht nur die Vermittlungsfunktion zwischen Vergangenheit und Gegenwart,

241 Gadamer bezieht sich ausschließlich auf die Geschichte der Bibelhermeneutik: „Wir hatten gesehen: Das Ziel aller Verständigung und alles Verstehens ist das Einverständnis in der Sache. So hat die Hermeneutik von jeher die Aufgabe, ausbleibendes oder gestörtes Einverständnis herzustellen. Die Geschichte der Hermeneutik kann das bestätigen, wenn man z.B. an Augustin denkt, wo das Alte Testament mit der christlichen Botschaft vermittelt werden soll, oder an den frühen Protestantismus, dem das gleiche Problem gestellt war, oder endlich an das Zeitalter der Aufklärung, wo es freilich einem Verzicht auf Einverständnis nahekommt, wenn der vollkommene Verstand eines Textes nur auf dem Wege historischer Interpretation erreicht werden soll. Es ist nun etwas qualitativ Neues, wenn die Romantik und Schleiermacher ein geschichtliches Bewußtsein von universalem Umfang begründen, indem sie die verbindliche Gestalt der Tradition, aus der sie kommen und in der sie stehen, nicht mehr als feste Grundlage für alle hermeneutische Bemühung gelten lassen“ (WM, 297). 242 In seiner Antwort auf Emilio Bettis Kritik sagte Gadamer, daß er keine Methode des Verstehens vorschlagen wollte, und er hielt es allein für wissenschaftlich, „anzuerkennen, was ist, statt von dem auszugehen, was eben sein sollte oder sein möchte.“ Ihm gehe es lediglich darum zu zeigen, was das Verstehen in den Geisteswissenschaften ist, bzw. wie das Verstehen geschieht. Gadamer: Hermeneutik und Historismus, in: Ges. Werke, Bd. 2, Tübingen 1993, S. 387- 424, hier S. 394.

192

sondern auch einen „Offenbarungscharakter“, worauf Hans Albert hingewiesen hat243.

Das ist auch der Grund, warum Gadamer den Text nicht als den Lebensausdruck oder

die Lebenesäußerung anderer Person betrachten möchte und die Meinung des Autors

für das Verstehen des Textes für unwichtig hält.

Das wirkliche Problem des Fremden, das in Formen des Mißverstehens und

Nichtverstehens erscheint, sowie alles, was nicht selbstverständlich oder unmittelbar

verstehbar ist, kommen somit in seiner Hermeneutik überhaupt nicht vor. Das ist auch

der Grund, warum man keine konkrete Lösungen für das Problem des Mißverstehens

oder Nichtverstehens sowie für die Frage nach der Gültigkeit des Verstehens in

Gadamers Hermeneutik finden kann244.

Dagegen wird das Verstehen bei Hirsch als ein progressives Verfahren des Lernens

von Sinn-Konstitution beschrieben, das auf die Rekonstruktion des vom Autor

gemeinten Textsinns abzielt und sich in einer Dialektik zwischen Sinn-Konstitution

und Sinn-Überprüfung vollzieht. Im Gegensatz zu Gadamer hat Hirsch die Frage nach

der Gültigkeit der Interpretation von fremdem Textsinn in den Mittelpunkt seiner

hermeneutischen Überlegungen gestellt und sie durch das Einbeziehen der

Autorintention als einziger Norm der Geltungsprüfung beantwortet. Statt sich auf wie

Gadamer eine ontologische Bedingung wie die Traditionszugehörigkeit zu berufen,

die das Verstehen von Fremdem und fremder Kulturen, wenn nicht unmöglich, so

doch zumindest sehr schwer macht, sucht Hirsch die Möglichkeit des Verstehens in

243 Hans Abert: Kritik der reinen Hermeneutik, a.a.O. S.72f. 244Wie z.B. Frithjof Rodis Hinweis auf Gadamers Vernachlässigung des „Nichtselbstverständlichen“ als hermeneutisches Problem in den Geisteswissenschaften. Frithjof Rodi: Über einige Grundbegriffe einer Philosophie der Geisteswissenschaften, in: Dilthey-Jahrbuch, Bd. 1/ 1983, S. 13-38. Den Grund der Unzulänglichkeit der philosophischen Hermeneutik Gadamers im Bezug auf die Frage nach der Gültigkeit des Verstehens sieht Apel vor allem darin: „Es kann a priori nicht genügen, die Frage nach der Möglichkeit des Verstehens dadurch beantworten zu wollen, daß man die Struktur eines Seinsgeschehens (der Horizontverschmelzung oder der Vermittlung der Gegenwart mit der Vergangenheit) aufzeigt, die im Mißverstehen ebenso wie im adäquaten Verstehen als Geschehens-Struktur realisiert werden muß. Vielmehr muß ein Kriterium dafür angegeben werden, wie sich das adäquate Vertehen vom Mißverstehen unterscheidet, um die Frage nach der Möglichkeit des Verstehens zu beantworten.“ Karl-Otto Apel: Transformation der Philosophie, Bd. 1, a. a. O, S. 44.

193

der Grundfähigkeit des Lernens des Menschen und der Teilbarkeit der Sprache sowie

der Genre-Gebundenheit alles Verstehens zu begründen, die sowohl für das Verstehen

von Texten eigener Tradition als auch für das Verstehen fremder Kulturen ihre

Geltung beanspruchen können.

Insofern sind ihre Lösungen für das Problem des Fremden in der Hermeneutik nicht

nur an einem jeweils anderen Begriff der Fremdheit orientiert (Gadamer ist am

Verfremdungsproblem der Tradition interessiert, Hirsch in der Nachfolge von

Schleiermachers und Diltheys hermeneutischen Konzeptionen am Verständnisproblem)

sondern auch an einem jeweils anderen Wahrheitsbegriff: Gadamer legt einen

„Evidenzbegriff von Wahrheit“ zugrunde (im Verstehen soll die „Sage“ als das in der

Überlieferung stehende Wesen der Sache zur Geltung gebracht werden)245, Hirsch

aber orientiert sich am Korrespondenzbegriff der Wahrheit, indem er auf die

Übereinstimmung der Interpretation mit dem Sinngehalt des Textes abzielt. Gadamer

geht es nicht um „wahre Aussagen über Texte“, sondern um die „Wahrheit der

Texte“246.

Beiden liegt das hermeneutische Element der Anerkennung zugrunde247: In der

Hermeneutik Gadamers wird das Interpretandum - wie in der Tradition der

theologischen und juristischen Hermeneutik, in der die Geltung der entsprechenden

Texte vorausgesetzt und in jeweils neuer Situation bestätigt wird - als wahr und

richtig anerkannt; in der Hermeneutik von Hirsch wird der Text – wie in der Tradition

der allgemeinen Hermeneutik Schleiermachers, in der Text und Rede jedes

245 Siehe besonders Jean Grondin: „Hermeneutische Wahrheit? Zum Wahrheitsbegriff Hans-Georg Gadamers, Weinheim 1982. Vgl. Gunter Scholtz: Zum Historismusstreit in der Hermeneutik, a.a.O., S. 200. 246 Scholtz, a.a.O. Ähnlich meint Turk: Gadamer gehe es um die Gemeinsamkeit der »Sache«, Hirsch um die Gemeinsamkeit des »Wortsinns«. Horst Turk: „Wahrheit oder Methode? H.-G. Gadamers »Grungzüge einer philosophischen Hermeneutik«“, a.a.O., S. 127f. 247 Vgl. Gunter Scholtz: Anerkennung als Element der Hermeneutik, a.a.O., in chines. Übers. (承認之為詮釋學的要素) in: World Philosophy, Bejing 2006, Nr. 3, S. 33-41. Scholtz verdanke ich den Hinweise auf die verschiedenen Formen der Anerkennung in der Hermeneutik.

194

Individuums zunächst als sinnvoll vorausgesetzt wird - als die Meinung, die

Lebensäußerung und die Objektivation der Gedanken eines Anderen bzw. Fremden

anerkannt248.

Insofern sind die beide Hermeneutiken nicht als zwei Methodologien, sondern als

zwei ethischen Stellungnahmen anzusehen, wie Scholtz sehr schön formuliert hat:

„die erste, Theorie der Geschichtlichkeit, fordert als Wichtigstes die Fortsetzung der

Tradition, die zweite, die Theorie eines möglichst objektiven Verstehens, die

Erkenntnis und Anerkennung fremder Meinungen und fremder Kulturen.“249 Folglich

können wir die Hermeneutik von Gadamer und Hirsch nach ihren eigentlichen

Anliegen und Zielsetztungen jeweils als die der eigenen Tradition und die der fremden

Kulturen bezeichnen.

4.3. Hermeneutik und das Verstehen fremder Kulturen

Daß die Hermeneutik von Hirsch sich von Anfang an auf das Verstehen von

fremden Kulturen richtet, ist wohl mehr als deutlich nachgewiesen. Ob die

philosophische Hermeneutik Gadamers, die von Anfang an auf das Fortwirken der

normativen Werte eigener Tradition abzielt, auch für das Verstehen fremder Kulturen

fruchtbar sein könnte, läßt sich ernsthaft bezweifeln.

Der Wandel des Fremdheitsproblems bei Gadamer wurde in den meisten Arbeiten

über „Hermeneutik und das Problem des Fremden bzw. interkulturelles

Verstehens“ übersehen, was aber meines Erachtens für ihre Frage nach der

Tragfähigkeit Gadamerscher Hermeneutik für das Problem des Fremden, vor allem

das Problem des kulturell Fremden von entscheidender Bedeutung ist. Zum Beispiel

248 Vgl. Gunter Scholtz: Anerkennung als Element der Hermeneutik, a.a.O. (Manuskript 2006), S. 3. 249 Vgl. die Unterscheidung zwischen diesen zwei Historismen in der Hermeneutik bei Gunter Scholtz: Zum Historismusstreit in der Hermeneutik, a.a.O., S. 210.

195

in den neu erschienenen Arbeiten von Werne Kogge, Heike Kämpf und Andreas

Vasilache wird das Problem der Fremdheit bzw. des Fremden bei Gadamer

unreflektiert schlicht als Frage nach dem kulturell Fremden angesehen und seine

hermeneutische Konzeption als positives Modell für das Verstehen fremder Kulturen

eingesetzt. Das trifft weder die eigentliche Bedeutung des Fremdheitsproblems als

Verfremdung der Tradition noch das normative Motiv der Wiedergewinnung

normativer Werte eigener Tradition als Aufgabe der Hermeneutik bei Gadamer 250.

Kogge z. B. hat zwar erkannt, daß die Hermeneutik, die „sich seit Jahrhunderten

mit Problemen des Verstehens und Verständlichmachens beschäftigt“, bei den

gegenwärtigen Diskussionen um die Problematik von Kulturdifferenzen und

Fremderfahrungen kaum Beachtung gefunden hat 251 . Aber statt sich an die

philologisch-historische Hermeneutik zu wenden, welche sich seit der Romantik mit

dem Problem des Verstehens und Verständlichmachens von fremdem Sinn beschäftigt

hat, versucht Kogge aus der „philosophischen Hermeneutik Heideggers und

Gadamers“ Ansätze für eine „Hermeneutik des Fremden“252 abzuleiten, wo die

kulturelle Fremdheit bzw. das Verstehen fremder Kulturen überhaupt kein Thema

waren und keinen systematischen Ort hatten. Um so erstaunlicher erscheint es uns,

daß Kogge selbst die „Entproblematisierung des Verstehens“ und die „Nivellierung

des Fremden“ in der philosophischen Hermeneutik Gadamers mit großer

Überzeugungskraft nachgewiesen hat253, was eher gegen seinen eigenen Ansatz

250 Siehe Werner Kogge: Verstehen und Fremdheit in der philosophischen Hermeneutik. Heidegger und Gadamer, Hildesheim 2001; Heike Kämpf: Die Exzentrizität des Verstehens. Zur Debatte um die Verstehbarkeit des Fremden zwischen Hermeneutik und Ethnologie, Berlin 2003; Andreas Vasilache: Interkulturelles Verstehen nach Gadamer und Foucault, Frankfurt a. M. 2003. 251 Kogge: Verstehen und Fremdheit, a.a.O, S. 9. 252 Kogge: Verstehen und Fremdheit, ebd. 253 Kogge hat die „Nivellierung des Problems des Fremden“ bei Gadamer besonders in seiner Sprachontologie, und zwar in den Passagen über das „hermeneutische Skandalon“ gesehen, wo die von Gadamer wenig geachtete Vernunft plötzlich zum Schlüssel „über die Schranken jeder gegebenen Sprachverfassung“ (WM, 406) erhoben wird. Zu Recht kritisiert Kogge Gadamer, „wie wenig klar er das Problem der unterschiedlichen Sprachen verfolgt. [...] Hier verkehrt Gadamer Explanans und Explanandum der Problemstellung. Denn in Frage stand, wie Verstehen trotz unterschiedlicher

196

spricht.

Ein erster wichtiger Grund für ein solches Mißverständnis liegt meiner Ansicht

nach in der Zweideutigkeit, in der Gadamer das Wort „Fremdheit“ (gelegentlich das

„Fremde“) verwendet. Zunächst steht es bei ihm für das Fremde bzw. die Fremdheit

der historischen Überlieferung als Entfremdung der Überlieferung. In diesem Sinne

ist der Begriff des Fremden die allgemeine Bezeichnung für die

Verständnisschwierigkeit, also für die Befremdlichkeit oder Mißverständlichkeit

überlieferter Texte und fremder Rede, die auch Schleiermacher und Dilthey im Blick

hatten. Dann wird der Begriff des Fremden bzw. der Fremdheit bei Gadamer

umgedeutet zur Verfremdung als Abstandnahme zur eigenen Kulturtradition, wobei es

sich in Wahrheit nicht um das kulturell Fremde oder um die fremdkulturellen

Traditionen, sondern um das Verstehen eigener Kulturtradition handelt254. Gadamers

Erhebung der Überwindung der Fremdheit zur Aufgabe der Hermeneutik erweckt den

Anschein, als ob es sich um das Problem der Fremdheit im herkömmlichen Sinne

handelte.

Dieses Problem der Fremdheit im Sinne der wissenschaftlichen Verfremdung, das

Gadamer zu überwinden beansprucht, hat, wie gezeigt, viel mehr mit dem sittlichen

Verhältnis des Interpreten zur eigenen Tradition zu tun, da Gadamer hier die

Verfremdung auf die Distanzierung von der eigenen Tradition zurückführt und als

eine Problematik des Verstehens thematisiert. Diese Thesen setzen eine ursprüngliche

Sprachen und über Sprachgrenzen hinweg möglich sein könne. Darauf zu antworten, daß Verstehen ständig gelänge, bedeutet eine Suspension, nicht eine Lösung des Problems.“ Die Entproblematisierung des Verstehens hat Kogge in Gadamers Abgrenzung von Humboldts Gedanken der Sprachen als Weltansichten durch seine Ausführungen über den Begriff der Welt, die einen ‚Selbstdarstellungscharakter’ hat, nachgewiesen. Den Widerspruch in Wahrheit und Methode sieht Kogge vor allem zu Recht darin, daß es „einerseits die Bedingtheit jedes Verstehens in den Verstehensbedingungen aufweist, andererseits Verstehen [in Gadamers Ausführungen über den Begriff der Welt]als unbedingte Selbstdarstellung von Welt völlig entproblematisiert.“ Werner Kogge: Verstehen und Fremdheit, a.a.O., s. bes. S. 135, S. 138f. 254 Ähnlich meint Mirko Wischko, daß Gadamer den Sinn des Verstehens im Sich-Verstehen aufgehen zu lassen scheine. Vgl. Mirko Wischko: Die Schwäche der Schrift. Zur philosophischen Hermeneutik Hans-Georg Gadamers, Köln/ Weimar/ Wien 2001, S. 220f.

197

Vertrautheit und ein Einverständnis mit dem Text voraus, was aber nicht für alle Texte

der eigenen Tradition und schon gar nicht für Texte fremder Kulturen gelten kann.

Darüber hinaus geht Gadamer stets davon aus, daß das Verstehen sich von selbst

ergibt, wenn man seine Hervorhebung der Selbstverständlichkeit der Überlieferung

bzw. des Selbstdarstellungscharakters der Kunstwerke und der Geschichte255 und

schließlich des Selbstdarstellungscharakters der Welt256 zur Kenntnis nimmt. Das

Unverständliche, Befremdliche oder Mißverständliche vor allem aber auch die

kulturelle Fremdheit spielen hier überhaupt keine Rolle257.

Ein anderer Anlaß, in Gadamers philosophischer Hermeneutik Möglichkeiten für

die Diskussion über das Verstehen von kulturell Fremdem zu suchen, besteht darin,

daß in seinem Modell des hermeneutischen Gesprächs die Überlieferung als ein

Kommunikationspartner und das Verstehen als ein Gespräch mit der Überlieferung

beschrieben wird: „Denn ein echter Kommunikationspartner, mit dem wir ebenso

zusammengehören wie das Ich mit dem Du, ist auch die Überlieferung“ (WM, 364).

Die Überlieferung spreche von sich aus so wie ein Du. Die Anerkennung der

Überlieferung als eines Gesprächspartners schafft eine gute Voraussetzung für die

wohlwollende Assoziation mit der Problematik des Verstehens von kulturell Fremdem,

wie zum Beispiel die Bezugnahme auf die philosophische Hermeneutik Gadamers im

Rahmen der „Debatte um die Verstehbarkeit des Fremden zwischen Hermeneutik und

Ethnologie“ in der Habilitationsschrift von Heike Kämpf zeigt258. Kämpf stellt hier

255 Wir haben breits oben (siehe Kap. 2.3.3., S.117) auf den Selbstdarstellungscharakter der Kunstwerke, der Geschichte und der Welt, und auf die Gleichsetzung von geschichtlichen Wirklichkeiten und historischer Forschung bei Gadamer hingewiesen und die daraus folgenden Probleme in Horst Turks Kritik an Gadamer gezeigt. Nach Turk wird die Auslegung nach Gadamers These zur Selbstauslegung der Geschichte und der Begriff der Geschichte wird auf diese Selbstauslegung eingeschränkt (nämlich die Geschichte wird zur Geschichte der Textauslegung). 256 Vgl. Werner Kogge: Verstehen und Fremdheit, a.a.O., S. 139. 257 Ähnlich meint Hans Robert Jauss, daß das Verstehen der Alterität des Gesprächspartners möglicherweise für Gadamer von einer nur untergeordneten Bedeutung sei. Hans Robert Jauss: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt a. M. 1991, S. 679. 258 Heike Kämpf: Die Exzentrizität des Verstehens: Zur Debatte um die Verstehbarkeit des Fremden zwischen Hermeneutik und Ethnologie, Berlin 2003. Bes. S. 165ff.

198

Helmut Plessners Konzeption der „Exzentrizität“ des Verstehens und Gadamers

Konzeption der „Unmittelbarkeit“ des Verstehens als zwei entgegengesetzte

Auffassungen des Verstehens dar. Die Kontrastierung zwischen Exzentrizität und

Unmittelbarkeit des Verstehens trifft für den Gegensatz der Auffassung des Verstehens

von kulturell Fremdem bei Plessner und Gadamer vollkommen zu. Das einzig

Fragwürdige in diesem Vergleich ist, Gadamers Hermeneutik überhaupt als eine

Hermeneutik für das Verstehen von kulturell Fremdem in Betracht zu ziehen.

Kämpf übersieht dabei, daß Gadamer seine Beschränkung auf den

„Zeitenabstand“259 und vor allem seine Vernachlässigung der Situation des kulturellen

Abstandes in einer Selbstkritik selbst eingestanden hat:

„Es muß sich nicht immer um einen geschichtlichen Abstand handeln, und es ist auch durchaus nicht immer der Zeitenabstand als solcher, der imstande ist, falsche Überresonanzen und verzerrende Applikationen zu überwinden. Der Abstand erweist sich sehr wohl auch in der Gleichzeitigkeit als ein hermeneutisches Moment, z.B. in der Begegnung zwischen Personen, die im Gespräch erst gemeinsamen Grund suchen, und vollends in der Begegnung mit Personen, die dabei fremde Sprachen sprechen oder in fremden Kulturen leben.“

260

Die von Kämpf zitierte Stelle, die auf das Fremde bezogen war, richtet sich

hauptsächlich auf Gadamers eigentliches Anliegen der Wiederherstellung der

ursprünglichen Aufgabe der Hermeneutik, die in den alten Traditionen der biblischen

und juristischen Hermeneutik praktiziert war, nämlich „die der Aneignung eines

259 Die Hervorhebung des Zeitenabstandes bei Gadamer wurde von Jean Grondin als

„Traditionsoptimismus“ und „einseitig“ kritisiert: „Ja, es steht zu befürchten, daß diese nivellierende Macht geschichtlicher Vorurteile in einer zunehmend homogener werdenden Welt nur im Wachsen sein kann. Gegen diese einseitige Hervorhebung des Zeitenabstandes spricht fernerhin, daß er nicht allzu viel Beistand leistet, wenn es um die Beurteilung zeitgenössische Ansätze geht, wo dennoch die Unterscheidung von wahren und falschen Vorurteilen ihren guten Sinn behält.“ Jean Grondin: Von Heidegger zu Gadamer. Unterwegs zur Hermeneutik, Darmstadt 2001, S. 127f. 260 Zwischen Phänomenologie und Dialektik. Versuch einer Selbstkritik (1985), Ges. Werke, Bd. 2, S. 3-23, hier S. 9.

199

überlegenen Sinnes“ (Hervorhebung von mir)261. Gadamers Satz lautet:

„Aber war es nicht von jeher der Antrieb der Hermeneutik, das Fremde, den unerforschlichen Götterwillen oder die Heilsbotschaft oder die Werke der Klassiker, durch Auslegung zu �verstehen�, und bedetutet das nicht immer eine

konstitutive Unterlegenheit dessen, der versteht, gegenüber dem, der sagt und zu verstehen gibt?“262

Mit dem Fremden meint Gadamer hier weder das kulturell Fremde noch den kulturell

Fremden, sondern die fremd gewordene Überzeugungskraft tradierter Werke, deren

normativer Sinn als überlegener Sinn in jedem Verstehen wieder zur Geltung gebracht

werden sollte 263 . Was Gadamer in seiner philosophischen Hermeneutik betonen

möchte, ist das sittliche Verhältnis des Interpreten zur eigenen Tradition, sie als

normgebend zu akzeptieren, also „sich etwas bedeuten zu lassen“ 264 und sich

überzeugen zu lassen. Daher wurde die Hermeneutik von Gadamer eine

Diener-Wissenschaft genannt: sie stehe „im Dienst dessen, was gelten sollte“ 265.

Das Ich-Du-Verhältnis in der Hermeneutik Gadamers ist somit das

Ich-Tradition-Verhältnis, also das Seinsverhältnis zu sittlichen Normen der Tradition.

Demnach hat Gadamer „die quasi-wertneutrale Charakteristik der immer vorliegenden

Formalstruktur des Verstehens als Traditionsvermittlung nur nach der konservativen 261 Gadamer: Replik zu Hermneutik und Ideologiekritik, in: Ges. Werke, Bd.2, S.251-275. Hier S.264. 262 Ebd. 263 Hierin sieht Apel eine „Unterstellung der virtuellen Überlegenheit des Interpretandum“ bei Gadamer. Das normative Charakteristikum einer mythodologischen, theologischen oder klassisch-humanistischen Hermeneutik vor der europäischen Aufklärung wird Apel zufolge durch den Hinweis auf den »unerforschlichen Götterwillen oder die Heilsbotschaft oder die Werke der Klassiker« wieder zur Geltung gebracht. Vgl. Karl-Otto Apel: Transformation der Philosophie, Bd. 1: Sprachanalytik, Semiotik, Hermeneutik, Frankfurt a. M. 1973, Einleitung, S. 47. 264 Gadamer: Das Problem der Geschichte, Ges. Werke, Bd. 2, S. 27-36, hier S. 35. 265 Hier könnte man mit Apel gegen Gadamer einwenden: „Soll die Hermeneutik das Erbe der Aufklärung kritisch bewahren, so muß sie m.E. neben der Unterstellung der virtuellen Überlegenheit des Interpretandum auch die Einsicht Hegels in den prinzipiellen Anspruch der reflexiven Selbstdurchdringung des Geistes im Verstehen bewahren und daraus einen prinzipiellen Beurteilungsprimat des Interpreten herleiten: Wenn dieser nicht sich das Recht auf kritische Beurteilung des zu Verstehenden und insofern sich die Wahrheit zutraut, hat er sich noch nicht auf den Standpunkt einer philosophischen Hermeneutik gestellt, sondern beharrt auf dem einer Hermeneutik im Dienst eines dogmatischen Glaubens.“ Karl-Otto Apel: Transformation der Philosophie, Bd. 1, a. a. O., S. 47f.

200

Seite, z.B. der Rehabilitierung der Autorität, normativ transzendiert,“ wie Apel mit

Recht bemerkt (Hervorhebung von mir) 266 . Kämpf übersieht dabei, daß solche

normativ gemeinte sittliche Bindung des Interpreten an die eigene Tradition bei

Gadamer sich nicht ohne weiteres auf das Verstehen fremder Kulturen übertragen läßt.

Außerdem übersieht man dabei, daß Gadamer den Sinngehalt der Überlieferung

stets von dem meinenden Du als einer sprechenden, konkreten Person abgelöst

betrachtet und die Überlieferung nicht als Lebensäußerung oder Meinung des Du

verstehen möchte. Ohne die Anerkennung der Meinung des sprechenden Du läßt sich

ein gelungenes Gespräch jedoch kaum vorstellen. Man mag noch so sehr betonen, daß

Gadamer die Überlegenheit des Anderen anerkenne und daß dies eine wichtige

Bedingung für das Gespräch sei. Man übersieht dabei, daß mit dem Anderen bei

Gadamer nicht der kulturell Fremde sondern stets der historisch fremd gewordene

normative Sinn der eigenen Tradition267 gemeint ist, der dem Interpreten gegenüber

grundsätzlich überlegen sei. Ein wirkliches Gespräch kann aber nur stattfinden, wenn

beide Geprächspartner eine gleiche Stellung haben und beide die Meinung des jeweils

Anderen bzw. Fremden richtig verstehen wollen.

Selbst wenn das hermeneutische Verstehen bei Gadamer sich um die Erzielung von

gemeinsamer sachlicher Meinung zwischen dem Interpreten und dem Interpretandum,

d.h. einem Text fremder Kulturen, handeln sollte, bleibt das Wissen über das im Text

Gesagte, also die Arbeit historisch-philologischer Interpretation als Grundlage für die

Verständigung über die Sache unentbehrlich. Das ist besonders notwendig im Falle

266 Ebd. 267 Vgl. ähnlich dazu die aktuellste Untersuchung von Andreas Spahn: Der ‚Andere’ bei Gadamer werde nicht als der ‚Fremde’ gefaßt. „Daher ergibt sich in Bezug auf die Versuche, den Gadamerschen hermeneutischen Dialog für die Begegnung mit dem ‚Fremden’ (etwa im Sinne der interkulturellen Hermeneutik) fruchtbar zu machen, das Problem, daß es nach Gadamer zu den ontologischen Bedingungen des Verstehens zählt, der Überlieferung anzugehören, die man zu verstehen anstrebt.“ Andreas Spahn: Hermeneutik zwischen Rationalismus und Traditionalismus. Gadamers Wahrheitsbegriff vor dem Hintergrund zentraler Paradigmen der Hermeneutikgeschichte, Dissertation Bochum 2006 (im Erscheinen begriffen).

201

der Begegnung mit fremdkulturellen Überlieferungen. Gadamers normative

Forderung der Sinnkontinuität abendländischer Tradition als Grundlage aller

hermeneutischen Bemühungen macht besonders das Verstehen von kanonischen

Texten fremder Kulturen unmöglich, da sie für uns weder Selbstverständlichkeit

besitzen (im Sinne der Möglichkeit einer Unmittelbarkeit des Verstehens bzw. totaler

Vermittlung) noch schlicht mit den sittlichen Normen der eigenen Tradition gemessen

werden sollten.

Ein anderer Grund, die Tragfähigkeit von Gadamers Hermeneutik für das Verstehen

fremder Kulturen in Frage zu stellen, liegt in Gadamers Hervorhebung der

Zugehörigkeit des Interpreten zur Tradition als unentbehrlicher Bedingung des

Verstehens. Diese setzt voraus, daß es zwischen dem Interpretandum und dem

Interpreten eine ursprüngliche Vertrautheit und ein bereits bestehendes Einverständnis

gibt, was aber aufgrund des geschichtlichen und vor allem kulturellen Abstandes

unplausibel erscheint. Die Traditionszugehörigkeit kann das Verstehen der

Überlieferung eigener Kulturtradition zwar erleichtern, ist aber nicht die

entscheidende Bedingung der Möglichkeit des Verstehens, sonst wäre es unmöglich,

daß Menschen unterschiedlicher Herkunft einander verstehen. Und es kann

schließlich auch nicht behauptet werden, daß die europäische Kultur nur von

Europäern und chinesische Kultur nur von Chinesen verstanden werden kann. Auch

daran zeigt sich die Unzulänglichkeit Gadamerscher Hermeneutik im Bereich des

Verstehens von fremden Kulturen268.

Ein weiterer Grund, die Tragfähigkeit Gadamerscher Hermeneutik für das

Verstehen fremder Kulturen zu bezweifeln, liegt darin, daß sein Modell des

268 Vgl. ähnlich skeptisch dazu die Untersuchungen von Hans-Herbert Kögler: Die Macht des Dialogs – Kritische Hermeneutik nach Gadamer, Foucault und Rorty, Stuttgart 1994; Axel Horstmann: Interkulturelle Hermeneutik – eine neue Theorie des Verstehens? in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 3 (1999), S. 427-448; Stephan Schmidt: Die Herausforderung des Fremden, interkulturelle Hermeneutik und konfuzianisches Denken, Darmstadt 2005.

202

hermeneutischen Gesprächs, in welchem die Offenheit für den Anspruch des Anderen

besonders hervorgehoben wird, offensichtlich nur im Bezug auf seine eigene

Kulturtradition Geltung hat.269 Und so sind die Versuche, aus Gadamers Hermeneutik

eine Hermeneutik interkultureller Verständigung oder eine Hermeneutik

interkulturellen Verstehens abzuleiten, zum Scheitern verurteilt.

In seiner Abhandlung aus dem Jahr 1993 über „Europa und die Oikumene“270 hat

Gadamer bekanntlich betont, daß die Philosophie ganz und gar in Europa entstanden

sei. Dazu sagt Kimmerle: „Er öffnet sich zwar der Einsicht, ‚daß die Hochkulturen

Ostasiens und Indiens auf die Menschheitsfragen’ Antworten gesucht haben, die auch

‚in Europa durch die Philosophie immer wieder gefragt werden’. Aber er bleibt dabei,

daß ‚der Begriff Philosophie gleichwohl noch nicht’ auf diese großen Antworten

anwendbar sei“271. „Gadamer will innerhalb der europäisch-westlichen Traditionen

der Philosophie die von Plato ausgehende Offenheit dem/den Anderen gegenüber

stark machen, aber ohne damit zu einer Offenheit im Blick auf Formen und Stile der

Philosophie zu gelangen, die in anderen Kulturen hervorgetreten sind,“ kritisiert

Kimmerle272. Insofern hat die von Gadamer so oft betonte „Offenheit“ für den

Anspruch des Anderen im hermeneutische Dialog nur innerhalb seiner eigenen

Kulturtradition Geltung273.

269 Diesen konkreten Hinweis danke ich Heinz Kimmerle: Das Verstehen fremder Kulturen und die interkulturelle philosophische Praxis, in: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.): Verstehen und Verständigung. Ethnologie – Xenologie – Interkulturelle Philosophie. Justin Stagl zum 60. Geburtstag, Würzburg 2002, S. 290-302, s. bes. S. 295f. 270 Hans-Georg Gadamer: Ges. Werke, Bd. 10, Tübingen 1995, S. 267-284, s. bes. S. 267f. 271 Kimmerle: Das Verstehen fremder Kulturen, a.a.O., S. 293f. 272 Heinz Kimmerle: Das Verstehen fremder Kulturen, a.a.O., hier S. 295. 273 In Gadamers Festhaltung am ‚Universalitätsanspruch der Hermeneutik’ und seiner Haltung gegenüber den Philosopien nicht-europäischer Kulturen mit ihrer oft unüberwindlichen Fremdheit und seinem letztlich nicht zu unterminierenden Verstehensoptimismus sieht Kimmerle vor allem auch eine Bestätigung für seine These, die er in den „Prolegomena“ zu den Vorlesungen über Das Multiversum der Kulturen für die ‚europäisch-westliche Philosophie nach Hegel’, genauer gesagt von Schopenhauer bis zu Heidegger und Habermas, konstatiert hat, nämlich daß sich darin eine „doppelte Bewegung des Sich-öffnens und zugleich auch wieder –verschließens gegenüber anderen Kulturen“ und ihren Philosophien vollzieht. Heinz Kimmerle: Das Verstehen fremder Kulturen, a. a. O., S. 296. Vgl. dazu Heinz Kimmerle: Prolegomena, in: Heinz Kimmerle (Hg.): Das Multiversum der Kulturen, Amsterdam/Atlanta 1996, S. 9-29, s. bes. S. 25-27.

203

Es ist durchaus nicht verwunderlich, daß Gadamer sich dem Vorwurf des

„Ethnozentrismus“ 274 bzw. „Eurozentrismus“ 275 ausgesetzt hat, da er die

Wiederherstellung der gestörten Sinneinheit der abendländischen Kulturtraditionen als

die primäre Aufgabe der Hermeneutik bestimmt und den Wahrheitsanspruch der

eigenen Tradition als die sachliche Norm d.i. das Maßgebliche für alles Verstehen in

den Geisteswissenschaften hervorhebt. Demnach müßte alle Überlieferung mit dem

Wahrheitsmaßstab der eigenen Tradition verstanden werden. Es ist jedoch moralisch

bedenklich, das kulturell Fremde mit dem Wahrheitsmaßstab der eigenen Tradition zu

messen.

Im Hinblick auf die Gegenwartssituation der Intensivierung interkultureller

Kontakte in allen Bereichen sind deshalb Apels Überlegungen über die

Traditionsvermittlung als Aufgabe der Geisteswissenschaften im Vergleich zu

Gadamers dogmatischem Anspruch auf Einverständnis aufschlußreicher, indem er

einsieht:

274 Vgl. die Diskussion über das Ethnozentrismusproblem Gadamers von Michael Hofer: Nächstenliebe, Freundschaft, Geselligkeit. Verstehen und Anerkennen bei Abel, Gadamer und Schleiermacher, München 1998, S.126ff. Andreas Vasilache hat seinerseits versucht, den Ethnozentrismusvorwurf gegen Gadamer im Hinblick auf seine Sprachontologie zurückzuweisen, wobei er aber gestehen muß, daß „die Schlagwörter der Horizontverschmelzung bzw. des Einverständnisses durchaus suggerieren, daß es in der Hermeneutik schließlich um die Überwindung von Fremdheit zugunsten homogener Harmonie gehe.“ Andreas Vasilache: Interkulturelles Verstehen nach Gadamer und Foucault, Frankfurt a. M. 2003, S. 61f. 275 Dazu die kritische Besinnung von Bernhard Waldenfels über den Eurozentrismus als „ein Zentrismus besonderer Art“. Bernhard Waldenfels: Europa angesichts des Fremden, in: ders.: Topographie des Fremden: Studien zur Phänomenologie des Fremden I, Frankfurt a. M. 1997, S. 135f. Nach Waldenfels stellt der Eurozentrismus „eine raffinierte Form des Ethnozentrismus dar, nämlich eine Mischung aus Ethno- und Logozentrismus, aus Entdeckungsfreude und Eroberungsgier, aus Missionsgeist und Ausbeutung. [...] Aufs Ganze gesehen lebt der Eurozentrismus von der Erwartung, daß das Eigene sich selbst durch das Fremde hindurch allmählich als das Ganze und Allgemeine herausstellt. Noch bei Gadamer, dessen Hermeneutik von der Fremdheit des Unverständlichen und von der Infragestellung durch den Anspruch der Tradition ausgeht, steht die Auslegung, in gut hegelianischer Manier, im Zeichen von Aneignung und Überwindung des Fremden (1965, S. 365),“ so Waldenfels. Mir scheint der Eurozentrismus Gadamers darin zu liegen, daß er den Wahrheitsanspruch der eigenen Tradition als sachlichen Maßstab alles Verstehens in den Geisteswissenschaften hervorhebt. Wobei zugegeben werden muß, daß analoge Zentrierungsformen auch für andere Kulturen nicht auszuschließen sind, worauf Waldenfels hingewiesen hat. Die Zentrierungsformen sind so gesehen die Hauptursachen der Konflikte der Kulturen.

204

„Die Unmittelbarkeit der dogmatisch-normativen (institutionell festgelegten und sozial verbindlichen) Applikation des Traditionsverständnisses, wie sie bis in die Aufklärungszeit hinein in Europa, und bis in die Gegenwart hinein in den meisten außereuropäischen Kulturen, funktionierte, kann nicht wiederhergestellt werden.“276

Apel zufolge müsse Traditionsvermittlung zu einem komplizierten, wissenschaftlich

vermittelten Prozeß werden, „sobald die, wenn auch nur provisorische,

Objektivierung und Distanzierung des zu verstehenden Sinnes durch hermeneutische

Abstraktion von der normativen Geltung möglich geworden ist.“277

Hier danken wir Apel vor allem für seine Überlegungen zum Problem der

Traditionsvermittlung als Aufgabe der Geisteswissenschaften im Zeitalter der

„Globalisierung“, wo das Verfremdungsproblem der Tradition nicht nur eine

europäische Angelegenheit, sondern ein „globales Phänomen“ ist. Die

Überfremdungsangst gegenüber fremden Kulturen, vor allem fremden Religionen, ist

nicht nur in Europa, sondern auch in allen anderen Kulturkreisen zu spüren. Um so

wichtiger und erforderlicher erscheint doch das gegenseitige Verstehen und

Anerkennen zwischen den Kulturen, den Religionen aber auch zwischen den

Philosophien.

Die Betonung der Eingebundenheit des Interpreten in seine eigene Kulturtradition

ist im Hinblick auf die Fortwirkung und Bewahrung der normativen Werte eigener

276 Mir ist Apels Beobachtung über das Verfremdungsproblem bei nicht-europäischen Kulturen ebenfalls sehr einleuchtend. Apel meint: „Jene Kulturen, welche die technisch-industriellen Lebensformen und ihre wissenschaftlichen Grundlagen von Europa übernehmen mußten und noch müssen, sind zu einer weit radikaleren Distanzierung und Verfremdung ihrer Traditionen gezwungen als wir.“ Die außereuropäischen Kulturen sind besonders vom Problem der Traditionsverfremdung betroffen. Das erklärt auch die Popularität der Gadamerschen Hermeneutik für die Traditionalisten in den nicht-europäischen Länden, die die Wiederbelebung ihrer Kulturtraditionen für besonders wichtig halten. Karl-Otto Apel: Hermeneutik und Ideologiekritik, a. a. O., S. 35ff. 277 A.a.O. Apel versucht seinerseits „das (nihilistische) Historismus-Problem durch dialektische Vermittlung von objektiv-szientistischen und hermeneutischen Methoden in der Ideologiekritik“ philosophisch aufzulösen. Ähnlich wie Hirsch betont Apel auch die Notwendigkeit der Geltungsprüfung der Interpretation und deren Kriterien für die Erkenntnis. Es wäre interessant, die Hermeneutik von Apel und Hirsch zusammen zu betrachten. Es bedarf jedoch einer eigenen Untersuchung, um die These von Apel und Hirsch eingehend vergleichen zu können.

205

Tradition durchaus verständlich. Es muß aber nicht für jedes Verstehen bestimmend

sein. Es wäre sinnvoller, das Verstehen fremder Kulturen von dem normativen

Anspruch auf Einverständnis zu trennen, wie es in der historisch-philologischen

Hermeneutik immer schon geschehen war. Denn schließlich geht es in der

Hermeneutik um das gegenseitige Verstehen und Anerkennen der Menschen, nicht

aber um das gegenseitige Ausgrenzen mit eigenem Wahrheitsmaßstab. Dabei ist das

von Gadamer unterschätze Lernvermögen des Individuums, das jede vernünftige

Person über den eigenen Horizont hinauszubringen und den Blick auf die Welt zu

erweitern vermag, wieder zur Geltung zu bringen. In jedem Akt des Lesens und

Verstehens vollziehen sich Lernvorgänge, was bereits in der allgemeinen Hermeneutik

Schleiermachers am Beispiel des Sprechen- und Verstehenlernens von Kindern

angedeutet worden ist 278 . Die Fähigkeit des Verstehens wird in progressiven

Lernvorgängen allmählich ausgebildet. Daher rührt der unterschiedliche Grad des

Verständnisses zwischen erfahrenem Lehrer und unerfahrenem Schüler. Es ist auch

dieses angeborene Vermögen, das allen Menschen gemeinsam ist, das es uns

ermöglicht, die Sprache des Anderen zu lernen, das Gemüt und die Emotionen des

Anderen wachsend nachzuvollziehen, die Meinung und das Verständnis des Anderen

von sich selbst und von der Welt immer besser zu verstehen, die Perspektive zu

wechseln und sich in die Lage des Anderen hineinzuversetzen, und zwar sowohl intra-

als auch interkulturell betrachtet. Insofern ist es Zeit, der von Schleiermacher, Dilthey

und Hirsch vorausgesetzten, aber von Gadamer als „ungeschichtliches

Substrat“ verworfenen „allgemeinen Menschennatur“, hier also der Grundfähigkeit

des Lernens, die allen Menschen gemeinsam ist, ihr Recht als Grundbedingung des

Verstehens zurückzugeben279.

278 Vgl. dazu die Hervorhebung des Lernens in Schleiermachers Hermeneutik von Gunter Scholtz: Ethik und Hermeneutik, S. 143. 279 Vgl. dazu die ähnliche Ansicht von Andreas Spahn: „Eine ‚Hermeneutik des Fremden’ zielt aber

206

Dies hat der Kulturphilosoph Elmar Holenstein im Zusammenhang der Diskussion

über „Intra- und Interkulturelle Hermeneutik“ aus kulturphilosophischen Perspektiven

mit zahlreichen konkreten Beispielen und ähnlichen Argumenten von Hirsch gezeigt

und belegt280. Holenstein vertritt die These, daß die Verständigung zwischen den

Kulturen durch die menschliche Fähigkeit zum Perspektivenwechsel ermöglicht

werde, die für die Verständigung innerhalb ein und derselben Kultur (zwischen ihren

diversen Regionen und desgleichen zwischen ihren verschiedene Standpunkte

vertretenden Individuen) um nichts weniger erforderlich sei281.

Im Hinblick auf die Möglichkeit des Verstehens von historisch und kulturell

Fremdem und auf das Problem des Nichtverstehens und Mißverstehens innerhalb ein

und derselben Lebensformen und Kultursprache teilt Holenstein die Grundansichten

von Schleiermacher und Hirsch. Hirsch hat die Möglichkeit eines gemeinsamen

Verständnisses zwischen verschiedenen Zeitepochen und die Möglichkeit divergenter

Interpretationen innerhalb ein und derselben Zeitepoche am Beispiel der

Hamlet-Interpretationen gezeigt. Die Möglichkeit verschiedener Weltansichten

innerhalb ein und derselben Lebenswelt und Kultursprache wird in seinem Einwand

gegen Muttersprachentheorie gezeigt, die davon ausgehe, daß Sprache die

gerade auf die Begegnung mit anderen Kulturen, sie kann daher die Traditionszugehörigkeit gerade nicht als wesentliches Merkmal des hermeneutischen Prozesses gelten lassen. [...] Dennoch scheint mir aber auch und gerade eine interkulturelle Hermeneutik besser beraten zu sein, mögliche Aspekte einer ‚allgemeinen Gleichheit der Menschennatur’ stärker zu betonen, um sich dem ‚Fremden’ zu nähern.“ Andreas Spahn: Hermeneutik zwischen Rationalismus und Traditionalismus, a. a. O., S. 331f. 280 Vgl. dazu die synthetisch gefaßten Thesen von Holenstein, die versuchen, die „platonisch“ zu nennende universalistische These (alle Menschen haben es im wesentlichen mit denselben Themen und Problemen zu tun; nur deren Ausdrucksformen von Kultur zu Kultur variieren; zu einer Verständigung kommt man, wenn man zu den Sachen selbst zurückgeht und von den verschiedenen Worthülsen absieht) und die Individualität und Differenz betonende Gegenthese der Romantik (Inhalt und Form einer Sache, Bedeutung und Ausdruck und ebenso Text und Kontext einer Rede sind nicht unabhängig voneinander; man kann sich nicht das eine ohne das andere aneignen; eine Verständigung ist nur innerhalb ein und derselben Lebensform und Kultursprache möglich; untereinander sind die verschiedenen Lebensformen ‚inkommensurabel’ und die sprachlich determinierten Kulturen im Wesentlichen nicht ineinander übersetzbar) zu versöhnen: Elmar Holenstein: Intra- und interkulturelle Hermeneutik, in: ders.: Kulturphilosophische Perspektiven. Frankfurt a. M. 1998, S. 257-287, s. bes. S. 257, 272ff. 281 Holenstein, a. a. O., S. 257.

207

Weltansichten einer Kultur so sehr präge, daß Menschen gleicher Sprache auch

gleiche Weltansichten hätten. In diesem Sinne enthalten die hermeneutischen

Konzeptionen von Schleiermacher und Hirsch eigentlich auch schon intra- und

interkulturelle Dimension des Verstehens.

Im Gegensatz zu Gadamers Überbetonung der Traditionszugehörigkeit, die für eine

interkulturelle Verständigung eher hinderlich ist, hat Holenstein vier wegleitende

Erfahrungen für das gegenwärtige Modell interkultureller Verständigung

herausgestellt, die meiner Ansicht nach viel plausibler und aufschlußreicher sind als

das Gesprächsmodell Gadamers: „(a) Über Sprachgrenzen hinweg sind in

verschiedenen Kulturen Phänomenbereiche auszumachen, in denen dieselben

Gesetzmässigkeiten zum Zuge kommen. Solche Gesetzmäßigkeiten bilden einen

Brückenkopf, von dem aus eine fremde Kultur erschließbar ist. (b) Jeder Mensch

vermag jede Sprache und jede Kultur zu erwerben, in die er hineingeboren wird. Mit

denselben Verständigungsproblemen, denen wir im Kontakt mit einer fremden Kultur

begegnen, sehen wir uns in der eigenen Kultur konfrontiert, wenn wir uns

vergangenen Epochen oder neu sich anbahnenden Entwicklungen zuwenden. (c) In

unsere eigene stets vielgestaltige Kultur wachsen wir hinein, indem wir bereits als

Kinder lernen, verschiedene Standpunkte einzunehmen und gegeneinander

auszuspielen“ 282 . Daher ist das Lernvermögen und die Grundfähigkeit des

Perspektivenwechsels als Bedingungen der Möglichkeit des Verstehens der Menschen

untereinander grundlegender und überzeugender als die Zugehörigkeit des Interpreten

zur eigenen Tradition. Aus diesem Grund folgen wir Schleiermacher, Hirsch und

Holenstein, da Verstehen bei ihnen definiert wird als die Sprache des Anderen zu

lernen 283 und als Sichhineinversetzen in die Lage des Anderen im Sinne des

282 Holenstein, a.a.O., S. 272. 283 Vgl. Gunter Scholtz: Ethik und Hermeneutik, S. 145.

208

Perspektivenwechsels, egal aus welcher Tradition wir kommen und zu welcher

Tradition der Andere gehört.

Die Anerkennung der Eigenwerte fremder Zeitepochen und fremder Kulturen

finden wir also nicht in der philosophischen Hermeneutik Gadamers, sonst würde er

dem Historismus Schleiermachers und Diltheys keinen Wertrelativismus vorwerfen

und nicht die Zugehörigkeit des Interpreten zur Tradition als Lösung für das

Verfremdungsproblem hervorheben. Er plädiert eigentlich eher für das Festhalten an

den Werten und Normen der eigenen Tradition und wurde deshalb von Apel als ein

Hermeneutiker „im Dienst eines dogmatischen Glaubens“ kritisiert. Jene

Anerkennung des Fremden finden wir in der philologisch-historischen Hermeneutik

der Schleiermacher-Schule, die in der Interpretationstheorie von Hirsch wieder zur

Geltung gebracht worden ist, da hier Verstehen und Bewerten zwei getrennte

Aufgaben sind.

Schleiermacher und die Hermeneutik der Romantik hatten die Individualität der

Sprachen, der Individuen und der Kulturen sowie die Eigenwerte fremder

Zeitepochen und fremder Kulturen betont und damit auch die Einsicht in die

Notwendigkeit der Ablösung der hermeneutischen Aufgabe von der Rechtfertigung

normativer Ansprüche, die zur Sache von systematischen Disziplinen und der Kritik

wurde. Schließlich lassen sich divergente Standpunkte zwar annähernd verstehen,

aber man kann nicht alle Denkweisen sich zueigen machen. Und nur von dieser

Voraussetzung aus kann ein hermeneutischer Zugang zu fremden Kulturen

gewährleistet und die Andersheit des Anderen in seiner Andersheit verstanden

werden.

Das ist auch der Grund für Hirsch, an die Hermeneutik der Schleiermacher-Schule

anzuschließen und in seiner Hermeneutik auf Autorintention sowie die Meinung des

Anderen zu achten und die Notwendigkeit des Objektivitätsideals philologischer und

209

historischer Interpretation zu verteidigen 284 . Hirschs neue Version des

hermeneutischen Zirkels als einer Dialektik zwischen Hypothesenbildung,

Hypothesenprüfung und Hypothesenbestätigung bietet uns eine Möglichkeit,

wissenschaftlich brauchbares Wissen über den Text und damit auch über fremde

Kulturen zu gewinnen. Insofern ist die Hermeneutik von Hirsch für das Problem

kultureller Fremdheit und das Verstehen fremder Kulturen besser geeignet als die

dogmatisch-traditionalistisch orientierte Hermeneutik Gadamers.

4.4. Resümee und Ausblick

Wir stehen nicht nur zwischen „Zugehörigkeit“ und „Abstandnahme“ zur eigenen

Tradition, wie Gadamer es als die zwei Pole des geschichtlichen Verstehens beschreibt,

sondern auch zwischen eigener Tradition und fremden Kulturen, die aber keineswegs

Gegensätze oder Alternativen sein müssen. Es gibt zwar entwicklungsgeschichtlich

bedingte, individuelle Unterschiede zwischen den Menschen, den Sprachen, den

Kulturen und Religionen, die nicht übertragbar sind. Es gibt aber auch

Gemeinsamkeiten zwischen den Menschen, den Sprachen, den Kulturen und sogar

den Religionen, die sich aus der – um mit Dilthey zu sprechen - „allgemeinen

Menschennatur“ entwickelt haben und daher auch von allen Menschen bis zu einem

gewissen Grad verstanden werden können. Insofern kann die Traditionszugehörigkeit 284 Ähnlich hat Seebohm das Problem der Gadamerschen These des Verstehens als Wahrheitsentwurf darin gesehen, daß hier zwar Wichtiges über das Wesen des Umgangs mit Texten gesagt wird und die Strukturen des Verstehensprozesses aufgewiesen werden, daß aber „gerade mit dieser These der Objektivitätsanspruch philologischer Interpretation, wenn nicht zurückgewiesen, so doch zumindest nicht in seiner Möglichkeit begründet wird.“ Der Grund liegt vor allem in Folgendem: was über Interpretation gesagt wird, „bewegt sich von vorneherein auf so hoher Stufe der Allgemeinheit, so daß die Differenzen der verschiedenen Formen des Verstehens nicht mehr faßbar sind.“ Seebohm hat seinerseits versucht, den Objektivitätsanspruch philologischer Interpretation zu verteidigen und ihn theoretisch zu begründen. Wie Seebohm „objektives Verstehen in Dialogen und objektives Verstehen von Texte“ begründet, kann hier nicht nachgegangen werden. Seebohm hat sich auf Hirschs Begriffe wie „Bewährung“, „Falsifizierung“ und „Validierung“ berufen, die für die „philologische Wahrheit“ wichtig sind. Thomas M. Seebohm: Zur Kritik der hermeneutischen Vernunft, a. a. O., S. 85; S. 8f..

210

als Bedingung des Verstehens für das Verstehen fremder Kulturen nicht ausreichen. Es

wäre sinnvoller, die von Schleiermacher und Dilthey vorausgesetzte, aber von

Gadamer als „ungeschichtliches Substrat“ verworfene „allgemeine

Menschennatur“ im Sinne der Grundfähigkeit des Lernens und des

Perspektivenwechsels von Menschen als die Grundbedingung des hermeneutischen

Verstehens wieder zur Geltung zu bringen, wie es bei Hirsch zu sehen ist.

Die Andersheit des Anderen und Fremden zu erkennen und anzuerkennen hat die

historisch-philologische Hermeneutik der Schleiermacher-Schule zur Aufgabe

gemacht, nicht aber die Hermeneutik der Heidegger-Schule. Da Gadamer das

Kernproblem des Historismus bei Schleiermacher und Dilthey in der Ablösung des

hermeneutischen Verstehens von dem normativen Anspruch auf Wahrheit und von der

Vorbildlichkeit der eigenen Tradition sieht, also von dem „normativ verbindlichen

Verstehen der vorwissenschaftlichen Traditionsvermittlung,“ wie Apel sagt285, und

das Einverständnis in der Sache zum Ziel alles Verstehens und aller Verständigung

erhebt, erweist sich seine Hermeneutik als eine Art fundamentaler Traditionalismus,

welcher weder historische Kritik noch fremde Meinung zuläßt. Die Hervorhebung der

Wahrheit und Vorbildlichkeit eigener Kulturtradition als die einzige maßgebliche

Norm kann nicht für alles Verstehen in den Geisteswissenschaften gelten.

Wir haben bei Gadamer zwar einige Momente gesehen, die dazu veranlassen

können, seine Hermeneutik auch als eine Hermeneutik für das kulturell Fremde zu

interpretieren, wie etwa seine Hervorhebung der Überwindung der Fremdheit als

Aufgabe der Hermeneutik sowie seine Betonung der „Offenheit“ im

285 Apel sieht das Problem des nihilistischen »Historismus« im Sinne eines Historismus qua Relativismus als die praktischen (existentiellen) Konsequenzen der Abstraktion von der Frage nach der Wahrheit bzw. nach dem normativen Anspruch der zu verstehenden Sinnäußerungen, z.B. der überlieferten Texte in der philosophischen Begründung der Hermeneutik bei Schleiermacher und Dilthey auf dem normativ unverbindlichen aber wissenschaftlich allgemeingültigen Verstehen. Insofern ist er Gadamer ganz gefolgt. Karl-Otto Apel: Szientistik, Hermeneutik und Ideologiekritik, in: Hermeneutik und Ideologiekritik, hg. von Rüdiger Bubner, Frankurt a. M. 1975, S. 8-44. Hier S. 29f.

211

„hermeneutischen Gespräch“, die für die Meinung des Anderen Partei zu nehmen

scheint. Dies Argument wurde aber aus folgenden Gründen zurückgewiesen: Erstens

gilt das Fremdheitsproblem bei Gadamer nicht der kulturellen Fremdheit, sondern

dem Verfremdungsproblem der eigener Tradition; zweitens meint Gadamer mit dem

Anderen nicht den kulturell Fremden, sonder den fremd gewordenen normativen Sinn

der eigenen Tradition; drittens behauptet Gadamer mit seinem Anspruch auf die

unbedingte Geltung der eigenen Kulturtradition als Maßstab alles Verstehens und aller

Verständigung nicht nur eine ungleiche Stellung zwischen Interpreten und

Interpretandum, sondern schränkt die Geltung der von ihm geforderten Offenheit im

Gespräch auf die Offenheit gegenüber Positionen der eigenen Tradition ein. Daher ist

Gadamers philosophische Hermeneutik weder für das Verstehen fremder Kulturen

noch für eine interkulturelle Verständigung geeignet.

Dagegen kann die philologisch-methodologisch orientierte Hermeneutik von

Hirsch durchaus als möglicher Weg zum Verstehen fremder Kulturen dienen, da das

Verstehen bei ihm in erster Linie den Zweck verfolgt, den Sinn fremder Texte durch

progressives Verfahren des Sinn-Konstituierens und Sinn-Überprüfens allmählich zu

erkennen, was einen Lernprozeß der Annäherung an fremde Meinung und fremde

Kulturen bedeutet, ohne daß ein dogmatischer Anspruch auf Einverständnis erhoben

wird. Seine Hermeneutik bietet uns „einen Interpretationsrahmen zwischen

Dogmatismus und Skeptizismus,“ wie Ricoeur einmal sehr schön gesagt hat286. Die

Validierung einer Textinterpretation erbringt „ein wissenschaftlich brauchbares

Wissen über den Text“287 und damit auch über fremde Kulturen.

Die Auszeichnung eines Orientierungssystems in den Disziplinen der historischen

Geisteswissenschaften als des einzig verbindlichen kann hingegen laut Gunter Scholtz

286 Paul Ricoeur: Der Text als Modell: hermeneutisches Verstehen (1971), in: H.-G. Gadamer/ G. Boehm (Hg.): Die Hermeneutik und die Wissenschaften, Frankfurt a. M. 1978, S. 83-117. Hier S. 105. 287 Ricoeur, a.a. O., S. 104.

212

nur aufgrund eines Glaubens erfolgen, denn „faktisch ist die Geschichte

vielstimmig“288. Selbst innerhalb der eigenen Geschichte und Kultur ist die Erklärung

einer religiösen Konfession, eines Kunststils, einer Metaphysik zur einzig gültigen

Norm „nicht nur wissenschaftlich, sondern auch moralisch bedenklich,“ so Scholtz289.

Darüber hinaus wäre der Übergang von einem dogmatischen Wahrheitsanspruch zur

Gewalt nicht auszuschließen, insbesondere wenn es um das Verstehen von fremden

Religionen geht 290 . Insofern ist die hermeneutische Position der

Schleiermacher-Schule, die Hermeneutik von Hirsch einschließlich, die auf „das

normativ unverbindliche aber wissenschaftlich allgemeingültige Verstehen“ abzielt,

für das Problem des Fremden und für das Verstehen fremder Kulturen besser geeignet

als die philosophische Hermeneutik Gadamers.

288 Gunter Scholtz: Das Historismusproblem und die Geisteswissenschaften im 20. Jahrhundert, a. a. O. , S. 142. 289 A.a.O. 290 Vgl. dagegen Kämpfs positive Bewertung des Verstehensbegriffs bei Gadamer. Kämpf sieht in der Begründung der „konstitutiven Unterlegenheit des Verstehenden“ bei Gadamer kein Gewaltpotential und verwundert sich, dass es dem „zutiefst moralisch motiverte[n] Verstehensbegriff“ Gadamers zugeschrieben worden sei. Der Verstehende ist dem Text bzw. dem Anderen gegenüber „unterlegen“, weil Interpretationen „nicht Herrschafts- sondern Dienstformen“ seien, wie Kämpf Gadamer zitiert. Heike Kämpf: Die Exzentrizität des Verstehens, a. a. O., S. 164f. Kämpf übersieht dabei den wichtigsten Punkt, dass das Ziel alles Verstehens und aller Verständigung bei Gadamer das Einverständnis mit dem Anderen ist, in welchem ein Gewaltpotenzial nicht zu übersehen ist.

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Lebenslauf

Hsuan-Erh Chen, geboren am 26. Okt. 1965 als Tochter eines Grundschuledirektors in

Nantou, Taiwan. 1984-1988 Studium der Anglistik und Amerikanistik in der National

Central University in Taiwan. 1989-1998 Studium der Philosophie, Anglistik und

Sprachlehrforschung in Tübingen und Bochum; 2002-2008 Promotion in Philosophie

in Bochum.