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Hl. Franz von Sales Gottesliebe II

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FRANZ VON SALES · ABHANDLUNG ÜBER DIE GOTTESLIEBE/IIFRANZ VON SALES · ABHANDLUNG ÜBER DIE GOTTESLIEBE/IIFRANZ VON SALES · ABHANDLUNG ÜBER DIE GOTTESLIEBE/IIFRANZ VON SALES · ABHANDLUNG ÜBER DIE GOTTESLIEBE/IIFRANZ VON SALES · ABHANDLUNG ÜBER DIE GOTTESLIEBE/II

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Deutsche Ausgabe derDeutsche Ausgabe derDeutsche Ausgabe derDeutsche Ausgabe derDeutsche Ausgabe der

WERKE DES HL. FRANZ VON SALES

Band 4Band 4Band 4Band 4Band 4

Nach der vollständigen Ausgabe derNach der vollständigen Ausgabe derNach der vollständigen Ausgabe derNach der vollständigen Ausgabe derNach der vollständigen Ausgabe der

OEUVRES DE SOEUVRES DE SOEUVRES DE SOEUVRES DE SOEUVRES DE SAINT FRANÇOIS DE SAINT FRANÇOIS DE SAINT FRANÇOIS DE SAINT FRANÇOIS DE SAINT FRANÇOIS DE SALESALESALESALESALESder Heimsuchung Mariä in Annecy (1892-1931)der Heimsuchung Mariä in Annecy (1892-1931)der Heimsuchung Mariä in Annecy (1892-1931)der Heimsuchung Mariä in Annecy (1892-1931)der Heimsuchung Mariä in Annecy (1892-1931)

herausgegeben von den Oblaten des hl. Franz von Salesherausgegeben von den Oblaten des hl. Franz von Salesherausgegeben von den Oblaten des hl. Franz von Salesherausgegeben von den Oblaten des hl. Franz von Salesherausgegeben von den Oblaten des hl. Franz von Salesunter Leitung von Punter Leitung von Punter Leitung von Punter Leitung von Punter Leitung von P. Dr. Dr. Dr. Dr. Dr. F. F. F. F. Franz Reisinger OSFS.ranz Reisinger OSFS.ranz Reisinger OSFS.ranz Reisinger OSFS.ranz Reisinger OSFS.

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Franz von SalesFranz von SalesFranz von SalesFranz von SalesFranz von Sales

ABHANDLUNG ÜBER DIE GOTTESLIEBEABHANDLUNG ÜBER DIE GOTTESLIEBEABHANDLUNG ÜBER DIE GOTTESLIEBEABHANDLUNG ÜBER DIE GOTTESLIEBEABHANDLUNG ÜBER DIE GOTTESLIEBETheotimusTheotimusTheotimusTheotimusTheotimus

Zweiter TZweiter TZweiter TZweiter TZweiter Teil (VII. – XII. Buch)eil (VII. – XII. Buch)eil (VII. – XII. Buch)eil (VII. – XII. Buch)eil (VII. – XII. Buch)

Mit einem Anhang:

Hinweise zum Verständnis der „Abhandlung“vom Herausgeber

Franz-Sales-Verlag

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Das Original hat den Titel:Das Original hat den Titel:Das Original hat den Titel:Das Original hat den Titel:Das Original hat den Titel:TRAITTÉ DE LTRAITTÉ DE LTRAITTÉ DE LTRAITTÉ DE LTRAITTÉ DE L’AMOUR DE DIEU.’AMOUR DE DIEU.’AMOUR DE DIEU.’AMOUR DE DIEU.’AMOUR DE DIEU.

AAAAAus dem Fus dem Fus dem Fus dem Fus dem Französischen überranzösischen überranzösischen überranzösischen überranzösischen übertragen und erläutertragen und erläutertragen und erläutertragen und erläutertragen und erläutert hat est hat est hat est hat est hat esPPPPP. Dr. Dr. Dr. Dr. Dr. F. F. F. F. Franz Reisinger OSFS.ranz Reisinger OSFS.ranz Reisinger OSFS.ranz Reisinger OSFS.ranz Reisinger OSFS.

Mit Erlaubnis des Ordensoberen.Mit Erlaubnis des Ordensoberen.Mit Erlaubnis des Ordensoberen.Mit Erlaubnis des Ordensoberen.Mit Erlaubnis des Ordensoberen.Die kirchliche DrDie kirchliche DrDie kirchliche DrDie kirchliche DrDie kirchliche Druckuckuckuckuckerlaubnis ererlaubnis ererlaubnis ererlaubnis ererlaubnis erteilte dasteilte dasteilte dasteilte dasteilte das

Bischöfliche Generalvikariat EichstättBischöfliche Generalvikariat EichstättBischöfliche Generalvikariat EichstättBischöfliche Generalvikariat EichstättBischöfliche Generalvikariat Eichstättam 21. April 1960.am 21. April 1960.am 21. April 1960.am 21. April 1960.am 21. April 1960.

ISBN 3-7721-0116-X© Franz-Sales-Verlag Eichstätt

3. Auflage 2003Alle Rechte vorbehalten

Herstellung Brönner und Daentler, Eichstätt

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INHALINHALINHALINHALINHALTSÜBERSICHTTSÜBERSICHTTSÜBERSICHTTSÜBERSICHTTSÜBERSICHT

VII. Buch:VII. Buch:VII. Buch:VII. Buch:VII. Buch: Die VDie VDie VDie VDie Vereinigung der Seele mit Gott, die sichereinigung der Seele mit Gott, die sichereinigung der Seele mit Gott, die sichereinigung der Seele mit Gott, die sichereinigung der Seele mit Gott, die sichim Gebet vollzieht.im Gebet vollzieht.im Gebet vollzieht.im Gebet vollzieht.im Gebet vollzieht.

1. Kapitel: Wie die Liebe die Vereinigung der Seele mit Gott imGebet bewirkt. 32

1. Hier ist die Rede von der Vereinigung durch bestimmte Akte undRegungen. – 2. Nebeneinander sein ist nicht dasselbe wie auf etwas ge-drückt und gepreßt sein. – 3. Vergleich mit Mutter und Kind: die Mutterdrückt das Kind an sich, das Kleine tut, was es kann, mit der Mutter einszu werden, könnte aber nichts ohne die Mutter. – 4. So zieht Gott dieSeele an sich, diese wirkt mit, hängt aber dabei ganz vom göttlichenWirken ab. – 5. Wie Musik, Rede usw. fesseln, so drängt sich auch dieSeele an den Gegenstand ihrer Liebe heran und dies ist dann die Vertie-fung der Vereinigung; – 6. das geschieht durch einzelne Akte, Gebete,durch die die Seele Gott näher kommt, oder – 7. durch ein ständiges,unmerkliches Drängen des Herzens in die göttliche Liebe hinein, wieschwere Steinmassen von selber durch ihr Gewicht in die Erde hinein-sinken, – 8. wie die Wurzeln der Bäume sich immer tiefer ins Erdreichsenken, – 9. wie geistige Getränke ihr Wirken im ganzen Leib fühlbarmachen, – 10. wie Honig bei langsamem Verkosten in den Geschmacks-sinn tiefer eindringt, oder wie Parfüm sich mit Baumwolle verbindet. –So vertieft sich auch das Liebesempfinden immer mehr in der Seele.

2. Kapitel: Die verschiedenen Stufen der heiligen Vereinigung, diesich im Gebet vollzieht. 36

1. Manchmal wirkt Gott allein und wir folgen nur, manchmal „zieht“Gott und wir „eilen.“ – 2. Manchmal scheinen wir zu beginnen, er aberkommt uns immer zuvor, – 3. zuweilen fährt er fort, uns unspürbar zuhelfen. Wie Schiffe mit Eisenfracht durch Magnetgebirge angezogenwerden, so kommen auch wir rasch voran durch unmerkliche Hilfen Gottes,andere Male fühlen wir das Wirken Gottes. – 4. Die Vereinigung ge-schieht manchmal durch den Willen allein, manchmal durch Willenund Verstand, manchmal durch alle Fähigkeiten der Seele. – 5. Manchmalhat Gott allein die Initiative (Beispiel: Martial, Bonaventura), andereMale scheinen Heilige die Vereinigung mit Gott begonnen zu haben(Beispiele: Simeon, Katharina). – 6. Bei der Liebenden im Hoheliedgeschieht beides: „Ziehe mich, wir ei len.“ – 7. Die Liebe Christ idrängt uns.

3. Kapitel: Der höchste Grad von Vereinigung durch den Schwebe-zustand und die Entrückung. 40

1. Gott ist immer der Urheber der Vereinigung mit ihm, die rein undstark sein muß, um vollkommen zu sein. – 2. Sie ist rein, wenn sie

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keinen anderen Zweck hat als bei ihm zu sein (Jakob einerseits, dieSchulammit und Maria andererseits). – 3. Sie ist stark, wenn die Seeleganz fest an Gott haftet, sodaß sie sich nur schwer von ihm lösenkann. – 4. So Paulus an Christus, Jonatan an David, das Kind an derBrust der Mutter. – 5. So auch die von der göttlichen Güte erfaßte undgefesselte Seele. – 6. Dann ist sie nicht verschieden von der Entrük-kung (wenn sie lange währt), vom Schwebezustand (wenn von kurzerDauer). – 7. Heilige sind im Schlaf mehr mit Gott vereint, als Leute,die weniger heilig sind, wenn sie beten. – 8. Die Vereinigung kann auchdurch kurze Herzenserhebungen zu Gott geschehen.

4. Kapitel: Die Entrückung und ihre erste Art. 441. Ekstase heißt Entrückung, weil Gott uns durch sie emporreißt;s ie heißt Ekstase, wei l wir uns durch s ie aus uns heraus zur Ver -einigung mit Gott begeben, ja uns in die Gottheit hineinstürzen.– 2. Ähnliches trifft in der gemeinen sinnlichen, tierischen Ekstasezu. – 3. Es gibt drei Arten von Ekstasen: des Verstandes, des Gemütes,der Tat. – 4. Die erste durch Bewunderung, deren Ursache Begegnungmit einer beglückenden unerwarteten Wahrheit ist. Bewunderung ist Ursa-che der Beschauung und der mystischen Theologie.

5. Kapitel: Die zweite Art der Entrückung. 461. Gott zieht die Seelen an sich durch seine erhabene Schönheit undunfaßbare Güte. – 2. Durch seine Schönheit zieht er den Verstand an, ihnzu schauen, durch seine Güte den Willen, ihn zu lieben. Das Entschei-dende aber ist die Liebe, Ekstase hängt ganz von der Liebe ab. „Nichtmehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir“ (Paulus). – 3. Liebesent-rückung vollzieht sich im Willen, indem Gott ihn mit seinen beglük-kenden Lockungen berührt, und der Wille sich ihm dann zuwendet undsich ganz in Gott hineinbewegt. So Entrückung nicht der Erkenntnis, son-dern des seligen Besitzes der Liebe. – Verstand und Wille teilen sichihre Entrückungen gegenseitig mit. – 4. Es kann auch die eine ohnedie andere sein. – 5. Ist Bewunderungsekstase allein da, so macht sieuns nicht besser, könnte sogar vom bösen Feind herrühren. Die Ek-stase des Willens kann aber nur Gott sein.

6. Kapitel: Die Kennzeichen echter Entrückung. Die dritte Art derEntrückung. 49

1. Bei den Ekstasen kann es Illusionen und teuflische Gaukeleiengeben – 2. Es gibt Kennzeichen, diese von echten Ekstasen zu unter-scheiden. – 3. Das eine, daß die echte Ekstase nicht so sehr den Ver-stand wie den Willen erfaßt und mit kraftvoller Gottesliebe erfüllt.Wo dies nicht geschieht, ist die Ekstase zweifelhaft. – 4. Das zweiteKennzeichen ist die Ekstase der Tat und des Lebens, das nicht nur dieGebote Gottes beobachtet, sondern durch Gottes Eingebung wirklichein übermenschliches Leben ist. – 5. „Ihr seid tot und euer Lebenist mit Jesus Christus in Gott verborgen.“ Dies geschieht, wenn wirgeistliche Menschen werden, unser menschliches Leben aufgeben, umein höheres Leben zu führen, das Leben der Liebe.

Inhaltsübersicht VII. Buch

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7. Kapitel: Wie die Liebe das Leben der Seele ist. Fortsetzung derErwägung über das ekstatische Leben. 52

1. Wie die Seele erste Wirklichkeit des Lebens, so die Liebe ersteWirklichkeit und Urgrund des frommen Lebens. Der natürlichen Liebebin ich mit ihr gestorben, um zum übernatürlichen Leben der Liebe zuerstehen. – 2. Wo also kein ekstatisches Leben herrscht, sind Entrük-kungen zweifelhafter Natur und leicht Irreführungen des bösen Feindes. –3. Selig, die ein ekstatisches Leben führen, obgleich sie im Gebet nichtentrückt sind. – 4. Die Ekstase des Lebens setzt den Tod des „altenMenschen“ voraus, damit der neue Mensch, der nach Christus geschaffenist, in uns lebe.8. Kapitel: Wunderbarer Aufruf des hl. Paulus zum ekstatischen

und übermenschlichen Leben. 541. „Die Liebe Christi drängt uns“. Das gilt von jeder Liebe, aber umso mehr von der Liebe Christi, des allmächtigen Gottes, der uns so sehrgeliebt, daß er für uns den Tod am Kreuz erleiden wollte. – 2. Wiedrängt er uns? „Wenn wir erwägen“: wenn Christus für alle gestorbenist, sind alle gestorben, – 5. leben nicht mehr für sich, sondern für den,der für uns gestorben ist . Unser Leben gehört nicht uns, sonderndem, der es durch seinen Tod erworben hat. – 4. Der Adler von Sestos,von einem Mädchen aufgezogen, stirbt aus Liebe zu ihm. – 5. DerHeiland hat für uns alles getan, ist für uns gestorben, daß wir nichtmehr uns leben, sondern dem, der für uns in den Tod ging. So voll-zog sich die Ekstase wahrer Liebe, wenn wir nicht mehr den mensch-lichen Beweggründen leben, sondern den Antrieben des göttlichen Hei-lands.9. Kapitel: Die höchste Wirkung der Affektliebe: das Sterben der

Liebenden. Erstens: das Sterben in der Liebe. 571. Die Liebe ist zuweilen so heftig, daß sie Leib und Seele trennt.Das in verschiedener Weise. – 2. In der Liebe sterben alle Gerechten,auch wenn sie eines plötzlichen Todes sterben, wie manche Heilige, –3. wenn sie auch im Sterben nicht an Gott denken, da ja die Tugendenstets im Gerechten bleiben, auch wenn sie nicht in Tätigkeit sind. –4. Manche Heilige starben außerdem in der Ausübung der Liebe (Augu-stinus, Hieronymus, Ambrosius ...).

10. Kapitel: Das Sterben aus Liebe und um der göttlichen Liebewillen. 60

1. Um der göttl ichen Liebe willen starben alle Märtyrer, sie sind jaf ü r den lebendigen Glauben ges torben . – 2 . Manche s ind aberausdrücklich allein um der Liebe willen gestorben (z. B. Johannes derTäufer, die Märtyrer der Keuschheit). – 3. Manche hat geradezu diesesheilige Feuer der Liebe verzehrt, durch die häufigen Ekstasen, ihre Sehn-sucht, ihre Leiden (Franz von Assisi).11. Kapitel: Einige Gottliebende, die an der Liebe starben. 621. Manche starben an der Liebe, da die Liebe sie durch einen Stich

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mitten ins Herz durchbohrt und so die Seele aus dem Körper heraus-stößt. – 2. Vorbedingung ist, daß das Herz sich von allen Anhäng-lichkeiten entblößt. – 3. So Franz von Assisi, – 4. die hl. Magdalena,der hl. Basilius, die hl. Theresia von Jesus.

12. Kapitel: Wunderbare Geschichte vom Tod eines Edelmannes,der auf dem Ölberg an der Liebe starb. 64

Ein Edelmann pilgert durch alle Stätten, die durch Jesus geheiligt wor-den waren, und stirbt schließlich, während er die Himmelfahrt Jesubetrachtet.

13. Kapitel: Die allerseligste Jungfrau und Mutter Gottes starb ander Liebe zu ihrem Sohn. 68

1. Der Tod des hl. Josef. – 2. Auch Maria kann keines anderen Todes alsdes Liebestodes gestorben sein, da sie ein Herz und eine Seele mit Jesuswar, – 3. einzige Mutter des einzigen Sohnes, die kein anderes Leben alsdas ihres Sohnes hatte, – 4. also auch am Tod ihres Sohnes sterbenmußte.14. Kapitel: Die glorreiche Jungfrau starb eines sanften und fried-

lichen Todes. 711. Manche meinen, Maria sei durch einen heftigen Ansturm der Liebegestorben, andere wieder glauben, ihr Tod sei ganz friedlich gewesen.Beides ist wahr. – 2. Die Sterne glitzern, weil sie ihr Licht ihrer Schwä-chen wegen nicht gleichmäßig ausstrahlen können. So erfuhren auch dieHeiligen, die den Liebestod starben, viele Liebesanfälle und Liebesbe-schwerden, bevor ein Liebesansturm ihr Leben beendete. – 3. AndersMaria: Ihre Liebe wuchs beständig, friedlich, weil sie keinen Wider-stand in ihr fand. – 4. Alles förderte in Maria das Strömen der Liebe.Ihre Affekte waren so wohlgeordnet, daß die himmlische Liebe ihre Herr-schaft ganz friedlich ausüben konnte. – 5. Die menschlichen Armselig-keiten bildeten bei ihr kein Hindernis für die heilige Liebe, sondernwaren Gelegenheiten, sie zu üben und zu verstärken. – 6. Die Hinder-nisse der Liebe bei den Menschen (Sünde, Liebe zum Reichtum, sinnlicheGelüste, Stolz und Eitelkeit, Eigenliebe) gab es nicht im Herzen Mariä.– 7. Kein Hindernis also für ihre Liebesvereinigung mit Jesus, daherauch ein sanfter Liebestod.

VIII.VIII.VIII.VIII.VIII.Buch: Über die Liebe der Gleichförmigkeit, durch die wirBuch: Über die Liebe der Gleichförmigkeit, durch die wirBuch: Über die Liebe der Gleichförmigkeit, durch die wirBuch: Über die Liebe der Gleichförmigkeit, durch die wirBuch: Über die Liebe der Gleichförmigkeit, durch die wirunseren Wunseren Wunseren Wunseren Wunseren Willen mit dem geoffenbarillen mit dem geoffenbarillen mit dem geoffenbarillen mit dem geoffenbarillen mit dem geoffenbarten göttlichen Wten göttlichen Wten göttlichen Wten göttlichen Wten göttlichen Wil-il-il-il-il-len vereinigen, der uns durch Gebote, Räte und Einspre-len vereinigen, der uns durch Gebote, Räte und Einspre-len vereinigen, der uns durch Gebote, Räte und Einspre-len vereinigen, der uns durch Gebote, Räte und Einspre-len vereinigen, der uns durch Gebote, Räte und Einspre-chungen gezeigt wird.chungen gezeigt wird.chungen gezeigt wird.chungen gezeigt wird.chungen gezeigt wird.

1. Kapitel: Die Liebe der Gleichförmigkeit, die dem heiligen Wohl-gefallen entspringt. 78

1. Wer an Gott Wohlgefallen gefunden, will Gott Wohlgefallen be-reiten; es gestaltet uns zu dem um, was wir lieben. – 2. So wird mandurch das Gefallen an Gott ihm gleichförmig. Liebe findet Ähnlichkeitvor oder schafft sie. – 3. Mit der Freude an dem, was man liebt, zieht

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das Herz dessen Eigenschaften an sich und zwar solche, die einem ge-fallen, aber auch solche, die mißfallen. – 4. Deshalb bildet uns dasheilige Wohlgefallen in Gott um; je größer es ist, desto größer ist dieUmwandlung. – 5. Liebe braucht nicht die Strenge des Gesetzes. Liebeist eine Obrigkeit, die ihre Macht ohne Lärm, ohne Aufseher und Po-lizisten ausübt. – 6. Liebe ist der Inbegriff der gesamten Theologie.Wer an Gott Gefallen findet, will in aller Treue Gott gefallen undsich ihm gleichformen, um ihm zu gefallen.

2. Kapitel: Gleichförmigkeit in der Unterwerfung, die aus der Liebedes Wohlwollens hervorgeht. 80

1. Die Liebe des Wohlwollens verleiht diese heilige Gleichförmigkeitnoch auf einem anderen Weg; sie wirft unsere Herzen in Gott hineinund damit auch alle Handlungen und Empfindungen. – 2. Weil wiran Gottes Güte, Vollkommenheit, Herrschaft und heiligem WillenGefallen haben, wollen wir, daß Gott innig geliebt, angebetet und ihmgehorcht werde. – 3. Liebe treibt uns dazu an, den Gehorsam frei undgern zu leisten. – 4. Wie Mädchen sich dem Gatten, Edelleute demFürsten, Ordensleute ihren Oberen frei unterwerfen, gehorchen wiraus Liebe, Gottes vollkommener Güte willen.

3. Kapitel: Unsere Pflicht, dem göttlichen Willen, den man den ge-offenbarten nennt, gleichförmig zu werden. 82

1. Wir betrachten den Wil len Gottes in s ich se lbst und in se inenWirkungen und bezeichnen ihn, obwohl er ein und derselbe ist, mitverschiedenen Namen nach der Verschiedenheit der Mittel, durch die wirihn erkennen. – 2. Gott hat uns zu erkennen gegeben, was wir glauben,fürchten, tun sollen; das ist der „ausgesprochene“, der geoffenbarteWille Gottes. – 3. Er ist kein absoluter Wille, dem wir nicht widerste-hen könnten, sondern ein Verlangen, das wir erfüllen sollen, aber nichtgezwungen werden, zu erfüllen. – 4. Gott treibt uns dazu an, läßt aberzu, daß wir Widerstand leisten, zwingt uns nicht. – 5. Die Gleichför-migkeit unseres Herzens mit dem geoffenbarten Willen Gottes bestehtdarin, daß wir das wollen, was Gott als seine Absicht offenbart . –6 . Darauf zielen die feierlichen Versicherungen bei den kirchlichenZeremonien hin (Aufstehen beim Evangelium usw.).

4. Kapitel: Die Gleichförmigkeit unseres Willens mit dem WillenGottes, uns zu retten. 85

1. Gott hat uns vielfach seinen Willen, uns zu retten offenbart; – 2. erwill uns aber unserer Natur gemäß retten, d. h. indem er uns die Freiheitläßt. – 3. Es ist die Wonne der höchsten Güte, sich zu ergießen, undunser Heil ist Gottes Wohlgefallen. Diesen liebevollen Willen Gottesmüssen wir immer wieder betrachten und anbeten. – 4. Wir müssenunser Heil wollen, wie Gott es will, d. h. danach verlangen, die Mitteldazu aber müssen wir entschlossen ergreifen, – 5. auch jene, die unsim einzelnen erschrecken.

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5. Kapitel: Die Gleichförmigkeit unseres Willens mit dem in denGeboten ausgesprochenen Willen Gottes. 87

1. Gott verlangt sehr danach, daß wir seine Gebote halten; wir werdendurch die Liebe des Wohlgefallens und des Wohlwollens dazu angetrie-ben, die Gebote zu lieben und zu halten. – 2. Dazu müssen wir be-trachten, wie schön sie sind und wer sie uns gegeben. – 3. Sie nicht ausFurcht beobachten, sondern aus Liebe. – 4. Der vertierte Mensch ver-l iert bei Schwierigkeiten den Mut, wer aber l iebt , l iebt auch dasLeiden, das ihre Beobachtung zuweilen bereitet. – 5. Die Notwendigkeitzu gehorchen wird zur Liebeskraft und Schwierigkeit zur Lust.6. Kapitel: Die Gleichförmigkeit unseres Willens mit dem in seinen

Räten ausgesprochenen Willen Gottes. 901. Der Rat stellt uns einen Willen in Form eines Wunders vor Au-gen. – 2. Daher führt die Liebe des Wohlgefallens und des Wohlwollenszur Befolgung der Räte, – 3. aber so, wie sie Gott befolgt haben will,nicht von jedem alle, sondern von jedem die, die zu ihm den Um-ständen nach passen. – 4. Die Befolgung bestimmter Räte könnte sogarzuweilen schädlich sein. – 5. Die Liebe kann befehlen, daß Mönche ausdem Kloster gezogen werden, um Pfarrer zu werden, ja, um zu heiraten.– 6. Von der Liebe muß man sich befehlen lassen, wie die Räte aus-zuführen sind.7. Kapitel: Die Liebe zu dem in den Geboten ausgedrückten Willen

führt uns dazu, die Räte zu lieben. 931. Wie liebenswert ist Gottes Wille! – 2. Die Seele, daß Gott liebt, wirdso sehr in den göttlichen Willen umgewandelt, daß sie „Wille Gottes“genannt werden kann. – 3. So war es bei den ersten Christen: einHerz und eine Seele, weil ein Wille Gottes sie beherrschte. – 4. Derböse Feind sagt: Ich will nicht dienen, – 5. während der Erlöser vomersten Augenblick seines irdischen Lebens den göttlichen Willen mitLiebe umfangen hat. – 6. Wir begnügen uns nicht damit, die Gebotezu erfüllen, sondern wollen auch den Räten gehorchen, um die Gebotebesser zu erfüllen (Beispiel: die Krieger Davids). – 7. Jesus erklärtebei einigen Dingen seinen Willen in Form von Geboten, bei anderen alsWünsche, worauf viele Christen ihren Lauf begannen, der sie zurHerrlichkeit führte.

8. Kapitel: Verachtung der evangelischen Räte ist eine große Sünde. 961. Der Herr mahnt uns, nach Vollkommenheit zu streben. – 2. Beiden geistlichen Gütern darf man sich nicht mit dem begnügen, wasgenügt. – 3. Der Mensch kann nie im gleichen Zustand bleiben. – 4. Esist also Sünde, das Streben nach Vollkommenheit und die Einladungdazu zu verachten und besonders die Räte, die uns der Herr gibt, umdorthin zu gelangen. – 5. Man kann, ohne zu sündigen, Räte Gottesnicht befolgen, aber man kann, ohne zu sündigen, nicht bekennen, daßman sie nicht befolgen will. – 6. Bei Menschen ist es möglich, Ratschlä-ge zurückzuweisen, weil sie irren können. Gottes Rat verwerfen aberkann ohne Geringschätzung Gottes nicht geschehen.

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9. Kapitel: Jeder muß alle evangelischen Räte lieben, wenn auchnicht üben. Jeder muß aber trotzdem befolgen, was er kann. 99

1. Wenn auch nicht jeder Christ verpflichtet ist, alle Räte zu befolgen,so muß er sie doch alle lieben. – 2. Wir bezeugen diese Liebe, wenn wirjene beobachten, die für unsere Verhältnisse passen, – 3. und die an-deren, soweit sie es können, ohne die Liebe zu verletzen. – 4. In deneinzelnen Räten gibt es verschiedene Stufen der Vollkommenheit (Al-mosen, Gastfreundschaft, Krankendienst). – 5. Heroische Tugendaktesind nicht geboten, sondern sind nur geraten; dazu verpflichtet sindwir nur bei seltenen Vorkommnissen (freiwillige Märtyrer). – 6. Chris-tus, das große Vorbild heroischen Tugendlebens.10. Kapitel: Gleichförmigkeit mit dem Willen Gottes, der sich uns

in den Eingebungen offenbart. 1031. Die Eingebung ist ein himmlischer Strahl, der ein warmes Lichtim Herzen leuchten läßt, durch das wir das Gute sehen und zu eif-rigem Streben danach erwärmt werden. Ohne Eingebungen würde dieSeele warm und lau. Gottes Atem erwärmt und erleuchtet uns. – 2.Zahllos sind die Weisen Gottes, uns Eingebungen zu spenden (Predigt,Bilder, Chorgebet). – 3. Selig, wessen Herz für Gottes Eingebungenaufgeschlossen ist. – 4. Selig die Seelen, die bereit sind, den heiligenEingebungen zu folgen, die der Vater bereitet hat, Bräute seines vielge-liebten Sohnes zu sein.11. Kapitel: Die Vereinigung unseres Willens mit dem Willen Got-

tes in den Eingebungen, die uns zu außergewöhnlichen Tugend-übungen verliehen werden. – Die Beharrlichkeit im Beruf: daserste Kennzeichen der Eingebung. 106

1. Es gibt Eingebungen, die nur auf eine außergewöhnliche Vollkom-menheit gewöhnlicher Übungen des christlichen Lebens hinzielen.(Beispiele: Franziskus, Katharina von Siena usw.). – 2. Nicht mehrereÜbungen gleichzeitig betreiben wollen. Der böse Feind will, daß wirviel beginnen, aber nichts zu Ende führen. – 3. Bei Berufsfragen sichnicht endlos beraten. – 4. Der böse Feind schlägt oft angeblich Besse-res vor, damit wir das Gute nicht durchführen. Vollkommenheit be-steht nicht im Anfangen, sondern im Vollenden. – 5. Entschlüsse nichtändern, sondern vorwärts gehen (Beispiele: Franz Bassus und der hl.Philipp). – 6. Taktik des Rebhuhns und Taktik Satans: Ablenkungzu anderen Wegen, die anscheinend vollkommener sind.12. Kapitel: Die Vereinigung des menschlichen Willens mit dem

Willen Gottes in den Eingebungen, die den gewöhnlichen Ge-setzen entgegen sind. Friede und Sanftmut des Herzens: daszweite Kennzeichen der Einsprechung. 110

1. Es gibt auch Eingebungen, die den gewöhnlichen Regeln und Ge-bräuchen der Kirche entgegen sind (Beispiele: Eusebia, der junge Mann,der sich den Fuß abhackte, die Einsiedler usw.) – 2. Kennzeichen: Friedeund Ruhe des Herzens. – 3. Der böse Geist ist im Gegenteil unge-stüm, hart und unruhig.

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13. Kapitel: Das dritte Kennzeichen der Eingebung: der heilige Ge-horsam gegen die Kirche und die Vorgesetzten. 112

1. Mit dem Frieden und der Sanftmut des Herzens ist die heilige Demutuntrennbar verbunden, freilich echte Demut. – 2. Beispiel: Simeon derSäulensteher. – 3. Kein besseres Kennzeichen echter Eingebung, als ein-facher, sanfter Gehorsam. Wenn Gott Eingebungen in das Herz wirft, soist die erste die des Gehorsams (Beispiel: hl. Paulus und Hananias). Da-her sind außergewöhnliche Sendungen teuflische Illusionen, wenn sie vonder Kirche nicht anerkannt sind. – 4. Die drei sichersten Kennzeichenechter Eingebungen: Ausdauer, Ruhe des Herzens, demütiger Gehorsam.Wie Pflanzen sich der Sonne zuwenden, so die Auserwählten dem göttli-chen Willen, den sie ohne Vorbehalt befolgen wollen.14. Kapitel: Kurze Methode, den Willen Gottes zu erkennen. 1161. Wo der Wille Gottes kundgetan ist, da gibt es nichts zu überlegen.Für alles übrige Freiheit. – 2. Lästige Versuchung, ob das oder jenesWille Gottes ist. – 3. Wie man nicht das Kleingeld abwiegt, so auchkeine langen Überlegungen, außer bei wichtigen Dingen, wie – 4. Be-rufswahl, Planung einer ernsten Angelegenheit usw., aber nicht beikleinen Alltagshandlungen. Bei solchen Sachen in aller Freiheit tun,was uns gut dünkt. – 5. Aber auch bei folgenschweren Dingen nichtlanges Herumgrübeln, sondern beten, überlegen, Rat vom Seelenführerund von zwei oder drei klugen Personen einholen und sich dann ent-scheiden. Bei Schwierigkeiten nicht grübeln, ob der Entschluß gut war,sondern ruhig dabei bleiben. Anders handeln wäre Zeichen großer Eigen-liebe oder eines schwachen Geistes.

IIIIIX.X.X.X.X. Buch:Buch:Buch:Buch:Buch: DieDieDieDieDie LiebeLiebeLiebeLiebeLiebe derderderderder UnterUnterUnterUnterUnterwerwerwerwerwerfung,fung,fung,fung,fung, durchdurchdurchdurchdurch diediediediedie unser Wunser Wunser Wunser Wunser Willeilleilleilleillesich mit dem Wsich mit dem Wsich mit dem Wsich mit dem Wsich mit dem Wohlgefallen Gottes vereinigt.ohlgefallen Gottes vereinigt.ohlgefallen Gottes vereinigt.ohlgefallen Gottes vereinigt.ohlgefallen Gottes vereinigt.

1. Kapitel: Die Vereinigung unseres Willens mit dem göttlichenWillen, den man den Willen des Wohlgefallens nennt. 120

Nichts, die Sünde ausgenommen, geschieht ohne den Willen Gottes,den man den Willen des Wohlgefallens nennt. – 1. Betrachtet manalles, was durch ihn geschieht, wird man von Staunen hingerissen, vomStaunen zu heiligem Wohlgefallen übergehen und sich freuen, daßGott so weise, allmächtig und gütig ist. – 2. Wir freuen uns, GottesBarmherzigkeit in so vielen Gunsterweisen und seine Gerechtigkeitin der Vielfalt von Strafen zu sehen, – 3. diese aber immer gemildertdurch die Auswirkungen seiner Barmherzigkeit, – 4. sogar die Peinender Verdammten, die viel geringer sind als die Verbrechen, für die sieverhängt werden. – 5. Daher müssen auch wir bei allen Gütern, wie beiallen Leiden, die Gott schickt, sagen: „Dein Wille geschehe, wie imHimmel so auf Erden.“2. Kapitel: Die Vereinigung unseres Willens mit dem Wohlgefallen

Gottes geschieht vor allem im Leiden. 1221. Betrachtet man die Leiden an sich, so kann man sie nicht lieben;schaut man sie aber in ihrem Ursprung, im göttlichen Willen, so sind

Inhaltsübersicht VIII. /IX. Buch

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sie unendlich liebenswert (Beispiel: Stab Mose, goldfarbener Fluß,Abraham, Märtyrer). – 2. Das christliche Leben hat drei Grundsätze:Selbstverleugnung, Kreuztragen, Nachfolge des Herrn. Die Liebe be-weist man besonders im Leiden. – 3. Man liebt den Willen Gottes inseinen Tröstungen, seinen Geboten, in Leiden; – und das ist der Höhe-punkt der Liebe. – 4. Das war die große Prüfung Ijobs; – 6. Übelentgegenzunehmen vermag nur die vollkommene Liebe, die aber dannin Sicherheit wandelt, da das Leid an sich nicht liebenswürdig ist.

3. Kapitel: Die Vereinigung unseres Willens mit dem göttlichenWohlgefallen durch Ergebung in seelischen Leiden 125

1. Freiwillige Leiden auf sich nehmen ist Gott wohlgefällig, noch wohl-gefälliger ist ihm, wenn wir Leiden geduldig entgegennehmen, noch mehr,wenn sie uns willkommen sind. – 2. Das Erhabenste aber ist die Einwil-ligung in Leiden des geistlichen Lebens. – Die Seele ist zuweilen derartvon inneren Peinen bedrängt, daß alle ihre Kräfte davon niedergedrücktsind und sie von allem beraubt sind, was ihr Erleichterung geben könnte.– 3. Nur in der Spitze des Geistes sagt sie „Dein Wille geschehe“, istsich aber dessen fast nicht bewußt, sie fühlt nichts dabei, bleibt aberwie auf einem Festungsturm mutig, wenn auch alles andere in Traurig-keit gehüllt ist. – 4. Diese Vereinigung mit dem göttlichen Wohlgefal-len kann durch Ergebung und Gleichmut geschehen. In der Erge-bung unterwirft man sich.

4. Kapitel: Die Vereinigung unseres Willens mit dem WohlgefallenGottes durch den Gleichmut. 128

1. Der Gleichmut steht über der Ergebung, denn er liebt nichts, außeraus Liebe zum Willen Gottes. – 2. So war nicht die Liebe Jakobs zu denTöchtern Labans. – 3. Das gleichmütige Herz liebt das Widerwärtigewie die Tröstung, weil beide Töchter des Wohlgefallens Gottes sind, jadie Widerwärtigkeit noch mehr, weil in ihr nichts Liebenswertes ist alsder göttliche Wille. – 4. Heroisch der Gleichmut des hl. Paulus unddes hl. Martin, beide bereit zu sterben oder weiterzuleben, wie Gottwollte. – 5. Das gleichmütige Herz ist in allem nur dem Willen Gotteszugewandt, liebt nicht die Dinge, die Gott will, sondern den WillenGottes, der sie will und das, was er mehr will (Jungfräulichkeit – Dienstan den Armen).

5. Kapitel: Der heilige Gleichmut erstreckt sich auf alle Dinge. 1301. Der Gleichmut muß in allen Dingen des natürlichen, bürgerlichenund geistlichen Lebens geübt werden. – 2. Beispiele Ijob, – 3. die Apo-stel nach Paulus, – 4. vor al lem der göttl iche Heiland, der sowohlin se inem gesellschaftlichen Leben, wie auch in seinem natürlichenund geistlichen Leben schwerste Qualen erlitt, – 5. in so vielen Peinenwie begraben war, außer in der Spitze des Geistes , d ie hel l undleuchtend war vor Herrl ichkeit und Seligkeit . Sel ig die Liebe, diein der höchsten Spitze des Geistes der Gläubigen herrscht, während siein den Wogen und Fluten der inneren Drangsale sind!

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6. Kapitel: Die Übung des liebevollen Gleichmutes in allem, wasden Dienst Gottes betrifft 133

1. Solange das göttliche Wohlgefallen unbekannt ist, müssen wir dengeoffenbarten Willen Gottes erfüllen (z. B. bei Krankheiten), unsaber liebevoll fügen, sobald Gottes Wohlgefallen offenbar wird. – 2. Istmir Gottes Wohlgefallen vor dem Eintritt des Ereignisses kundgetan(z. B. das Ende Jerusalems dem Jeremia), so muß ich mich im glei-chen Augenblick mit dem Willen Gottes vereinigen. Beispiel Abra-ham. – 3. Wenn Gott uns erhabene Pläne einflößt, aber nicht gelingenläßt, müssen wir mutig anfangen, aber ruhig in den Ausgang des Er-eignisses einwilligen (hl . Ludwig , Franziskus , Ignat ius , Avi la) . –4. Glücklich solche Seelen (Gegenbeispiel Jona). – 5. Ist es aber dannnicht besser, sich nicht mit Eifer einzusetzen, sondern alles gehen zulassen? Nein. Wir müssen al les tun, daß das Unternehmen gel ingt ,aber in das Mißl ingen friedlich einwilligen (Apostel und Bekehrungder Juden). – 6. Wenn aber das Unternehmen durch menschliche Schuldscheitert? Dann ist es Gottes Wille, daß das Mißlingen Strafe fürdeinen Fehler sei.7. Kapitel: Gleichmut in dem, was unseren Fortschritt in den Tu-

genden betrifft. 1371. Wir müssen al les tun, um die heil igen Tugenden zu erwerben, –2. dürfen uns aber über mangelhaften Fortschritt nicht beunruhigen,sondern sollen die Sorge um den Erfolg dem Herrn überlassen. –3. Seine Fehler soll man ernst und ruhig bereuen, sich aber nicht derTraurigkeit hingeben, – 4. sondern wie die Seelen im Fegfeuer die Sün-den verabscheuen, die Demütigung aber annehmen. Solange wir auf Erdensind, müssen wir mit Eifer dafür sorgen, daß wir größere Fortschritteerzielen. – 5. Die ersten Regungen der Leidenschaften werden trotzal ler Vorsätze bleiben, – 6. s ie s ind nicht Sünde, dürfen uns alsonicht in Unruhe versetzen; diese ist Frucht der Eigenliebe. – 7. DieRevolten des sinnlichen Begehrungsvermögens werden uns gelassen,damit wir im Widerstand Tapferkeit üben. Es ist uns nicht verboten,sie zu fühlen, sondern nur in sie einzuwilligen, – 8. so wie der Arztdem Fiebernden nicht verbietet, den Durst zu fühlen, sondern nurzu trinken. – 9. Wir dürfen uns sogar unserer Schwachheiten rühmen. –10. Die Kirche verurteilt die Ansicht, man könne von Leidenschaften ganzfrei sein.8. Kapitel: Vereinigung unseres Willens mit dem Willen Gottes

bei der Zulassung der Sünden 1411. Wei l Gott d ie Sünde haßt , s ie aber zuläßt , müssen wir d ieseZulassung preisen, die Sünde aber verabscheuen und alles tun, sie zuverhindern, – 2. ist sie aber begangen, alles tun, sie zu tilgen, beiuns und bei anderen. – 3. Ist der Sünder hartnäckig, darf man nichtden Mut verlieren, ihn nicht aufgeben, sondern ihm helfen, soweites möglich ist , – 4. zu guter letzt aber, wenn er s ich nicht helfenläßt, uns anderen zuwenden (Beispiel: Die Apostel und die Juden) –5. und die richtende Gerechtigkeit Gottes ebenso anbeten wie seine gütigeBarmherzigkeit.

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9. Kapitel: Die Übung reinen Gleichmutes in Werken der heiligenLiebe. 143

1. Der taube Sänger und der Fürst. – 2. Das Herz ist Sänger des Hohe-liedes der Liebe; für gewöhnlich hört der Sänger die Melodie des Liedesund es gewährt ihm Freude, sie zu vernehmen. – 3. Wie die Nachtigallensingen um der Freude willen, die sie daran finden, so geschieht esunmerklich, daß man Gott liebt, nicht um ihm zu gefallen, sondernum der Freude willen, die man in der Liebe empfindet, – 4. also nichtweil die Liebe auf Gott hinzielt, sondern weil sie von uns ausgeht; wirsuchen nicht Gott damit, sondern uns selbst.10. Kapitel: Mittel, diese Veränderung in der heiligen Liebe zu er-

kennen. 1451. Singt die Seele, um Gott zu befriedigen, so singt sie das Lied, dasGott am meisten gefällt, singt sie aber, weil sie Freude daran hat,dann singt sie das Lied, das ihr am meisten zusagt. – 2. Beispiele:Ein Bischof bei seiner Herde oder in Paris, Ordensleute, Eheleute,Krankheit. – 3. Es ist schwer, Gott zu lieben, ohne zugleich die Freudezu lieben, die man an seiner Liebe findet; – 4. man muß aber trachten,in Gott nur die Liebe zu seiner Schönheit zu suchen und nicht dieFreude, die in der Liebe zu seiner Schönheit liegt. Also keine Rückblickeauf sich beim Gebet, sondern den Sinn nur auf Gott richten. – 5. Amnonliebte nicht Tamar, sondern die Lust, die einmal erreicht, ihn Tamarbrutal behandeln ließ. – 6. Wer im Gebet andächtig ist, aber alles auf-gibt, sobald die Trockenheit einsetzt, zeigt, daß er nicht Gott suchte,sondern seinen Trost, was sehr gefährlich ist.11. Kapitel: Ratlosigkeit des Herzens, das liebt, ohne zu wissen,

daß der Geliebte Gefallen an ihm hat. 1481. Glückselig das Herz, das Gott liebt ohne eine andere Freude zuhaben, als Gott zu gefallen. – 2. Diese ist aber nicht die Gottesliebe,sondern nur eine ihrer Früchte und kann daher von ihr getrennt wer-den. – 3. Wie leidet die Seele, wenn sie nicht mehr wahrnimmt, daßGott an ihrer Liebe Gefallen hat! Aber sie hört doch nicht auf, zulieben (Beispiel: Kind und Mutter). – 4. So empfinden wir zuweilen beiden Übungen der heiligen Liebe keine Freuden, sondern sogar Ängste,Versuchungen. – 5. Der Geist, auch die höchste Spitze der Vernunft,bringt keine Erleichterung, weil er selbst von Versuchungen belagertist, geängstigt, aufgeregt, auch ohne Hoffnung auf ein Ende der Prü-fung. Der Glaube versichert uns dies zwar, aber im Getöse des bösenFeindes hören wir es kaum. – 6. Da ist es recht an der Zeit, dem Hei-land Treue zu erweisen dadurch, daß wir ihm rein nur aus Liebe zuseinem Willen dienen, nicht nur ohne Freude, sondern in einer Flut vonTraurigkeit und Versuchungen.12. Kapitel: Wie die Seele inmitten der inneren Leiden in Unkennt-

nis ihrer Gottesliebe ist. – Das ganz liebenswerte Sterben desWillens. 150

1. Als der Engel den Petrus befreite, schien es diesem, als sei dies nichtWirklichkeit. – 2. So hat oft auch die Seele nicht die Kraft, zu unter-

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scheiden, ob sie wirklich glaubt, hofft und liebt, so sehr nimmt siedie Trostlosigkeit in Beschlag. – 3. Unser Geist ist immer in einemähnlichen Zustand, wenn er von einer heftigen Leidenschaft ergriffenist. – 4. Durch solche Qualen wird aber die Liebe ganz rein. – 5. DieSeele scheint ganz verlassen, findet die Liebe nicht in den Sinnen, nichtin der Einbildungskraft, nicht in der Vernunft, nicht im höchstenBereich des Geistes, weil die Finsternis sie daran hindert, die Liebezu erkennen, – 6. sie hat aber dann nur mehr die Kraft, ihren Willen in denArmen des göttlichen Willens sterben zu lassen nach dem Vorbild desgöttlichen Heilands. Wenn wir uns unter den Qualen geistlicher Leidenwinden, empfehlen wir unseren Geist in die Hände des ewigen Sohnesund übergeben wir ihm unseren ganzen Willen.

13. Kapitel: Ist der Wille sich selbst abgestorben, dann lebt er nurmehr im Willen Gottes. 153

1. Unser Wille kann nie sterben, aber manchmal überschreitet er dieSchranken seines gewöhnlichen Lebens, um ganz im göttlichen Willenzu leben. – 2. Er stirbt dann nicht völlig, aber er ist so versunken imWillen Gottes, daß er kein vom Wollen Gottes getrenntes Wollen mehrhat. – 3. Beispiel: die Gemahlin des hl. Ludwig beim Kreuzzug; derDiener im Gefolge des Herrn. – 4. So soll auch ein dem Willen Gottesergebener Willen nichts wollen als dem Willen Gottes zu folgen, sich vonihm tragen zu lassen, ihm zur Verfügung zu stehen. – 5. Der Willeist dann im Willen Gottes untergegangen, in den Willen Gottes um-gewandelt, sicher die höchste Vollkommenheit unseres Willens.

14. Kapitel: Erläuterung über das Sterben unseres Willens. 1561. Maria trug Jesus, ließ ihn auch auf eigenen Füßchen gehen. – 2. Wirkönnen auch auf zweierlei Weise mit Gott gehen, wir können mit denSchritten des eigenen Wollens gehen, das wir dem seinen anpassen, dasgeschieht dem geoffenbarten Willen Gottes gegenüber. – 3. Wir könnenauch mit dem Herrn gehen, ohne ein eigenes Wollen zu haben; so sollenwir uns dem Willen des göttlichen Wohlgefallens gegenüber verhalten;wir können wollen, daß die Ereignisse dem göttlichen Wohlgefallen ge-mäß geschehen, oder durch eine einfache Stille unseres Willens allesentgegennehmen. – 4. Beispiel: das Jesuskind in den Armen Mariens. – 5.So sollen auch wir für das göttliche Wohlgefallen ganz geschmeidig undlenksam sein, Gott für uns wollen und tun lassen, – 6. aber unsere Sorgedarauf zu verwenden, Gott für alles, was er tut, zu preisen.15. Kapitel: Die erhabenste Übung bei inneren und äußeren Leiden

dieses Lebens, die dem Gleichmut und dem Absterben unseresWillens entspringt. 159

1. Gott für alles zu preisen, ist eine heilige Haltung, aber noch erhabenerwäre sie, Gottes Willen nicht in seinen Wirkungen, sondern in seinereigenen Vollkommenheit zu preisen. – 2. Beispiel: Protogenes, fernerdie kranke Tochter des Arztes, die sich ihm ganz überläßt, nur daraufbedacht, ihn zu lieben. – 3. Blicke auch du auf Gott, laß ihn machenund erwarte in Ruhe die Wirkungen des göttlichen Wohlgefallens. –

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4. Es ist nicht leicht, diesen Gleichmut zu schildern, am ehestenkann man sagen, daß der Wille dann in einer einfachen und allgemeinenErwartung ist, in einem einfachen Bereitsein. – 5. So war der Willedes Erlösers (nach Jesaja 50). Sein Wille war in Erwartung und bereitfür alles, was der Wille Gottes verfügen würde.

16. Kapitel: Die vollkommene Entäußerung der mit dem WillenGottes geeinten Seele. 162

1. Die Schergen rissen Jesus alle Kleider vom Leibe, zerrissen die Hautmit Geißeln, trennten Seele und Körper. Nach drei Tagen glorreicheAuferstehung. – 2. Die Seele wird wohl entblößt von sich selbst undaller Anhänglichkeit auch an Geistliches, aber damit sie nichts an-deres l iebe als das göttl iche Wohlgefallen und sich wie Judit nursoweit bekleide, als es dem göttlichen Wohlgefallen entspricht – 3.Denn die Seele kann nicht lange in dieser Blöße bleiben, sie muß sichmit den Gewändern des neuen Menschen bekleiden, das ist mit JesusChristus, aber nicht zur eigenen Ehre, zum eigenen Nutzen, sondernweil es Gott angenehm ist und seiner Verherrlichung dient, – 4. weilder himmlische Bräutigam es will und weil er diese Ordnung in dieLiebe gelegt hat. Gelöst von den alten Anhänglichkeiten, müssen wiruns mit einer neuen Liebe bekleiden, nicht weil sie uns vervollkomm-net, sondern weil der Name des Herrn dadurch geheiligt wird. – 5. SoPetrus im Gefängnis, Paulus bei der Erscheinung des Herrn. – 6. Weralles für Gott verlassen hat, darf nichts zurücknehmen, außer wieGott es wi l l . – 7 . Die Liebe i s t s tark wie der Tod, g ibt uns d ieK r a f t , a l l e s z u verlassen, ist strahlend wie die Auferstehung undschmückt uns mit Herrlichkeit und Ehre.

X .X .X .X .X . Buch: Das Gebot, Gott über alles zu lieben.Buch: Das Gebot, Gott über alles zu lieben.Buch: Das Gebot, Gott über alles zu lieben.Buch: Das Gebot, Gott über alles zu lieben.Buch: Das Gebot, Gott über alles zu lieben.1. Kapitel: Schönheit des göttlichen Gebotes, Ihn über alles zu lie-

ben. 1681. Die göttliche Liebe ist Ziel, Vollendung und Krönung des Weltalls.Alles ist dieser himmlischen Liebe wegen gemacht. – 2. Gott erlaubtuns nicht nur, ihn zu lieben, sondern er befiehlt es uns, damit nichtsuns davon abhalte. – 3. Das wird die furchtbare Qual der Verdamm-ten sein, Gott nicht lieben zu können. – 4. Welches Leid wäre es fürhochherzige Seelen, wenn Gott den Menschen verboten hätte, ihn zulieben. Aber so befiehlt uns Gott, ihn zu lieben, obwohl die Liebe zuGott notwendig für unser Glück ist.

2. Kapitel: Das göttliche Liebesgebot zielt auf den Himmel, ist aberdoch den Gläubigen dieser Welt gegeben. 170

1. Die Seligen im Himmel stehen nicht unter dem Gebot der Liebe,sondern die Gottesliebe quillt aus dem beseligenden Besitz des Vielge-liebten als eine ganz milde, aber bezwingende Notwendigkeit, Gott zulieben. – 2. Hier werden wir durch das Gebot der Liebe auf die Beseli-gung hingeordnet, darum müssen wir es sehr genau nehmen. – 3. ImHimmel werden wir frei von allen Hemmnissen Gott ewig und voll-kommen lieben. – 4. Hier können wir Gott nur aus allen Kräften

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lieben. Hier lieben wir noch kindlich, dürfen aber nichts von dem un-terlassen, was uns geboten ist.

3. Kapitel: Wenn auch das ganze Herz von der heiligen Liebe inAnspruch genommen ist, kann man doch Gott auf verschie-denerlei Weise und auch noch andere Dinge mit Gott lieben. 172

1. Jedermann kann Gott, seinen Vater, sein Vaterland usw. ganz lieben.Keine Liebe trennt uns von Gott, außer eine ihm entgegengesetzteLiebe. – 2. Im Himmel wird sich uns Gott ganz schenken, aber doch inverschiedenerlei Weise, und wir werden uns ihm schenken, in dem Maße,als er sich uns schenkt. – 3. In der Treue zum Herrscher schließe ich dieTreue zum untergeordneten Vorgesetzten nicht aus und umgekehrt.Wenn es im Himmel so große Unterschiede in der Liebe gibt, sowundern wir uns nicht, daß es solche auch im sterblichen Leben gibt, –4 . ja e in und derse lbe Mensch überb ie te t s i ch of t in der L iebe .– 5. In der Heil igen Schrift heißt es von verschiedenen Königen,daß keiner seinesgleichen in der Liebe zu Gott hatte. Sie liebten Gottaus ganzem Herzen, aber jeder auf seine Weise. – 6. So ist es auch beiallen, die Gott wahrhaftig lieben. – 7. Der Wert der Liebe hängt vonder Erhabenheit der Beweggründe ab.4. Kapitel: Zwei mögliche Stufen der Vollkommenheit in der Er-

füllung dieses Gebotes hier auf Erden. 1751. So wie Salomo eine Anzahl Frauen hatte, die sich ihm in verschiedenerEigenschaft hingaben, so geben sich auch Jesus Seelen in verschiedenerVollkommenheit hin. – 2. Die Neulinge lieben wohl Gott, daneben aberauch viele eitle und gefährliche Dinge. – 3. Ihre Liebe ist echt, aberzart und schwach. – 4. Andere haben gefährlichen Anhänglichkeitenentsagt, aber ihre Liebe zu Dingen, die Gott geliebt wissen will, istübertrieben, zu leidenschaftlich (Eva, unser Beruf, sogar Tugendübun-gen). – 5. Sie lieben Gott über alles, aber nicht in allem, sondern man-ches ohne ihn und außerhalb seiner.5. Kapitel: Zwei weitere Stufen höherer Vollkommenheit, auf

denen wir Gott über alles lieben können. 1791. Es gibt auch Seelen, die nur lieben, was Gott will und so wie Gottes will. Sie lieben Gott in allem und alles lieben sie in Gott, – 2. überihnen steht die Seele, einzig in ihrer Art, die nur Gott in allem liebt,also nur eines liebt: Gott, – 3. daher ebenso auf dem Kalvarienberg,wie auf dem Tabor, in allem auf gleiche Weise; sie liebt nicht das Para-dies des Bräutigams, sondern den Bräutigam des Paradieses wie desKalvarienberges. – 4. Von diesen gibt es wenige, vor allem die aller-seligste Jungfrau und einige Heilige. – 5. Sie sind selten; lieben nur denSchöpfer in den Geschöpfen – 6. Im allgemeinen gehen die meistenSeelen von einer Art der Liebe zur anderen über.6. Kapitel: Alle Gottliebenden haben das gemeinsam, daß sie

Gott über alles lieben. 1831. Es gibt verschiedene Grade der Liebe, aber nur ein Liebesgebot, dasalle verpflichtet, – 2. und zwar die Liebe Gottes über alles, es sollte dieherzlichste, innigste, allgemeinste, erhabenste und standhafteste Liebe

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sein, eine Liebe höchster Wahl. – 3. Es gibt verschiedene Arten derLiebe, eine väterliche, eine kindliche usw., die höchste Liebe aber gebührtder höchsten Güte, – 4. diese Liebe muß man jeder anderen vorziehen,seine ganze Seele und alle Kräfte muß man Gott weihen.

7. Kapitel: Erklärung des vorausgegangenen Kapitels. 1851. Ein sicheres Kennzeichen echter Gottesliebe ist, wenn irgendeine gro-ße Liebe zu den Geschöpfen sich der göttlichen Liebe widersetzt unddurch sie überwunden wird; – 2. wie St. Michael durch den Ruf „Wer istwie Gott?“ Luzifer und seine Gefolgschaft besiegt hat. – 3. Beispielesind Josef gegen Potifars Ansinnen, Abraham gegenüber Hagar. – 4. DieLiebe zum Geschöpflichen kann sich häufiger durch Akte äußern als dieGottesliebe, ob aber die Gottesliebe stärker ist, zeigt sich, wenn dasGeschöpf im Gegensatz zum Schöpfer steht. – 5. Bei geschaffenen Din-gen muß man zwischen Größe und Wert unterscheiden, eine Mutter wird ihrKind mehr umsorgen als ihren Mann, den sie doch mehr liebt. – 6. Sowird auch das Herz bei echter Gottesliebe, mag diese es auch nicht so mitZärtlichkeiten erfüllen, den Willen Gottes allem anderen vorziehen undsich durch nichts davon trennen lassen.

8. Kapitel: Eine denkwürdige Begebenheit, die gut erkennen läßt,worin die Stärke und Erhabenheit der heiligen Liebe liegt. 188

1. Echte Gottesliebe muß jede Schwierigkeit überwinden, ohne ir-gendwelche Ausnahme – 2. Beispiele: Sapricius, der zum Marter-tod bereit war, aber seinem früheren Freund nicht verzeihen wollteund dann abfiel. – 3. Den Martertod annehmen wollen, aber andereGebote verwerfen, ist nicht Liebe, sondern Eitelkeit. – 4. Manche Men-schen sterben lieber, als daß sie geringere Leiden ertragen.9. Kapitel: Bestätigung des Gesagten durch einen denkwürdigen

Vergleich. 1921. Die schändliche Wahl der Rahel. – 2. Wir treffen oft eine nochschändlichere, wenn wir dem Gebot Gottes Genüsse vorziehen, die dochnicht befriedigen. – 3. Beispiele: David, Petrus, Adam und Eva. – 4. Esist eine Häresie, eine Auswahl unter den Geboten Gottes zu treffen. Lassenwir es in einem einzigen Gebot an Liebe fehlen, so haben wir keineganze Liebe zu Gott.10. Kapitel: Wir müssen die göttliche Liebe über alles, mehr als uns

selbst lieben. 1951. Nach Aristoteles zieht jeder das ihm eigene Gut vor, und doch gehtdie Gottesliebe aller Liebe zu uns selbst voraus. Der Wille ist so sehrauf das Gute hingeordnet, daß er sie lieben muß, wenn ihm die unend-liche Liebe gezeigt wird; so sind die Seligen im Himmel genötigt, Gottzu lieben, – 2. wir hier auf Erden aber nicht, weil wir Gott nicht so klarerkennen, sondern nur ahnen; aber auch diese Ahnung bewirkt inuns , Got t zu l i eben . – 3 . Wir s ind ja mehr in Got t , a l s in unsselbst . – 4. Ja, wir würden angespornt sein, ein über alles erhabenesGut zu lieben, auch wenn wir davon nicht abhängig wären. Gäbe es einsolches, zu dem wir keine Verbindung hätten, so könnten wir uns

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dennoch sehnen, es zu lieben, aber lieben könnten wir es nicht, weilLiebe auf Vereinigung zielt. – 5. Wir aber können keine rechten Men-schen sein ohne die Neigung, Gott mehr als uns selbst zu lieben.

11. Kapitel: Die heilige Gottesliebe als Ursprung der Nächstenliebe. 1981. Weil die Menschen nach dem Bild Gottes erschaffen sind, muß ausder Gottesliebe auch die Nächstenliebe hervorgehen, d. h. wir liebendann Gott im Menschen und den Menschen in Gott. – 2. Beispiel: Derjunge Tobias wurde von Raguel umarmt, weil er in ihm das Bild seinesBruders sah. – 3. So müssen auch wir den Nächsten lieben, weil wir inihm das Bild Gottes sehen.

12. Kapitel: Die Liebe als Quelle des Eifers. 2001. Ist die Liebe so glühend, daß sie das beseit igen wil l , was demGegenstand der Liebe entgegengesetzt ist, so nennt man sie Eifer.Der Eifer ist also so wie die Liebe, deren Glut er ist, gut oder schlecht,wie die Liebe gut oder schlecht ist. – 2. Eifersucht und Neid sind aucheine Art Eifer, sie sind einander ähnlich, – 3. unterscheiden sich aberauch in verschiedener Weise.

13. Kapitel: Wie Gott mit uns eifert. 2021. Gott ist ein eifernder Gott, er will , daß wir ihm ganz angehören;– 2. seine Eifersucht ist aber nicht eine des Begehrens, sondern derhöchsten Freundschaft. Aus Liebe zu uns will er, daß wir ihn lieben. –3. Wie ein Siegel will er auf unserem Herzen ruhen, damit nichtseindringe, was sich mit seiner Liebe nicht verträgt, und auf unseremArm, daß er sich zu Werken der Liebe ausstrecke. – 4. Sie ist stark wieder Tod und eifernd wie die Hölle. – 5. Beispiel: die hl. Katharinavon Genua. – 6. Heilige Furcht der Bräute, nicht Angst der Ehebreche-rin ergreift jene, die brennende Lampen in Händen tragen; es ist eineEifersucht, die edler Freundschaft entspringt und sich auf den Nächs-ten erstreckt und der Liebe zu diesem entspringt, – 7. muß aber weiseund klug in die Tat umgesetzt werden.

14. Kapitel: Eifer für unseren Herrn oder Eifersucht. 2061. Das umgekehrte Gemälde des Pferdes. So kann auch der Eifer verkehrtsein. – 2. Wie die Sonne alles bescheint, so erstreckt sich Gottes un-endliche Güte auf alle, so daß man niemanden ihretwillen beneidenkann. – 3. Der Eifer bekämpft alles, was Gott entgegengesetzt ist. –4. Er macht uns brennend für die Reinheit der Seelen (Beispiele: Chris-tus, Paulus, Eifersucht der Henne für ihre Küchlein, der Väter undMütter, Ijobs, der Apostel), – 5. und läßt uns fürchten, nicht ganzvon Gott in Besitz genommen zu sein.

15. Kapitel: Ratschläge für die Lenkung des heiligen Eifers. 2091. Da der Eifer eine brennende heftige Liebe ist, bedarf er der weisenLenkung durch den Verstand, der falsch raten kann; Kühnheit kannleicht in taktlosen Zorn ausarten. – 2. Der Zorn gleicht einem hitzigenPferd, das seinem Reiter durchgeht, – 3. er kann viel Übles anrichten.

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– 4. Beispiel: Demophilus, Carpus. – 5. Der wahre Eifer bedient sichfast nie des Zornes.

16. Kapitel: Das Beispiel einiger Heiligen, die scheinbar in ihremEifer sich vom Zorn hinreißen ließen, widerspricht nicht demGesagten. 214

1. Sicher ist, daß große Diener Gottes sich des Zornes in Ausübung desEifers bedienten. Die Heiligen aber hatten ihren Zorn in der Hand. –2. Jesus verwies es dagegen seinen Jüngern, als sie sich darauf beriefen. –3. Diese Heiligen standen unter der Einsprechung Gottes. – 4. Mandarf sich also nicht auf sie berufen und den Eifer vorschützen, umseine Leidenschaften zu tarnen. – 5. Man kann den Eifer betätigendurch große Aktionen, Tugendwerke und Leiden. – 6. So zeigte sichder Eifer des Herrn vor allem durch seinen Tod am Kreuz; auch seinApostel Paulus wollte aus Eifer leiden. – 7. Stark wie der Tod ist dieLiebe, der Eifer noch stärker, gleich der Hölle. – 8. Der wahre Eifer istein Kind der Liebe, daher geduldig, ruhig, nicht streitsüchtig usw., derfalsche Eifer ist anmaßend, stolz, usw.

17. Kapitel: Wie der Herr alle erhabensten Liebesakte geübt. 219Die Liebe Christi drängt uns. – 1. Er liebt uns mit der Liebe des Wohl-gefallens, – 2. des Wohlwollens, – 3. der Vereinigung mit uns, – 4. derErniedrigung, – 5. der Entrückung. – 6. Er bewunderte Menschen,– 7. schaute den Jüngling liebevoll an, – 8. genoß die Ruhe der Liebe inuns, – 9. war zärtlich mit den Kindern, – 10. von unvergleichlichemEifer beseelt, – 11. von Liebessehnsucht erfüllt, – 12. starb in derLiebe, durch die Liebe, für die Liebe, aus Liebe. Sein Tod war einGanzopfer, für unsere Erlösung dem Vater dargebracht.

XI. Buch:XI. Buch:XI. Buch:XI. Buch:XI. Buch: Die oberste HerrschafDie oberste HerrschafDie oberste HerrschafDie oberste HerrschafDie oberste Herrschaft der heiligen Liebe über alle Tt der heiligen Liebe über alle Tt der heiligen Liebe über alle Tt der heiligen Liebe über alle Tt der heiligen Liebe über alle Tugendenugendenugendenugendenugenden,,,,,Handlungen und VHandlungen und VHandlungen und VHandlungen und VHandlungen und Vol lkol lkol lkol lkol lkommenheiten der Seele.ommenheiten der Seele.ommenheiten der Seele.ommenheiten der Seele.ommenheiten der Seele.

1. Kapitel: Alle Tugenden sind Gott wohlgefällig. 2241. Auch die Heiden üben verschiedene Tugenden, – 2. für die sieGott mit natürlichen Gütern belohnt, z. B. die ägyptischen Hebammenund Nebukadnezzar. – 3. Die Vernunft leitet zum Guten an. – 4. Durchdie Sünde erkrankt zwar der Mensch, aber es ist doch nicht alles ani h m k r a n k . – 5 . Wo h l k a n n e r f ü r s i c h a l l e i n n i c h t a l l e G e b o t ehalten und auch nicht die schweren Versuchungen überwinden. NurGott kann helfen, daher „Wachet und betet“.

2. Kapitel: Die heilige Liebe macht die Tugenden Gott weit wohl-gefälliger, als sie es ihrer Natur nach sind. 227

1. Die menschlichen Tugenden werden auch in einem schlechten Herzennicht von dessen Bosheit angesteckt, – 2. können aber keinen übernatür-lichen Lohn erhalten, der nur denen zuteil wird, die mit dem SohnGottes verbunden sind. – 3. Die Tugenden der Freunde Gottes werdenaber, auch wenn sie nur natürliche Tugenden sind, zur Würde heiligerWerke erhoben. – 4. Wie gut ist Gott, daß er denen, die mit seinem

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göttlichen Sohn vereint sind, auch die kleinsten Werke adelt. – 5. Seinsind auch die Tugenden der Heiden, aber fruchtbar werden sie nur,wenn sie in einem mit heiliger Liebe ausgestatteten Herzen sind.3. Kapitel: Die Gegenwart der göttlichen Liebe verleiht einigen Tu-

genden einen höheren Wert. 2301. Manche Tugenden, die sich mehr auf Gott beziehen, sind fähiger,den Einfluß der Liebe aufzunehmen und an deren Würde und Wertteilzunehmen, – 2. ihr bei allen Gelegenheiten zu folgen und zu die-nen, – 3. und von ihr geheil igt zu werden. – 4. Daher s ind dieseTugenden (Glaube, Hoffnung, Religion usw.) in besonderer Weisezu pflegen.4. Kapitel: Die heilige Liebe heiligt die Tugenden noch erheblicher,

wenn sie auf ihr Geheiß und ihren Befehl geübt werden. 2321. Rahel hatte von Jakob Kinder von zweierlei Art, solche durch Bilha,ihre Magd, und ihre eigenen Kinder, Josef und Benjamin. – 2. So sindKinder der Liebe auch Werke anderer Tugenden, die auf Geheiß derLiebe hervorgebracht werden, – 3. aber auch die Kinder, die ganz ihreKinder sind, die effektive (Tat-)Liebe und die affektive (Herzensliebe). –4. Beide Arten von Kindern gehören aber der Liebe an, sie ist der Feld-herr, der entweder durch eigene Taten oder durch seine Anordnungenzum Sieg führt. – 5. Dabei sind auch die einzelnen Tugenden zu loben, indenen sich die Seligen besonders ausgezeichnet haben, die ganze Ehre istaber der heiligen Liebe zuzuschreiben, welche allen Tugenden die Heilig-keit gibt und Seele und Leben aller Tugenden ist.5. Kapitel: Die heilige Liebe verleiht ihre Würde den anderen Tu-

genden und erhöht zugleich deren eigene Würde. 2351. Wie auf dem sagenhaften Baum von Tivoli die verschiedenen Reiseraufgepfropft waren, so auf der Liebe alle Tugenden, deren jede in ihrerArt bleibt, aber doch das Aroma der Heiligkeit von der Liebe hat, aufdie sie gepfropft ist. – 2. Bei gleicher Liebe behalten die Tugendenihren Rang, – 3. bei größerer Liebe werden die kleinsten Tugendenund Tugendakte wertvoller als selbst das Martyrium bei Menschen,deren Liebe schwach ist. – 4. So waren die kleinen Tugendakte großerHeiliger Gott wohlgefälliger als große Taten anderer.6. Kapitel: Welch hohen Wert die Liebe den aus ihr und aus den

anderen Tugenden hervorgehenden Handlungen verleiht. 2381. Die augenblickliche „leichte Bedrängnis verschafft uns ein über-schwengliches, ewiges Gewicht an Herrlichkeit“ (2 Kor 4,17), – 2. weilsie gefärbt ist mit dem Blut des Sohnes Gottes, mit dem wir verbundensind, wie Glieder mit dem Haupt. – 3. An sich schwach und unfruchtbar(Beispiel: Stab Aarons, Melonen, armseliges Schilfrohr) werden unsereWerke fruchtbar, weil die Liebe des Heiligen Geistes sie durchtränkt, –4. und empfangen einen herrlichen Lohn kraft göttlichen Versprechens,in Anbetracht seines Sohnes, unseres Erlösers, – 5. Lohn, in dem wohlseine Güte wie seine Weisheit sich offenbart, Güte, weil er uns nichtsschuldet, Weisheit, weil es ja mehr Werke des Heiligen Geistes als

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unsere Werke sind, – 6. die ganz von seiner Barmherzigkeit abhängen,wofür ihm alle Ehre und alles Lob gebührt.7. Kapitel: Die vollkommenen Tugenden sind nie voneinander ge-

trennt. 2411. Im menschlichen Leib beleben sich nach und nach alle Teile und allesind aufeinander eingestellt. – 2. Ähnlich auch im Tugendleben. Mankann nicht alle Tugenden auf einmal erringen, sondern nur eine nachder anderen, beginnend gewöhnlich bei der Liebe, die auch als letzteaus der Seele weicht. – 3. Wenn man nur vereinzelte Tugenden besitzt,so werden diese schwach und matt sein. Tugend ist , was mit derVernunft übereinstimmt. Deswegen ist es auch nicht echte Tugend, wenneine angestrebt, die andere abgelehnt wird. Es sind dann andere Beweg-gründe als die Vernunft entscheidend. – 4. Nur bei keimenden odersterbenden Tugenden ist Abwesenheit der anderen möglich. Klugheit,Gerechtigkeit, Mäßigkeit etc. setzen immer auch die anderen Tugen-den voraus. – 5. Wohl haben manche nicht die Gelegenheit zu be-stimmten Tugenden, aber die Liebe zu allen muß da sein. – 6. Tugend istnicht eine glückliche Anlage, auch nicht Freiheit von entgegengesetz-ten Lastern. – 7. Man kann keine vollkommene Tugend haben, ohne siealle zu besitzen. Bei den Lastern ist es aber so, daß es unmöglich ist,sie alle zu haben, weil sie sich widersprechen.

8. Kapitel: Die Liebe begreift alle Tugenden in sich. 2461. Der Strom der Vernunft teilt sich in vier Arme: Klugheit, Gerech-tigkeit, Mäßigkeit, Starkmut. Diese vier Arme unterteilen sich noch,damit alle menschlichen Handlungen richtig gelenkt werden. – 2. Aufder höchsten Spitze des Geistes läßt Gott den übernatürlichen Quellder Gnade entspringen, der in der Liebe besteht, die die Seele reinigtund schmückt und sich über alle Fähigkeiten und Handlungen ergießt,um ihnen Klugheit, Gerechtigkeit, Mäßigkeit und Starkmut zu verlei-hen, damit das Herz nach der übernatürlichen Rechtschaffenheit aus-gerichtet ist. – 3. Treffen diese vier Ströme der Liebe auf natürlicheTugenden, so vervollkommnen sie diese; finden sie aber keine vor, soübernimmt die Liebe ihre Aufgabe und verrichtet ihre Werke (Beispiel:Josua und Simson). – 4. Sie verleiht nicht nur Geduld, Güte usw.,sondern sie ist geduld ig , güt ig ; d ie Mäßigkei t i s t d ie Liebe , derStarkmut ist die Liebe usw. – 5. Wer die Liebe hat, hat eine Vollkom-menheit, die alle Tugenden enthält (s. 1 Kor 13).9. Kapitel: Die Tugenden gewinnen ihre Vollkommenheit aus der

heiligen Liebe. 2491. Die Tugenden und Gebote hängen aufs engste mit der Liebe zusam-men. – 2. Sie können zeitweise ohne Liebe sein, aber nicht langeund nicht in ihrer Vollendung. – 3. Die Liebe verleiht allen TugendenLicht und Schönheit, beseelt , ziert und belebt sie. Alle Tugendenohne Liebe wären einem leblosen Körper gleich; denn ohne Liebe nütztnichts. – 4. Die Liebe vervollkommnet alles, selbst aber kann sie durchnichts vervollkommnet werden. Wie sie der Ursprung jeden guten Affek-tes ist, so ist sie auch deren letztes Ziel und Vollkommenheit.

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10. Kapitel: Die Unvollkommenheit der von den alten Heiden ge-übten Tugenden. 252

1. Manche Heiden redeten wohl über Tugend und Religion, stürzten aberalle Gesetze der Religion um, z. B. Seneca über den Aberglauben. – 2.Die Selbstmorde der Heiden waren in Wirklichkeit Feigheit und Flucht, obsie von Heerführern und Frauen begangen wurden. – 3. Im Verhaltengegen den Nächsten fehlte die Ehrfurcht, daher schändliche Kinderaus-setzung und Abtreibung. – 4. Ihren Tugenden fehlte die richtige Absicht.Beweggrund war meistens weltlicher Ruhm (Beispiel: Diogenes, Seneca).– 5. Es waren Scheintugenden, weil die Liebe fehlte und sie dafür unemp-fänglich waren, – 6. vergleichbar wurmstichigen Äpfeln. Wahrer Mut undechte Tugend dagegen war bei den christlichen Märtyrern.11. Kapitel: Wertlosigkeit der ohne göttliche Liebe vollbrachten

menschlichen Handlungsweisen. 2571. Nur die Kinder der Liebe oder die auf ihr Geheiß und in ihrerGegenwart erzeugten Kinder anderer Tugenden sind Erben Gottes. –2. Sind die Tugenden vergiftet durch schlechte Beweggründe, so sindsie wertlos. – 3. Ist die Liebe in einer Seele erstorben, dann sind diefrüheren Tugendwerke „ertötet“, haben weder Leben noch Verdienst.– 4. Tugendwerke, die die Seele im Zustand der Todsünde vollbringt,kommen tot zur Welt, – 5. wie am Toten Meer kein Leben gedeihenkann. – 6. „Ohne die Liebe nützt uns nichts.“12. Kapitel: Aufleben der durch die Sünde zugrundegegangenen

Werke durch die Wiederkehr der heiligen Liebe in der Seele. 2601. Tote, lebende und ertötete Werke. – 2. Der Winter tötet alles Leben,im Frühjahr treiben auch die durch den Winter verdorrten Pflanzen. –3. Bekehrt sich der Sünder, so wird die Sünde nicht mehr zum Verderbengereichen. – 4. Gott erinnert sich der guten Werke wieder, wenn derSünder sich bekehrt. Die Sünde aber erinnert sich Gott nicht mehr, dasie ausgelöscht ist . – 5. So leben zwar die guten Werke auf, wenndie Liebe in die Seele zurückkehrt; die frühere Sünde aber, die aus-gelöscht ist, lebt nie wieder auf, auch wenn die Liebe wieder weichenmuß. Die früheren guten Werke sind uns nutzlos, solange die Sündein der Seele bleibt. – 6. Es wäre nicht vernunftgemäß, wenn die Sündeebensoviel Macht gegen die Liebe hätte wie die Liebe gegen dieSünde (Beispiel: die wieder zum Leben erwachten Bienen; das Feuer zuSchlamm und dieser wieder zu Feuer geworden).13. Kapitel: Wie wir die ganze Übung der Tugenden und unserer

Handlungen auf die heilige Liebe zurückführen sollen. 2651. Der Mensch verrichtet jede Handlung eines Zieles wegen, er kann auchdem natürlichen Zweck einen anderen hinzufügen oder ihn sogar ändern.– 2. Der Zweck, den man hinzufügt, kann weniger gut sein als der natür-liche Zweck der Handlung, er kann gleich gut oder besser sein (z. B. beimAlmosen, Amtswalten, heilige Kommunion, Fasten). – 3. Bei mehrerenBeweggründen muß Ordnung herrschen, d. h. der wichtigste Grund mußden ersten Rang haben. – 4. Das höchste Motiv ist das der Gottesliebe, esmacht die Handlung ganz rein. Die Heiligen im Himmel!

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14. Kapitel: Praktische Durchführung des im vorigen Kapitel Ge-sagte 267

1. Reinigen wir daher unsere Absichten, indem wir ihnen als Beweg-grund die heilige Liebe geben (Beispiel: Tapferkeit). – 2. Würzen wira l le anderen Beweggründe mit dem Wohlgeruch der Liebe. – 3 .Durchtränken wir gute Beweggründe mit der hei l igen Liebe. Eswäre falsch, andere Tugenden zu l ieben, nicht aber die gött l icheLiebe. – 5. Reihen wir alle Tugenden unter den Gehorsam der Liebe.„Sein Banner über uns ist seine Liebe!“15. Kapitel: Die Liebe schließt die Gaben des Heiligen Geistes in

sich. 2701. Die sieben Eigenschaften, durch welche unser Gemüt gegenüber demGesetz der Vernunft sanft, gehorsam und willig wird. – 2. Die siebenGaben des Heiligen Geistes, die unsere Seele geschmeidig, lenksam undgehorsam gegen göttliche Eingebungen machen. – 3. Die Liebe alsJakobsleiter, deren Stufen die sieben Gaben des Heiligen Geistes sind,auf denen die engelhaften Menschen zu Gott emporsteigen – 4. und zurErde herunter, um den Nächsten zum gleichen Glück hinzuführen. –5. Die Liebe schließt die sieben Gaben in sich.16. Kapitel: Die liebevolle Furcht bräutlicher Seelen. Fortsetzung

der begonnenen Abhandlung. 2731. Die bräutliche Furcht setzt die größte Liebe voraus. Sie fürchtet,nicht so zu gefallen, wie die Liebe es verlangt; sie fürchtet, daß ihreVereinigung mit Gott nicht so rein ist, wie sie es wünscht. – 2. Das wareine heilige Frucht der Heiligen Paulus, Franziskus, Katharina von Genua,die trachteten, ihre Liebe so rein zu gestalten, daß weder die Tröstungennoch die Tugenden sich zwischen ihr Herz und Gott eindrängen konn-ten. – 3. Unterscheidung der Furcht der Anfänger, der kindlichen, derbräutlichen und der knechtischen Furcht. – 4. Dies muß das Werk derNadel bei Stickereien tun, sie führt die Tugenden in die Seele ein,scheidet dann aber aus, in dem Maße, als die Tugenden einziehen.17. Kapitel: Das dauernde Verbleiben knechtischer Furcht mit der

Gottesliebe. 2751. Die göttliche Vorsehung läßt die knechtische Furcht solange in derSeele, bis die Liebe vollkommen ist. Da aber unsere Liebe nie außerGefahr ist, bedürfen wir immer der Furcht, – 2. besonders bei schwerenVersuchungen. Die Furcht kann gute Dienste leisten (wie Elieser, wieJonatans Waffenträger, wie Anker und Taue des Schiffes in Not). –3. Deswegen bleibt auch die knechtische Furcht, wie die Schale beimApfel und Granatapfel. – 4. Sie ist aber doch nicht würdig, einenPlatz im ewigen Leben zu haben, dort bleiben nur die kindliche undbräutliche Furcht.18. Kapitel: Wie die Liebe die knechtische und die Mietlingsfurcht

in ihren Dienst stellt. 2781. Alle fürchten Gott in Blitz und Unwettern. – 2. Die natürliche

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Furcht, an sich weder lobenswert noch tadelnswert, entspringt demGlauben an die Vorsehung und regt zum Beten an. – 3. Die Furcht vorGottes Strafgerichten, die uns der Glaube lehrt, kann sehr heilsamsein. – 4. Hält sie aber nicht vom Sündigen ab, dann ist sie böse undgleicht der Furcht des Teufels. – 5. Edler als die Furcht vor der Hölleist die Furcht, die Belohnung des Himmels zu verlieren. – 6. Wennwir fürchten, Gott zu beleidigen, weil wir ihm als unserem VaterEhre, Ehrfurcht und Gehorsam schulden, so ist das kindliche Furcht. –7. Ist diese kindliche Furcht mit der knechtischen verbunden, so bleibtsie doch Gott wohlgefällig. Es ist dann die anfängliche Furcht, dieFurcht der Lehrlinge und auch nützlich.

19. Kapitel: Die heilige Liebe schließt die zwölf Früchte des Hei-ligen Geistes und die acht Seligkeiten des Evangeliums in sich. 282

1. Der hl. Paulus sagt: „Die Frucht des Geistes ist Liebe, Freude,Friede ...“, zwölf Früchte, aber „die Frucht“ – deshalb, weil die Liebedie einzige Frucht des Heiligen Geistes ist, aber eine Unzahl herrlicherEigenschaften besitzt, die sie alle bewirkt. – 2. Die Liebe wird eineFrucht genannt, weil sie erquickt, sie ist eine Seligkeit, nicht nur weilsie die Gewißheit des ewigen Lebens gibt, sondern auch irdischenFrohsinn in hohem Maße. – 3. Die heilige Liebe als Tugend, als Gabe,als Frucht.

20. Kapitel: Die Liebe gebraucht alle Leidenschaften und Affekteder Seele und unterwirft sie ihrem Gehorsam. 285

1. Die Liebe ist das Leben unseres Herzens. Alle Regungen der Seelegehen von der Liebe aus und folgen der Art der Liebe. Beispiel: SinnlicheLiebe zu Frauen, Liebe zu Reichtümern etc. – 2. Herrscht die Gottesliebeim Herzen, so unterwirft sie sich königlich jede andere Liebe, die sinnlicheLiebe und besonders die Eigenliebe, die immer im Kampf mit der Got-tesliebe steht. – 3. Wie soll die göttliche Liebe das sinnenhafte Begehrenunterwerfen? Sie soll, wenn sie eine Leidenschaft in uns erwachen sieht,sie sich sogleich dienstbar machen, – 4. und zwar, indem sie aus dergöttlichen Liebe heraus entgegengesetzte Leidenschaften entfacht odereine stärkere Leidenschaft gleicher Art. – 5. So verfuhr auch der Herr,wenn er die Seelen heilen wollte. – 6. Die göttliche Liebe lenkt so dieLeidenschaften von dem Ziel ab, das die Eigenliebe verfolgt, und führtsie ihrem Vorhaben zu. Beispiel: Appetit, Freund, Furcht, große Angst.Heilige Alchemie, die alles in Gold verwandelt.21. Kapitel: Traurigkeit ist fast immer nutzlos, ja, sogar dem Dien-

ste der heiligen Liebe entgegengesetzt. 2891. Zorn und Verzweiflung können kaum auf die Liebe gepfropft wer-den. – 2. Was die Traurigkeit betrifft, so gibt es eine Gott wohlge-fällige, – 3. und eine Traurigkeit dieser Welt, deren erste Ursache derTeufel ist, der gern im Trüben fischt. – 4. Die zweite Ursache: einmelancholisches Naturell, die an sich nicht schlecht ist, aber dem bösenFeind Möglichkeiten gibt, die Seele zu umgarnen. – 5. Die dritte Ursache:die Vielfalt irdischer Ereignisse; diese Traurigkeit ist das Los aller, wird

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aber bei den Guten gemäßigt durch die Ergebung in Gottes Willen,während sie bei den Weltleuten ausartet. – 6. Die Traurigkeit einerechten Buße sollte nicht Traurigkeit heißen, sondern Mißfallen amBösen; sie sollte nicht niedergeschlagen, sondern tätig und rege machenund durch Gebet und Hoffnung die Seele zu Gott erheben. Traurigkeitechter Buße ist freundlich und bei aller Zerknirschung doch froh. –7. Verstörte Reue kommt nicht von Gott, sondern von der Eigenliebe.– 8. „Betrübnis der Welt bewirkt den Tod“, deshalb muß man sich davorhüten und die Heilmittel dagegen anwenden.

XII.XII.XII.XII.XII. Buch: Einige RBuch: Einige RBuch: Einige RBuch: Einige RBuch: Einige Ratschläge für den Foratschläge für den Foratschläge für den Foratschläge für den Foratschläge für den Fortschritt der Seeletschritt der Seeletschritt der Seeletschritt der Seeletschritt der Seelein der heiligen Liebe.in der heiligen Liebe.in der heiligen Liebe.in der heiligen Liebe.in der heiligen Liebe.

1. Kapitel: Der Fortschritt in der heiligen Liebe hängt nicht vonder natürlichen Veranlagung ab. 296

1. Die heilige Liebe wird den Menschen nicht mit ihrer natürlichenVeranlagung gegeben. – 2. Die eine solche haben, tun sich wohl leichter,stehen aber auch in der Gefahr, sich an liebenswürdige Geschöpfe zu hän-gen. – 3. Sie können in der Liebe Großes vollbringen, ihr Wesenist auch voll Anmut, was bei herben Menschen nicht der Fall ist. –4. Gleichwohl werden zwei Personen, von denen die eine liebevoll, dieandere herb veranlagt ist, Gott auf gleiche Weise, wenn auch nicht inähnlicher Art lieben. Beide sollen es tun.

2. Kapitel: Daß man ein beständiges Verlangen zu lieben habensoll. 297

1. Unser Verlangen nach Gottesliebe soll unersättlich sein. – 2. Fühlenwir dieses Verlangen, so wissen wir, daß wir zu lieben beginnen. – 3. Sosehnten sich die großen Heiligen nach Liebe. – 4. Dieser geistlicheGeiz, der unaufhörlich nach mehr Liebe verlangt, ist die Wurzel allesGuten.

3. Kapitel: Um das Verlangen nach der himmlischen Liebe zu ha-ben, muß man jedes andere Verlangen abstellen. 299

1. Wer sich ständig in Wünschen, Entwürfen und Plänen ergeht, ver-langt nie nach der heiligen Liebe, wie er soll. – 2. Wer sich sehr inirdische Geschäfte vertieft, wird schwer und spät zur Blüte der Liebekommen. – 3. Darum zogen Heilige sich in die Einsamkeit zurück;Seelen, die allen Ernstes Gott zu lieben verlangen, verschließen ihrErkenntnisvermögen vor Überlegungen über weltliche Dinge. „Die Einedem Einen.“

4. Kapitel: Rechtmäßige Beschäftigungen sind kein Hindernis, diegöttliche Liebe zu üben. 300

1. Nicht Beruf und Pflicht, sondern sinnlose Trödeleien ziehen vonGott ab. – 2. Die Heiligen David, Ludwig und Bernhard taten ihrePflicht, ihr Herz blieb aber frei für Gott. – 3. Hof und Paläste können

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versklaven, aber nur jene, die sich versklaven lassen. Karl Borromäusbesuchte die Pestkranken, war aber dabei vorsichtig. So wird auch derHof nur den verpesten, der vermessen ist.

5. Kapitel: Ein anziehendes Beispiel hiefür. 3021. Beispiel: die hl. Franziska Romana, die ihr Psalmengebet viermal fürhäusl iche Geschäfte unterbrechen mußte und schließlich den un-terbrochenen Vers vergoldet vorfand. – 2. Erfüllung äußerer Pflichtenzerstört nicht die Liebe.

6. Kapitel: Alle sich bietenden Gelegenheiten soll man zur Übungder göttlichen Liebe benützen. 303

1. Manche schmieden große Pläne, gehen aber den kleinen Kreuzenaus dem Weg. – 2. Eingebildeter Eifer, der nur die Selbstgefälligkeitnährt. Geringe Werke, aber mit heiliger Absicht getan, sind sehr wert-voll , – 3. so sind die vielen kleinen Überwindungen, Kämpfe usw.fruchtbar, wenn sie aus heiliger Liebe geschehen.

7. Kapitel: Welche Sorgfalt wir anwenden müssen, um unsereHandlungen sehr vollkommen zu verrichten. 304

1 . W i e j e d e M ü n z e v o n e c h t e m M e t a l l , r i c h t i g e m G e w i c h tu n d richtiger Prägung sein muß, so müssen auch unsere Werke vonguter Art, geschmückt mit Liebe und mit der richtigen Absicht getansein (Beispiel: Fasten). – 2. Auch kleine Werke haben dann großenWert, wie auch wenig Essen bei gutem Magen wohl bekommt.

8. Kapitel: Allgemeines Mittel, um unsere Werke zu einem DienstGottes zu gestalten. 305

1. Wir tun alles zur Ehre Gottes, wenn wir im Zustand der Liebe sind,– 2. sollen aber dafür sorgen, daß die Tugenden aus Liebe geübt werden.– 3. Das geschieht bei denen, die Gott geweiht oder entschlossen sind,ihr Leben zu erneuern. – 4. Manche meinen, das genüge nicht, sonderneine besondere Aufopferung sei notwendig, was Franz von Sales mitSt. Bonaventura leugnet; er mahnt aber, in sich einzukehren, um festeVorsätze zu fassen, ganz für Gott zu leben.

9. Kapitel: Einige andere Mittel, um unsere Werke in besondererWeise der Gottesliebe zu weihen. 307

1. So erhalten alle unsere Handlungen durch das erste Planen oderden ergr i f fenen Beruf ihren Wert und Adel von der Liebe, ihremUrsprung. Dazu soll aber die tägliche Erneuerung unserer Hingabein der Morgenübung erfolgen, – 2. außerdem häufige Stoßgebete, Er-hebungen des Herzens zu Gott und Worte der Liebe. – 3. Bei denbedeutenden Handlungen sind tiefere Erwägungen am Platz. – 4. Somachte es St. Karl Borromäus, als die Pest wütete. – 5. So müssenauch wir uns bei großen Aufgaben verhalten und von Zeit zu Zeitdiese Übungen erneuern.

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10. Kapitel: Aufforderung, Gott unsere Willensfreiheit zum Opferzu bringen. 310

1. Das Beispiel Abrahams im Verlassen der Heimat, – 2. in der Be-reitwilligkeit, Isaak zu opfern. – 3. Die Größe des Vaters und des Soh-nes. – 4. Wann werden wir unseren freien Willen Gott opfern? –5. Dieser ist nie so frei, als wenn er Sklave des göttlichen Willens ist,und nie so Sklave, als wenn er dem eigenen Willen dient, was janicht Freiheit, sondern Mißbrauch der Freiheit ist. – 6. Wer die Frei-heit für die Eigenliebe in dieser Welt bewahren will, wird sie für dieewige Liebe in der anderen Welt verlieren und umgekehrt.

11. Kapitel: Beweggründe der heiligen Liebe. 313Beweggründe der heiligen Liebe: Die Güte Gottes, die natürliche Vorse-hung Gottes, die übernatürliche Vorsehung, die Gnaden, die Gottdem Einzelnen schenkt, die ewige Glorie.

12. Kapitel: Sehr nützliche Weise, diese Beweggründe inAnwendung zu bringen. 314

Um von diesen Beweggründen zu einer tiefen, mächtigen Liebe ent-flammt zu werden, muß man sie 1. auf sich selbst anwenden, – 2. sie zuihrem ewigen Ursprung betrachten – 3. und in ihrer zweiten Quelle,im Erlöser, der sie uns verdient und alle Gnaden in seinem Herzenfür jeden Einzelnen bereitet hat.

13. Kapitel: Der Kalvarienberg ist die wahre Hochschule der Liebe. 3151. Der gewaltigste Beweggrund der Liebe ist das Leiden und der Toddes Erlösers, – 2. und wird es auch für die Heiligen im Himmel sein. –3. Der Kalvarienberg ist der Berg der Liebenden. Er drängt uns zurWahl zwischen ewiger Liebe und ewigem Tod. – 4. Es lebe Jesus! Ichliebe Jesus! Es lebe Jesus, den ich liebe!

Anhang: Hinweise zum Verständnis der „Abhandlung“A. Entstehen, Bestimmung, Sinn und Architektur der „Abhandlung“ 319B. Analyse der „Abhandlung“ 324C. Quellen der Abhandlung“ 338D. Nachwirkungen der „Abhandlung“ 342E. Die Theologie der „Abhandlung“ 344F. Der Quietismus und Franz von Sales 355Anmerkungen zum Anhang 361

Namen- und Sachregister 373

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hoos
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SIEBENTES BUCH:SIEBENTES BUCH:SIEBENTES BUCH:SIEBENTES BUCH:SIEBENTES BUCH:

Die Vereinigung der Seele mit Gott,

die sich im Gebet vollzieht.

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1 . KapitelWWWWW ie die Liebe die Vie die Liebe die Vie die Liebe die Vie die Liebe die Vie die Liebe die Vereinigung der Seele mit Gottereinigung der Seele mit Gottereinigung der Seele mit Gottereinigung der Seele mit Gottereinigung der Seele mit Gott

im Gebet bewirkt.im Gebet bewirkt.im Gebet bewirkt.im Gebet bewirkt.im Gebet bewirkt.

1. Hier sprechen wir nicht von der allgemeinen Vereinigung des Her-zens mit seinem Gott, sondern von bestimmten Akten und besonderenRegungen, die eine in Gott gesammelte Seele betend erweckt, um sichmehr und mehr mit seiner göttlichen Güte zu vereinigen und zu verbinden.

2. Es ist gewiß ein Unterschied, ob man ein Ding mit einem anderenvereint und verbindet, oder ob man es gegen oder auf ein anderes drücktund preßt: Will man sie nur miteinander verbinden, so braucht man beideDinge nur so aneinander zu legen, daß sie beisammen sind und sich berüh-ren. So legen wir Reben um Äste von Ulmen und Jasminzweige um Stäbevon Gartenlauben. Sollen aber zwei Dinge zusammengedrückt und -ge-preßt werden, braucht es einen kräftigen Kontakt, der die Verbindungverstärkt und festigt. Dinge aufeinanderpressen heißt also, sie ganz engund stark zusammenschließen, etwa so wie Efeu sich um den Baum rankt.Er verbindet sich nicht nur mit ihm, sondern drückt und preßt sich sostark in ihn hinein, daß er sich sogar in die Rinde einbohrt und eingräbt.

3. Wir dürfen den wegen seiner Unschuld und Reinheit so anziehendenVergleich mit der Liebe der kleinen Kinder zu ihren Müttern nicht fallenlassen.

Schau dir diesen lieben Kleinen an, dem die Mutter sitzend die Brustreicht. Mit ganzer Kraft wirft er sich in ihre Arme, zieht förmlich seinKörperchen zusammen und schmiegt es fest in den Schoß und an die ge-liebte Brust seiner Mutter. Die Mutter nimmt ihn in ihre Arme, drückt ihnan sich, heftet ihn förmlich an ihre Brust und preßt im Kuß ihren Mund ansein Mündchen.

Sieh wieder auf das Kind, wie es, noch angespornt von den mütterlichenZärtlichkeiten, nun selber alles tut, was es kann, um ganz eins mit seinerMutter zu werden. Es drückt und preßt sich an die Brust und an das Ge-sicht der Mutter, wie wenn es sich im geliebten Schoß, aus dem es hervor-gegangen, vollends vergraben und verbergen wollte.

So ist dann diese Vereinigung vollkommen, Theotimus; obwohl nur einEinswerden, stammt es doch von Mutter und Kind. Letztlich hängt es zwarganz von der Mutter ab; – denn sie hat das Kind an sich gezogen, sie hat es

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zuerst in ihre Arme genommen und an ihre Brust gedrückt; die Kräfte desKindes sind nicht so groß, daß es sich an seine Mutter hätte pressen undfesthalten können; – und doch tut das arme Kleine, was es kann, schmiegtsich mit aller Kraft an die mütterliche Brust, ist nicht nur einverstandendamit, daß die Mutter es so lieb an sich drückt, sondern trägt auch vonganzem Herzen sein schwaches Mühen dazu bei. Ich sage sein schwachesMühen, denn es ist so kraftlos, daß es eher dem Versuch einer Vereinigunggleicht als einer wirklichen Vereinigung.

4. So zieht auch der Herr die gottliebende Seele ganz an sich, wenn erihr seine göttliche Liebe offenbart. Er rafft all ihre Fähigkeiten zusammenund birgt sie förmlich im Schoß seiner mehr als mütterlichen Zärtlich-keit. Brennend vor Liebe ergreift er die Seele, vereinigt sich mit ihr, drücktsie an seine Lippen und an seine liebevolle Brust, küßt sie mit dem heili-gen Kuß seines Mundes und läßt sie an seinen Brüsten trinken, die köstli-cher sind als Wein (Hld 1,1).

Die Seele nun, von den Wonnen solcher Liebeserweise angelockt, willigtnicht nur in die Vereinigung ein, die Gott bewirkt, und gibt sich ihr nichtnur hin, sondern wirkt mit aller Kraft mit, eine immer innigere Verbunden-heit mit Gott zu gewinnen, ein immer engeres Anschmiegen an die göttli-che Güte zu erzielen. Sie ist sich aber dessen voll bewußt, daß ihr Eins-und Verbundensein mit dieser über alles erhabenen Güte ganz vom göttli-chen Wirken abhängt, ohne das sie nicht den geringsten Versuch wagenkönnte, sich mit ihr zu vereinigen.

5. Wenn man sieht, daß etwas auserlesen Schönes mit großer Hingabebetrachtet, daß einer herrlichen Musik mit großer Aufmerksamkeit ge-lauscht oder eine formvollendete Rede mit großer Spannung angehörtwird, so sagt man, diese Schönheit halte die Augen der Zuschauer gebannt,diese Musik feßle die Ohren, diese Rede reiße die Herzen der Hörer mit.Was heißt dieses Bannen, Fesseln, Mitreißen anderes, als daß diese Sinneund Fähigkeiten sich kraftvoll an ihre Gegenstände binden und mit ihnenganz eins werden?

So drängt und schmiegt sich die Seele an den Gegenstand, dem sie sichmit liebevoller Aufmerksamkeit hingibt. Dieses Drängen ist nichts ande-res als das Fortschreiten und Vertiefen der Vereinigung und Verbindung.Wir gebrauchen dieses Wort in unserer Sprache auch für Geistiges: Erdrängt mich, das oder jenes zu tun, er drängt mich zu bleiben. Das heißt: ersucht mich nicht nur zu überreden, er bittet nicht nur darum, sondern ertut dies mit allem Eifer und Nachdruck. – So handelten die Jünger von

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Emmaus, die den Herrn nicht nur baten, bei ihnen einzukehren, sondernihn dazu drängten und förmlich mit liebevoller Gewalt dazu zwangen (Lk24,29).

6. Im Gebet vollzieht sich nun die Vereinigung oft durch kleine aber häu-fige Bemühungen der Seele, sich zu Gott aufzuschwingen und ihm näherzu kommen.

Betrachte die kleinen Kinder, die an der Brust der Mutter liegen. Duwirst sehen, daß sie sich von Zeit zu Zeit durch ein leises Näherrückenfester an sie drücken und anschmiegen, weil das Trinken an der Mutter-brust ihnen so viel Freude macht.

So erneuert und verstärkt das mit Gott vereinte Herz immer wieder imGebet seine Verbundenheit mit Gott durch Bewegungen zu Gott hin, durchdie es sich sozusagen in die göttliche Güte hineindrängt und sich ihr ganzanschmiegt.

Hat zum Beispiel die Seele sich lange bei Empfindungen der Gottver-bundenheit aufgehalten, verkostet sie freudig, wie glücklich sie ist, Gottanzugehören, so wird sie schließlich diese Gottverbundenheit dadurchverstärken, daß sie sich noch inniger, herzlicher und stürmischer an ihnherandrängt. „Herr,“ wird sie dann sagen, „ich bin Dein, ganz, ganz, ganzDein, ohne Vorbehalt Dein.“ Oder auch: „Ach Herr, ich bin gewiß Deinund will es immer mehr sein.“ Oder sie bittet: „Gütiger Jesus, zieh michimmer tiefer in Dein Herz hinein, damit Deine Liebe mich ganz aufzehreund ich mich in ihren Wonnen ganz verliere.“

7. Andere Male vollzieht sich diese Vereinigung nicht durch ein häufigesSichaufschwingen der Seele, sondern durch ein ständiges, unmerklichesDrängen und Vorstoßen des Herzens hinein in die göttliche Liebe.

Große, schwere Blei-, Eisen- oder Steinmassen drücken von selber, ohnedaß man sie hinunterstößt, auf die Erde, auf der sie liegen, und dringen insie ein, sodaß sie schließlich infolge des Schwergewichtes, das sie zumMittelpunkt der Erde streben läßt, ganz verschüttet sind.

So ergeht es auch unserem Herzen. Es senkt sich immer tiefer in Gotthinein, wenn es einmal mit Gott vereint ist, wenn es in dieser Gottverbun-denheit bleibt und wenn nichts es davon abwendet. Es vertieft sich ständig,wenn auch unmerklich in dieser Gottverbundenheit, bis es ganz in Gottruht. Es ist die heilige, von der Liebe bewirkte Neigung, die es antreibt,sich immer mehr mit der allerhöchsten Liebe zu vereinigen. Sagt doch dergroße Apostel Frankreichs (De div. nom. 4,15): „Die Liebe ist eine eini-

VII, 2

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gende Kraft“, die uns zur vollkommenen Vereinigung mit der allerhöch-sten Güte vorwärtsträgt.

Es ist eine über jeden Zweifel erhabene Wahrheit, daß die göttliche Lie-be, solange wir in dieser Welt sind, eine Bewegung oder zumindest einetätige, auf Bewegung hinzielende Haltung ist. Auch wenn sie zur einfa-chen Vereinigung gelangt ist, hört sie deshalb nicht auf, tätig zu sein, wenn-gleich unmerklich, um diese mehr und mehr zu verstärken und zu vervoll-kommnen.

8. Bäume, die sich leicht verpflanzen lassen, strecken, wenn dies gesche-hen ist, ihre Wurzeln aus und wühlen sich tief in den Schoß der Erdehinein, die ihr Element und ihre Nahrung ist. Niemand nimmt es wahr,während es geschieht, sondern erst nachdem es geschehen ist. – Ist dasmenschliche Herz durch die himmlische Liebe von der Welt in Gott hineinverpflanzt und pflegt es eifrig das Gebet, so wird es sich ständig in derGottheit weiten und sich durch eine immer tiefer gehende Vereinigung mitihrer Güte in sie versenken. Das wird aber durch ein unmerkliches Wachs-tum geschehen, dessen Fortschreiten man nicht leicht feststellen kann,während es vor sich geht, sondern erst, nachdem es geschehen ist.

9. Wenn du ein feines geistiges Getränk zu dir nimmst, etwa das „Kaiser-wasser“, so verbindet es sich mit dir in dem Maße, als du es trinkst. Auf-nahme und Vereinigung mit dir ist dann ein und dasselbe. Später aberverstärkt sich diese nach und nach, ohne daß du recht den Fortschrittmerkst. Die Kraft des Getränkes dringt überall vor, kräftigt Hirn und Herzund schärft alle deine geistigen Fähigkeiten.

So ist es auch, wenn ein Liebesempfinden, z. B. „Wie gut ist Gott!“, dasHerz erfaßt. Zuerst vereinigt sich das Herz mit dieser göttlichen Güte.Wird aber das Liebesempfinden einige Zeit festgehalten, so dringt es wieein kostbares Parfüm von überall her in die Seele, verströmt und verbreitetsich in unserem Willen und wird sozusagen unserem Geist einverleibt,weil es sich von überall her und immer mehr an uns herandrängt, in unseindringt und mit uns ganz eins wird.

10. Das will uns auch der große König David sagen, wenn er die HeiligeSchrift mit dem Honig vergleicht (Ps 119,103). Jedermann weiß doch,daß die Süßigkeit des Honigs in unseren Geschmackssinn stärker eingehtund wir ihn besser genießen, wenn wir ihn länger im Mund behalten oderwenn wir ihn langsam zu uns nehmen, so daß seine Köstlichkeit tiefer inunseren Geschmack eindringt.

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So kann man auch das tiefe Empfinden der göttlichen Güte durch Worteausdrücken, wie das des hl. Bruno: „O Güte!“ oder des hl. Thomas: „MeinHerr und mein Gott!“ (Joh 20,28), oder der hl. Magdalena: „Mein Mei-ster!“ (Joh 20, 16), oder des hl. Franziskus: „Mein Gott und mein Alles!“Wenn dieses Empfinden länger in einem liebenden Herzen verweilt, so ver-strömt und verbreitet es sich im Herzen, bohrt sich tief in den Geist ein unddurchtränkt ihn immer mehr mit seiner Köstlichkeit, – und das ist nichtsanderes als ein Wachsen der Vereinigung mit Gott.

Ähnliches geschieht, wenn man eine kostbare Salbe oder feinen Balsamauf Baumwolle träufelt. Sie vermischen und verbinden sich nach und nachso stark, daß man schließlich kaum mehr sagen kann, ob die Wolle parfü-miert oder Parfüm ist, ob das Parfüm Wolle oder die Wolle Parfüm ist.

Wie glücklich ist doch eine Seele, die in der Stille ihres Herzens dasheilige Empfinden der göttlichen Gegenwart liebend bewahrt! Denn ihreVerbundenheit mit der göttlichen Güte wird stärker, wenn auch unmerk-lich wachsen und ihren ganzen Geist mit ihren unendlichen Wonnen durch-tränken.

Wenn ich aber hier vom heiligen Empfinden der göttlichen Gegenwartspreche, so meine ich nicht fühlbares Empfinden, sondern ein solches, dasauf dem Gipfel, auf der höchsten Spitze des Geistes seinen Sitz hat, wo diegöttliche Liebe thront und ihre wichtigsten Tätigkeiten entfaltet.

2. KapitelDie verschiedenen Stufen der heiligen VDie verschiedenen Stufen der heiligen VDie verschiedenen Stufen der heiligen VDie verschiedenen Stufen der heiligen VDie verschiedenen Stufen der heiligen Vereinigung,ereinigung,ereinigung,ereinigung,ereinigung,

die sich im Gebet vollzieht.die sich im Gebet vollzieht.die sich im Gebet vollzieht.die sich im Gebet vollzieht.die sich im Gebet vollzieht.

1. Die Vereinigung geschieht manchmal ohne unser Mitwirken, nur durchein einfaches Folgen, indem wir uns widerstandslos mit der göttlichen Gütevereinigen lassen: so wie ein kleines Kind, das sich nach der Mutterbrustsehnt, aber zu schwach ist, sich zu ihr hinzubewegen, oder auch, wenn esschon dort ist, sich an sie zu schmiegen, aber doch sich recht freut, wenndie Mutter es in ihre Arme nimmt und an ihre Brust drückt.

Manchmal wirken wir mit, wenn Gott uns „zieht“, und wir „eilen“ (Hld1,1), der sanften Gewalt der Güte zu folgen, die uns durch ihre Liebe ansich zieht und drückt.

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2. Manchmal scheint es uns, als ob wir begännen, uns mit Gott zu verei-nen und uns an ihn zu schmiegen, bevor er sich mit uns vereint, denn wirspüren das verbindende Tun, das von uns ausgeht, ohne das zu fühlen, dasvon Gott ausgeht. Trotzdem aber kommt er uns zweifellos immer zuvor,obwohl wir dieses Zuvorkommen nicht immer empfinden. Denn vereinteer sich nicht mit uns, so würden wir niemals mit ihm eins werden; ererwählt und ergreift uns immer, bevor wir ihn erwählen und ergreifen.

Wenn wir aber seinen unmerklichen Lockungen folgen und uns mit ihmzu vereinigen beginnen, dann verursacht er zuweilen das Vorwärtsschrei-ten in dieser Vereinigung, indem er unserer Ohnmacht beisteht und infühlbarer Weise sich mit uns ganz innig verbindet. Wir verspüren ihn dannförmlich, wie er in unser Herz einkehrt und es mit einer unvergleichlichenSüße durchdringt.

3. Zuweilen fährt er auch unspürbar fort, uns zu helfen und zu unter-stützen, wie er uns unspürbar zur Vereinigung angezogen hat. Wir wissendann nicht, wie eine so tiefe Vereinigung zustande kommt, aber wir wissenwohl, daß unsere Kräfte nicht ausreichen, um sie herbeizuführen. Wirfolgern daraus, daß eine geheime Macht ihre unspürbare Tätigkeit in unsentfaltet.

Wenn Schiffer, die Eisen als Fracht mithaben, bei schwachen Windenihre Schiffe mächtig ausholen sehen, so wissen sie, daß Magnetgebirge inder Nähe sind, die sie unmerklich anziehen. Ihre wohl erkenntliche undspürbare rasche Fahrt hat also eine unbekannte und unverspürbare Ursa-che. Ähnlich müssen auch wir urteilen, wenn wir sehen, daß unser Geistsich unter den kleinen Bemühungen unseres Willens mehr und mehr mitGott vereinigt. Wir stellen fest, daß die Kraft unseres Windes nicht starkgenug ist, diese rasche Fahrt zu ermöglichen, und schließen daraus, daßwohl der göttliche Liebhaber unserer Seelen uns durch geheime Einflüsseseiner Gnade zieht. Er will, daß wir sie nicht verspüren, damit wir sieumso mehr bewundern, uns nicht damit abgeben, diese Antriebe zu füh-len, sondern mit größerer Lauterkeit und Einfachheit bemüht seien, unsmit seiner Güte zu vereinigen.

Zuweilen geht diese Vereinigung so unmerklich vor sich, daß unser Herzweder das göttliche Wirken in uns, noch unser Mitwirken fühlt; es findetdagegen die unmerklich vollzogene Vereinigung ganz fertig vor, so wieJakob sich unvermutet mit Lea verheiratet sah. Oder vielmehr sieht sichunser Herz wie ein anderer Simson, aber glücklicher als er, mit den Ban-

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den der heiligen Vereinigung gebunden und gefesselt, ohne daß wir esgemerkt hätten.

Andere Male fühlen wir die starken Bindungen, da die Vereinigung durchfühlbares Wirken Gottes und unser selbst vor sich geht.

4. Manchmal geschieht die Vereinigung durch den Willen allein und imWillen allein. Andere Male hat auch der Verstand daran Anteil. Der Willezieht ihn nach sich und wendet ihn seinem Gegenstand zu, indem er ihneine besondere Lust fühlen läßt, ihn aufmerksam zu betrachten. So lenkt jaauch die Liebe unsere leiblichen Augen auf das, was wir lieben, um es mittiefer und besonderer Aufmerksamkeit anzusehen.

Zuweilen geschieht diese Vereinigung durch alle Fähigkeiten der Seele.Sie sammeln sich alle um den Willen, nicht um sich selbst mit Gott zuvereinigen, wozu nicht alle fähig sind, sondern um es dem Willen leichterzu machen, seine Verbindung mit Gott zu vollziehen. Denn wären alleanderen Fähigkeiten auf ihre Gegenstände hingewendet, so könnte dieSeele, die durch sie wirkt, sich nicht so vollkommen der Tat hingeben,durch die die Vereinigung mit Gott geschieht.

Auf so verschiedene Weisen wird die Vereinigung mit Gott vollzogen.

5. Betrachte den hl. Martial. Er soll ja das glückliche Kind gewesen sein,von dem der hl. Markus berichtet (9,35). Der Herr ergriff ihn, hob ihn indie Höhe und hielt ihn längere Zeit in seinen Armen. – O lieber kleinerMartial, wie bist du selig, vom Heiland ergriffen, aufgenommen, getragen,mit ihm vereinigt, verbunden, an seine göttliche Brust gedrückt und vonseinem heiligen Mund geküßt worden zu sein, ohne daß du etwas dafürtust, als den göttlichen Zärtlichkeiten keinen Widerstand zu leisten.

Der hl. Simeon wieder umarmte das Jesuskind und drückte es an seineBrust (Lk 2,28), ohne daß Jesus auch nur im geringsten dazu mitgewirkthätte, obwohl, wie die heilige Kirche singt, der Greis das Kind trug, dasKind aber über den Greis herrschte (1. Vesper Darstellung des Herrn).

Der hl. Bonaventura, von heiliger Demut angetrieben, vereinigte sichnicht nur nicht mit dem Herrn, sondern zog sich eines Tages, als er derheiligen Messe beiwohnte, von seiner wirklichen Gegenwart, d. h. vomheiligsten Sakrament zurück. Da kam der Herr selber, um sich mit ihm zuvereinigen, indem er ihm das heilige Sakrament brachte. O Gott, mit wel-cher Liebe mag wohl diese heilige Seele, nachdem Gott sich mit ihr verei-nigt hatte, ihren Heiland an ihr Herz gedrückt haben!

Dagegen sehnte sich die hl. Katharina von Siena mit glühender Sehn-

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sucht nach dem Herrn in der heiligen Kommunion. Als sie nun ihre Seeleund ihre Liebe zu ihm hindrängte und förmlich hintrieb, da kam er selber,um mit ihr ganz eins zu werden, legte sich auf ihre Zunge und überhäuftesie mit tausend Segnungen.

So setzte der Herr den Beginn der Vereinigung bei St. Bonaventura,dagegen scheint die hl. Katharina selber die Vereinigung mit ihrem Hei-land begonnen zu haben.

6. Die heilige Liebende des Hoheliedes spricht, wie wenn sie die eineund die andere Art der Vereinigung geübt hätte: „Ich gehöre ganz meinemVielgeliebten,“ sagt sie (7,10), „und er wendet sich mir zu.“ Es ist, alswollte sie sagen: Ich habe mich mit meinem Freund vereinigt, – und erwendet sich wieder mir zu, um sich mehr und mehr mit mir zu vereinigenund sich mir ganz hinzugeben. – „Mein geliebter Freund ist mir ein Myrr-henbüschel, er wird auf meiner Brust verweilen“ (Hld 1,12) und ich werdeihn an mein Herz drücken wie einen duftenden Blumenstrauß. – „MeineSeele,“ betete David (Ps 63,9), „hat sich zu Dir hingedrängt, o mein Gott,und Deine Rechte hat mich gepackt und ergriffen.“ – Anderswo beteuertdie Braut, daß ihr der Bräutigam zuvorgekommen sei. „Mein geliebterFreund,“ sagt sie, „ist ganz mein und ich, ich bin ganz sein“ (Hld 2,16).Wir bilden einen heiligen Bund, in dem er sich mir ganz anschließt undich mich ganz ihm anschließe.

Um zu zeigen, daß diese Vereinigung durch die Gnade Gottes geschieht,der uns an sich zieht, durch seine Lockungen unsere Seele rührt und unse-re Bewegung zu ihm hin, zu unserer Vereinigung mit ihm antreibt, ruft sieaus, weil sie ganz kraftlos ist: „Ziehe mich!“ (Hld 1,3). – Um aber zubezeugen, daß sie sich nicht wie ein Stein oder wie ein Sklave ziehen lassenwill, sondern daß sie ihrerseits mitwirken und ihre schwachen Bemühun-gen mit den mächtigen Antrieben ihres Vielgeliebten verbinden wird, sagtsie: „Wir werden den Wohlgerüchen deiner Düfte nacheilen.“

Und damit man wohl wisse, daß alle Fähigkeiten der Seele zur Ver-einigung mit beitragen, wenn sie nur ein wenig durch den Willen gezogenwird, sagt sie: „Ziehe mich, und wir werden eilen.“ Der Bräutigam ziehtnur eine, und mehrere eilen, sich zu vereinigen. Der Wille ist die einzigeFähigkeit, die Gott verlangt, aber alle anderen Fähigkeiten eilen ihr nach,um zusammen mit ihr mit Gott vereint zu werden.

Zu dieser Vereinigung lud der göttliche Seelenhirt seine geliebte Schu-lammit ein: „Leg mich,“ sagt er, „wie ein Siegel auf dein Herz, wie ein

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Siegel auf deinen Arm!“ (Hld 8,6). Um ein Siegel gut in Wachs einzuprä-gen, legt man es nicht nur darauf, sondern drückt es fest hinein. – Gott willalso eine so kraftvolle und enge Verbundenheit mit ihm, daß wir dauerndvon seinen Zügen geprägt bleiben.

7. „Die heilige Liebe des Heilands drängt uns“ (2 Kor 5,14). O Gott,welches Vorbild herrlicher Vereinigung! Er hatte sich mit unserer mensch-lichen Natur durch Gnade verbunden, wie eine Rebe mit ihrer Ulme, umsie in etwa seiner Frucht teilhaftig zu machen. Da er aber sah, daß dieseVerbindung durch die Sünde Adams gelöst war, vollzog er eine noch kraft-vollere und engere Verbindung in der Menschwerdung, durch die diemenschliche Natur für immer in personenhafter Einheit an die Gottheitangeschlossen bleibt.

Damit aber nicht nur die menschliche Natur, sondern alle Menschensich ganz innig mit seiner Güte vereinigen könnten, setzte er das Sakramentder hochheiligen Eucharistie ein, an dem jeder teilhaben kann, um seinenHeiland mit sich selbst zu vereinigen und zwar wirklich und in Form vonSpeise. Theotimus, diese sakramentale Vereinigung treibt uns an und hilftuns, zur soeben besprochenen geistlichen Vereinigung zu gelangen.

3. KapitelDer höchste Grad von VDer höchste Grad von VDer höchste Grad von VDer höchste Grad von VDer höchste Grad von Vereinigung durch den Schwebezustandereinigung durch den Schwebezustandereinigung durch den Schwebezustandereinigung durch den Schwebezustandereinigung durch den Schwebezustand

und die Entrückung.und die Entrückung.und die Entrückung.und die Entrückung.und die Entrückung.

1. Ob die Vereinigung unserer Seele mit Gott in wahrnehmbarer odernicht wahrnehmbarer Weise geschieht, Gott ist doch immer ihr Urheber.Niemand kann sich mit ihm vereinigen, wenn er nicht zu ihm geht, undniemand kann zu ihm gehen, wenn er nicht von ihm hingezogen wird. Sobezeugt es der göttliche Bräutigam, da er sagt: „Niemand kann zu mirkommen, wenn ihn der Vater nicht zieht“ (Joh 6,44). Seine himmlischeBraut bezeugt es auch, wenn sie sagt: „Ziehe mich, wir eilen dem Wohlge-ruch deiner Düfte nach“ (Hld 1,3).

Die Vollkommenheit dieser Vereinigung besteht nun in zwei Dingen: siemuß rein und sie muß stark sein.

2. Ich kann zu jemand gehen, um mit ihm zu sprechen, um ihn besser zusehen, um etwas von ihm zu erreichen, um den Duft einzuatmen, der ihnumgibt, um mich auf ihn zu stützen. Ich gehe dann wohl zu ihm und binbei ihm, aber das Hingehen und Bei-ihm-sein ist nicht Hauptziel meines

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Tuns, sondern nur Mittel und Bedingung, um etwas anderes zu erreichen.– Wenn ich aber zu ihm gehe und mich zu ihm geselle keines anderenZweckes wegen, als bei ihm zu sein und mich seiner Nähe und des Vereint-seins mit ihm zu erfreuen, dann ist es ein Streben nach reiner und einfacherVereinigung.

So nahen sich viele dem Herrn, einige um ihn zu hören, wie Magdalena,andere um geheilt zu werden, wie die an Blutfluß leidende Frau, andereum ihn anzubeten, wie die Magier, andere um ihn zu bedienen, wie Marta,andere um ihren Unglauben zu überwinden, wie Thomas, andere endlichum ihn zu salben, wie Magdalena, Josef und Nikodemus. – Aber seinegöttliche Schulammit sucht ihn, um ihn zu finden. Und hat sie ihn gefun-den, will sie nichts anderes, als ihn festhalten, und hält sie ihn einmal fest,so will sie nur das eine: nie mehr von ihm lassen. „Ich halte ihn,“ sagt sie,„und werde von ihm nicht lassen“ (Hld 3,4).

Der hl. Bernhard schreibt (79. Hom. zum Hld §4): „Jakob hält Gottzwar fest, ist aber bereit, von ihm zu lassen, wenn er seinen Segen empfängt(Gen 32,26), die Schulammit aber wird trotz aller Segnungen nicht vonihm lassen, denn sie will ja nicht die Segnungen Gottes, sondern den Gottder Segnungen. Mit David sagt sie: ‚Was gibt es im Himmel für mich undwas will ich auf Erden außer Dir? Du bist der Gott meines Herzens undmein Anteil für alle Ewigkeit‘ (Ps 73,25 f).“

So stand die glorreiche Mutter unter dem Kreuz ihres Sohnes (Joh 19,25).Was suchst du, Mutter des Lebens, auf dem Kalvarienberg, auf dieser To-desstätte? – Ich suche, hätte sie gesagt, mein Kind, das das Leben meinerSeele ist. – Aber warum suchst du es? – Um bei ihm zu sein. – Aber jetzt ister doch inmitten der Ängste des Todes (Ps 18,5; 116,3). – Ach, Freudensuche ich nicht, sondern ihn selbst. Und immer treibt mich mein liebe-brennendes Herz, die Vereinigung mit ihm zu suchen, mit ihm, meinemgeliebten Kind, meinem Vielgeliebten.

Mit einem Wort, wenn die Seele diese Vereinigung anstrebt, so will sienichts, als mit ihrem Vielgeliebten sein.

3. Ist aber diese Vereinigung der Seele mit Gott eine ganz enge und feste,so nennen sie die Theologen „inhaesio“ oder „adhaesio“ (d. h. „in-nehangen“ oder „anhangen“). Denn durch sie bleibt die Seele von dergöttlichen Majestät festgehalten, mit ihr innig verbunden, förmlich an siegekittet und ihr angeheftet, so daß sie sich nur schwer von ihr loslösen oderzurückziehen kann.

Betrachte diesen Menschen, ich bitte dich, der auf süße Klänge einer

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harmoniereichen Musik hinhorcht und davon gefesselt und förmlich ge-fangen ist, – oder sogar (was schon wirklich närrisch ist) von einem alber-nen Kartenspiel. Willst du ihn davon wegziehen, so wirst du es nicht ver-mögen, was auch immer zuhause auf ihn wartet; er vergißt sogar das Essenund Trinken darüber.

O Gott, Theotimus, wieviel mehr muß die gottliebende Seele Gott an-hangen und an ihn gefesselt sein, wenn sie mit der unendlichen Güte ver-eint ist, wenn dieses unendlich vollkommene Wesen sie ergreift und be-zaubert!

4. So war die Seele des Apostels, dieses auserwählten Werkzeuges Got-tes (Apg 9,15) , der ausrief: „Um für Gott zu leben, bin ich mit Christus ansKreuz geheftet (Gal 2,19). Daher beteuert er auch, daß nichts, nicht einmalder Tod ihn von seinem Meister trennen kann (Röm 8,38). Sogar zwischenDavid und Jonatan zeigte sich eine solche Wirkung der Liebe. Es heißt ja:„Die Seele Jonatans war innig an die Seele Davids gekittet“ (1 Sam 18,1).Deshalb auch das von allen Völkern gefeierte Axiom: Freundschaft, dieein Ende haben kann, ist nie eine echte Freundschaft gewesen (wie ich esauch anderswo gesagt habe).

Sieh doch, ich bitte dich, Theotimus, dieses Kindlein, das an der Brustund am Hals seiner Mutter hängt. Wenn man es wegnehmen will, weil esZeit ist, es in seine Wiege zu legen, so sträubt und wehrt es sich, soviel esnur kann, um ja nicht diese ihm so liebe Brust verlassen zu müssen. Wennman eine Hand loslöst, so klammert es sich mit der anderen an; nimmtman es ganz weg, so fängt es zu weinen an, hat Augen und Herz nur da, woes nicht mit seinem Körperchen sein kann, und schreit nach seiner liebenMutter, bis man es in den Schlaf gewiegt hat.

5. So kann die Seele, die durch die Übung der Vereinigung so weit ge-kommen ist, daß sie von der göttlichen Güte erfaßt und von ihr gefesseltbleibt, fast nur mit Gewalt und unter großen Schmerzen sich von ihr loslö-sen. Man kann sie nicht davon wegbringen. Lenkt man ihre Einbildungs-kraft ab, so bleibt sie Gott mit dem Verstand verhaftet; lenkt man denVerstand ab, so hält sie sich mit dem Willen an ihm fest; reißt man denWillen mit Gewalt davon los, so wendet sie sich doch jeden Augenblickwieder dem Gegenstand ihrer Liebe zu, von dem sie sich nicht trennenkann. Soweit es ihr möglich ist, knüpft sie immer wieder die liebendenBande der Vereinigung mit ihm, indem sie wiederholt gleichsam heimlichzu ihm zurückkehrt. – Sie empfindet dann durch eigene Erfahrung das

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Leid des hl. Paulus (Phil 1,23), denn sie wird von zwei Wünschen be-drängt: einerseits von aller äußeren Beschäftigung frei zu werden, um inihrem Innern ganz mit Jesus zu verbleiben, und andererseits trotzdem andas Werk des Gehorsams zu gehen, dessen Notwendigkeit gerade die Ver-einigung mit Jesus Christus sie lehrt.

6. Die selige Mutter Theresia sagt nun sehr zutreffend: Wenn die Vereini-gung bis zu dieser Vollkommenheit gelangt ist, daß sie uns ergriffen und mitdem Herrn verbunden hält, so ist sie nicht verschieden von der Entrückung,vom Schwebe- oder Bindungszustand des Geistes (Leben Kap. 18 und 20).Man nennt sie nur Vereinigung, Schwebe- oder Bindungszustand, wenn sievon kurzer Dauer ist, dagegen Ekstase oder Entrückung, wenn sie langewährt.

Ist in der Tat die Seele so fest und eng an ihren Gott gebunden, daß sievon ihm nicht leicht losgelöst werden kann, so ist sie nicht mehr in sichselbst, sondern in Gott, so wie ein gekreuzigter Leib nicht mehr an sich ist,sondern am Kreuz, und wie der an der Mauer rankende Efeu nicht mehr insich ist, sondern in der Mauer.

Um aber jede Zweideutigkeit zu meiden, wisse Theotimus, daß die Lie-be ein Band ist und zwar ein Band der Vollkommenheit (Kol 3,14); undwer mehr Liebe besitzt, ist mit Gott inniger vereint und an ihn enger ge-bunden. Wir sprechen aber nicht von dieser Vereinigung, die in uns dau-ernd als Zustand ist, ob wir schlafen oder wachen. Wir sprechen von derVereinigung, die durch die Tätigkeit zustandekommt und eine der Übun-gen der heiligen Liebe ist.

7. Stelle dir vor, der hl. Paulus, Dionysius, Augustinus, Bernhard, Fran-ziskus, die hl. Katharina von Genua oder von Siena seien noch in dieserWelt und schliefen nun aus Müdigkeit nach vielen aus Liebe zu Gott unter-nommenen Arbeiten. Stelle dir andererseits irgendeine gute Seele vor, dienicht so heilig wie diese ist und die sich zur gleichen Zeit dem Gebet derVereinigung hingibt. Ich frage dich nun, mein Theotimus: Wer ist dennmehr mit Gott vereint, wer mit Gott enger verbunden, jene großen Heiligen,die schlafen, oder diese Seele, die betet? Gewiß wären es jene wunderbarenLiebenden. Sie besitzen ja mehr Liebe; ihre Affekte, obwohl gewisserma-ßen schlafend, sind so ihrem Meister verhaftet und so von ihm ergriffen,daß sie von ihm untrennbar sind.

Aber, so wirst du mir sagen, wie ist es denn möglich, daß eine Seele imGebet der Vereinigung und sogar in der Ekstase mit Gott weniger verbun-den ist als Menschen, die schlafen, mögen sie auch noch so heilig sein? Ich

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antworte dir darauf, Theotimus, daß jene Seele in der Übung der Vereini-gung voran ist, diese Heiligen aber in der Vereinigung selbst, da sie schonmit Gott vereinigt sind und sich daher jetzt nicht vereinigen können, weilsie ja schlafen. Jene andere Seele aber vereinigt sich jetzt mit Gott, sie übtund betätigt jetzt die Vereinigung.

8. Übrigens kann man die Vereinigung mit Gott auch durch kurze undflüchtige, aber häufige Herzenserhebungen zu Gott vollziehen, indem manStoßgebete in dieser Meinung verrichtet: O Jesus, wer wird mir die Gnadeschenken, eines Geistes mit Dir zu sein? – Herr, ich will nichts von all denGeschöpfen, ich will nur mit Dir eins sein. – O Gott, Du bist der einzigEine, Du bist der einzig Notwendige (Lk 10,42) für meine Seele. – Otreuer Freund meines Herzens, vereinige meine arme einzige Seele mitDeiner ganz einzigen Güte. – Du bist ganz mein, wann werde ich ganzDein sein? – Der Magnet zieht das Eisen an und hält es fest. Herr Jesus,Liebhaber meiner Seele, ziehe mein Herz an Dich! Drücke, presse undfüge auf immer meine Seele an Dein väterliches Herz! – Ich bin doch fürDich geschaffen. Warum bin ich nicht in Dir? – Versenke diesen TropfenGeistes, den Du mir gegeben, in das Meer Deiner Güte, aus dem er hervor-geht! – Herr, da doch Dein Herz mich liebt, warum reißt es mich nicht ansich, da ich doch sehr danach verlange? – Ziehe mich und ich werde Dei-nen Lockungen folgen (Hld 1,3). Ich werde laufen, um mich in Deineväterlichen Arme zu werfen, und mich von dort nicht mehr wegrühren inalle Ewigkeit. Amen.

4. KapitelDie Entrückung und ihre erste ArDie Entrückung und ihre erste ArDie Entrückung und ihre erste ArDie Entrückung und ihre erste ArDie Entrückung und ihre erste Art.t.t.t.t.

1. Die Ekstase heißt Entrückung, weil Gott uns durch sie an sich zieht undzu sich erhebt; und die Entrückung heißt Ekstase, sofern wir durch sie ausuns heraus und über uns hinaus gehen und bleiben, um uns mit Gott zuvereinigen.

Obwohl die Lockungen, durch die wir von Gott angezogen werden, wun-dersam lieb, sanft und beglückend sind, so scheint es doch, als ob diegöttliche Schönheit und Güte mit solcher Wucht die Aufmerksamkeit undAnspannung des Geistes an sich zöge, daß sie uns nicht nur zu sich erhebt,sondern uns emporreißt und entrückt.

Andererseits ist die Zustimmung der zu Gott entrückten Seele so ab-solut freiwillig und die Bewegung, durch die sich die entrückte Seele in Gott

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verströmt, so glühend eifrig, daß sie nicht nur zu Gott emporzusteigen undsich zu Gott erheben, sondern sich förmlich außer sich in die Gottheithineinzuwerfen und hineinzustürzen scheint.

2. Das gleiche trifft in der ganz gemeinen Ekstase und abscheulichenEntrückung zu, durch die eine Seele, den Lockungen tierischer Wollustfolgend, sich ihrer göttlichen Würde begibt und unter ihren naturhaftenStand herabsinkt. Insofern sie sich dieser unseligen Lust hingibt und sichaußer sich, d. h. außer ihren geistlichen Zustand herausstürzt, nennt mandies sinnliche Ekstase. Insofern aber die sinnlichen Lockungen und Gelü-ste sie mächtig anziehen und sie sozusagen zu diesem niedrigen und ekel-haften Zustand herabreißen, sagt man, daß sie außer sich geraten, daß siesich selber entrückt ist. Denn diese bestialische Lust beraubt sie mit solchwilder Gewalt des Gebrauches der Vernunft und des Verstandes, daß derMensch nach dem Wort eines der größten Philosophen (Hippokrates)dann wie von Epilepsie befallen zu sein scheint, so sehr ist sein Geistaufgezehrt und wie verloren. – O Menschen, wie lange werdet ihr so unver-ständig sein (Ps 4,3) , euch eurer natürlichen Würde zu begeben und frei-willig in einen tierischen Zustand hinabzusinken und hinabzustürzen?

3. Was nun, mein lieber Theotimus, die heiligen Ekstasen betrifft, so gibtes deren drei Arten. Die erste ist die des Verstandes, die andere die desGemütes, die dritte die der Tat. Die erste beruht auf glanzvoller Schönheit,die zweite auf der Inbrunst, die dritte auf dem Werk. Die eine geschiehtdurch Bewunderung, die zweite durch fromme Hingabe, die dritte durchdie Tat.

4. Bewunderung entsteht in uns durch Begegnung mit einer neuenWahrheit,die wir nicht kannten und auch nicht vermuteten. Und wenn dieneuerkannte Wahrheit noch mit Schönheit und Güte gepaart ist, dann wirddie daraus entspringende Bewunderung überaus beglückend. So war dieKönigin von Saba von Bewunderung erfüllt, da sie Salomo viel weiser sah,als sie gedacht hatte (1 Kön 10,15). Desgleichen die Juden, als sie amHerrn ein Wissen sahen, wie sie es bei ihm nicht vermutet hatten (Mt13,54-56).

Wenn es also der göttlichen Güte gefällt, unserem Verstand eine beson-dere Klarheit zu schenken, durch die es ihm gelingt, die göttlichen Ge-heimnisse durch eine außergewöhnliche und hocherhabene Beschauungzu erfassen, dann überkommt ihn große Bewunderung beim Anblick einerSchönheit, wie er sie nie hätte ausdenken können.

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Bewunderung anziehender Dinge hält nun den Geist am bewundertenGegenstand fest und heftet ihn kräftig daran, – sowohl wegen der erlesenenSchönheit, die er an ihnen entdeckt, als auch weil diese Pracht für ihn neuist. Der Verstand kann sich nicht sattsehen an dem, was er noch nichtgeschaut und dessen Anblick so anziehend ist.

Außerdem gibt Gott zuweilen der Seele nicht nur ein klares, sondernauch ein wachsendes Licht, gleich der wachsenden Helle des Morgens.Dann gleicht der Geist Goldgräbern, die eine Goldmine gefunden undsich nun immer tiefer ins Erdreich hineinwühlen, um immer noch mehrvon diesem ersehnten Edelmetall zu finden. So dringt auch der Geist im-mer tiefer in die Betrachtung und Bewunderung seiner Gottheit hinein.

Wie Bewundern die Ursache der Philosophie und der Naturwissenschaftist, so ist es auch Ursache der Beschauung und der mystischen Theologie.Ist dieses Bewundern nun stark, so hält es uns außer und über uns durch daslebhafte Aufmerken und Haften des Geistes an den himmlischen Dingenund trägt uns daher in die Ekstase hinein.

5. KapitelDie zweite ArDie zweite ArDie zweite ArDie zweite ArDie zweite Art der Entrückung.t der Entrückung.t der Entrückung.t der Entrückung.t der Entrückung.

1. Gott zieht die Seelen an sich durch seine erhabene Schönheit und un-faßbare Güte, zwei Herrlichkeiten, die trotzdem nur eine allerhöchste,ganz einzig schöne und zugleich ganz einzig gute Gottheit sind.

Alles geschieht für das Gute und Schöne, alles zielt dorthin, alles wirddurch das Schöne und Gute und durch die Liebe zum Guten und Schönenbewegt und festgehalten. Das Gute und Schöne ist für alle wünschenswert,anziehend und liebenswert; es ist der Grund, warum alle Wesen alles tunund wollen, was immer sie wirken und wollen.

Das Schöne bezeichnen die Griechen mit einem Namen, der mit demWort „rufen“ zusammenhängt, weil es alles anzieht und zu sich ruft: Des-gleichen ist das Licht das wahre Bild des Guten, besonders insofern dasLicht alles, was existiert, erfaßt, sich zukehrt und zuwendet. Deshalb be-zeichnen die Griechen auch die Sonne mit einem Wort, das darauf hin-weist, daß sie alles zusammenrafft, zusammendrängt und alles Zerstreutesammelt,* so wie auch die Güte bewirkt, daß sich ihr alles zuwendet. Das

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* Die hier vorgebrachten Ableitungen der griechischen Namen für das Schö-ne und für die Sonne entsprechen den damaligen Anschauungen. Heute wer-den beide Worte anders abgeleitet

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Licht ist ja nicht nur die erhabene Einheit, sondern auch das erhabeneEinigende, weil alle Wesen es ersehnen als ihren Urgrund, ihren Erhalterund ihr letztes Ziel.

Folglich sind letzten Endes das Gute und das Schöne nur ein und dassel-be, da ja alle Dinge nach dem Guten und Schönen verlangen.

Was ich hier gesagt habe, stammt fast ganz von Dionysius, dem Areopa-giten (Div. nom. 4,4. 7). Und gewiß ist es wahr, daß die Sonne, die Quellekörperlichen Lichtes, ein echtes Bild des Guten und des Schönen ist; dennunter allen nur körperlichen Geschöpfen gibt es keine Schönheit und Güte,die der Sonne gleichkommt. Schönheit und Güte der Sonne liegen aber inihrem Licht, ohne das in dieser körperlichen Welt nichts schön und nichtsgut wäre. – Weil es schön ist, spendet es allem Klarheit, weil es gut ist,erwärmt und belebt es alles. Weil es schön und hell ist, zieht es alle Augenauf sich, die auf Erden sehen können; weil es gut ist und alles erwärmt,zieht es alle Wünsche und Neigungen der körperlichen Welt auf sich. Eszieht die Dünste und Nebel an und läßt sie aufsteigen; es zieht die Pflanzenund Tiere aus ihren Ursprüngen; kein Leben entsteht, ohne daß die leben-spendende Wärme dieser großen Leuchte dazu beiträgt.

2. So zieht der über alles gute und schöne Gott, der Vater allen Lichtes(Jak 1,17), durch seine Schönheit den Verstand an, ihn zu schauen, unddurch seine Güte den Willen, ihn zu lieben. Durch seine Schönheit ent-zückt er unseren Verstand und verströmt seine Liebe in unseren Willen;durch seine Güte erfüllt er unseren Willen mit seiner Liebe und treibtunseren Verstand an, ihn zu schauen. Die Liebe fordert uns zur Beschau-ung auf und die Beschauung zur Liebe.

Daraus folgt, daß die Ekstase, die Entrückung ganz von der Liebe ab-hängt, denn die Liebe ist es, die den Verstand zur Beschauung und denWillen zur Vereinigung drängt. – So müssen wir schließlich mit dem gro-ßen hl. Dionysius den Schluß ziehen: Die göttliche Liebe ist ekstatisch, dasie nicht zuläßt, daß die Liebenden sich selbst gehören, sondern dem, wassie lieben (Div. nom. 4,13).

Der bewunderungswürdige Apostel Paulus, der diese göttliche Liebebesaß und ihre ekstatische Kraft erfuhr, sagt deshalb auch, von Gott er-leuchtet: „Nicht mehr ich lebe, sondern Jesus Christus lebt in mir“ (Gal2,20). Als wahrhaft Liebender war er aus sich heraus in Gott entrückt undlebte nicht mehr sein eigenes Leben, sondern das über alles liebenswerteLeben seines Vielgeliebten.

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3. Diese Liebesentrückung vollzieht sich im Willen auf diese Weise:Gott berührt ihn mit seinen beglückenden Lockungen. Und dann geschiehtes, daß der Wille, einem vom Magnet angezogenen Zeiger gleich, seinenatürliche Unbeweglichkeit aufgibt und sich zum Pol wendet und bewegt.So schwingt und bewegt sich auch der von der himmlischen Liebe berührteWille in Gott hinein. Er läßt alle irdischen Neigungen fallen und gerätdadurch in eine Entrückung nicht der Erkenntnis, sondern des seligen Besit-zes, nicht der Bewunderung, sondern der Liebe, nicht des Wissens sondernder Erfahrung, nicht der Schau, sondern des Empfindens und Verkostens.

Wohl ist es wahr, wie ich schon angedeutet habe, daß der Verstand zu-weilen in Bewunderung gerät, wenn er das heilige Entzücken sieht, das derWille in seiner Ekstase empfindet, wie auch den Willen oft dieses Entzük-ken überkommt, wenn der Verstand von Bewunderung ergriffen ist. Diesezwei Fähigkeiten teilen sich ihre Entrückungen gegenseitig mit; der Anblickder Schönheit läßt sie uns lieben und die Liebe treibt uns an, sie zu schau-en. Die Sonnenstrahlen erwärmen uns nicht oft, ohne daß sie uns zugleichLicht spenden, und sie spenden uns kaum Licht, ohne uns zugleich zuerwärmen. Liebe erzeugt leicht Bewunderung und Bewunderung bewirktleicht Liebe.

4. Trotzdem gehören die beiden Ekstasen, die des Verstandes und die desWillens, nicht so zusammen, daß nicht auch die eine ohne die andere wäre.Die Philosophen besitzen mehr Wissen vom Schöpfer als Liebe zu ihm,während die guten Christen oft mehr Liebe als Wissen besitzen. Folglichhat auch ein übergroßes Wissen nicht immer eine übergroße Liebe imGefolge, wie auch eine übergroße Liebe nicht immer von einem übergro-ßen Wissen begleitet ist, wie ich schon anderswo (VI/4) bemerkt habe.

5. Ist nun die Bewunderungsekstase allein vorhanden, so macht sie unsnicht besser, wie jener sagt, der in der Ekstase in den dritten Himmelentrückt worden war (2 Kor 12,2). „Wüßte ich,“ sagt er, „alle Geheimnis-se und alle Wissenschaft, hätte aber die Liebe nicht, so wäre ich nichts“ (1Kor 13,2).

So kann auch der böse Feind, wenn man so sprechen darf, den Verstandin Ekstase versetzen und entrücken; er kann ihm so wunderbare Einsich-ten geben, daß sie ihn über die menschlichen Kräfte erheben und in Schwebehalten. Er kann auch durch solche Klarheiten dem Willen eine Art eitler,

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weichlicher, schwächlicher und unvollkommener Liebe geben, indem erWohlgefallen, Befriedigung und fühlbaren Trost einflößt. Aber die wahreEkstase des Willens, durch die dieser sich einzig und mächtig der göttlichenGüte hingibt, kann nur der höchste Gott schenken, durch den die LiebeGottes in unsere Herzen ausgegossen ist (Röm 5,3).

6. KapitelDie Kennzeichen echter Entrückung.Die Kennzeichen echter Entrückung.Die Kennzeichen echter Entrückung.Die Kennzeichen echter Entrückung.Die Kennzeichen echter Entrückung.

Die dritte ArDie dritte ArDie dritte ArDie dritte ArDie dritte Art der Entrückung.t der Entrückung.t der Entrückung.t der Entrückung.t der Entrückung.

1. Tatsächlich hat man in unserer Zeit einige Personen gesehen, die sel-ber glaubten (und jedermann glaubte es mit ihnen), daß sie von Gott inEkstasen entrückt würden. – Und doch entdeckte man schließlich, daß esnur Illusionen und teuflische Gaukeleien waren. Zur Zeit des hl. Augusti-nus versetzte sich ein Priester in Ekstase, sooft er es wollte, indem erTrauer- und Jammerweisen sang oder sich vorsingen ließ; er tat dies nur,um die Neugierde derer zu befriedigen, die dieses Schauspiel sehen woll-ten. Das Merkwürdige daran war aber, daß die Ekstase so weit ging, ihnnicht mehr fühlen zu lassen, wenn man ihn brannte, sondern erst nachher,wenn er wieder zu sich gekommen war; sagte aber jemand etwas mit kräf-tiger und klarer Stimme, so hörte er es wie aus der Ferne; auch atmete ernicht (August. St. G. 64,24).

Die Philosophen haben verschiedene Arten natürlicher Ekstase fest-gestellt, die durch eine intensive Hinwendung des Geistes auf die Erwä-gung höherer Dinge hervorgerufen werden. Man darf deshalb auch nichterstaunt sein, wenn der böse Geist auch in einigen Seelen, die in der Fröm-migkeit wenig solide Kenntnisse haben, Entrückungen verursacht. Er tutdas, um Gott nachzuäffen, Seelen in die Irre zu führen, Schwachen Ärger-nis zu geben und einen Geist des Lichtes vorzutäuschen.

2. Damit man nun göttliche Ekstasen von menschlichen und teuflischenunterscheiden könne, haben die Diener Gottes mehrere Kennzeichen auf-gestellt. Für meinen Zweck mag es genügen, wenn ich dir zwei Kenn-zeichen einer guten und heiligen Ekstase angebe.

3. Das eine ist, daß die heilige Ekstase niemals so sehr den Verstand erfaßtund fesselt wie den Willen, den sie erregt, erwärmt und mit einer kraftvollenLiebe zu Gott erfüllt. Ist die Ekstase mehr schön als gut, mehr leuchtend alserwärmend, mehr geistreich als liebevoll, so ist sie sehr zweifelhaft undfragwürdig.

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Ich sage nicht, daß es unmöglich ist, Entrückungen, Visionen und sogarprophetische Visionen zu haben, ohne die Liebe zu besitzen (1 Kor 13,2);ich weiß wohl, daß man Liebe ohne die Gabe der Entrückung und derProphezeiung haben und ebenso entrückt sein und prophezeien kann, ohneLiebe zu haben. Ich behaupte nur, daß jeder auf der Hut sein soll, der inseiner Entrückung mehr Helle im Verstand hat, um Gott zu bewundern,als Wärme in seinem Willen, um ihn zu lieben. Es liegt dann die Gefahrvor, daß diese Vision unecht ist, den Geist mehr aufbläht als erbaut undihn zwar wie Saul (1 Sam 10,11 f), Bileam (Num 22) und Kajaphas (Joh11,51) wohl unter die Propheten reiht, aber zugleich trotzdem unter denVerworfenen beläßt.

4. Das zweite Merkmal echter Ekstase besteht in der dritten Art, von derwir oben gesprochen haben, der ganz heiligen, ganz liebenswerten Ekstase,die die beiden anderen krönt: der Ekstase der Tat und des Lebens.

Die restlose Beobachtung der göttlichen Gebote liegt zwar nicht imBereich der menschlichen Kräfte, wohl aber innerhalb der Anlagen desmenschlichen Geistes. Sie stimmt ja ganz mit der Vernunft und dem na-türlichen Licht überein, so daß wir durch ein Leben nach den göttlichenGeboten nicht außerhalb unserer naturhaften Neigung stehen.

Aber außer den Geboten Gottes gibt es noch göttliche Eingebungen.Damit wir diese durchführen können, muß uns Gott nicht nur über unsereKräfte hinausheben, sondern auch noch über die Triebe und natürlichenNeigungen emporziehen. Diese Eingebungen sind zwar der menschlichenVernunft nicht entgegengesetzt, sie gehen aber darüber hinaus, überstei-gen sie und stehen noch über ihr. – Wir leben dann nicht nur ein gesittetes,rechtschaffenes und christliches Leben, sondern ein übernatürliches, geist-liches, Gott hingegebenes und ekstatisches, d. h. ein Leben, das in jederHinsicht außerhalb und über unserer naturhaften Beschaffenheit steht.

Nicht stehlen, nicht lügen, keine Unkeuschheit treiben, zu Gott beten,nicht sinnlos schwören, seinen Vater lieben und ehren, nicht töten, – dasheißt entsprechend der natürlichen Vernunft leben. Aber all sein Hab undGut aufgeben, die Armut lieben, sie die ganz holde Herrin nennen undsich ihr gegenüber auch so verhalten, Schmach und Schimpf, Verachtung,Verfolgung und Martyrium als Seligkeit und Glück ansehen, vollkomme-ne Keuschheit bewahren, – und schließlich inmitten der Welt und in die-sem sterblichen Dasein ein Leben ständigen Verzichtes, ständiger Entsa-gung und Selbstverleugnung führen, gegen alle Meinungen und Behaup-

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tungen der Welt und gegen den Strom schwimmen, – das heißt nicht mehrmenschlich, sondern übermenschlich leben, das ist nicht in uns leben,sondern außer uns und über uns. Da aber niemand so über sich selbsthinausgehen kann, wenn ihn nicht der ewige Vater zieht (Joh 6,44), somuß diese Art zu leben eine ständige Entrückung, eine fortwährende Ek-stase der Tat und des Wirkens sein.

5. „Ihr seid tot,“ sagt der große Apostel, „und euer Leben ist mit JesusChristus in Gott verborgen“ (Kol 3,3). Der Tod bewirkt, daß die Seele nichtmehr in ihrem Leib und dessen Bereich lebt. Was will also dieses Wort desApostels „Ihr seid tot“ sagen? Es ist, als ob er gesagt hätte: Ihr lebt nichtmehr in euch selbst und auch nicht innerhalb eurer natürlichen Lebensbe-dingungen; eure Seele lebt nicht mehr nach ihrer eigenen Weise, sondernauf eine Weise, die sie übersteigt.

Der Phönix ist darin Phönix, daß er sein eigenes Leben mit Hilfe derSonnenstrahlen (Plin. H. n. 10,2) vernichtet, um ein schöneres und kraft-volleres zu empfangen. Er verbirgt sozusagen sein Leben unter der Asche.Die Seidenraupen verändern ihr Wesen, aus Raupen werden sie Schmet-terlinge; die Bienen sind zuerst Würmchen, werden dann zu Nymphen,kriechen auf Füßen und schließlich werden sie fliegende Bienen. – Wirtun ebenso, Theotimus, wenn wir geistliche Menschen sind. Wir geben unsermenschliches Leben auf, um ein höheres Leben zu führen, ein Leben überuns selbst, indem wir dieses ganze neue Leben in Gott mit Jesus Christusverbergen, der es allein sieht, kennt und schenkt.

Unser neues Leben ist die göttliche Liebe, die unsere Seele belebt undbeseelt, und diese Liebe ist ganz verborgen in Gott und im Göttlichen mitJesus Christus. Wie die heiligen Schriften berichten (Mk 16,19; Lk 24,51;Apg 1,9), hat sich Jesus den Seinen wohl etwas gezeigt, als er in den Him-mel fuhr, aber dann umhüllte ihn eine Wolke, ergriff ihn und verbarg ihnvor ihren Augen. So ist denn Christus im Himmel, verborgen in Gott.

Jesus Christus ist aber unsere Liebe und unsere Liebe ist das Lebenunserer Seele. So ist unser Leben in Gott verborgen mit Jesus Christus.Und wenn Jesus Christus, der unsere Liebe und folglich unser geistlichesLeben ist, am Tag des Gerichtes erscheinen wird, dann werden auch wirmit ihm in Herrlichkeit erscheinen (Kol 3,4), d. h. Jesus Christus, unsereLiebe, wird uns verherrlichen, da er uns seine Seligkeit und Herrlichkeitmitteilen wird.

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7. KapitelWie die Liebe das Leben der Seele ist.Wie die Liebe das Leben der Seele ist.Wie die Liebe das Leben der Seele ist.Wie die Liebe das Leben der Seele ist.Wie die Liebe das Leben der Seele ist.

ForForForForFortsetzung der Ertsetzung der Ertsetzung der Ertsetzung der Ertsetzung der Erwägung über das ekstatische Leben.wägung über das ekstatische Leben.wägung über das ekstatische Leben.wägung über das ekstatische Leben.wägung über das ekstatische Leben.

1. Die Seele ist die erste Wirklichkeit und der Urgrund aller Lebensre-gungen des Menschen, und wie Aristoteles (An. 2,2) sagt, „der Urgrund,durch den wir leben, fühlen und verstehen“. – Daraus folgt, daß wir ausden Verschiedenheiten der Regungen auch die Verschiedenheiten des Le-bens erkennen. Tiere, die keine natürlichen Regungen haben, sind voll-ständig des Lebens beraubt.

So, Theotimus, ist auch die Liebe die erste Wirklichkeit und der Urgrundunseres frommen und geistlichen Lebens. Durch sie leben, empfinden underregen wir uns; unser geistliches Leben ist so, wie unsere Affektregungensind. Ein Herz ohne Regung und ohne Affekte hat keine Liebe. Dagegengibt es kein liebendes Herz, das ohne Affektregungen wäre.

Haben wir also unsere Liebe Jesus Christus geschenkt, dann haben wirdamit auch unser geistliches Leben in ihn hineingetragen. Er ist aber jetztin Gott im Himmel verborgen, so wie Gott in ihm verborgen war, als erauf Erden weilte. Daher ist unser Leben in ihm verborgen, und wenn er inHerrlichkeit erscheinen wird (Kol 3,3), dann wird auch unser Leben undunsere Liebe mit ihm in Gott erscheinen.

So sagte auch der hl. Ignatius nach dem Bericht des hl. Dionysius (Dediv. nom. 1,14) , daß seine Liebe gekreuzigt sei. Es ist, als wollte er sagen:Meine natürliche und menschliche Liebe ist mit allen Leidenschaften, dievon ihr abhängen, ans Kreuz genagelt. Ich habe sie getötet als eine sterbli-che Liebe, die mein Herz ein sterbliches Leben führen ließ. Und wie meinErlöser gekreuzigt wurde und seinem sterblichen Leben nach gestorbenist, um zum unsterblichen Leben zu erstehen, so bin auch ich mit ihm amKreuz gestorben, meiner natürlichen Liebe nach, die das sterbliche Lebenmeiner Seele war, um zum übernatürlichen Leben einer Liebe zu erstehen,die auch im Himmel gehegt werden kann, folglich unsterblich ist.

2. Sieht man also einen Menschen, der im Gebet entrückt ist, so daß erüber sich hinaustritt und sich zu Gott erhebt, aber kein ekstatisches, d. h.Gott hingegebenes, höheres Leben führt, seine weltlichen Lüste nicht über-windet, seine naturhaften Willensäußerungen und Neigungen nicht abtö-

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tet durch innerliche Güte, Einfachheit, Demut und besonders dauerndeLiebe, – glaube mir, Theotimus, dann sind diese Entrückungen sehr zwei-felhaft und gefährlich. Es sind Entrückungen, die bei den Menschen Be-wunderung hervorrufen können, aber nicht zur Heiligung führen.

Was mag es denn einer Seele nützen, in Gott durch das Gebet entrücktzu sein, wenn sie in ihrem Verhalten und Leben von irdischen, niedrigenund naturhaften Affekten mitgerissen wird? Über sich im Gebet und un-ter sich im Leben und Wirken, engelhaft in der Betrachtung und tierhaftim Verhalten sein, – das ist hin- und hertorkeln (1 Kön 18,21), das ist aufGott und auf Moloch schwören (Zef 1,5). Das ist mit einem Wort einsicheres Zeichen, daß solche Entrückungen und Ekstasen nur Blendwerkund Irreführung des bösen Feindes sind.

3. Selig jene, die ein übermenschliches, ekstatisches, über sich selbst erha-benes Leben führen, obgleich sie nicht im Gebet über sich selbst entrücktsind. Im Himmel gibt es viele Heilige, die niemals eine Beschauungseksta-se oder Entrückung hatten. Wie viele Märtyrer und große heilige Männerund Frauen sehen wir in der Geschichte, die in ihrem Gebet keinen ande-ren Vorzug hatten, als den der Frömmigkeit und des Eifers! Aber niemalshat es einen Heiligen gegeben, der nicht die Ekstase und Entrückung desLebens und Wirkens gehabt, der sich selbst und seine naturhaften Neigun-gen nicht überwunden hätte.

4. Wer sieht nicht, Theotimus, ich bitte dich, daß es gerade die Ekstasedes Lebens und Wirkens ist, von der der große Apostel vor allem spricht,wenn er sagt: „Ich lebe, aber nicht mehr ich, sondern Jesus Christus lebt inmir“ (Gal 2,20)? Er erklärt es noch mit anderen Worten den Römern,wenn er schreibt, daß „unser alter Mensch zusammen mit Jesus Christusgekreuzigt ist“ (Röm 6,4-11), daß wir mit ihm der Sünde abgestorben undmit ihm auferstanden sind, um „in einem neuen Leben zu wandeln undnicht mehr unter der Sünde geknechtet zu sein.“

Theotimus, in jedem von uns sind hier zwei Menschen dargestellt undfolglich auch zwei Leben, das eine des „alten Menschen“, ein altes Leben,wie man es vom altgewordenen Adler erzählt, der seine Schwingen nach-schleppt und sich nicht mehr zum Flug erheben kann, – und dann dasandere Leben des „neuen Menschen“ (Röm 6,6), auch ein neues Leben,wie das des Adlers, der sich seiner alten Schwingen entledigt und sie insMeer hinabgeschüttelt hat, neue empfangen und sich jetzt verjüngt mitneuer Kraft zum Höhenflug aufschwingt (Ps 103,5).

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Im ersten Leben leben wir gemäß dem „alten Menschen“, d. h. gemäßden Fehlern, Schwächen und Gebrechen, die wir uns durch die Sündeunseres ersten Vaters Adam zugezogen haben; folglich leben wir hingege-ben der Sünde Adams und unser Leben ist ein sterbliches, ja der Tod sel-ber.

Im zweiten Leben leben wir dem „neuen Menschen“ gemäß, d. h. nachden Gnaden, Gunsterweisen, Befehlen und Willensäußerungen unseresHeilands, und folglich hingegeben dem Heil und der Erlösung, – unddieses neue Leben ist ein lebendiges, lebenskräftiges und lebenspenden-des Leben.

Wer aber zu diesem neuen Leben gelangen will, muß durch den Tod desalten Lebens gehen, muß sein „Fleisch mit dessen Lüsten und Lasternkreuzigen“ (Gal 5,24) und es unter den Wassern der Taufe und Buße be-graben, gleich Naaman, der sein altes, beschmutztes und häßliches Lebenin den Fluten des Jordan ertränkte und begrub, um ein neues, reines undgesundes Leben zu leben. Man konnte von ihm sagen, daß er nicht mehrder alte, aussätzige, übelriechende, ekelerregende Naaman war, sondernein neuer, reiner, gesunder und angesehener Naaman, weil er dem Aussatzgestorben war und der Gesundheit und Reinheit lebte.

Wer immer zu diesem neuen Leben des Heilands auferstanden ist, lebtnicht mehr sich, in sich und für sich, sondern seinem Heiland, in seinemHeiland und für seinen Heiland. „Haltet euch,“ sagt der hl. Paulus, „fürsolche, die wirklich der Sünde gestorben sind und jetzt für Gott leben inJesus Christus, unserem Herrn“ (Röm 6.4-11).

8. Kapitel

Wunderbarer Aufruf des hl. Paulus zum ekstatischenWunderbarer Aufruf des hl. Paulus zum ekstatischenWunderbarer Aufruf des hl. Paulus zum ekstatischenWunderbarer Aufruf des hl. Paulus zum ekstatischenWunderbarer Aufruf des hl. Paulus zum ekstatischenund übermenschlichen Leben.und übermenschlichen Leben.und übermenschlichen Leben.und übermenschlichen Leben.und übermenschlichen Leben.

1. Schließlich führt der hl. Paulus den stärksten, eindringlichsten undschönsten Grund an, der, so scheint es mir, je vorgebracht wurde, um unszur Ekstase und Entrückung des Lebens und Wirkens zu bewegen.

Höre, Theotimus, ja ich bitte dich, sei aufmerksam und wäge die Kraftund Wirksamkeit der glühenden und himmlischen Worte dieses Apostels,der von der Liebe seines Meisters ganz ergriffen und hingerissen war: „Die

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Liebe Jesu Christi drängt uns“ (2 Kor 5,14). Er spricht von sich selber,dasselbe soll man aber von jedem von uns sagen.

Ja, Theotimus, nichts drängt das Herz des Menschen mehr als die Liebe.Wenn ein Mensch sich von irgendeinem Menschen geliebt weiß, danndrängt es ihn, diese Liebe zu erwidern. Wird aber ein gewöhnlicher Menschvon einem hohen Herrn geliebt, so fühlt er sich noch mehr zur Gegenliebegedrängt. Und wieviel stärker noch, wenn er ein großer Herrscher ist!

Nun aber, ich bitte dich, wissen wir, daß Jesus Christus der wahre ewige,allmächtige Gott, uns so sehr geliebt hat, daß er für uns den Tod, ja den Todam Kreuz (Phil 2,8) erleiden wollte. Mein lieber Theotimus, setzt dasnicht unsere Herzen unter einen mächtigen Druck? Zwingt und drängt siedies nicht, zu lieben mit einer Gewalt, die um so heftiger ist, je liebenswer-ter und ansprechender sie sich gibt?

2. Wie aber drängt uns der göttliche Liebende? – „Die Liebe Christi drängtuns,“ sagt der heilige Apostel, „wenn wir das erwägen.“ – Was heißt das:„Wenn wir das erwägen“? Es heißt, daß die Liebe des Heilands uns drängt,dann vor allem drängt, wenn wir diesen Glaubensentschluß erwägen, be-trachten, abwägen und aufmerksam durchdenken. – Aber welchen Glau-bensentschluß? Schau, ich bitte dich, Theotimus, wie er mit allem Ernstseine Gedanken in unsere Herzen hineinwirft und einprägt. „Wenn wirdies erwägen: Ist einer für alle gestorben, dann sind alle gestorben; undJesus Christus ist für alle gestorben“ (2 Kor 5,14). Es ist gewiß wahr, wennJesus Christus für alle gestorben ist, dann sind alle in der Person dieseseinzigen Erlösers gestorben, der für sie gestorben ist. Sein Tod muß ihnenangerechnet werden, da er für sie und im Hinblick auf sie erlitten wurde.

3. Was folgt aber daraus? Es scheint mir, als höre ich diese apostolischeStimme, gewaltig wie der Donner, wie sie den Ohren unserer Herzen zu-ruft: Es folgt daraus, o Christen, das Verlangen, das Jesus hatte, da er füruns starb. Das aber war sein Verlangen, wir sollen ihm gleichförmig wer-den, damit, wie der Apostel sagt, „jene, die leben, nicht mehr für sich leben,sondern für den, der für sie gestorben und auferstanden ist“.

Wahrhaftiger Gott, Theotimus, wie machtvoll ruft diese Folgerung zurLiebe auf!

Jesus Christus ist für uns gestorben. Er hat uns durch seinen Tod dasLeben geschenkt. Wir leben nur, weil er gestorben ist. Er ist für uns, unse-retwegen und in uns gestorben. Unser Leben ist also nicht mehr unser,

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sondern es gehört dem, der es uns durch seinen Tod erworben hat. Wirdürfen also nicht mehr uns leben, sondern wir müssen ihm leben, nichtmehr in uns, sondern in ihm, nicht mehr für uns, sondern für ihn.

4. Auf der Insel Sestos hatte (nach Plinius H. n. 10,5) ein Mädchen einenjungen Adler mit liebender Sorge aufgezogen, wie es Kinder zu tun pfle-gen. Der Adler wurde größer, begann zu fliegen und, seinem natürlichenInstinkt nach, Vögel zu jagen. Als er größer geworden war, stürzte er sichauf wilde Tiere und brachte immer treu seine Beute der jungen Herrin,gleichsam zum Dank für die Nahrung, die sie ihm früher gegeben. Nunstarb das Mädchen eines Tages, während der Adler auf der Jagd war, undsein Leichnam wurde, dem damaligen Landesbrauch gemäß, auf einenScheiterhaufen gelegt, um öffentlich verbrannt zu werden. Als aber dieFlammen ihn zu erfassen begannen, kam der Adler mit mächtigem Flügel-schlag herangeflogen und ließ, da er dieses unerwartete und traurige Schau-spiel sah, seine Beute fallen, warf sich voll Trauer auf seine geliebte Herrinund bedeckte sie mit seinen Schwingen, um sie vor dem Feuer zu schützenoder sie mitleidig zu umfangen. Er verharrte so standhaft und unbeweg-lich und starb mutig in den Flammen; die Glut seiner Liebe sollte denFlammen und Gluten des Feuers nicht nachstehen. So wurde er ein Opferseiner tapferen und wunderbaren Liebe, wie seine Herrin ein Opfer desTodes und der Flammen war.

O Theotimus, welch mächtigen Antrieb soll das Beispiel dieses Adlersunserer Liebe geben!

5. Der Heiland hat uns von unserer frühesten Jugend an genährt undgebildet. Er hat uns, einer liebenden Amme gleich, seit dem ersten Augen-blick unserer Empfängnis in die Arme seiner göttlichen Vorsehung ge-nommen: „Du hast meine Nieren gebildet, mich gewoben im Mutterleib“(Ps 119,73 nach dem Hebr). Durch die Taufe hat er uns zu den Seinengemacht, hat uns mit unvergleichlicher Liebe Nahrung für Herz und Leibgegeben, ist für uns gestorben, um uns das Leben zu erwerben, und hat unsmit seinem Fleisch und Blut genährt.

Was bleibt noch übrig? Welche Folgerungen haben wir zu ziehen, meinlieber Theotimus, als daß die, die leben, nicht mehr sich leben, sonderndem, der für sie gestorben ist, d. h. daß wir der göttlichen Liebe, die im Toddes Heilands aufleuchtet, alle Augenblicke unseres Lebens schenken, daß

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wir seiner Ehre all unsere Beute, alle unsere Eroberungen, Werke, Hand-lungen, unser Denken und Fühlen widmen.

Sieh ihn, Theotimus, diesen göttlichen Erlöser, wie er auf dem Kreuz,wie er auf seinem Ehrenlager ausgestreckt, aus Liebe zu uns stirbt, aberaus einer Liebe, die schmerzhafter ist als selbst der Tod, oder eines Todes,der liebevoller ist als selbst die Liebe.

Warum werfen wir uns nicht im Geiste auf ihn, um am Kreuz mit ihm zusterben, der aus Liebe zu uns in den Tod gehen wollte? „Ich halte ihn fest,“müßten wir sagen, hätten wir die Hochherzigkeit des Adlers, „und ichwerde ihn niemals lassen“ (Hld 3,4). Ich werde mit ihm sterben und in denFlammen seiner Liebe verbrennen; das gleiche Feuer soll diesen göttli-chen Schöpfer und sein schwaches Geschöpf verzehren. Mein Jesus „istganz mein und ich bin ganz sein“ (Hld 2,16), ich werde an seiner Brustleben und sterben und „weder Tod noch Leben werden mich von ihmtrennen“ (Röm 8,38 f).

So vollzieht sich die Ekstase wahrer Liebe, wenn wir nicht mehr denmenschlichen Beweggründen und Neigungen gemäß leben, sondern, überdiesen stehend, nach den Eingebungen und Antrieben des göttlichen Hei-lands unserer Seelen.

9. KapitelDie höchste Wirkung der Affektliebe: das Sterben der Liebenden.Die höchste Wirkung der Affektliebe: das Sterben der Liebenden.Die höchste Wirkung der Affektliebe: das Sterben der Liebenden.Die höchste Wirkung der Affektliebe: das Sterben der Liebenden.Die höchste Wirkung der Affektliebe: das Sterben der Liebenden.

Erstens: das Sterben in der Liebe.Erstens: das Sterben in der Liebe.Erstens: das Sterben in der Liebe.Erstens: das Sterben in der Liebe.Erstens: das Sterben in der Liebe.

1. Die Liebe ist stark wie der Tod (Hld 8,6). Der Tod trennt die Seele derSterbenden vom Leib und von allen Dingen der Welt. Auch die heiligeLiebe trennt die Seele der Liebenden von ihrem Leib und von allen Din-gen der Welt. Es gibt hier nur den einen Unterschied, daß der Tod diesimmer in Wirklichkeit tut, was bei der Liebe für gewöhnlich nur im Her-zen geschieht.

Ich sage, für gewöhnlich, denn zuweilen ist die heilige Liebe so heftig, daßsie die Trennung von Leib und Seele auch in Wirklichkeit verursacht, indemsie die Liebenden eines ganz seligen Todes sterben läßt, der wertvoller istals hundert Leben.

Wie es den Verworfenen eigen ist, in der Sünde zu sterben, so ist es auchden Auserwählten eigen, in der Liebe und Gnade Gottes zu sterben.

Dies geschieht aber auf verschiedene Weise.

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2. Der Gerechte stirbt niemals unvorhergesehen, denn in der christlichenGerechtigkeit bis zum Ende ausharren, heißt gewiß für seinen Tod vorsor-gen. – Wohl stirbt er zuweilen eines plötzlichen und raschen Todes; des-halb läßt uns die Kirche in ihrer Weisheit in den Litaneien nicht beten, daßwir vor einem plötzlichen Tod bewahrt werden, sondern vor einem plötz-lichen und unvorhergesehenen Tod. Wenn der Tod nur plötzlich ist, ist erdeshalb nicht schlimmer, wohl aber, wenn er auch unvorhergesehen kommt.

Hätten geistesschwache und unverständige Menschen das Himmelsfeu-er gesehen, das auf Simeon, den Säulensteher herabfiel und ihn tötete,welches Ärgernis hätten sie nicht daran genommen? Und doch darf mannichts anderes denken, als daß dieser große Heilige sich im Herzen schonganz vollkommen Gott aufgeopfert, schon ganz von Liebe verzehrt war,und das Feuer dann vom Himmel kam, um das Brandopfer zu vollendenund es ganz in Flammen aufgehen zu lassen. Denn der Abt Julian, der eineTagesreise von ihm entfernt war, sah seine Seele zum Himmel aufsteigenund ließ deshalb zur selben Stunde Weihrauch verbrennen, um Gott Dankzu sagen.

Der selige Homobonus von Cremona wohnte eines Tages der heiligenMesse kniend und mit größter Andacht bei. Als er beim Evangelium nichtaufstand, wie es Brauch ist, schauten seine Nachbarn zu ihm hin und sa-hen, daß er verschieden war.

Man hat in unseren Tagen Persönlichkeiten, die durch Wissen wie Tu-gend hervorragten, im Beichtstuhl oder beim Anhören einer Predigt totaufgefunden; einige sind sogar plötzlich gestorben, nachdem sie mit gro-ßem Eifer gepredigt hatten. Bei all diesen war der Tod wohl plötzlich, abernicht unvorhergesehen. Und wieviele gute Menschen sterben nicht plötz-lich an Herzschlag oder an anderen Krankheiten, andere wieder im Deli-rium, in geistiger Umnachtung oder im Irrsinn? All diese, wie auch dieKinder, die bald nach der Taufe sterben, sterben im Zustand der Gnadeund folglich in der Liebe Gottes.

3. Aber wie konnten sie in der Liebe zu Gott sterben, da sie doch bei ihremSterben gar nicht an Gott dachten? Die Gelehrten, Theotimus, verlierenihr Wissen nicht im Schlaf, sonst wären sie beim Erwachen unwissend undmüßten wieder in die Schule gehen. So ist es auch mit allen Tugenden:Klugheit, Maßhalten, Glaube, Hoffnung, Liebe; sie verbleiben immer imGeist der Gerechten, wenn sie auch nicht immer in Tätigkeit sind.

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Wenn ein Mensch schläft, scheint es, daß alle seine Eigenschaften mitihm schlafen, und daß sie dann mit ihm wieder aufwachen. Stirbt also eingerechter Mensch plötzlich durch den Zusammenbruch eines Hauses, er-schlägt ihn der Blitz, erstickt er an einem Katarrh oder entschläft er ineinem durch hohes Fieber verursachten Delirium, so stirbt er wohl nicht inder Tätigkeit, aber doch im Zustand der göttlichen Liebe. Deshalb sagtauch der Weise (Weish 4,7): „Der Gerechte, der vom Tod überrascht wird,wird in den Ort der Ruhe eingehen“; denn um das ewige Leben zu erlan-gen, genügt es, im Zustand und in der Tugend der Liebe zu sterben.

4. Mehrere Heilige sind allerdings nicht nur in der Liebe und geschmücktmit der Tugend der himmlischen Liebe, sondern auch in der Tätigkeit undAusübung dieser Liebe gestorben.

So starb der hl. Augustinus, als er einen Reueakt erweckte, der ja nichtohne Liebe ist; der hl. Hieronymus, während er seine lieben Kinder zurGottesliebe, Nächstenliebe und Tugendliebe aufmunterte; der hl. Ambro-sius, als er im innigen Gespräch mit seinem Heiland entrückt war, nach-dem er das heiligste Altarssakrament empfangen hatte; der hl. Antoniusvon Padua im freudigen Gespräch mit seinem Heiland, nachdem er einenHymnus zur glorreichen Jungfrau und Mutter gebetet hatte. Der hl. Tho-mas von Aquin starb, die Hände gefaltet, die Augen zum Himmel erho-ben, wobei er aus tiefer Seele die Worte des Hoheliedes sprach, die letzten,die er erklärt hatte: „Komm, o Vielgeliebter, gehen wir gemeinsam hinausauf die Felder!“ (Hld 7,11).

Alle Apostel und fast alle Märtyrer sind betend gestorben. Der seligeund ehrwürdige Beda hatte durch eine Offenbarung die Stunde seines Hin-scheidens erfahren. Er ging zur Vesper (es war am Fest Christi Himmel-fahrt) und beschloß sein Leben aufrecht stehend, nur auf die Armlehnenseines Sitzes gestützt, ohne krank zu sein, im selben Augenblick, da eraufhörte, die Vesper, die Abendpsalmen zu singen. Es war, als wollte erseinem Meister bei dessen Himmelfahrt folgen, um sich im Himmel amschönen Morgen der Ewigkeit zu erfreuen, die keinen Abend kennt.

Johannes Gerson, Kanzler der Pariser Universität, war ein so gelehrterund frommer Mann, daß, wie Sixtus von Siena sagte, man bei ihm nichtsagen kann, ob sein Wissen tiefer als seine Frömmigkeit war oder seineFrömmigkeit tiefer als sein Wissen. Drei Tage nachdem er die Eigenschaf-ten der göttlichen Liebe erklärt hatte, die im Hohelied genannt sind, starb

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er mit frohem Antlitz und freudigem Herzen, die oft wiederholten Wortedes Hoheliedes auf den Lippen: „O Gott, Deine Liebe ist stark wie derTod“ (Hld 8,6).

Der hl. Martin starb, wie jedermann weiß, in so tiefer Andacht versunken,daß sich jedes Wort erübrigt.

Der hl. Ludwig, dieser große König unter den Heiligen und große Heili-ge unter den Königen, war von der Pest befallen. Er hörte nicht auf zubeten und starb nach Empfang der Wegzehrung, die Arme ausgebreitetwie am Kreuz, die Augen zum Himmel gerichtet, mit tiefer Sehnsuchtdiese Worte vollkommenen, liebevollen Vertrauens betend: „O Herr, ichwerde in Dein Haus eintreten, Dich in Deinem heiligen Tempel anbetenund Deinen Namen lobpreisen“ (Ps 5,8; 138,2).

Der hl. Petrus Coelestinus, der Unsagbares erduldet hatte, sang am Endeseiner Tage, gleich einem heiligen Schwan, den letzten der Psalmen undbeendigte Lied und Leben mit den liebeglühenden Worten: „Alles, wasOdem hat, lobe den Herrn!“ (Ps 150,6).

So starben auch die hl. Eusebia, die Fremde benannt, auf den Knien, ineifriges Gebet versunken, der hl. Petrus der Märtyrer, indem er mit eige-nem Finger und Blut das Bekenntnis seines Glaubens niederschrieb, fürden er starb und betete: „Herr, in Deine Hände empfehle ich meinenGeist“ (Ps 31,6; Lk 23,46), und der große Apostel der Japaner, FranzXaver, indem er das Kreuz in Händen hielt, es küßte und wiederholt sei-nen Geist zu Gott erhob mit den Worten: „O Jesus, Gott meines Her-zens!“ (Ps 73,26).

10. KapitelDas Sterben aus Liebe und um der göttlichen Liebe willen.Das Sterben aus Liebe und um der göttlichen Liebe willen.Das Sterben aus Liebe und um der göttlichen Liebe willen.Das Sterben aus Liebe und um der göttlichen Liebe willen.Das Sterben aus Liebe und um der göttlichen Liebe willen.

1. Alle Märtyrer, Theotimus, starben um der göttlichen Liebe willen. Dennwenn man sagt, daß viele für den Glauben gestorben sind, so darf man diesnicht so verstehen, als wären sie für den toten Glauben gestorben (Jak2,17.26). Sie sind vielmehr für den lebendigen Glauben gestorben, der durchdie Liebe belebt ist (Gal 5,6). Daher ist auch das Bekennen des Glaubensnicht so sehr ein Akt des Verstandes und des Glaubens, als ein Akt desWillens und der Gottesliebe. Der große hl. Petrus hat wohl am Tag desLeidens Christi in seiner Seele den Glauben bewahrt, aber trotzdem die

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Liebe verloren, da er sich mit dem Mund nicht zu seinem Meister bekann-te, den er doch in seinem Herzen als solchen anerkannte.

2. Es hat aber trotzdem auch Märtyrer gegeben, die ausdrücklich alleinum der Liebe willen gestorben sind. So der große Vorläufer des Heilands,der wegen der brüderlichen Zurechtweisung des Herodes den Märtyrer-tod erlitt (Mt 14,4; Mk 6,18), und die glorreichen Apostelfürsten Petrusund Paulus, die starben, weil sie die Frauen zur Heiligkeit und Reinheitbekehrten, die der schamlose Nero verführt hatte (Baronius Ann. zumJahre 69). Auch die heiligen Bischöfe Stanislaus und Thomas von Canter-bury wurden aus einem Grund getötet, der nicht den Glauben, sondern dieLiebe betraf. Schließlich erlitt eine große Anzahl von Jungfrauen und Mär-tyrerinnen den Tod wegen ihres Eifers, die Keuschheit zu bewahren, diesie dem göttlichen Bräutigam aus Liebe gelobt hatten.

3. Aber unter diesen Liebenden gibt es solche, die sich so unbedingt denTätigkeiten der heiligen Liebe hingeben, daß dieses Feuer sie verbrennt undihr Leben verzehrt.

Menschen, die großen Kummer tragen, können oft solange nicht mehressen, trinken und schlafen, bis sie schließlich an Schwäche und Entkräf-tung sterben. Man sagt dann gewöhnlich, daß der Kummer sie getötet habe.Das ist aber nicht wahr; sondern diese Menschen sterben, weil ihre Kräftenachgelassen haben und geschwunden sind. Ursache davon war allerdingsder Kummer. Wenngleich er sie nicht getötet hat, wird man sagen müssen,daß sie doch wegen des Kummers und an dem Kummer gestorben sind.

So ist es auch, mein lieber Theotimus, mit der heiligen Liebe. Hat sieihre Glut gesteigert, so bestürmt sie mit solcher Wucht das Herz, verwun-det es so häufig, erfüllt es mit solcher Sehnsucht, läßt es dauernd förmlichzerschmelzen und in so häufige Ekstasen und Entrückungen geraten, daßdadurch die Seele, fast nur mit Gott beschäftigt, der leiblichen Natur dennötigen Beistand zur Erhaltung und ausreichenden Ernährung versagt.Die körperlichen Lebenskräfte nehmen dann nach und nach ab, das Lebenwird verkürzt und der Tod tritt ein.

O Gott, Theotimus, wie selig ist ein solcher Tod! Wie beglückend dieserliebende Pfeil, der uns die unheilbare Wunde heiliger Liebe zufügt, derunser Herz so heftig schlagen läßt, daß wir für immer krank werden, da-hinsiechen und schließlich sterben müssen.

Um wieviel, glaubst du wohl, sind die Tage der Heiligen abgekürzt wor-den durch diese heilige Sehnsucht und alle Leiden, die sie um der Liebe

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willen ertragen haben, – die Tage heiliger Liebender, wie der hl. Katharinavon Siena, des hl. Franz von Assisi, des kleinen hl. Stanislaus Kostka, deshl. Karl und so vieler Heiligen, die so jung gestorben sind?

Der hl. Franz erlitt, nachdem er die Wundmale seines Meisters empfan-gen, so heftige und qualvolle Schmerzen, Krämpfe und Krankheiten, daßer nur mehr Haut und Knochen war, kaum mehr als ein Skelett, eher einBild des Todes als ein lebender und noch atmender Mensch.

11. KapitelEinige Gottliebende, die an der Liebe starben.Einige Gottliebende, die an der Liebe starben.Einige Gottliebende, die an der Liebe starben.Einige Gottliebende, die an der Liebe starben.Einige Gottliebende, die an der Liebe starben.

1. Alle Auserwählten also, Theotimus, starben im Zustand der heiligenLiebe; einige starben außerdem in der Ausübung dieser Liebe, andere umdieser Liebe willen, andere durch die gleiche Liebe.

Zur höchsten Stufe der Liebe aber gehört es, daß einige an der Liebesterben. Das geschieht dann, wenn die Liebe nicht nur das Herz so sehrverletzt, daß es dahinsiecht, sondern wenn sie es durch einen Stich in dieHerzmitte mit solcher Wucht durchbohrt, daß die Seele aus dem Körpergestoßen wird.

Das geht so vor sich: Die Seele wird von den göttlichen Wonnen ihresVielgeliebten mächtig angelockt. Um nun ihrerseits diesen seligen Lok-kungen zu entsprechen, wirft sie sich mit aller Kraft, und soviel sie nurkann, diesem so begehrenswerten, so anziehenden Freund entgegen. Dasie aber ihren Leib nicht nachziehen kann, so verläßt sie ihn und trenntsich eher von ihm, als mit ihm in den Armseligkeiten dieses Lebens stek-ken zu bleiben. Sie fliegt allein, einer schönen Taube gleich, in den beseli-genden Schoß ihres himmlischen Bräutigams. Sie eilt zu ihrem Vielge-liebten hin und ihr Vielgeliebter zieht und reißt sie an sich.

Und wie der Bräutigam Vater und Mutter verläßt, um mit seiner Brauteins zu werden (Gen 2,24), so verläßt auch diese keusche Braut ihr sterb-liches Fleisch, um sich mit ihrem Vielgeliebten zu vereinigen.

2. Das ist aber die heftigste Wirkung, die die Liebe in einer Seele hervor-bringt. Sie fordert, daß sich zuerst das Herz von allen Anhänglichkeitenentblößt, die es an die Welt oder an den Leib ketten können. Das Feuertrennt nach und nach das Wesen der Dinge von seiner Masse, reinigt es undholt schließlich das Innerste seines Wesens heraus. So wirkt auch die hei-lige Liebe. Hat sie das menschliche Herz seinen Launen, Neigungen und

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Leidenschaften entzogen, soweit es möglich ist, so holt sie schließlich dieSeele heim, damit sie durch diesen in den Augen Gottes kostbaren Tod (Ps116,15) in die unsterbliche Herrlichkeit eingehe.

3. Der große hl. Franziskus, der mir in allem, was die heilige Liebe be-trifft, stets vor Augen steht, konnte dem Tod durch die Liebe nicht entge-hen; hatte doch die Liebe zu Gott ihm mit einer Unmenge von schwerenGebrechen, Ekstasen und Schwächeanfällen zugesetzt. Außerdem wollteGott, der ihn als Wunder der Liebe den Blicken aller Welt preisgegebenhatte, daß er nicht nur der Liebe wegen, sondern an der Liebe sterbensollte.

Betrachte doch, ich bitte dich, Theotimus, sein Sterben. Da er die Stun-de seines Hinscheidens kommen sah, ließ er sich entblößt auf den Bodenlegen. Er empfing darauf einen Habit als Almosen, ließ sich damit beklei-den und redete dann mit Eifer auf seine Brüder ein, um sie zur Gotteslie-be, zur Gottesfurcht und zur Hingabe an die Kirche anzufeuern. Dann ließer sich die Leidensgeschichte des Heilands vorlesen und begann mit äu-ßerster Glut den Psalm 142 zu beten: „Mit meiner Stimme rief ich zumHerrn, flehend erhob ich meine Stimme zum Herrn.“ Da er die letztenWorte des Psalms aussprach: „O Herr, hole meine Seele aus dem Kerker,damit ich Deinen heiligen Namen preisen könne; die Gerechten harrenmein, daß Du mir vergeltest,“ starb er im 45. Jahr seines Lebens.

Wer sieht nicht, ich bitte dich Theotimus, daß dieser serafische Mann,der sich so nach dem Martyrium, nach dem Tod um der Liebe willengesehnt hatte, schließlich an der Liebe starb, wie ich es anderswo erklärthabe (V/10).

4. Die hl. Magdalena hatte 30 Jahre in einer Grotte zugebracht, die manheute noch in der Provence sehen kann. Siebenmal des Tages wurde sieentrückt, wie wenn sie die sieben kirchlichen Horen hätte singen wollen.Eines Tages kam sie in die Kirche; dort fand sie ihr Bischof, der hl. Maxi-min, in Beschauung versunken, die Augen voller Tränen, die Arme hoch-erhoben. Er reichte ihr die heilige Kommunion und sie gab gleich daraufihren Geist auf, der nun auf ewig „zu Füßen“ ihres Heilands, im Genußdes „besseren Teiles“ blieb, den sie schon in ihrem Leben „erwählt“ hatte(Lk 10,39-42).

Der hl. Basilius war in enger Freundschaft mit einem großen Arzt ver-bunden, der Jude war, der Nation und Religion nach. Er hoffte ihn für denGlauben an unseren Herrn zu gewinnen, was ihm aber nicht gelang, bis er,

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von Fasten, Nachtwachen und Leiden gebrochen, dem Tod nahe war. Erfragte dann den Arzt über seinen Gesundheitszustand und beschwor ihn,ihm die ganze Wahrheit zu sagen. Der Arzt fühlte seinen Puls und sagte:„Ihnen ist nicht mehr zu helfen. Sie werden noch vor Sonnenuntergangsterben.“ Darauf der Kranke: „Was werden Sie dazu sagen, wenn ich mor-gen noch am Leben bin?“ Der Arzt antwortete: ,,Dann verspreche ichIhnen, ein Christ zu werden.“ – Der Heilige betete also zu Gott und erbatsich die Verlängerung seines leiblichen Lebens zugunsten des geistlichenLebens seines Arztes. Dieser bekehrte sich tatsächlich auf das Wunderhin. Der Heilige stand mutig auf, ging zur Kirche und taufte ihn und seineganze Familie. Darauf kehrte er in sein Zimmer zurück, legte sich nieder,besprach sich noch lange mit unserem Herrn im Gebet und ermahnte alleAnwesenden, Gott von ganzem Herzen zu dienen. Schließlich sah er dieEngel zu sich kommen und sagte mit großer Liebe die Worte: „Mein Gott,ich befehle Dir meine Seele und lege sie in Deine Hände“ (Ps 31,6; Lk23,46); dann starb er. Der Arzt aber, den er bekehrt hatte, umarmte ihnweinend und sagte: „Großer Basilius, Diener Gottes, hättest du es gewollt,so wärest du heute ebensowenig gestorben wie gestern“ (Pseudo-Amphi-loch. Leben des hl. Bas.). – Wer sieht nicht, daß dieser Heilige an der Liebestarb?

Auch die selige Theresia von Jesus offenbarte nach ihrem Tod, daß sie aneinem heftigen Ansturm der Liebe gestorben sei, der so gewaltig war, daßdie Natur ihm kaum Widerstand leisten konnte und die Seele zu demhinzog, dem sie ihre ganze Liebe geschenkt hatte.

12. KapitelWunderbare Geschichte eines Edelmannes,Wunderbare Geschichte eines Edelmannes,Wunderbare Geschichte eines Edelmannes,Wunderbare Geschichte eines Edelmannes,Wunderbare Geschichte eines Edelmannes,

der auf dem Ölberg an der Liebe starb.der auf dem Ölberg an der Liebe starb.der auf dem Ölberg an der Liebe starb.der auf dem Ölberg an der Liebe starb.der auf dem Ölberg an der Liebe starb.

Zu dem bisher Berichteten möchte ich noch eine Geschichte hinzu-fügen, die zwar wundersam ist, doch heilig liebenden Seelen nicht wenigerglaubwürdig erscheint. Der Apostel sagt ja (1 Kor 13,7): „Die Liebe glaubtgern alles,“ d. h. sie kommt nicht leicht auf den Gedanken, daß man lüge.Wenn nicht offenbare Anzeichen der Unrichtigkeit dessen, was erzähltwird, vorliegen, so glaubt sie ohne Schwierigkeit, besonders wenn es Din-ge sind, die Gottes Liebe zu den Menschen oder die Liebe der Menschenzu Gott verherrlichen und preisen. Denn die Liebe als Königin und Herr-

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scherin im Reich der Tugenden hat nach Art der Fürsten Wohlgefallen anallem, was ihrem Reich Herrlichkeit verleiht.

Die Geschichte, die ich nun erzählen will, ist weder so bekannt, noch istsie so bezeugt, als es die Größe des in ihr berichteten Wunders verdiente;sie ist aber deswegen nicht weniger wahr. Der hl. Augustinus sagt ja ganzrichtig: Man weiß von den Wundern, die sich ereigneten, kaum etwas anden Orten, wo sie geschahen, so auffallend sie auch waren; und wenn auchdie Augenzeugen sie bestätigen, so bringt man ihnen nur schwer Glaubenentgegen. Deswegen hören sie aber nicht auf, wahr zu sein. In Dingen desreligiösen Lebens kann man sagen, daß gutgeartete Seelen immer freudi-ger Dinge für wahr halten, je schwieriger sie zu glauben und je wunderba-rer sie sind.

Ein ebenso berühmter wie tugendhafter Edelmann unternahm eines Ta-ges eine Seefahrt nach Palästina, um die heiligen Orte zu besuchen, andenen der Herr das Werk unserer Erlösung vollbracht hatte. Um dieseheilige Übung gut zu beginnen, empfing er vorher voll Andacht die heili-gen Sakramente der Buße und des Altares.

Dann begab er sich nach Nazaret, wo der Engel der heiligsten Jungfraudie Menschwerdung Gottes verkündet und sich die anbetungswürdigeEmpfängnis des ewigen Wortes vollzogen hatte. Er vertiefte sich in denAbgrund göttlicher Güte, die sich gewürdigt hatte, menschliche Naturanzunehmen, um die Menschen dem Verderben zu entreißen.

Von dort zog er nach Betlehem, dem Ort der Geburt, und weinte, da erder Tränen gedachte, die der Sohn Gottes als kleines Kind der Jungfrauhier vergossen hatte. Er küßte immer wieder die Erde, die Zeuge der ers-ten Augenblicke des göttlichen Kindes gewesen war.

Von Betlehem reiste er nach Bet-Araba und dann bis zum kleinen Flek-ken Betanien. Hier legte er seine Kleider ab, da der Herr es auch getanhatte, um getauft zu werden. Dann stieg er in den Jordan, wusch sich indessen Wassern und trank davon. Es schien ihm dabei, als sähe er denHeiland aus der Hand seines Vorläufers die Taufe empfangen, den Heili-gen Geist sichtbar über ihn herabkommen und den Himmel offen stehen.Es war ihm, als hörte er die Stimme des ewigen Vaters: „Dieser ist meinvielgeliebter Sohn, an dem ich mein Wohlgefallen habe.“

Von Betanien wanderte er dann in die Wüste, sah dort mit den Augendes Geistes den Heiland im heiligen Fasten, im Kampf und Sieg über denFeind und dann, wie die Engel ihn mit wunderbarer Speise bedienten (Mt3,16-4,11).

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Von da ging er zum Tabor, den verklärten Heiland zu sehen, dann zumBerge Zion, wo es ihm vorkam, als kniete der Herr immer noch im Abend-mahlssaal, um seinen Jüngern die Füße zu waschen, und als reichte erihnen seinen heiligen Leib zur Speise. Er überschritt dann den Bach Kid-ron und trat in den Garten Getsemani ein. Da verging sein Herz in Tränenaus Liebesleid, als er sich seinen Erlöser blutschwitzend und in entsetzli-cher Todesangst vorstellte, um bald darauf gebunden und gefesselt nachJerusalem geführt zu werden.

Auch dorthin folgte er ihm und ging überall den Spuren des Vielgeliebtennach. Er sah ihn vor sich, wie er da- und dorthin geschleppt wurde, zuHannas, Kajaphas, Pilatus, Herodes, wie er gepeitscht, geohrfeigt, ange-spien, mit Dornen gekrönt, vor das Volk hingestellt, zum Tod verurteilt,mit dem Kreuz beladen wurde. Er sah ihn, wie er das Kreuz trug und dabeiseiner von Schmerz gebeugten Mutter und den über ihn weinenden Frauenbegegnete.

Schließlich stieg der fromme Pilger den Kalvarienberg hinan. Er sahdort im Geiste das auf der Erde liegende Kreuz, er sah den Herrn in seinerEntblößung, er sah, wie man ihn auf das Kreuz hinwarf und seine Händeund Füße grausam annagelte, wie man das Kreuz mit dem Gekreuzigten indie Höhe hob und das Blut aus allen Wunden seines Leibes herabrieselte.Er schaute auf die allerseligste Jungfrau, jetzt in tiefster Trauer versunken,ganz durchbohrt vom Schwert des Leidens (Lk 2,35). Dann wandte er sichwieder dem gekreuzigten Heiland zu, hörte mit unvergleichlicher Liebeseine letzten sieben Worte und sah ihn schließlich sterben. Er sah dannnoch im Geist den Lanzenstich, das durch die Wunde geöffnete Herz Jesu,seine Kreuzabnahme und Grablegung. Er folgte ihm dorthin und vergoßviele Tränen an den Plätzen, die vom Blut des Heilands durchtränkt wa-ren. Dann trat er in das Grab ein und begrub sein Herz neben dem Leich-nam seines göttlichen Meisters.

Mit ihm stand er dann von den Toten auf, ging mit ihm nach Emmausund war Zeuge von all dem, was sich zwischen dem Herrn und den zweiJüngern zutrug. Endlich kam er wieder auf den Ölberg zurück, wo dasGeheimnis der Himmelfahrt stattgefunden hatte. Beim Anblick der letz-ten Fußspuren des göttlichen Heilands warf er sich nieder und küßte sieungezählte Male mit unendlicher Liebe.

So wie ein Bogenschütze die Sehne seines Bogens an sich heranzieht,wenn er einen Pfeil abschießen will, so ballte er alle Kräfte seiner Liebe insich zusammen, stand auf, hob Augen und Hände zum Himmel empor

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und betete: „O Jesus, mein gütiger Jesus, ich weiß nicht, wo ich Dich nochweiter auf Erden suchen soll, um Dir nachzufolgen. Ach Jesus, meineLiebe, gewähre doch diesem Herzen, daß es Dir da hinauf folge!“ – Mitdiesen Worten schleuderte er förmlich seine Seele in den Himmel, gleicheinem Pfeil, den er als ein von Gott bestellter Bogenschütze mitten in seinseliges Ziel abschoß.

Seine Gefährten und Diener eilten erschreckt zum Arzt, als sie ihn soplötzlich tot hinfallen sahen. Dieser stellte tatsächlich seinen Tod fest. Ererkundigte sich, um ein richtiges Urteil über die Ursachen dieses plötzli-chen Todes fällen zu können, nach seiner Verfassung, seinen Gewohnhei-ten und seiner Gemütsart. Da man ihm erklärte, er sei von Natur aus sanft,liebenswürdig, äußerst fromm und von einer glühenden Liebe zu Gotterfüllt gewesen, erwiderte der Arzt, daß zweifellos sein Herz am Übermaßund an der Glut seiner Liebe gebrochen sei. Zur Bekräftigung dieses Ur-teils ließ er den Leichnam öffnen und fand tatsächlich dieses tapfere Herzoffen und darin die Worte eingeprägt: „Jesus, meine Liebe!“ – So hat alsodie Liebe hier das Werk des Todes vollbracht und ohne Mitwirken eineranderen Ursache die Seele vom Leib getrennt. Der hl. Bernhardin vonSiena, ein hochgelehrter und heiliger Schriftsteller, erzählt diese Geschichtein seiner ersten Predigt über die Himmelfahrt.

Ein anderer Schriftsteller, beinahe aus derselben Zeit, der seinen Na-men aus Demut verschwiegen hat, obwohl er es verdiente, bekannt zu sein,hat in einem Buch, das den Titel „Spiegel des geistlichen Lebens“ führt,eine noch wunderbarere Geschichte niedergeschrieben. Er erzählte, daßes in der Provence einen Mann gegeben habe, der der Liebe zu Gott undder Andacht zum allerheiligsten Sakrament in besonderer Weise hingege-ben war. Eines Tages wurde er von einer Krankheit befallen, die ständigesErbrechen verursachte. Man brachte ihm die heilige Kommunion, die eraber wegen der Gefahr des Erbrechens nicht zu empfangen wagte. Er batnun den Pfarrer, sie ihm wenigstens auf die Brust zu legen und ihn damitzu segnen. Das geschah auch und im selben Augenblick öffnete sich dievon der Liebe entflammte Brust und nahm die himmlische Speise, die jader Vielgeliebte war, in sich auf und zu gleicher Zeit verschied der Kran-ke.

Ich weiß wohl, daß diese Geschichte ganz außerordentlich ist und einZeugnis von größerem Gewicht erforderte. Aber nach der gewiß wahrenTatsache des Spaltes im Herzen der hl. Klara von Montefalcone, den jeder-

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mann jetzt noch sehen kann, und der Wundmale des hl. Franz, die auchganz sicher sind, finde ich es nicht schwer, an solche Wirkungen der gött-lichen Liebe zu glauben.

13. KapitelDie allerseligste Jungfrau und Mutter GottesDie allerseligste Jungfrau und Mutter GottesDie allerseligste Jungfrau und Mutter GottesDie allerseligste Jungfrau und Mutter GottesDie allerseligste Jungfrau und Mutter Gottes

starb an der Liebe zu ihrem Sohn.starb an der Liebe zu ihrem Sohn.starb an der Liebe zu ihrem Sohn.starb an der Liebe zu ihrem Sohn.starb an der Liebe zu ihrem Sohn.

1. Man kann kaum daran zweifeln, daß der große hl. Josef vor dem Lei-den und Sterben des Heilands verschieden ist, sonst hätte wohl Jesus seineMutter nicht dem hl. Johannes anvertraut.

Wie kann man sich vorstellen, daß Josef in seiner Todesstunde nicht denBeistand seines Herzenskindes, seines vielgeliebten Pflegesohnes gehabthätte? – Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeiterlangen (Mt 5,7). Wie war dieser gute Nährvater gütig, liebevoll und barm-herzig gegen den Heiland, da er als kleines Kind zur Welt kam! Wer möch-te denn annehmen, daß sein geistlicher Sohn ihm, als er aus der Weltschied, nicht das Hundertfache zurückerstattete, indem er ihn mit himm-lischen Freuden überhäufte?

Die Störche versinnbilden gut die gegenseitige Liebe von Eltern undKindern. Da sie Wandervögel sind, tragen sie auf ihrem Flug die altenEltern, so wie sie, als sie klein waren, auf dem Flug von den Eltern getra-gen wurden. – Als der Heiland noch ein Kindlein war, hatten der große hl.Josef, sein Nährvater, und die glorreiche Jungfrau Maria, seine Mutter,ihn oft getragen und besonders auf der Reise von Judäa nach Ägypten undvon Ägypten nach Judäa. Wer möchte daran zweifeln, daß dieser heiligeVater am Ende seiner Erdentage seinerseits von seinem göttlichen Pflege-sohn auf der Reise von dieser Welt in die andere, in den Schoß Abrahamsgetragen wurde, – und schließlich in seinen eigenen Schoß, in die Herr-lichkeit, am Tag seiner Himmelfahrt?

Ein Heiliger, der in seinem Leben so viel geliebt hatte, konnte nur an derLiebe sterben. Seine Seele, die inmitten der Zerstreuungen dieses Lebensihren lieben Jesus nicht nach Wunsch lieben konnte, die jetzt ihren amzarten Kind notwendigen Dienst vollendet hatte, was vermochte sie nunanderes, als dem ewigen Vater zu sagen: „Vater, ich habe das Werk voll-bracht, das Du mir aufgetragen“ (s. Joh 17,4), – und dem Sohn: „MeinKind, wie Dein himmlischer Vater Deinen Leib in meine Hände legte, als

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Du zur Welt kamst, so lege ich jetzt meinen Geist in die Deinen (Ps 31,6;Lk 23,46), am Tag meines Hinscheidens aus dieser Welt.“

So stelle ich mir den Tod dieses großen Patriarchen vor, dieses Mannes,der auserkoren war, dem Sohn Gottes die zärtlichsten und liebevollstenDienste zu erweisen, die ihm je geleistet wurden oder noch in Zukunftgeleistet werden.

2. Ich nehme natürlich seine himmlische Braut, die wahre, wirkliche Mut-ter dieses göttlichen Sohnes aus. Es ist ganz unmöglich zu denken, daß sieeines anderen Todes als des Liebestodes gestorben sei. Ist es doch der edel-ste Tod und folglich auch der Tod, der dem edelsten aller Geschöpfe ziem-te, der Tod, den selbst die Engel zu sterben wünschten, wenn sie des Todesfähig wären.

Von den ersten Christen wurde gesagt, daß sie nur ein Herz und eine Seelewaren (Apg 4,32), weil sie eine vollkommene Liebe zueinander hegten. –Der hl. Paulus lebte nicht mehr selbst, sondern Jesus Christus lebte in ihm(Gal 2,20), so sehr war sein Herz mit dem seines Meisters verbunden.Seine Seele war in seinem Herzen, das sie belebte, wie gestorben, um imHerzen des Heilands zu leben, den sie liebte.

Aber, o wahrhaftiger Gott, um wieviel mehr ist es wahr, daß die allerse-ligste Jungfrau und ihr Sohn nur eine Seele, ein Herz und ein Leben hatten,so daß diese heilige Mutter nicht mehr selber lebte, sondern ihr Sohn in ihr.Liebendste und geliebteste Mutter, die es je geben könnte, aber liebendund geliebt mit einer Liebe, die unvergleichlich höher ist, als die allerEngel und Menschen, wie ja auch die Namen der einzigen Mutter und deseinzigen Sohnes im Reich der Liebe Namen sind über alle Namen.

3. Ich sage: der einzigen Mutter und des einzigen Sohnes, weil ja alleanderen Kinder ihre Geburt Vater und Mutter verdanken, aber bei diesemKind die irdische Geburt von seiner Mutter allein abhing. Sie allein trugdas bei, dessen die Kraft des Heiligen Geistes für die Empfängnis diesesgöttlichen Kindes bedurfte. Darum gebührte ihr allein und wurde ihr al-lein alle Liebe zuteil, die ihren Urgrund in dieser Geburt hatte.

Dieser Sohn und diese Mutter waren eins durch eine Verbundenheit, dieumso erhabener war, als sie im Reich der Liebe einen von den anderen soverschiedenen Namen hat, daß er alle anderen Namen überragt. Dennwelchem aller Serafim steht es zu, dem Erlöser zu sagen: „Du bist meinwirklicher Sohn und ich liebe Dich als meinen wirklichen Sohn“? Und

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welchem aller Geschöpfe wurde je vom Heiland gesagt: „Du bist meinewirkliche Mutter und ich liebe dich als meine wirkliche Mutter. Du bistmeine wirkliche Mutter, ganz mein, und ich dein wirklicher Sohn ganzdein“?

4. Wenn ein Diener, der seinen Herrn liebte, es wagte zu sagen, und auchganz wahrhaftig sagte, daß er kein anderes Leben habe, als das seines Mei-sters (Gal 2,20), wie konnte dann nicht seine Mutter kühn und heiß lie-bend ausrufen: „Ich habe kein anderes Leben als das meines Sohnes; meinLeben ist ganz in seinem und seines ist ganz in meinem.“ Denn zwischendieser Mutter und diesem Sohn bestand nicht mehr nur eine Vereinigungder Herzen, sondern eine Herzens-, Seelen- und Lebenseinheit.

5. Lebte aber diese Mutter vom Leben ihres Sohnes, so starb sie auch amTod ihres Sohnes, denn wie das Leben, so der Tod.

Man sagt vom Phönix (s. Plin. H. n. 10. 2) , daß er, alt geworden, aufeiner Bergeshöhe viel aromatisches Holz zusammenträgt und auf diesemwie auf einem Ehrenbett seine Lebenstage vollendet. Wenn die Sonne amhöchsten Zenit steht und ihre brennendsten Strahlen wirft, fügt dieser ein-zigartige Vogel zur Sonnenglut noch eine eigene Tätigkeit hinzu: er schlägtmit den Flügeln so lang auf die Scheiter, bis sie Feuer fangen und er mitihnen, so daß er von diesen duftenden Flammen verzehrt wird und inihnen stirbt.

Theotimus, so hatte auch die Jungfrau Maria in ihrem Geist, dank ei-nem ganz lebendigen und beharrlichen Gedächtnis, die ergreifendstenGeheimnisse des Lebens und Sterbens ihres Sohnes zusammengetragen.Sie nahm dabei auch immer die glühenden Eingebungen in sich auf, dieihr Sohn, Sonne der Gerechtigkeit (Mal 4,2) , gleich senkrechten Strahlenam Zenit seiner Liebe, auf die Menschen warf, und sie selbst hielt durchdie Beschauung ihren Geist in ständiger Bewegung. So verzehrte sieschließlich das heilige Feuer dieser göttlichen Liebe zur Gänze, als einBrandopfer voll himmlischer Süße. Sie starb daran, da ihre Seele in denArmen der Liebe ihres Sohnes entrückt und entführt wurde. – O liebevolllebendiger Tod, o lebensvoll tödliche Liebe!

Beim Tod des Heilands waren einige heilige Liebende gegenwärtig; un-ter ihnen litten die am meisten, die am stärksten liebten. Ihre Liebe warganz durchtränkt von Leid und ihr Leid von Liebe; und alle, die den Hei-land leidenschaftlich liebten, waren von der Liebe zu seinem Leiden undSchmerz ergriffen. Aber die liebe Mutter, die inniger als alle liebte, war

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auch mehr als alle durchbohrt vom Schwert der Schmerzen. Das Leid desSohnes war ein schneidendes Schwert, das mitten durch das Herz der Mutterdrang. Ihr Herz war so verbunden, vereinigt und eins mit ihrem Sohn, daßnichts das eine verletzen konnte, ohne das andere aufs schmerzlichste zutreffen. Dieses mütterliche Herz, so wund aus Liebe, suchte nicht nur kei-ne Heilung ihrer Wunde, sondern liebte diese mehr als jede Heilung undbewahrte mit Liebe die schmerzlichen Schläge, die sie empfangen wegender Liebe. die sie ihrem Herzen versetzt hatte. Und immer sehnte sie sich,daran zu sterben, da ja ihr Sohn daran gestorben war, – ihr Sohn, der nachden Worten der Heiligen Schrift und aller Kirchenlehrer in den Flammender Liebe starb als vollendetes Schlachtopfer für die Sünden der Welt.

14. KapitelDie glorreiche Jungfrau starb eines sanfDie glorreiche Jungfrau starb eines sanfDie glorreiche Jungfrau starb eines sanfDie glorreiche Jungfrau starb eines sanfDie glorreiche Jungfrau starb eines sanften und friedlichen Tten und friedlichen Tten und friedlichen Tten und friedlichen Tten und friedlichen Todes.odes.odes.odes.odes.

1. Man sagt einerseits, Unsere liebe Frau habe der hl. Mechtildis (Buchvon der bes. Gnade, 26) geoffenbart, daß die Krankheit, an der sie gestor-ben, nichts anderes als ein heftiger Ansturm der göttlichen Liebe gewesensei. Andererseits bezeugen aber die hl. Birgitta (Off. 6,62) und der hl.Johannes Damascenus (Hom. vom Tod der Jungfrau Maria) , daß sie einesäußerst friedlichen Todes gestorben sei. Das eine wie das andere ist wahr,Theotimus.

2. Die Sterne sind wunderschön anzusehen, sie strahlen eine angenehmeHelle aus; hast du sie aber genauer betrachtet, so wirst du gemerkt haben,daß sie diese Strahlen durch Glitzern, Funkeln und Aufflammen hervor-bringen, wie wenn sie das Licht mühevoll in wiederholten Anstrengungengebären. Vielleicht kommt das daher, daß ihr Licht wegen seiner Schwä-che nicht ständig und gleichmäßig ausstrahlen kann, vielleicht auch daher,daß unsere Augen zu schwach sind und die Entfernung der Sterne zu großist, um sie ständig und gleichmäßig sehen zu können.

So erfuhren auch die Heiligen, die den Liebestod starben, eine großeMannigfaltigkeit von Liebesanfällen und Liebesleiden, bevor es zu ihremHinscheiden kam: Häufiges Aufflammen der Liebe und Liebesanstürme,häufige Ekstasen, viel Liebessiechtum, viele Todeskämpfe, wie wenn ihreLiebe diesen seligen Tod nur angestrengt und in wiederholten Mühen ge-bären sollte. Ursache war die Schwäche ihrer Liebe, die noch nicht ganz

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vollkommen war, ihr Werk nicht mit gleichmäßiger Festigkeit vollbrin-gen konnte.

3. Ganz anders war es bei der seligsten Jungfrau.Ein schöner Morgen wird nicht stoßweise heller, sondern er breitet sich

gleichsam aus durch ein kaum merkbares ständiges Wachsen der Klarheit.Man sieht wohl, wie es allmählich heller wird, aber man merkt keineUnterbrechung, kein Stehenbleiben, kein Aufhören dieses Wachsens.

So nahm auch die göttliche Liebe im jungfräulichen Herzen unsererglorreichen Frau jeden Augenblick zu; aber es war ein mildes, friedliches,ständiges Wachsen, ohne Aufregung, ohne Erschütterung, ohne irgendeineHeftigkeit. O nein, Theotimus, man darf in die himmlische Liebe desmütterlichen Herzens der Jungfrau keine stürmische Aufregung hinein-legen. Die Liebe ist ja von sich aus mild, lieblich, friedlich und ruhig. Wennsie zuweilen Stürme verursacht, wenn sie den Geist erschüttert, so ist es,weil sie auf Widerstand stößt. Wenn ihr aber die Durchgänge der Seeleoffen stehen, wenn sie keinen Widerstand und keine Gegnerschaft findet,dann schreitet sie friedlich voran, mit unvergleichlicher Milde. So äußerteauch die heilige Liebe im jungfräulichen Herzen der heiligen Mutter ihreKraft ohne Anstrengung, ohne gewalttätige Heftigkeit, da sie ja keinenWiderstand und keinerlei Hindernis vorfand.

Große Ströme rauschen tosend durch Strudel und Wirbel an holprigenStellen, wenn Felsbänke und Blöcke in die Strömung hineinragen und denLauf des Flusses behindern; in der Ebene fließen sie dagegen ruhig undmühelos dahin.

So ist es auch mit der Liebe. Stößt sie in den menschlichen Seelen aufHemmungen und Widerstände, wie es in Wirklichkeit bei allen, wennauch verschiedenartig der Fall ist, so greift sie zur Gewalt, bekämpft diebösen Neigungen, pocht an das Herz und drängt den Willen, indem sie ihnin verschiedener Weise aufrüttelt und anspornt. So sucht sie sich Raum zuschaffen oder wenigstens über die Hindernisse hinwegzukommen.

4. Aber in der heiligen Jungfrau begünstigte und förderte alles das Strö-men der heiligen Liebe. Ihr Fortschreiten und Wachstum in der Liebe warunvergleichlich größer als in jedem anderen Geschöpf, zugleich aber trotz-dem unendlich mild, friedlich und ruhig. Nein, sie fiel weder aus Liebenoch aus Mitleid beim Kreuz ihres Sohnes in Ohnmacht, obgleich sie denglühendsten und leidvollsten Ansturm der Liebe durch-litt, den man sich

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vorstellen kann. Obwohl er den höchsten Grad erreichte, war er dochgleich kraftvoll und sanft, gewaltig und ruhig, tatkräftig und friedlich, vonschmerzlicher Glut und doch mild.

Ich will damit nicht sagen, Theotimus, daß es in der Seele der hochhei-ligen Jungfrau nicht zwei verschiedene Bereiche und folglich auch einzweifaches Begehren gegeben hat, das eine nach dem Geist und der höhe-ren Vernunft, das andere nach den Sinnen und der niederen Vernunft. Siekonnte den Widerstand und Widerstreit des einen gegen den anderen emp-finden. Das war sogar bei unserem Herrn, ihrem Sohn, der Fall.

Ich behaupte aber, daß bei dieser himmlischen Mutter alle Affekte sowohlgeordnet waren, daß die himmlische Liebe ihre Herrschaft und Be-fehlsgewalt ganz friedlich ausüben konnte, ohne durch die Verschieden-heit der Willensbestrebungen und des Begehrens und ohne durch das Wi-derstreben der Sinne gestört zu werden. Denn die Widerstände des natür-lichen Begehrens und die Regungen der Sinne gingen nie bis zur Sünde,nicht einmal bis zur läßlichen Sünde. Im Gegenteil, all das wurde aufheilige und treue Weise im Dienst der heiligen Liebe zur Übung der ande-ren Tugenden verwendet, die meistens nur inmitten von Schwierigkeiten,Widerständen und Widersprüchen geübt werden können.

5. Die Dornen sind nach allgemeiner Ansicht nicht nur verschieden vonden Blumen, sondern ihnen entgegengesetzt. Es scheint, als stünde es bes-ser, gäbe es deren keine in der Welt. Der hl. Ambrosius hat daher auchgemeint (Hex. 3,11), daß sie ohne die Sünde nicht da wären. Da sie abernun da sind, macht sie sich der Bauer nutzbar, indem er sie zur Umzäu-nung der Felder und junger Bäume verwendet, damit sie so zum Schutzund zur Abwehr gegen die Tiere dienen.

So hatte die glorreiche Jungfrau wohl Anteil an allen menschlichen Arm-seligkeiten, jene ausgenommen, die unmittelbar auf die Sünde hinzielen.Die gebrauchte sie aber in nützlicher Weise zur Übung und zum Wachs-tum der heiligen Tugenden der Stärke, Mäßigkeit, Gerechtigkeit, Klug-heit, Demut, Geduld und des Mitleidens. So bildeten sie kein Hindernis fürdie heilige Liebe, sondern viele Gelegenheiten, sie durch ständige Übungenund Fortschritte zu verstärken. Bei ihr läßt sich Magdalena nicht von derAufmerksamkeit ablenken, mit der sie die liebevollen Eindrücke auf-nimmt, die der Heiland in ihr hervorruft, – trotz allen Eifers und Umsor-gens, die Marta aufweisen kann. Sie hat die Liebe ihres Sohnes gewählt (Lk10,42), und nichts kann sie ihr rauben.

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6. Ein Magnet zieht, wie jedermann weiß, das Eisen durch eine geheim-nisvolle, wunderbare Kraft an sich. Es gibt aber doch fünf Dinge, die dieseWirkung behindern: 1. die zu große Entfernung, die zwischen ihnen liegt,2. die Anwesenheit eines Diamanten zwischen ihnen, 3. wenn das Eiseneingefettet ist, 4. wenn es mit Knoblauch eingerieben ist, 5. wenn das Eisenzu schwer ist.

Unser Herz ist für Gott geschaffen, der es ständig an sich lockt und nichtaufhört, in das Herz die Reize seiner himmlischen Liebe zu werfen. FünfDinge aber gibt es, die diese Reize hindern, sich auszuwirken: 1. die Sünde,die uns von Gott entfernt, 2. die Liebe zum Reichtum, 3. die sinnlichenGelüste, 4. Stolz und Eitelkeit, 5. die Eigenliebe mit den ungezähltenLeidenschaften, die sie hervorbringt und die eine uns niederdrückende,schwere Last sind. Keines dieser Hindernisse fand sich aber im Herzender glorreichen Jungfrau. 1. Sie war von jeder Sünde bewahrt, 2. jederzeitarm von Herzen, 3. immer ganz rein, 4. immer ganz demütig, 5. immerfriedliche Herrscherin über alle Leidenschaften und ganz frei von jedemAufruhr der Eigenliebe gegen die Gottesliebe.

Wären alle Hindernisse und sogar die Schwere weg, so würde Eisenzwar kräftig, aber auch ruhig und gleichmäßig vom Magnet angezogen,und diese Anziehungskraft würde um so tatkräftiger und stärker, je nähersie einander wären und je mehr die Bewegung des Eisens ihrem Ziel zu-ginge.

7. So hatte auch die heiligste Mutter nichts an sich, was die Wirkung dergöttlichen Liebe ihres Sohnes behindert hätte. Sie vereinte sich daher mitihm in einer unvergleichlichen Einheit durch Ekstasen, die ganz sanft,friedlich und mühelos waren. Es war ein Entrücktsein, in dem der sinnen-hafte Teil der Seele seine Tätigkeit fortsetzte, ohne dabei die Geistesein-heit im geringsten zu stören, wie auch die vollkommene Gottzugewandtheitihres Geistes keine große Ablenkung der Sinne verursachte.

Daher war auch der Tod dieser Jungfrau sanfter, als man es sich denkenkann. Ihr Sohn zog sie mild durch den Wohlgeruch seiner Düfte (Hld 1,3)an sich und sie verströmte sich ganz liebevoll, diesen heiligen Wohlgerü-chen folgend, in den Schoß der Güte ihres Sohnes.

Und obwohl diese heilige Seele ihren ganz heiligen, ganz reinen, ganzliebenswerten Leib überaus liebte, so verließ sie ihn doch ohne ir-gendwelche Mühe und ohne Widerstand, wie die keusche Judit ihre Trau-er und Witwenschaft zwar sehr liebte, sie aber trotzdem gern ablegte, um

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sich mit ihrem Hochzeitsgewand zu bekleiden, als sie fortging, Holofer-nes zu besiegen (Jdt 10,2), oder wie Jonatan, als er aus Liebe zu David seinGewand ablegte (1 Sam 18,4).

Die Liebe hatte dieser göttlichen Braut beim Kreuz das schrecklichsteTodesleid verursacht; so war es gewiß vernünftig, daß endlich der Tod ihrdie höchsten Wonnen der Liebe schenkte.

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ACHTES BUCHACHTES BUCHACHTES BUCHACHTES BUCHACHTES BUCH

Über die Liebe der Gleichförmigkeit, durch die wir

unseren Willen mit dem geoffenbarten göttlichen

Willen vereinigen, der uns durch Gebote, Räte und

Einsprechungen gezeigt wird.

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1. KapitelDie Liebe der Gleichförmigkeit, die demDie Liebe der Gleichförmigkeit, die demDie Liebe der Gleichförmigkeit, die demDie Liebe der Gleichförmigkeit, die demDie Liebe der Gleichförmigkeit, die dem

heiligen Wheiligen Wheiligen Wheiligen Wheiligen Wohlgefallen entspringt.ohlgefallen entspringt.ohlgefallen entspringt.ohlgefallen entspringt.ohlgefallen entspringt.

1. Die „gute Erde“, die das Samenkorn aufgenommen, gibt es zu seinerZeit hundertfach zurück. So kann auch das Herz, das an Gott Wohlgefallengefunden, nicht umhin, Gott auch Wohlgefallen bereiten zu wollen. Keinergefällt uns, dem nicht auch wir zu gefallen wünschen. Kühler Wein er-frischt zunächst den, der ihn trinkt. Aber sobald er vom Magen aufgenom-men und dort erwärmt wurde, erwärmt er ihn wieder, und je mehr ihm derMagen Wärme mitteilt, desto mehr Wärme gibt er ihm zurück. EchteLiebe ist nie undankbar; sie trachtet denen zu gefallen, an denen sie Gefal-len findet.

Das ist die Quelle der Gleichförmigkeit Liebender. Sie gestaltet uns zudem um, was wir lieben. Der fromme und weise Salomo wurde ein Götzen-diener und Narr, als er heidnische und närrische Frauen liebte; so vieleGötzen seine Frauen hatten, so viele hatte auch er (1 Kön 11,4-8). DieHeilige Schrift nennt daher weibisch die Männer (Jes 3,4), die das Weibseines Geschlechtes wegen zügellos lieben, weil die Liebe diese Männerim Handeln und Empfinden zu Weibern macht.

Diese Umwandlung geschieht unmerklich durch das Wohlgefallen. So-bald dieses in unser Herz eingezogen ist, gebiert es ein anderes, um esjenem zu geben, von dem wir es empfangen haben. – Man sagt, daß es inIndien ein kleines Landtier gibt, dem Fische und Meer so gefallen, daß esdurch häufiges Schwimmen mit den Fischen schließlich selber ein Fischwird und sich so aus einem Landtier in ein Seetier umwandelt (Almeyda,Brief aus Japan im Jahre 1566).

2. So wird man auch durch das Gefallen an Gott ihm gleichförmig. UnserWille wandelt sich in den der göttlichen Majestät um durch das Wohlge-fallen, das wir an ihm finden.

Die Liebe, sagt der hl. Chrysostomus (eigentlich Hieronymus zu Micha7,5), findet Ähnlichkeit vor oder schafft sie. Das Beispiel derer, die wirlieben, übt über uns eine sanfte und unwahrnehmbare Herrschaft, eineunmerkliche Autorität aus. Wir sind genötigt, sie entweder zu verlassenoder sie nachzuahmen.

Wer durch den Duft angelockt in einen Parfümladen geht, zieht selbstden Wohlgeruch an, während er sich dessen erfreut. Wenn er dann den

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Laden verläßt, strömt er selbst wieder den Duft aus, dessen er sich erfreute,und erfreut damit auch die anderen.

3. Mit der Freude, die unser Herz an dem hat, was es liebt, nimmt es auchdessen Eigenschaften an, denn die Freude öffnet weit das Herz, währenddie Traurigkeit es verschließt; – weswegen die Heilige Schrift oft das Wort„weit werden“ für „sich freuen“ gebraucht. Ist aber das Herz durch dieFreude weit offen, so dringen Eindrücke von Eigenschaften, an denen manFreude empfindet, leicht in das Herz ein. Mit ihnen aber auch andereEigenschaften des geliebten Wesens, wenn sie uns auch mißfallen. Im Ge-dränge der Freudeempfindungen kommen auch sie herein, gleich dem,der ohne hochzeitliches Gewand unter den festlich Gekleideten zum Gast-mahl kam.

So gefielen sich die Schüler des Aristoteles darin zu stottern, wie er estat, und die Schüler Platons, in Nachahmung ihres Meisters mit gebeug-tem Rücken zu gehen. Plutarch erzählt von einem Weib, dessen Phantasieund Gedankenwelt so für alle Wollust empfänglich gewesen sei, daß esdurch den bloßen Anblick des Bildes eines Mohren ein schwarzes Kindvon einem weißen Vater zur Welt brachte (Plt. de aud. poem); die Ge-schichte der Schafe Jakobs bestätigt ja auch diese Tatsache (Gen 30,37-41).

Kurzum, die Freude, die man an einem Gegenstand hat, ist wie ein Quar-tiermeister, der das liebende Herz zum Quartier aller Eigenschaften des-sen macht, was ihm gefällt.

4. Deshalb bildet uns auch das heilige Wohlgefallen in Gott um, den wirlieben; und je größer es ist, desto vollkommener ist die Umwandlung. DieHeiligen, die so innig geliebt haben, wurden deshalb auch so rasch undvollkommen umgebildet, da die Liebe die Sitten und Gesinnungen einesHerzens in das andere überträgt und verpflanzt.

Es ist eigenartig aber doch wahr: Wenn zwei gleichgestimmte Lautennebeneinander sind und man auf der einen spielt, ohne die andere zu be-rühren, so wird die andere mit dieser mitklingen, auf der man spielt. Da sieeinander angepaßt sind, bringt dies eine solche Übereinstimmung hervor,wie wenn sie eine natürliche Liebe zueinander hegten.

Es widerstrebt uns, solche nachzuahmen, die wir hassen, – auch in Din-gen, die an sich gut sind. Die Lakedemonier wollten den guten Rat einesschlechten Menschen erst dann befolgen, wenn ein guter Mensch ihn wie-derholt hatte (Plut. Apopht.). Dagegen kann man nicht umhin, sich demanzugleichen, was man liebt.

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5. Der große Apostel sagt wohl in diesem Sinn, daß das Gesetz nicht fürdie Gerechten aufgestellt ist (1 Tim 1,9), denn der Gerechte ist nur ge-recht, weil er die heilige Liebe besitzt. Hat er aber die Liebe, so braucht ernicht von der Strenge des Gesetzes gedrängt zu werden, denn die Liebebelehrt und mahnt wohl am wirksamsten das Herz, um es zu überzeugen,daß es dem Willen und Wunsch des Geliebten gehorsam entgegenkomme.Die Liebe ist eine Obrigkeit, die ihre Macht ohne Lärm, ohne Aufseher undPolizisten ausübt. Sie übt sie aus durch gegenseitiges Wohlgefallen. Wirhaben Gefallen an Gott, deshalb wünschen wir auch, Gott zu gefallen.

6. Die Liebe ist der Inbegriff der gesamten Theologie. Sie spendete heiligeGelehrsamkeit der Unwissenheit eines Paulus, Antonius, Simeon, Fran-ziskus, ohne Bücher, ohne Lehrer, ohne Kunst. Kraft dieser Liebe kanndie Vielgeliebte mit aller Gewißheit sagen: „Mein Vielgeliebter ist ganzmein durch das Wohlgefallen, wodurch er mir gefällt und mich erquickt.Und ich bin ganz sein durch die Liebe des Wohlwollens, wodurch ich ihmgefalle und ihn erquicke. Mein Herz findet seine Weide daran, an ihm seinGefallen zu haben, und das seine weidet sich daran, daß ich ihm seinetwe-gen gefalle. Gleich einem heiligen Hirten führt er mich auf die Weide alssein liebes Schäflein, inmitten der Lilien seiner Vollkommenheiten, andenen ich mein Gefallen habe. Und ich wiederum, als sein liebes Schäf-lein, erquicke ihn mit der Milch meiner Liebesaffekte, durch die ich ihmzu gefallen suche“ (Hld 2,16; 6,2 nach dem Griech. und Hebr.).

Wer immer wahrhaft an Gott sein Gefallen findet, sehnt sich danach, inaller Treue Gott zu gefallen und sich ihm ganz gleichzuformen, um ihm zugefallen.

2. Kapitel

GleichförmigkGleichförmigkGleichförmigkGleichförmigkGleichförmigkeit in der Untereit in der Untereit in der Untereit in der Untereit in der Unterwerwerwerwerwerfung, die aus derfung, die aus derfung, die aus derfung, die aus derfung, die aus derLiebe des WLiebe des WLiebe des WLiebe des WLiebe des Wohlwollens herohlwollens herohlwollens herohlwollens herohlwollens hervorgeht.vorgeht.vorgeht.vorgeht.vorgeht.

1. Das Wohlgefallen zieht also die einzelnen Züge der göttlichen Voll-kommenheiten in unsere Seelen hinein, soweit wir fähig sind, sie aufzu-nehmen. Es ist so wie mit dem Spiegel, der das Bild der Sonne nicht ent-sprechend der Herrlichkeit und Größe dieser gewaltigen und wunderba-ren Leuchte auffängt, sondern entsprechend der Aufnahmefähigkeit und

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dem Ausmaß seiner Fläche. Auf diese Weise werden auch wir Gott gleich-förmig.

Außerdem aber verleiht uns die Liebe des Wohlwollens diese heiligeGleichförmigkeit noch auf einem anderen Weg. Die Liebe des Wohl-gefallens zieht Gott in unsere Herzen hinein, die Liebe des Wohlwollensaber wirft unsere Herzen in Gott hinein, und damit auch all unser Tun undEmpfinden. Sie gibt es ihm hin und weiht es ihm mit inniger Liebe. DieLiebe des Wohlwollens wünscht ja Gott alle Ehre, alle Herrlichkeit, allenur mögliche Anerkennung, als ein gewisses äußerliches Gut, das seinerGüte gebührt.

2. Entsprechend dem Wohlgefallen, das wir an Gott haben, wirkt sichnun dieser Wunsch auf folgende Weise aus:

Wir haben ein ganz großes Wohlgefallen daran zu sehen, daß Gott über-aus gut ist. Deshalb wünschen wir mit der Liebe des Wohlwollens, daß alleLiebe, die wir uns vorstellen können, dafür eingesetzt werde, diese Güteinnig zu lieben.

Wir haben an der erhabenen Herrlichkeit göttlicher Vollkommenheitgroßes Gefallen gefunden, weshalb wir auch wünschen, daß er über allesgepriesen, geehrt und angebetet werde.

Wir empfinden eine hohe Freude zu erwägen, wie Gott nicht nur dererste Ursprung, sondern auch das letzte Ziel aller Dinge ist, ihr Urheber,Erhalter und Herr. Aus diesem Grund wünschen wir auch, daß ihm allesdurch einen unbedingten Gehorsam unterworfen sei.

Wir sehen Gottes Willen, wie er überaus vollkommen, gerade, gerechtund unbefangen ist. Aus dieser Erwägung heraus sehnen wir uns danach,daß er die höchste Regel, das höchste Gesetz aller Dinge sei und daß jederandere Wille ihm folge, diene und gehorche.

3. Beachte aber, Theotimus, daß ich hier nicht vom Gehorsam spreche,den man Gott schuldet, weil er unser Herr und Meister, unser Vater undWohltäter ist. Dieser Gehorsam gehört ja zur Tugend der Gerechtigkeitund nicht zur Liebe. Nein, davon sprechen wir jetzt nicht. Denn wenn esauch keine Hölle zur Bestrafung der Rebellen gäbe und auch kein Para-dies zur Belohnung der Guten und wenn wir auch keine Art von Schuldig-keit und Pflicht Gott gegenüber hätten (was unmöglich und fast undenk-bar ist), so würde uns doch die Liebe des Wohlwollens antreiben, in jederHinsicht Gott unseren Gehorsam und unsere Unterwerfung ganz frei undgern zu leisten. Ja, sie würde uns in Anbetracht der erhabenen Güte, Ge-

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rechtigkeit und Geradheit seines göttlichen Willens förmlich mit milder,liebevoller Gewalt dazu drängen.

4. Sehen wir nicht, Theotimus, wie junge Mädchen in freier Wahl, ausder Liebe des Wohlwollens heraus, sich Gatten unterwerfen, gegen die siekeine Verpflichtung haben, oder Edelleute sich in den Dienst fremderFürsten stellen, oder ihren Willen in die Hand irgend eines Ordensoberenlegen und sich ihm unterwerfen?

Die Gleichförmigkeit unseres Herzens mit dem Herzen Gottes wirdalso in der Weise erlangt, daß das heilige Wohlwollen alle unsere Emp-findungen in die Hände des göttlichen Willens legt, damit sie durch ihn nachseinem Belieben zurechtgebogen und umgebildet, nach seinem Wohlge-fallen gestaltet und geformt werden.

Und darin besteht der ganz tiefe Liebesgehorsam, der es nicht nötig hat,durch Drohungen oder Belohnungen, durch Gesetze oder Vorschriftenangefeuert zu werden. Er kommt all dem zuvor, er unterwirft sich ja Gottnur um der ganz vollkommenen Güte willen, die in ihm ist. Ihretwegenverdient es Gott, daß jeder Wille ihm gehorche, ihm untertan und ergebensei, daß jeder Wille mit seinen göttlichen Absichten immer und überallund in allem gleichförmig und eins werde.

3. KapitelUnsere Pflicht, dem göttlichen Willen, den man denUnsere Pflicht, dem göttlichen Willen, den man denUnsere Pflicht, dem göttlichen Willen, den man denUnsere Pflicht, dem göttlichen Willen, den man denUnsere Pflicht, dem göttlichen Willen, den man den

geoffenbargeoffenbargeoffenbargeoffenbargeoffenbarten nennt, gleichförmig zu werden.ten nennt, gleichförmig zu werden.ten nennt, gleichförmig zu werden.ten nennt, gleichförmig zu werden.ten nennt, gleichförmig zu werden.

1. Wir betrachten zuweilen den Willen Gottes in sich selbst. Wir sehen,daß er ganz heilig und ganz gut ist; es ist uns also leicht, ihn zu loben, zupreisen, anzubeten und unseren Willen mit dem der anderen Geschöpfeseinem Gehorsam durch den göttlichen Ausruf zu weihen: Dein Willegeschehe wie im Himmel so auch auf Erden (Mt 6,10).

Andere Male betrachten wir den Willen Gottes in seinen besonderen Wir-kungen, wie in den Ereignissen, die uns berühren, in den Vorfällen, die unsbegegnen, und endlich in der Kundmachung und Offenbarung seiner Ab-sichten.

Und obwohl seine göttliche Majestät nur einen einzigen und ganz einfa-chen Willen hat, so bezeichnen wir ihn doch mit verschiedenen Namennach der Verschiedenheit der Mittel, durch die wir ihn erkennen, – derzufolge wir auch in verschiedener Weise verpflichtet sind, ihm gleichför-mig zu werden.

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2. Die christliche Lehre stellt uns die Wahrheiten klar vor Augen, vondenen Gott will, daß wir sie glauben, die Güter, von denen er will, daß wirsie erhoffen, die Strafen, von denen er will, daß wir sie fürchten sollen. Sieoffenbart uns Gottes Willen über das, was wir lieben, über die Gebote, diewir halten sollen, über die Räte, deren Befolgung er wünscht. Alles dasheißt der „ausgesprochene Wille Gottes“, weil er seinen Willen ausge-sprochen und weil er geoffenbart hat, daß das alles geglaubt, gehofft, ge-fürchtet, geliebt und getan werden soll.

3. Dieser ausgesprochene Wille Gottes ist ein Verlangen, nicht ein abso-luter Wille, daher können wir ihn aus Gehorsam erfüllen oder ihm aus Unge-horsam widerstehen. Gott bringt sozusagen drei Akte seines Willens indieser Hinsicht hervor: er will, daß wir widerstehen können, er verlangt,daß wir nicht widerstehen, läßt es aber zu, daß wir widerstehen, wenn wires wollen.

Daß wir widerstehen können, ist eine Folge unserer natürlichen Be-schaffenheit und Freiheit; wenn wir widerstehen, so ist dies eine Folgeunserer Schlechtigkeit; widerstehen wir aber nicht, dann handeln wir nachdem Verlangen der göttlichen Güte.

Wenn wir also seinem göttlichen Willen Widerstand leisten, so trägtGott nichts zu unserem Ungehorsam bei, er überläßt es nur unserem Wil-len, daß er sich frei entscheide (Sir 15,14), und läßt es zu, daß er dasSchlechte wähle. Gehorchen wir aber, so trägt Gott durch seine Hilfe,seine Eingebung und Gnade dazu bei. Die Zulassung ist ein Willensakt,der seiner Natur nach unfruchtbar, steril, ergebnislos ist, sozusagen einepassive Handlung, die nichts tut, sondern nur tun läßt; das Verlangen istdagegen eine aktive, wirksame und fruchtbare Handlung, die aufmuntert,anspornt und drängt.

4. Da aber Gott verlangt, daß wir seinem geoffenbarten Willen folgen, sotreibt er uns dazu an, mahnt uns, muntert uns auf, regt uns dazu an, hilftund unterstützt uns. Läßt er aber zu, daß wir ihm Widerstand leisten, somacht er nichts anderes, als uns einfach tun zu lassen, was wir nach unsererfreien Wahl wollen, entgegen seinem Verlangen und seiner Absicht.

Und doch ist dieses Verlangen ein echtes Verlangen. Denn wie kannjemand seinen Willen, einen Freund gut zu bewirten, deutlicher aus-drücken, als wenn er wie der König in der Parabel ein gutes und aus-gezeichnetes Festmahl bereitet (Mt 22,2-10; Lk 14,16-23), ihn dazu ein-lädt und durch Bitten, Mahnen und Auffordern drängt und fast zwingt zu

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kommen, sich an den Tisch zu setzen und zu essen? Gewiß würde einer,der seinem Freund mit Gewalt den Mund öffnen, die Speisen hineinstop-fen und ihn zwingen würde, sie hinunterzuschlingen, ihm nicht eine festli-che Freude bereiten, sondern ihn wie ein Tier, wie einen Kapaun behan-deln, den man mästen will. Solche Wohltat muß man durch Zureden, Auf-munterung und Bitten anbieten, sie darf nicht gewaltsam aufgezwungenwerden. Darum wird sie auch in Form eines Verlangens, nicht eines abso-luten Willens mitgeteilt.

5. So ist es auch mit dem geoffenbarten Willen Gottes. Durch diesenverlangt Gott, und zwar mit einem echten Verlangen, daß wir das tun, waser uns sagt; er gibt uns alles dazu, was wir brauchen, mahnt und drängt uns,dies auch zu verwenden. Bei solchem Liebeserweis kann man doch nichtmehr wünschen. Die Sonnenstrahlen bleiben echte Strahlen, auch wennsie durch ein Hindernis aufgehalten und zurückgeworfen werden. So bleibtauch der geoffenbarte Wille Gottes ein echter Gotteswille, auch wennman ihm Widerstand leistet, obwohl er nicht so viele Wirkungen hervor-bringt, als wenn man ihm folgte.

Die Gleichförmigkeit unseres Herzens mit Gottes geoffenbartem Willenbesteht also darin, daß wir das alles wollen, was die göttliche Güte als ihreAbsicht offenbart, daß wir glauben, was sie lehrt, erhoffen, was sie ver-spricht, fürchten, was sie androht, lieben und tun, was sie befiehlt undverlangt.

6. Darauf zielen die feierlichen Beteuerungen hin, die wir so oft bei denkirchlichen Zeremonien abgeben. Das ist der Grund, warum wir bei derLesung des Evangeliums stehen; wir erklären damit unsere Bereitschaft,der im heiligen Evangelium enthaltenen heiligen Offenbarung göttlichenWillens zu gehorchen. Das ist auch der Grund, warum wir das Meßbuchan der Stelle des Evangeliums küssen, wir wollen das heilige Wort anbe-ten, das uns den himmlischen Willen offenbart. Das war auch der Grund,warum mehrere heilige Männer und Frauen in früheren Zeiten das ge-schriebene Evangelium als Zeugnis ihrer Liebe auf der Brust trugen, wiewir es von der hl. Cäcilia lesen. So fand man nach dem Tod des hl. Barna-bas das mit eigener Hand geschriebene Evangelium nach Matthäus aufseinem Herzen.

Daher stellte man auch bei den ersten Konzilien inmitten der Versamm-lung der Bischöfe einen großen Thron auf und legte darauf das heiligeBuch der Evangelien, das die Person des Erlösers darstellen sollte, desKönigs, Lehrers, Leiters, des Geistes und einzigen Herzens der Konzilien

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und der ganzen Kirche. So sehr ehrte man die Offenbarung des göttlichenWillens, die in diesem Buch Ausdruck findet.

Der große Spiegel des geistlichen Hirtenamtes, der heilige ErzbischofKarl von Mailand, studierte die Heilige Schrift nie anders als auf denKnien und mit entblößtem Haupt, um so die Ehrfurcht zu bezeugen, mitder Gottes geoffenbartes Wort angehört und gelesen werden soll.

4. KapitelDie Gleichförmigkeit unseres WillensDie Gleichförmigkeit unseres WillensDie Gleichförmigkeit unseres WillensDie Gleichförmigkeit unseres WillensDie Gleichförmigkeit unseres Willens

mit dem Willen Gottes, uns zu retten.mit dem Willen Gottes, uns zu retten.mit dem Willen Gottes, uns zu retten.mit dem Willen Gottes, uns zu retten.mit dem Willen Gottes, uns zu retten.

1. Gott hat uns auf so vielerlei Weise und mit so vielen Mitteln seinenWillen geoffenbart, alle zu retten, daß darüber niemand im unklaren seinkann.

In dieser Absicht hat er uns durch die Schöpfung nach seinem Bild undGleichnis (Gen 1,26f) und sich selbst durch die Menschwerdung nachunserem Bild und Gleichnis gemacht. Er hat dann für uns den Tod erlit-ten, um die ganze Menschheit zu erlösen und zu retten. Mit soviel Liebe tater dies, daß er nach Dionysius (8. Br. an Dem.) eines Tages dem Carpussagte, er sei „bereit, noch einmal zu leiden, um die Menschen zu retten“,und er würde dies gerne tun, falls es möglich wäre, ohne daß Menschensündigten.

2. Obwohl nun nicht alle Menschen gerettet werden, so ist dieser Willedoch ein echter Wille Gottes, der in uns entsprechend seiner und unsererNatur tätig ist. Seine Güte drängt ihn, uns freigebig die Hilfen seiner Gna-de mitzuteilen, damit wir zur Seligkeit seiner Glorie gelangen. Aber unse-re Natur verlangt, daß seine Freigebigkeit uns die Freiheit lasse, uns ihrerzu bedienen, um uns zu retten, oder sie zu mißachten und dadurch zugrun-de zu gehen.

3. „Ich habe eines ersehnt,“ sagt der Prophet (Ps 27,4), „und immerwieder werde ich mich danach sehnen, daß ich die Freude des Herrn seheund heimsuche seinen Tempel.“

Aber was ist die Freude der höchsten Güte, als sich zu ergießen und ihreVollkommenheiten mitzuteilen? Gewiß ist Gottes Freude, mit den Men-schenkindern zu sein (Spr 8,31), um seine Gnaden über sie auszuschütten.

Nichts ist freien Wesen angenehmer und erfreulicher, als ihren Willenzu tun. – Unsere Heiligung aber ist der Wille Gottes (1 Thess 4,3) und unser

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Heil sein Wohlgefallen. Nun gibt es zwischen Wohlgefallen und Freudekeinen Unterschied, daher auch keinen zwischen Freude und Gottes gu-tem Wollen. Gottes Wille für das Wohl der Menschen wird „gut“ genannt(Ps 5,13; 51,20), weil er liebenswürdig, hilfreich, wohlwollend, gefällig,freundlich ist, und wie es die Griechen dem hl. Paulus nachsagen (Tit 3,4;s. Apg 28,1), eine wahre „Menschenfreundlichkeit“, d. h. ein Wohlwollenoder ein ganz liebendes Wollen den Menschen gegenüber.

Der ganze himmlische Tempel der triumphierenden und der streitendenKirche widerhallt überall von Gesängen auf diese gütige Liebe Gottes zuuns. Und der heiligste Leib des Erlösers ist wie ein überaus heiliger Tem-pel seiner Gottheit, geschmückt mit Zeichen und Merkmalen dieser Lie-be. Jedesmal, wenn wir ein Heiligtum betreten, schauen wir die beglük-kende Freude, die sein Herz darin findet, uns Beweise seiner Liebe zugeben.

Betrachten wir doch hundertmal des Tages diesen liebenden Willen Got-tes. Verschmelzen wir unseren Willen mit dem seinen und rufen wir vollInnigkeit aus: O unendlich beglückende Güte! Wie liebenswert ist dochDein Wille! Wie ersehnenswert Deine Hulderweise! Du hast uns für dasewige Leben geschaffen und Dein von unvergleichlicher Liebe glühendesHerz strömt über von Erbarmen, um den reuigen Sündern zu verzeihenund die Gerechten zu heiligen. Ach, wann heften wir unseren Willen anden Deinen, wie kleine Kinder sich an die Mutterbrust schmiegen, umDeine ewigen Segnungen in uns aufzunehmen?

4. Theotimus, wir müssen unser Heil wollen, wie Gott es will. Er will aberunser Heil, indem er danach Verlangen trägt. So müssen also auch wir,seinem Verlangen folgend, immerfort danach verlangen.

Er will es aber nicht nur, sondern er gibt uns auch alle Mittel, um das Heilerlangen zu können. Wir müssen also infolge unseres Verlangens, gerettetzu werden, alle Gnaden, die er uns bereitet hat und anbietet, nicht nurwollen, sondern auch tatsächlich annehmen.

Es genügt wohl zu sagen: Ich verlange danach, gerettet zu werden, – abernicht: Ich verlange danach, die geeigneten Mittel dafür zu verwenden. Manmuß vielmehr ganz entschlossen sein, die Gnaden, die Gott uns schenkt, zuwollen und zu ergreifen. Unser Wille muß doch mit dem Willen Gottesübereinstimmen. Da er uns die Mittel zu unserem Heil gibt, so müssen wir

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sie annehmen, wie wir ja auch nach dem Heil verlangen müssen, so wie ihndanach verlangt und weil ihn danach verlangt.

5. Nun kommt es aber zuweilen vor, daß die Mittel, zum Heil zu gelan-gen, im großen und ganzen gesehen, unserem Herzen angenehm sind, imeinzelnen und besonderen uns aber abschrecken. Haben wir nicht den ar-men hl. Petrus bereit gesehen, im allgemeinen alle Art von Leiden undsogar den Tod auf sich zu nehmen, um seinem Meister zu folgen? – Als esaber darauf ankam, wurde er blaß, zitterte und verleugnete seinen Meisterauf die Stimme einer einfachen Magd hin (Lk 22,33-57).

Jeder glaubt, den Kelch unseres Herrn mit ihm trinken zu können (Mt20, 22); wird er aber in der Tat kredenzt, dann läßt man alles liegen undläuft davon.

Die Dinge machen, im einzelnen gesehen, einen tieferen Eindruck undverletzen die Phantasie viel fühlbarer. Daher haben wir auch in der „An-leitung“ geraten, bei der Betrachtung nach den allgemeinen Affekten be-sondere Entschlüsse zu fassen.

David nahm die einzelnen Leiden als Weg zur Vollkommenheit an, alser betete: „O wie gut ist es, Herr, daß Du mich gedemütigt hast, damit ichDeine Satzungen lerne“ (Ps 119,71). So waren auch die Apostel freudig inihren Leiden, daß sie gewürdigt wurden, um des Namens ihres Heilandswillen Schmach zu erdulden (Apg 5,41).

5. KapitelDie Gleichförmigkeit unseres Willens mit demDie Gleichförmigkeit unseres Willens mit demDie Gleichförmigkeit unseres Willens mit demDie Gleichförmigkeit unseres Willens mit demDie Gleichförmigkeit unseres Willens mit dem

in den Geboten ausgesprochenen Willen Gottes.in den Geboten ausgesprochenen Willen Gottes.in den Geboten ausgesprochenen Willen Gottes.in den Geboten ausgesprochenen Willen Gottes.in den Geboten ausgesprochenen Willen Gottes.

1. Wie die ganze Heilige Schrift bezeugt, ist das Verlangen Gottes, daßwir seine Gebote halten, überaus groß. Wie konnte er dies besser ausdrük-ken als durch die großen Belohnungen, die er denen verheißt, die seinGesetz beobachten, und durch die furchtbaren Strafen, mit denen er diebedroht, die es verletzen? Daher ruft auch David aus: „O Herr, Du hastangeordnet, daß Deine Gebote aufs beste beobachtet werden“ (Ps 119,4).

Die Liebe des Wohlgefallens will nun beim Anblick dieses göttlichenVerlangens Gott durch dessen Erfüllung wohlgefallen. Die Liebe des Wohl-wollens, die Gott alles unterwerfen will, unterwirft folglich unser Verlan-gen und Wollen dem geoffenbarten Willen Gottes. Daraus fließt nicht nur

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die Beobachtung, sondern auch die Liebe der Gebote, die David voll Be-geisterung im Psalm 119 besingt, den er anscheinend nur dafür gedichtethat:

Wie liebeglühend lieb ich Dein Gesetz, o Herr,darüber sinn und rede ich den ganzen Tag (97).Deine Gebote liebe ich, o Herr,mehr als man Gold und Feingold liebt (127).Wie sind Deine Reden meinem Gaumen süß,süßer als Honig meinem Mund (103).

2. Um aber diese heilige und heilsame Liebe zu den Geboten in uns zuwecken, müssen wir ihre wirklich wunderbare Schönheit betrachten. Dennwie es Werke gibt, die schlecht sind, weil sie verboten wurden, und andere,die verboten wurden, weil sie schlecht sind, so gibt es auch gute Werke, diegut sind, weil sie angeordnet wurden, und andere, die angeordnet werden,weil sie gut und sehr nützlich sind. Alle sind sie daher sehr gut und sehrliebenswert, weil das Gebot den einen die Güte gibt, die sie sonst nichthätten, und den anderen ein Mehr an Güte, da sie, wenn auch nicht gebo-ten, schon an sich gut wären.

Wir nehmen Gutes nicht gerne an, wenn es uns von feindlicher Handgereicht wird. Die Lakedemonier wollten einen noch so guten und heilsa-men Rat nicht annehmen, solange ihn nicht ein ehrenwerter Mann wieder-holt hatte (Plut. Apopht.). Im Gegenteil ist uns ein Geschenk nie will-kommener, als wenn es ein Freund gibt. Die mildesten Gebote werdenhart, wenn sie ein grausames, tyrannisches Herz auferlegt; sie werden aberüberaus liebenswert, wenn die Liebe befiehlt. Jakob empfand den Dienst,den er leistete, wie ein Königtum, weil er der Liebe entsprang (Gen 29,20).Wie sanft und ersehnenswert ist doch das Joch des göttlichen Gesetzes, dasuns ein so liebenswerter König auferlegt hat!

3. Viele beobachten die Gebote so, wie man eine Medizin einnimmt,mehr aus Furcht, in der Verdammnis zu sterben, als aus Freude darüber,nach dem Willen des Heilands zu leben. Es gibt Leute, die jede Medizin,mag sie noch so angenehm schmecken, widerwillig nehmen, nur weil sieMedizin heißt. So gibt es auch Seelen, die Abscheu vor allem Gebotenenhaben, nur weil es geboten ist. Man sagt, es habe einen Mann gegeben, der80 Jahre hindurch in Paris gelebt hatte, ohne je aus dieser Stadt herausge-kommen zu sein. Doch sobald ihm der König befohlen hatte, den Rest

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seines Lebens in der Stadt zu bleiben, ging er hinaus, sich die Felder anzu-sehen, wonach er sein Leben lang kein Verlangen gehabt hatte.

Das liebreiche Herz aber liebt die Gebote, und je schwierigere Dingebefohlen werden, umso beglückender und angenehmer findet es sie, weil esdadurch dem Vielgeliebten auf vollkommenere Weise wohlgefällt und ihmmehr Ehre bereitet. Es singt Jubelhymnen, wenn Gott es seine Geboteund Rechtfertigungen lehrt (Ps 119,171).

Der Wanderer, der fröhlich singend seines Weges zieht, fügt scheinbarzur Mühe des Wanderns noch die des Singens hinzu, überwindet aber inWirklichkeit durch diese vermehrte Mühe die Langeweile und erleichtertdie Beschwerden des Weges. So findet auch der Liebende an den Gebotenso viel Beglückendes, daß nichts in diesem sterblichen Leben ihn so sehraufatmen läßt und tröstet wie die liebreiche Bürde der Gebote seines Gottes.Darum rief der Psalmist aus: O Herr, Deine Rechtfertigungen oder Gebo-te sind mir liebliche Lieder an diesem Ort meiner Pilgerschaft (Ps 119,54).

4. Man sagt, daß die mit Feigen beladenen Maultiere und Pferde sofortunter dieser Last zusammenbrechen und ihre ganze Kraft verlieren. Süßerals Feigen ist das Gesetz des Herrn; aber der vertierte Mensch, der gleich-sam zum Pferd und Maultier geworden ist, die keinen Verstand haben (Ps32,9), verliert den Mut und findet nicht die Kraft, diese liebenswürdige Lastzu tragen.

Wie dagegen ein Zweiglein, Agnus castus genannt, den Wanderer, der esträgt, vor Erschöpfung bewahrt (Plin. H. n. 24,9), so ist auch das Kreuz,die Abtötung, das Joch, das Gesetz des Herrn, der das wahre Agnus castus,das wahre keusche Lamm ist, eine erquickende Last, welche die Herzenderer, die die göttliche Majestät lieben, Erholung, Trost und Freude berei-tet. „Wenn man liebt, leidet man nicht, und wenn man leidet, liebt man dasLeiden“ (Aug. de bono viduit. 21). Die mit heiliger Liebe vermengtenLeiden haben eine gewisse herbe Süßigkeit, die besser mundet als nur süßeSüßigkeit.

Die göttliche Liebe macht uns also dem Willen Gottes gleichförmig undtreibt uns an, seine Gebote als ausdrückliches Verlangen seiner göttlichenMajestät sorgfältig zu beobachten, denn wir wollen Gott ja wohlgefallen.Dieses Wohlgefallen kommt mit seiner sanften, liebreichen Gewalt derNotwendigkeit zu gehorchen zuvor, die das Gesetz auferlegt, und verwan-delt diese Notwendigkeit in eine Liebeskraft und die ganze Schwierigkeitin Freude.

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6. KapitelDie Gleichförmigkeit unseres Willens mit dem in seinenDie Gleichförmigkeit unseres Willens mit dem in seinenDie Gleichförmigkeit unseres Willens mit dem in seinenDie Gleichförmigkeit unseres Willens mit dem in seinenDie Gleichförmigkeit unseres Willens mit dem in seinen

Räten ausgesprochenen Willen Gottes.Räten ausgesprochenen Willen Gottes.Räten ausgesprochenen Willen Gottes.Räten ausgesprochenen Willen Gottes.Räten ausgesprochenen Willen Gottes.

1. Das Gebot offenbart einen ganz festen und drängenden Willen dessen,der anordnet. Der Rat aber stellt uns nur einen Willen in Form eines Wun-sches vor Augen. Das Gebot verpflichtet uns, der Rat muntert uns nur auf.Der Übertreter eines Gebotes macht sich eines Vergehens schuldig; weraber einen Rat nicht befolgt, macht sich nur des Lobes weniger würdig.Übertreter der Gebote verdienen, verdammt zu werden, jene, die Rätevernachlässigen, verdienen nur weniger verherrlicht zu werden.

Es ist ein Unterschied zwischen Befehlen und Anempfehlen. Befiehltman, so macht man von der Autorität Gebrauch, um zu verpflichten; wennman anempfiehlt, macht man von der Freundschaft Gebrauch, um anzu-locken und anzureizen. Das Gebot auferlegt eine Notwendigkeit, der Ratund die Anempfehlung muntern uns zu etwas auf, was von großem Nutzenist. Dem Gebot entspricht der Gehorsam, dem Rat das Vertrauen. DenRat befolgt man, um zu gefallen, und das Gebot, um nicht zu mißfallen.

2. Deshalb führt uns die Liebe des Wohlgefallens, die uns verpflichtet,dem Geliebten zu gefallen, zur Befolgung seiner Räte. Und die Liebe desWohlwollens, die will, daß ihm jeder Wille und alle Liebe untertan seien,bewirkt, daß wir nicht nur das wollen, was er befiehlt, sondern auch das,wozu er rät und ermahnt. Es ist so, wie mit der Liebe und Ehrfurcht, die eingutes Kind seinem Vater entgegenbringt, durch die es entschlossen ist,nicht nur nach den Befehlen, die er gibt, zu leben, sondern auch nach denWünschen und Neigungen, die er äußert.

Der Rat wird gewiß zum Nutzen dessen gegeben, dem geraten wird,damit er vollkommen werde: „Willst du vollkommen sein,“ sagt der Erlö-ser, „so gehe hin, verkaufe, was du hast, und gib es den Armen; dann kommund folge mir nach“ (Mt 19,21; Lk 18,22). Das liebende Herz aber nimmtden Rat nicht seines Nutzens wegen entgegen, sondern um sich dem Wunschdessen gleichförmig zu machen, der den Rat gibt, und um seinem Willen zuhuldigen, wie es sich gebührt.

3. Darum nimmt es die Räte nur so entgegen, wie Gott es will. Und Gottwill nicht, daß jeder alle Räte befolge, sondern nur jene, die der Eigenheitder Personen, Zeiten, Umstände und den Kräften des einzelnen entspre-

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chen, so wie die Liebe es verlangt. Denn sie ist die Königin aller Tugenden,aller Gebote, aller Räte, mit einem Wort aller Gesetze und christlichenHandlungen und gibt daher ihnen allen Rang, Ordnung, Zeit und Wert.

Wenn dein Vater oder deine Mutter wirklich deines Beistandes bedürfen,um leben zu können, dann befolge nicht den Rat, dich in ein Kloster zu-rückzuziehen; denn die Liebe verlangt, daß du tatsächlich ihr Gebot er-füllst, deinen Vater und deine Mutter zu ehren, ihnen zu dienen, zu helfenund beizustehen (Ex 20,12).

Bist du ein Fürst, durch dessen Nachkommenschaft die Untertanen dei-ner Krone im Frieden bewahrt und vor Tyrannei, Aufruhr und Bürger-krieg geschützt werden sollen, dann verpflichtet dich die Rücksicht aufein so wichtiges Gut, durch eine heilige Ehe für legitime Nachkommen zusorgen. Das heißt dann nicht die Keuschheit verlieren, oder höchstens sieauf keusche Weise verlieren, wenn man sie dem öffentlichen Wohl, zugun-sten der Liebe opfert.

Hast du eine schwache, unbeständige Gesundheit, die vieler Pflege be-darf, dann belaste dich nicht freiwillig mit tatsächlicher Armut, denn dieLiebe verbietet es dir.

Die Liebe verbietet nicht nur den Familienvätern, alles zu verkaufenund den Armen zu geben, sondern sie befiehlt ihnen, auf ehrenhafte Weisedas zusammenzulegen, was für die Erziehung und den Unterhalt der Frau,der Kinder und Dienerschaft erforderlich ist. So sollen auch den Königenund Fürsten die durch redliche Sparsamkeit, nicht durch tyrannische Schli-che gehäuften Schätze als heilsame Vorbeugungsmittel gegen ihre sichtba-ren Feinde dienen.

Gibt denn nicht auch der hl. Paulus den Eheleuten den Rat, nach derZeit des Gebetes den geregelten ehelichen Verkehr wieder aufzunehmen(1 Kor 7,5)?

4. Die Räte sind alle zur Vervollkommnung des christlichen Volkes gege-ben, nicht aber zu der eines jeden einzelnen Christen im besonderen. Es gibtUmstände, durch die sie manchmal unmöglich, manchmal unnütz, manch-mal gefährlich, andere Male verschiedenen Menschen schädlich sind. Dasist einer der Gründe, warum der Herr von einem seiner Räte sagte, was füralle gilt: „Wer es fassen kann, der fasse es“ (Mt 19,21). Es ist, als wollte erdamit das sagen, was der hl. Hieronymus zu dieser Stelle ausführt: Wer dieKrone der Keuschheit als Ehrenpreis erringen und davontragen kann, derergreife ihn, denn dieser Preis ist für solche ausgesetzt, die tapfer um die

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Wette laufen. Alle können also nicht alle Räte immer befolgen, das heißt,es ist auch nicht allen ratsam, sie alle immer zu befolgen, denn die Rätesind zugunsten der Liebe gegeben, die also als Richtschnur und Maß fürihre Ausführung gilt.

5. Wenn die Liebe es befiehlt, holt man daher Mönche und Ordensmänneraus Klöstern heraus, um sie zu Kardinälen, Prälaten oder Pfarrern zu ma-chen, ja es kann sogar vorkommen, daß man sie um des Friedens einesKönigreiches willen zur Ehe auffordert, wie wir oben gesagt haben. Wennnun die Liebe sogar Ursache sein kann, daß Ordensleute, die durch feier-liche Gelübde an ihre Klöster gebunden waren, sie verlassen, um wievielmehr kann man aus geringeren Gründen mit der Autorität der gleichenLiebe vielen anderen raten, zu Hause zu bleiben, ihren Besitz zu behalten,zu heiraten, ja selbst die Waffen zu ergreifen und in den Krieg zu ziehen,wiewohl dieser Beruf so gefahrvoll ist.

6. Wenn die Liebe die einen zur Armut treibt und die anderen aus ihrzurückholt, wenn sie die einen zur Ehe drängt und andere zur Enthaltsam-keit, wenn sie die einen im Kloster einschließt und die anderen dasselbeverlassen heißt, so braucht sie darüber keinem Menschen Rechenschaft zugeben. Ihr steht im christlichen Gesetz die Fülle der Macht zu, so wiegeschrieben steht: Die Liebe vermag alles (1 Kor 13,7). Ihr ist die höchsteKlugheit zu eigen, wie geschrieben steht: Die Liebe tut nichts Unnützes (1Kor 13,4). Will jemand mit ihr rechten und sie fragen, warum sie so tut, sowird sie kühn antworten: Weil der Herr dessen bedarf (Mt 21,3).

Alles ist für die Liebe bestimmt und die Liebe für Gott. Alles muß derLiebe dienen, sie aber muß niemand dienen, nicht einmal ihrem Vielge-liebten, denn sie ist nicht seine Magd, sondern seine Braut; folglich istnicht Dienen ihre Aufgabe, sondern Lieben.

Darum muß man sich von ihr befehlen lassen, wie die Räte auszuführensind. Denn den einen wird sie die Keuschheit und nicht die Armut befehlen,anderen den Gehorsam und nicht die Keuschheit, den einen das Fasten undnicht das Almosen, den anderen das Almosen und nicht das Fasten, deneinen die Einsamkeit und nicht die Seelsorge, den anderen den Umgang mitMenschen und nicht die Einsamkeit.

Kurzum, sie ist ein heiliges Wasser, durch welches der Garten der Kirchebefruchtet wird. Obwohl dieses Wasser selbst farblos ist, hat doch jede Blu-me, der es zum Wachstum verhilft, ihre eigene Farbe: aus ihr gehen die

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Märtyrer hervor, purpurfarbener als Rosen, Jungfrauen, weißer als Lilien;einigen verleiht sie das zarte Violett der Abtötung, den anderen das Gelb derehelichen Sorgen. Auf verschiedenerlei Weise verwendet die Liebe die Rätezur Vollkommenheit der Seelen, die so glücklich sind, unter ihrer Leitung zuleben.

7. KapitelDie Liebe zu dem in den Geboten ausgedrückten WillenDie Liebe zu dem in den Geboten ausgedrückten WillenDie Liebe zu dem in den Geboten ausgedrückten WillenDie Liebe zu dem in den Geboten ausgedrückten WillenDie Liebe zu dem in den Geboten ausgedrückten Willen

Gottes führGottes führGottes führGottes führGottes führt uns dazu, die Räte zu lieben.t uns dazu, die Räte zu lieben.t uns dazu, die Räte zu lieben.t uns dazu, die Räte zu lieben.t uns dazu, die Räte zu lieben.

1. Theotimus, wie liebenswürdig ist doch dieser göttliche Wille! Wie lie-benswert und wünschenswert ist er! O Gesetz ganz aus der Liebe und ganzfür die Liebe!“

Die Hebräer verstanden unter dem Wort Friede die Gesamtheit undFülle aller Güter, also die Glückseligkeit. Und der Psalmist ruft aus: „Frie-den in Fülle komme über die, die das Gesetz Gottes lieben, und keinFehltritt geschehe ihnen!“ (Ps 119,165), als wollte er sagen: O Herr, wel-che Seligkeit liegt in der Liebe zu Deinen heiligen Geboten! Eine Fülleköstlicher Freuden erfaßt das Herz, das von der Liebe zu Deinem heiligenGesetz ergriffen ist.

Dieser große königliche Sänger, dessen Herz nach dem Herzen Gotteswar (1 Sam 13,14), verkostete so sehr die vollendete Erhabenheit der gött-lichen Gebote, daß er ein von der Schönheit dieses Gesetzes bezauberterLiebender zu sein scheint, der das Gesetz zur keuschen Braut und Königinseines Herzens erkoren.

2. Wenn die Braut im Hohelied den unendlich lieblichen Wohlgeruchihres Bräutigams zum Ausdruck bringen will, so sagt sie zu ihm: „DeinName ist wie ausgegossenes Salböl“ (Hld 1,2), als wollte sie sagen: Soherrlich wohlduftend bist Du, als wärest Du ganz Wohlgeruch, so daß espassender wäre, Dich selbst als Salbe und Wohlgeruch zu bezeichnen, alsnur zu sagen, Du seiest gesalbt und wohlduftend.

So wird auch die Seele, die Gott liebt, so sehr in den göttlichen Willenumgewandelt, daß man eher von ihr sagen kann, sie sei „Wille Gottes“ zunennen, als nur, sie sei Gottes Willen gehorsam und untertan. Darumerklärt Gott durch den Propheten Jesaja (Jes 62,2.4), daß er die christli-che Kirche mit einem neuen Namen nennen werde, den der Mund desHerrn aussprechen, festlegen und in die Herzen seiner Gläubigen einprä-gen wird. Er erläutert dann diesen neuen Namen und sagt, er werde sein

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„Mein Wille in ihr“. Es ist, als wollte er sagen: außerhalb der Christenheithat jeder seinen eigenen Willen im Herzen. Die wahren Kinder des Erlö-sers aber werden alle ihren eigenen Willen aufgeben und es wird nur einalles beherrschender allgemeiner Wille sein, der alle Seelen, alle Herzenund jeden Willen belebt, leitet und lenkt. Der Ehrenname der Christenwird kein anderer sein als „der Wille Gottes in ihnen“, der Wille, der überjeden Willen herrschen und ihn in sich umwandeln wird, so daß der Willeder Christen und der Wille unseres Herrn nur mehr ein Wille sein soll.

Das war auf vollkommene Weise in der Urkirche verwirklicht, als nachden Worten des glorreichen hl. Lukas „die Menge der Gläubigen nur einHerz und eine Seele“ war (Apg 4,32). Er redet da nicht von dem Herzen,das unseren Leib belebt, noch von der Seele, welche die Herzen mit mensch-lichem Leben beseelt, sondern er spricht von dem Herzen, das unsererSeele himmlisches Leben gibt, und von der Seele, die unser Herz mitübernatürlichem Leben beseelt: das eine Herz und die eine Seele des wah-ren Christen, die nichts anderes sind als der Wille Gottes. Das Leben, sagtder Psalmist, ist im Willen Gottes (Ps 30,6). Das ist so, nicht nur weilunser zeitliches Leben vom göttlichen Willen abhängt, sondern auch, weilunser geistliches Leben in der Ausführung dieses Willens besteht, wo-durch Gott in uns lebt und herrscht und bewirkt, daß wir in Ihm leben undsind.

4. Im Gegensatz dazu hat der Böse seit Anbeginn der Welt, d. h. vonjeher das Joch des göttlichen Gebotes zerbrochen und gesagt: Ich will nichtdienen (Jer 2,20). Darum sagt der Herr (Jes 48,8), daß er ihn schon vomMutterschoß an Übertreter und Rebell genannt hat. Dem König von Tyruswirft Gott vor, daß er sein Herz auf die gleiche Stufe gestellt habe mit demHerzen Gottes (Ez 28,2). Denn der Geist, der sich auflehnt, will, daß seinHerz Herr seiner selbst sei und daß sein eigener Wille souverän sei wie derWille Gottes. Er will nicht, daß der göttliche Wille über seinen Willenherrsche, sondern er will unbeschränkt und ganz unabhängig sein.

5. O Herr der Ewigkeit, laß es nicht zu! Mache vielmehr, daß niemalsmein Wille geschehe, sondern der Deine (Lk 22,42). Ach, wir sind nicht aufder Welt, um unseren Willen zu tun, sondern den Willen Deiner Güte, dieuns in diese Welt gesetzt hat (Joh 6,38).

Von Dir, o Erlöser meiner Seele, steht geschrieben, daß Du den WillenDeines ewigen Vaters getan hast und mit dem ersten menschlichen Wollen

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Deiner Seele im Augenblick Deiner Empfängnis dieses Gesetz des göttli-chen Willens voll Liebe umfangen und mitten in Dein Herz gelegt hast (Ps40,8), damit es dort ewig herrsche und regiere. Ach, wer wird meiner Seeledie Gnade erweisen, daß sie keinen anderen Willen mehr habe als denWillen Gottes?

6. Wenn aber unsere Liebe zum Willen Gottes ganz groß ist, so be-gnügen wir uns nicht damit, den göttlichen Willen zu tun, der uns in denGeboten kundgetan ist, sondern wir wollen auch seinen Räten gehorchen,die uns ja nur gegeben sind, daß wir die Gebote vollkommener erfüllen,auf die sie sich beziehen.

Darüber sagt ganz ausgezeichnet der hl. Thomas (St. th. IIa, IIae, qu.189, art. 1 ad 5): Wie vollkommen beobachtet man doch das Gebot, dasdie unrechtmäßige Lust verbietet, wenn man selbst auf die gerechtestenund rechtmäßigsten Freuden verzichtet hat! Wie weit entfernt von derBegierde nach dem Gut der anderen ist der, der allen Reichtum preis-gegeben hat, selbst den, den er auf heilige Weise hätte behalten können!Wie weit entfernt, seinen Willen dem Willen Gottes vorzuziehen, ist der-jenige, der sich dem Willen eines Menschen unterwirft, um den WillenGottes zu tun!

David war eines Tages in einer Felsenhöhle und das Heer der Philisterlagerte in Betlehem. Da sprach er den Wunsch aus: „Ach, wenn mir dochjemand von dem Wasser aus der Zisterne beim Tor Betlehems zu trinkengäbe!“ Kaum hatte er dies gesagt, als sich auch schon drei tapfere Kriegerauf den Weg machten, unerschrocken durch die feindlichen Reihen zurZisterne von Betlehem gingen, dort das Wasser schöpften und es Davidbrachten. Als dieser sah, welcher Gefahr sich diese Männer ausgesetzthatten, um seinen Durst zu löschen, wollte er von dem Wasser, das sieunter solcher Lebensgefahr geholt hatten, nicht trinken. Er vergoß es alsOpfer, das er dem ewigen Gott darbrachte (2 Sam 23,14-17). – Schau, ichbitte dich, mein Theotimus, welchen Eifer diese Krieger zeigten, um ih-rem Herrn zu dienen und ihn zufriedenzustellen. Sie eilen und drängensich durch die Menge der Feinde unter tausend Gefahren, nur um eineneinzigen einfachen Wunsch ihres Königs zu befriedigen, den er ihnen ge-äußert hatte.

7. Als der Erlöser auf Erden weilte, erklärte er seinen Willen bei einigenDingen in der Form von Geboten, bei anderen nur in Form eines Wun-sches. Er lobte sehr die Keuschheit, die Armut, den Gehorsam und dievollkommene Ergebung, die Verleugnung des eigenen Willens, den Wit-

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wenstand, das Fasten, das gewöhnliche Gebet. Das, was er über die Keusch-heit sagt: es solle deren Preis erringen, wer es könne (Mt 19,12), – das hater auch genügsam über die anderen Räte gesagt. Auf diesen Wunsch hinbegannen die tapfersten Christen ihren Lauf; sie überwanden allen Wider-willen, alle bösen Lüste und Schwierigkeiten und gelangten so zur heiligenVollkommenheit. Sie stellten sich auf die genaue Beobachtung der Wün-sche ihres Königs ein und erreichten dadurch die Krone der Herrlichkeit.

Es ist gewiß wahr, was der Psalmist sagt (Ps 10,17): Gott erhört nichtbloß das Gebet seiner Getreuen, sondern auch ihren bloßen Wunsch, jasogar die einfache Vorbereitung ihrer Herzen auf das Gebet; so sehr ist ergeneigt und bereit, den Willen derer zu tun, die ihn lieben (Ps 145,19).Wie könnten wir da unsererseits nicht eifersüchtig darauf bedacht sein,dem heiligen Willen unseres Herrn zu folgen und nicht nur das zu tun, waser gebietet, sondern auch das, was er als ihm angenehm und erwünschtbezeichnet? Edle Seelen bedürfen keines stärkeren Beweggrundes, umetwas zu unternehmen, als zu wissen, daß der Vielgeliebte es wünscht:Meine Seele, sagt eine derselben, ist verströmt, als mein Vielgeliebter zumir redete (Hld 5,6).

8. KapitelVVVVVerachtung der evangelischen Räte ist eine große Sünde.erachtung der evangelischen Räte ist eine große Sünde.erachtung der evangelischen Räte ist eine große Sünde.erachtung der evangelischen Räte ist eine große Sünde.erachtung der evangelischen Räte ist eine große Sünde.

1. Der Herr mahnt uns mit so kraftvollen und eindringlichen Worten, nachder Vollkommenheit zu streben, daß wir uns über die Verpflichtung, uns fürdieses Ziel einzusetzen, keiner Täuschung hingeben können: „Seid hei-lig,“ sagt er, „weil ich heilig bin“ (Lev 11,44; 1 Petr 1,16). „Wer heilig ist,heilige sich noch mehr; wer gerecht ist, werde noch mehr gerecht“ (Offb22,11). „Seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist“(Mt 5,48). Darum schreibt der große hl. Bernhard (254. Brief) an denglorreichen hl. Guarinus, Abt von Aux, dessen Leben und Wunder dieseDiözese mit solchem Wohlgeruch erfüllt haben: „Nie sagt der gerechteMensch, es ist genug, sondern er hat immer Hunger und Durst nach derGerechtigkeit“ (s. Mt 5,6).

2. Bei den zeitlichen Gütern verhält es sich so, mein Theotimus, daßnichts dem genügt, dem das Genügende nicht genügt. Denn was kann ei-nem Herzen genügen, dem das Genügende nicht genügt?

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Bei den geistlichen Gütern aber ist es so, daß davon nicht genug hat, wersich mit dem begnügt, was genügt, und das Ausreichende ist hier nichtausreichend, denn das wahre Genügen besteht bei den göttlichen Dingenzum Teil im Verlangen nach der Überfülle.

Gott befahl am Beginn der Welt, die Erde lasse „Grünes hervorsprießen,Pflanzen, die Samen hervorbringen, und alle Arten Fruchtbäume, dieFrüchte tragen, jeder nach seiner Art, in denen auch Same sei ...“ (Gen1,11). – Zeigt uns nicht die Erfahrung, daß Pflanzen und Früchte erst dannzum vollen Wachstum und zur Reife gelangt sind, wenn sie ihre Samen-körner und Kerne tragen, die dazu dienen, Pflanzen und Bäume ihrer Arthervorzubringen?

Unsere Tugendakte haben nie ihre richtige Größe und ihr Genügen,wenn sie nicht in uns Wünsche nach weiterem Fortschritt hervorrufen, diewie ein geistlicher Same zum Hervorbringen höherer Tugend dienen.

Es will mir scheinen, daß das Erdreich unseres Herzens Befehl erhaltenhabe, Tugendpflanzen hervorsprießen zu lassen, die Früchte heiliger Wer-ke tragen, jede Tugendpflanze nach ihrer Art, und daß jede wieder Samen-körner von Wünschen und Entschlüssen in sich trage, sich zu vervielfälti-gen und in der Vollkommenheit vorwärts zu kommen.

3. Die Tugend, die das Samenkorn oder den Kern solcher Wünsche nichtin sich trägt, hat nicht ihr Genügen und ihre Reife. Dem Faulenzer sagt derhl. Bernhard (254. Brief): Du willst also in der Vollkommenheit nichtvorwärtsstreben? – Nein. – Und du willst auch nicht schlechter werden? –Nein, wahrhaftig. – Und was dann? Du willst weder schlechter noch besserwerden? Ach, armer Mensch, du willst etwas Unmögliches sein. Nichts istwirklich beständig und fest in dieser Welt (Koh 2,11; 3,1). Vom Menschenist es aber besonders gesagt, daß er niemals im gleichen Zustand bleibt (Joh14,2). Er muß entweder vorwärtsschreiten oder zurückweichen.

4. Weder ich, noch St. Bernhard wollen damit sagen, daß es Sünde sei, dieRäte nicht zu befolgen. Gewiß nicht, Theotimus. Denn das ist ja gerade derUnterschied zwischen Gebot und Rat, daß das Gebot unter Sünde ver-pflichtet und der Rat uns nur einlädt, ohne mit Sünde zu drohen. Trotz-dem behaupte ich, daß es eine große Sünde ist, das Streben nach christli-cher Vollkommenheit zu verachten, und eine noch größere, die Einladung,durch die unser Herr uns dazu aufruft, zu verachten. – Unerträgliche Gott-losigkeit aber ist es, die Räte und die Mittel zu verachten, die unser Herr unsbezeichnet, um dorthin zu gelangen.

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Es ist eine Irrlehre zu behaupten, der Herr habe uns nicht gut beraten,und eine Gotteslästerung, wenn jemand zu Gott sagt: „Ziehe Dich zurückvon uns, wir wollen Deine Wege nicht kennen“ (Ijob 21,14). Es ist abereine grauenhafte Ehrfurchtslosigkeit, demjenigen, der uns mit solcher Liebeund Güte zur Vollkommenheit einlädt, zu sagen: Ich will nicht heilig undnicht vollkommen sein, ich will nicht ein größeres Maß Deines Wohlwol-lens haben, ich will nicht die Räte befolgen, die Du mir erteilst, um in derVollkommenheit Fortschritte zu machen.

5. Man kann wohl, ohne zu sündigen, Räte nicht befolgen, wenn man zuetwas anderem hinneigt. Man kann es zum Beispiel unterlassen, sein Habund Gut zu verkaufen, um es den Armen zu geben, weil man keinen Mutzu einem solchen Verzicht hat. Man kann auch heiraten, weil man eineFrau liebt oder weil man nicht genug seelische Kraft besitzt, um den erfor-derlichen Kampf wider das Fleisch zu unternehmen.

Aber sich dazu bekennen, daß man die Räte nicht befolgen will, ja auchnicht einen der Räte, das kann man nicht ohne Verachtung dessen, der siegibt. Den Rat der Jungfräulichkeit nicht befolgen, um zu heiraten, darinliegt nichts Böses. Aber heiraten, weil man der Ehe vor der Keuschheitden Vorzug gibt, so wie es die Irrlehrer tun, das ist eine große Verachtungentweder des Ratgebers oder des Rates. Gegen den Rat des Arztes Weintrinken, wenn der Durst oder der Wunsch zu trinken zu stark ist, das heißtgewiß nicht den Arzt oder seinen Rat verachten. Aber wenn man sagt: Ichwill den Rat des Arztes nicht befolgen, so kann das nur von Mißachtungherrühren, die man gegen ihn hegt.

6. Bei Menschen ist es sehr gut möglich, daß man ihren Rat geringschätzt,ohne jene geringzuschätzen, die ihn erteilen, denn es heißt nicht einenMenschen geringschätzen, wenn man der Ansicht ist, daß er sich geirrt hat.Gottes Rat aber kann man nicht verwerfen oder geringschätzen, ohne derAnsicht zu sein, er habe uns schlecht beraten. Das kann aber nicht ohneGotteslästerung geschehen, als ob Gott nicht weise genug wäre, einen gu-ten Rat zu wissen, oder nicht gütig genug, ihn geben zu wollen. – Dasgleiche gilt von den Räten der Kirche; die Kirche besitzt ja immer denBeistand des Heiligen Geistes, der sie „in aller Wahrheit lehrt und lenkt“(Joh 16,13); deshalb kann sie nie einen schlechten Rat geben.

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9. KapitelForForForForFortsetzung der begonnenen Erörtsetzung der begonnenen Erörtsetzung der begonnenen Erörtsetzung der begonnenen Erörtsetzung der begonnenen Erörterterterterterung:ung:ung:ung:ung:

Jeder muß alle evangelischen Räte lieben, wenn auch nicht üben.Jeder muß alle evangelischen Räte lieben, wenn auch nicht üben.Jeder muß alle evangelischen Räte lieben, wenn auch nicht üben.Jeder muß alle evangelischen Räte lieben, wenn auch nicht üben.Jeder muß alle evangelischen Räte lieben, wenn auch nicht üben.Jeder muß aber trotzdem befolgen, was er kann.Jeder muß aber trotzdem befolgen, was er kann.Jeder muß aber trotzdem befolgen, was er kann.Jeder muß aber trotzdem befolgen, was er kann.Jeder muß aber trotzdem befolgen, was er kann.

1. Wenn auch nicht alle Räte von jedem Christen im besonderen befolgtwerden können und müssen, so ist doch jeder verpflichtet, sie alle zu lieben,weil sie alle sehr gut sind.

Wenn du Migräne hast und daher den Geruch des Moschus nicht vertra-gen kannst, wirst du deshalb leugnen, daß dieser Geruch gut und ange-nehm ist? Wenn ein Kleid aus Goldbrokat dir nicht gut steht, wirst dudeshalb sagen, daß es nichts wert ist? Wenn ein Ring nicht an deinen Fin-ger paßt, wirst du ihn deshalb in den Kot werfen?

Preise also, Theotimus, und liebe innig alle Räte, die Gott den Men-schen gegeben hat. Gepriesen sei auf immer der „Engel des großen Rat-schlusses“ (Jes 9,6 nach der Sept.) mit allen Ratschlägen, die er gibt, undallen Ermahnungen, die er den Menschen erteilt!

„Das Herz erfreut sich an Salben und Wohlgerüchen,“ sagt Salomo (Spr27,9), „und durch die guten Ratschläge des Freundes wird die Seele beru-higt.“ Aber von welchem Freund und von welchen Ratschlägen sprechenwir denn? O Gott, von dem Freund der Freunde, und seine Ratschlägesind köstlicher als Honig. Der Freund ist der Heiland und seine Ratschlä-ge sind zum Heil.

Freuen wir uns, Theotimus, wenn wir Menschen sehen, die den Rätenfolgen, an die wir uns nicht halten können oder dürfen. Beten wir für sie,loben und fördern wir sie, helfen wir ihnen, denn die Liebe verpflichtetuns nicht nur, das zu lieben, was für uns gut ist, sondern auch, das zulieben, was für den Nächsten gut ist.

2. Wir bezeugen genügend unsere Liebe zu allen Räten, wenn wir treujene beobachten, die für unsere Verhältnisse passen. Jemand, der einenGlaubensartikel annimmt, weil Gott ihn durch sein von der Kirche ver-kündetes und bekräftigtes Wort geoffenbart hat, kann auch den anderenGlaubensartikeln den Glauben nicht verweigern. Wer aus wahrer Liebe zuGott ein Gebot hält, ist ganz bereit, alle anderen zu beobachten, sobaldsich die Gelegenheit dazu bietet. So kann auch der, der einen evangeli-schen Rat liebt und schätzt, weil Gott ihn gegeben hat, nicht anders, alsfolgerichtig auch alle anderen schätzen, weil sie ebenso von Gott kom-

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men. Wir können, auch leicht mehreren Räten nachkommen, wenn auchnicht allen zusammen. Gott hat viele Räte gegeben, damit jeder einigebeobachten könne, und es gibt keinen Tag, an dem wir nicht Gelegenheitdazu hätten.

3. Verlangt die Liebe, daß du bei deinem Vater oder deiner Mutter bleibst,um sie zu unterstützen, so bewahre dennoch Liebe und Zuneigung zurZurückgezogenheit; laß dein Herz nur so viel im väterlichen Haus weilen,als notwendig ist, um das zu tun, was die Liebe befiehlt.

Ist es deiner Lage wegen nicht ratsam, daß du vollkommene Keuschheitbewahrst, so bewahre sie wenigstens so weit, als du sie bewahren kannst,ohne die Liebe zu verletzen.

Wer nicht das Ganze tun kann, soll wenigstens einen Teil tun. Du bistnicht verpflichtet, den aufzusuchen, der dich beleidigt hat, denn es ist anihm, in sich zu gehen und dich aufzusuchen, um dir Genugtuung zu lei-sten, weil er dir ja auch mit seiner Beleidigung und Beschimpfung zuvor-gekommen ist. Trotzdem, Theotimus, geh und handle nach dem Rat desHeilands (Mt 5,23-25), komme ihm im Guten zuvor, vergilt das Böse mitGutem, lege auf sein Haupt und sein Herz glühende Kohlen (Röm 12,20)durch Beweise deiner Liebe, die ihn völlig brennend machen und ihn zwin-gen, dich zu lieben.

Du bist durch die Strenge des Gesetzes nicht gezwungen, allen Armen,denen du begegnest, etwas zu geben, sondern nur denen, die große Notleiden. Unterlasse es aber deswegen nicht, nach dem Rat des Heilands (Mt5,42; Lk 6,30) allen Bedürftigen, die du siehst, gerne zu geben, soweitdeine Verhältnisse es dir erlauben.

Du bist zu keinem Gelübde verpflichtet, lege aber doch das eine oderandere ab, das dein geistlicher Vater für deinen Fortschritt in der gött-lichen Liebe als geeignet erachtet.

Du kannst in aller Freiheit Wein trinken; soweit es schicklich ist, befol-ge aber den Rat des hl. Paulus an Timotheus und nimm davon nur so viel,als es deines Magens wegen notwendig ist (1 Tim 5,23).

4. Es gibt bei den einzelnen Räten verschiedene Stufen der Vollkom-menheit. Den Armen etwas leihen, wenn sie nicht in sehr großer Not sind,ist die erste Stufe des Rates, der das Almosen betrifft. Eine höhere Stufeist, ihnen etwas schenken, eine noch höhere, alles hergeben, und schließ-lich eine noch höhere, seine Person selbst hingeben, indem man sie demDienste der Armen weiht.

Die Gastfreundschaft üben ist, wenn sie nicht dringendste Not erfordert,

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ein Rat. Fremde aufnehmen ist die erste Stufe davon. Aber auf die Straßegehen, um sie einzuladen, wie es Abraham getan hat (Gen 18,2), ist schoneine höhere Stufe. Und eine noch höhere ist es, wenn man in gefahrvollenGegenden seinen Wohnsitz aufschlägt, um die Wanderer aus Gefahren zuretten, ihnen zu helfen und ihnen zu dienen.

Der große hl. Bernhard von Menthon, der aus dieser Diözese stammt,war darin allen voran. Einem angesehenen Hause entsprossen, wohnte ermehrere Jahre zwischen den Pässen und Bergen unserer Alpen, sammeltedort einige Gefährten um sich, um auf die Reisenden und Wanderer zuwarten, sie zu beherbergen, ihnen beizustehen, sie aus den Gefahren derUnwetter zu befreien. Denn es wären viele in den Gewittern, Schneemas-sen und durch die furchtbare Kälte zugrunde gegangen, hätte nicht dergroße Freund Gottes seine Hospize gegründet und auf den beiden Bergenerrichtet, die deswegen nach ihm benannt sind: der große St. Bernhard inder Diözese Sitten und der kleine St. Bernhard in der Diözese Tarentaise.

Kranke besuchen, die sich nicht in äußerster Not befinden, ist ein lo-benswerter Liebesdienst; sie bedienen, ist noch besser. Doch sich ihremDienst weihen, das ist die höchste Stufe in der Befolgung dieses Rates, dendie Kleriker von der Heimsuchung der Kranken ihrer Regel gemäß undauch mehrere Damen an verschiedenen Orten ausüben. Sie tun es in Nach-ahmung des hl. Sampson, eines Edelmannes und römischen Arztes, der inder Stadt Konstantinopel, wo er zum Priester geweiht worden war, sichmit wunderbarer Liebe ganz dem Dienst der Kranken hingab. Er tat es ineinem Krankenhaus, das er selbst zu erbauen begonnen hatte und das Kai-ser Justinian vollendete. Sie tun es auch in Nachahmung der hl. Katharinavon Siena und der von Genua, der hl. Elisabeth von Thüringen und derglorreichen Freunde Gottes, des hl. Franziskus und des seligen Ignatiusvon Loyola, die sich zu Beginn ihrer Ordensgründungen dieser Übung mitunbeschreiblichem Eifer und geistlichem Nutzen hingaben.

5. Die Tugenden haben also einen gewissen Spielraum in ihrer Vollkom-menheit. Für gewöhnlich sind wir nicht verpflichtet, bis zu ihrer äußerstenVollendung vorzustoßen. Es genügt, wenn wir in ihrer Ausübung so weitgehen, daß wir sie wirklich besitzen. Aber darüber hinaus in der Vollkom-menheit voranzuschreiten, ist ein Rat. Die heroischen Tugendakte sind fürgewöhnlich nicht geboten, sondern nur geraten. Wenn wir uns bei einigenGelegenheiten verpflichtet fühlen, sie zu üben, so sind das seltene, außer-

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gewöhnliche Vorkommnisse, die solche heroische Akte zur Bewahrungder Gnade Gottes erfordern.

Als der Gefängniswärter von Sebaste sah, daß einer der Vierzig, dieeben gemartert wurden, den Mut verlor und der Märtyrerkrone verlustigging, nahm er seine Stelle ein, ohne daß ihn irgendjemand angeklagt hätte,und wurde so der Vierzigste jener glorreichen und sieghaften Kämpferunseres Herrn.

Als der hl. Adauctus sah, daß man den hl. Felix zum Martertod führte,sagte er, ohne daß ihn jemand dazu drängte: „Ich bin ebenso ein Christ wieer und bete den gleichen Erlöser an!“ Dann küßte er den hl. Felix, ging mitihm zum Martyrium und wurde enthauptet (Martyrol. Adonis 30. Au-gust).

Tausende von Märtyrer der ersten christlichen Jahrhunderte taten dasgleiche. Sie hätten, ohne zu sündigen, das Martyrium ebensogut vermei-den als erleiden können. Sie trafen die Wahl, es lieber großmütig zu erlei-den, als es erlaubterweise zu vermeiden. Bei ihnen war das Martyrium einheroischer Akt der Stärke und Standhaftigkeit, die ihnen ein heiliges Über-maß an Liebe verliehen hatte.

Wird man aber vor die Wahl gestellt, entweder das Martyrium zu erlei-den oder dem Glauben zu entsagen, so hört das Martyrium nicht auf, einMartyrium und ein hervorragender Akt der Liebe und des Starkmutes zusein; aber ich weiß nicht, ob man es einen heroischen Akt nennen soll. DieWahl wird ja nicht infolge eines Übermaßes an Liebe getroffen, sondernwegen der Verpflichtung des Gebotes, das sie in diesem Fall befiehlt.

6. In der Übung heroischer Tugendakte besteht die vollkommene Nach-folge Christi, der, wie der hl. Thomas sagt (III qu. 7 art 2), schon im Augen-blick seiner Empfängnis alle Tugenden in heroischem Maße besaß. Ichmöchte lieber sagen, in einem mehr als heroischen Maß, denn er war nichteinfach nur mehr ein Mensch, sondern unendlich mehr als ein Mensch, d.h. er war wahrer Gott.

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10. KapitelGleichförmigkeit mit dem Willen Gottes, der sich unsGleichförmigkeit mit dem Willen Gottes, der sich unsGleichförmigkeit mit dem Willen Gottes, der sich unsGleichförmigkeit mit dem Willen Gottes, der sich unsGleichförmigkeit mit dem Willen Gottes, der sich uns

in den Eingebungen offenbarin den Eingebungen offenbarin den Eingebungen offenbarin den Eingebungen offenbarin den Eingebungen offenbart.t.t.t.t.

1. Die Sonnenstrahlen spenden Licht, indem sie erwärmen, und sie er-wärmen, indem sie Licht spenden. Die Eingebung ist ein himmlischer Strahl.der ein warmes Licht in unserem Herzen leuchten läßt, durch das wir dasGute sehen und zu einem eifrigen Streben danach erwärmt werden.

Alles, was auf Erden Leben hat, erstarrt in der Winterkälte. Zieht aberder Frühling mit seiner lebenspendenden Wärme ein, so erwacht alleswieder zu neuer Bewegung. Die Landtiere tummeln sich rascher, die Vö-gel fliegen höher hinauf und singen fröhlichere Weisen und die Pflanzentreiben ihre Blätter und schmücken sich anmutig mit Blüten.

Ohne Eingebungen würden unsere Seelen träge und lahm und nutzloshinvegetieren. Trifft sie aber der göttliche Strahl der Eingebungen, so spü-ren wir ein mit lebenspendender Wärme verbundenes Licht, das unserenVerstand erleuchtet, unseren Willen weckt und belebt. Dadurch erhältdieser die Kraft, das zum ewigen Heil erforderliche Gute zu wollen und zutun.

Nachdem Gott den menschlichen Leib aus Erdenstaub gebildet hatte,hauchte er ihm, wie Mose sagt (Gen 2,7), den Odem des Lebens ein, undso wurde er eine lebendige Seele, d. h. eine Seele, die dem Leib Leben,Bewegung und Wirksamkeit gab. Der gleiche ewige Gott haucht und flößtunserer Seele die Eingebungen des übernatürlichen Lebens ein, damit sie,wie der große Apostel sagt (1 Kor 15,45), zu einem lebenspendendenGeist werde, d. h. zu einem Geist, der uns der Gnade gemäß leben, unsbewegen, empfinden und Werke der Gnade vollbringen läßt, so daß der,der uns das Sein gegeben hat, auch die Wirksamkeit gibt.

Der Atem des Menschen erwärmt alle Dinge, die er anhaucht. Als derProphet Elischa seinen Mund auf den Mund des Sohnes der Schunemitinlegte und ihm seinen Atem einhauchte, erwärmte sich dessen Fleisch (2Kön 4,34). Die Erfahrung bestätigt dies in klarer Weise. Der Atem Gotteserwärmt aber nicht bloß, sondern er erleuchtet auch in vollkommenerWeise, ist doch der göttliche Geist unendliches Licht. Sein lebenspenden-der Hauch wird Inspiration (Einhauchung, Eingebung) genannt, denn

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durch ihn haucht und gibt die höchste Güte ihre Herzenswünsche undAbsichten in uns hinein.

2. Zahllos sind die Weisen Gottes, uns Eingebungen zu spenden. Der hl.Antonius, der hl. Franziskus, der hl. Anselm und tausend andere empfin-gen häufig ihre Eingebungen durch den Anblick der Geschöpfe.

Das gewöhnliche Mittel ist die Predigt. Manchmal aber werden diejenigen,die aus dem Wort keinen Nutzen ziehen, durch Trübsale belehrt, wie schonder Prophet sagt: „Die Trübsal wird dem Gehör Verständnis geben“ (Jes28,19), d. h. jene, welche sich nicht bessern, wenn sie die an die Bösengerichteten göttlichen Drohworte hören, werden die Wahrheit durch dieEreignisse und deren Wirkungen erfahren und weise werden, wenn sie dieTrübsale fühlen.

Die hl. Maria von Ägypten erhielt eine Eingebung durch den Anblickeines Mutter-Gottes-Bildes der hl. Antonius, als er das bei der heiligenMesse verkündete Evangelium vernahm, der hl. Augustinus, als er dieLebensgeschichte des hl. Antonius hörte, der Herzog von Gandia, als erdie tote Kaiserin sah, der hl. Pachomius durch ein Beispiel christlicherLiebe, der hl. Ignatius von Loyola, als er das Leben der Heiligen las. Der hl.Cyprian (nicht der große Bischof von Karthago, sondern ein Laie undglorreicher Märtyrer) wurde ergriffen, als er den Teufel seine Ohnmachtjenen gegenüber bekennen hörte, die auf Gott vertrauen.

Als ich in jungen Jahren in Paris weilte, brachten zwei Studenten, vondenen der eine ein Häretiker war, die Nacht in der Vorstadt St. Jakob beischändlichen Vergnügungen zu. Da hörten sie die Glocke der Kartäuserzur Mette läuten. Da der Häretiker den anderen frug, warum man dennläute, erzählte ihm dieser, mit welcher Andacht man in jenem Kloster dasheilige Chorgebet feiere. „O Gott,“ sagte er, „wie sehr unterscheidet sichdoch das Tun dieser Ordensleute vom unseren. Sie geben sich der Tätig-keit der Engel hin und wir der vernunftloser Tiere.“ Am Tag darauf wollteer aus eigener Erfahrung das kennen lernen, was er durch die Erzählungseines Kameraden gehört hatte. Er sah die Väter im Chor wie Marmorsta-tuen in ihre Nischen gereiht, für jede andere Tätigkeit unbeweglich als fürdie der Psalmodie, der sie sich mit wahrhaft engelgleicher Aufmerksam-keit und Andacht hingaben, wie es in ihrem heiligen Orden Brauch ist.Der junge Mann war außer sich vor Bewunderung. Eine innige Freudeerfaßte ihn, als er sah, daß Gott bei den Katholiken so angebetet wurde.Und er entschloß sich – was er dann auch wirklich tat –, sich der Kirche,

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der einzig wahren Braut desjenigen anzuschließen, der ihn mit seiner Ein-gebung im tiefsten Sumpf des Lasters, in dem er steckte, heimgesucht hat-te.

3. O wie selig sind jene, die ihr Herz für die heiligen Eingebungen aufge-schlossen halten! Nie wird es ihnen an solchen fehlen, die ihnen notwendigsind, um ihren Verhältnissen gemäß gut und fromm zu leben und ihreberuflichen Aufgaben in heiliger Weise erfüllen zu können. Denn so wieGott mittels der Natur jedem Tier die Instinkte gibt, die es zu seiner Er-haltung und Betätigung seiner natürlichen Anlagen braucht, so gibt erauch jedem von uns, wenn wir der Gnade Gottes nicht widerstehen, dieEingebungen, die notwendig sind, um ein geistliches Leben zu führen,darin wirken und ausharren zu können.

4. „Ach Herr,“ sagte der treue Elieser (Gen 24,12-14), „ich bin hier beidiesem Wasserbrunnen und die Töchter der Stadt werden hierherkom-men, um Wasser zu schöpfen. Wenn ich nun zu einem jungen Mädchensage: Reiche mir deinen Krug, damit ich trinken kann, – und sie antwortetmir: Trinke, und ich werde auch deinen Kamelen zu trinken geben – sowerde ich daraus erkennen, daß sie diejenige ist, die Du für Deinen KnechtIsaak bereitet hast.“

Merke wohl, Theotimus, Elieser gibt nur zu verstehen, daß er selbst zutrinken wünsche. Aber die schöne Rebekka folgt der Eingebung Gottesund ihrer Gutherzigkeit und bietet sich an, auch die Kamele zu tränken.Dafür wurde sie zur Gemahlin des Isaak, zur Schwiegertochter des großenAbraham und zur Urahnin des Erlösers erkoren.

Die Seelen, die sich nicht damit begnügen, das zu tun, was ihr göttlicherBräutigam durch seine Gebote und Räte von ihnen verlangt, sondern diebereit sind, den heiligen Eingebungen zu folgen, sind es, die der ewige Vaterbereitet hat, Bräute seines vielgeliebten Sohnes zu sein. Da der gute Eliesernicht wissen konnte, welche unter den Töchtern Harans in der Stadt desNahor für den Sohn seines Herrn bestimmt sei, ließ Gott es ihn durch eineEingebung erkennen. Wenn wir nicht wissen, was zu tun ist, und wennmenschlicher Beistand uns in unserer Ratlosigkeit fehlt, kommt Gott unsmit seiner Eingebung zu Hilfe. Und wenn wir demütig gehorchen, läßt ernicht zu, daß wir irregehen.

Ich werde jetzt nichts mehr über diese notwendigen Eingebungen brin-gen, da ich in diesem Werk und in der Anleitung zum frommen Leben(II,18) schon oft darüber gesprochen habe.

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11. KapitelDie VDie VDie VDie VDie Vereinigung unseres Wereinigung unseres Wereinigung unseres Wereinigung unseres Wereinigung unseres Willens mit dem Willens mit dem Willens mit dem Willens mit dem Willens mit dem Willen Gottesillen Gottesillen Gottesillen Gottesillen Gottesin den Eingebungen, die uns zu außergewöhnlichenin den Eingebungen, die uns zu außergewöhnlichenin den Eingebungen, die uns zu außergewöhnlichenin den Eingebungen, die uns zu außergewöhnlichenin den Eingebungen, die uns zu außergewöhnlichen

TTTTTugendübungen verliehen werden.ugendübungen verliehen werden.ugendübungen verliehen werden.ugendübungen verliehen werden.ugendübungen verliehen werden.DieDieDieDieDie BeharrlichkeitBeharrlichkeitBeharrlichkeitBeharrlichkeitBeharrlichkeit i ninininin derderderderder Berufung, das eBerufung, das eBerufung, das eBerufung, das eBerufung, das ersrsrsrsrste Kennzeichente Kennzeichente Kennzeichente Kennzeichente Kennzeichen dedededederrrrr

Eingebung.Eingebung.Eingebung.Eingebung.Eingebung.

1. Es gibt Eingebungen, die nur auf eine außergewöhnliche Vollkom-menheit gewöhnlicher Übungen des christlichen Lebens hinzielen. Liebe-volle Hilfsbereitschaft armen Kranken gegenüber ist ein gewöhnlicherTugendakt echter Christen, der aber vom hl. Franziskus und von der hl.Katharina von Siena mit außergewöhnlicher Vollkommenheit geübt wur-de, als sie an den Geschwüren von Aussätzigen und Krebskranken lecktenund saugten. Das gleiche war auch beim glorreichen König, dem hl. Lud-wig der Fall, als er auf den Knien und entblößten Hauptes die Krankenbediente. (Darüber geriet ein Abt von Citeaux außer sich vor Bewunde-rung, als er ihn in dieser Haltung einen armen, mit schrecklichen krebsar-tigen Wunden bedeckten Kranken pflegen und reinigen sah). Auch war esgewiß eine recht außergewöhnliche Übung dieses heiligen Monarchen,die ärmsten und verachtetsten der Armen bei Tisch zu bedienen und dieReste ihrer Speisen zu essen.

Der hl. Hieronymus, der in seinem Hospital in Betlehem die europäi-schen Pilger aufnahm, die vor der Verfolgung der Goten auf der Fluchtwaren, wusch ihnen nicht nur die Füße, sondern ließ sich sogar herab, dieBeine ihrer Kamele zu waschen und abzureiben, nach dem Beispiel derRebekka, von dem wir oben gesprochen haben, die nicht nur für ElieserWasser schöpfte, sondern auch für seine Kamele.

Der hl. Franziskus ging nicht nur in der Übung der Armut bis zum äu-ßersten, wie jedermann weiß, sondern auch in der heiligen Einfalt (Thom.von Celano, Legende antiqua S. Franc. I, 9-10). Er kaufte ein Lämmchenlos aus Furcht, daß man es töte, und weil er in ihm ein Symbol unseresHerrn sah. Fast allen Geschöpfen brachte er in Anbetracht ihres Schöp-fers in ungewohnter, aber sehr kluger Einfalt Ehrfurcht entgegen. Zuwei-len trug er Würmer sorgfältig von der Straße weg, damit sie niemand zer-trete, und erinnerte sich dabei, daß der Herr sich selbst mit einem Wurmverglichen hatte (Ps 22,7). Er nannte die Geschöpfe seine Brüder undSchwestern, auf schöne Erwägungen hin, die die heilige Liebe ihm eingab.

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Der hl. Alexius, ein Mann adeliger Abkunft, erniedrigte sich so weit, daßer 17 Jahre lang als armer Pilger unerkannt im Haus seines eigenen Vatersin Rom weilte.

2. Alle diese Eingebungen gelten gewöhnlichen Übungen, die aber mitaußergewöhnlicher Vollkommenheit durchgeführt wurden. Für diese Artvon Eingebungen muß man die Regeln befolgen, die wir in unserer „An-leitung“ (III,37) für die Wünsche angeführt haben. Man soll nicht mehrereÜbungen gleichzeitig und auf einmal betreiben wollen, denn oft versuchtder Feind, uns mehrere Vorhaben unternehmen und beginnen zu lassen,damit wir durch zuviel Arbeit erdrückt, nichts fertig bringen und allesunvollendet lassen.

Manchmal flößt er uns sogar den Willen ein, etwas Ausgezeichnetes zuunternehmen und zu beginnen, von dem er voraussieht, daß wir es nicht zuEnde führen werden. Er tut es nur, um uns davon abzuhalten, etwas weni-ger Hervorragendes zu tun, das wir leicht zustandegebracht hätten. Denndarüber macht er sich keine Sorgen, daß man viele Pläne faßt und vielanfängt, wenn nur nichts vollendet wird.

Er will es ebensowenig verhindern wie Pharao (Ex 1,16), daß die mysti-schen Frauen Israels, d. h. die christlichen Seelen, Söhne zur Welt bringen,wenn sie nur getötet werden, ehe sie heranwachsen. Im Gegenteil dazu,sagt der hl. Hieronymus, legt man bei den Christen nicht so viel Gewichtauf den Anfang, als vielmehr auf das Ende (44. Brief an Furia 6). Man sollnicht mehr Speise zu sich nehmen, als man verdauen kann. Der Verführer-geist hält uns bei den Anfängen zurück und macht, daß wir uns mit demblütenreichen Frühling zufrieden geben. Der göttliche Geist lenkt aberunseren Blick auf die Anfänge nur, damit wir zum Ende gelangen, und läßtuns Freude an den Frühlingsblüten finden, nur weil wir hoffen, dann auchdie Früchte des Sommers und des Herbstes zu genießen.

3. Der große hl. Thomas ist der Ansicht, daß es nicht vorteilhaft sei, sichviel zu beraten und lange hin und her zu erwägen, wenn man geneigt ist, ineinen guten, eifrigen Orden einzutreten. Und er hat recht. Denn da derOrdensstand einem Rat unseres Herrn im Evangelium entspricht, wozudann noch viele Ratschläge einholen? Es genügt, wenn man sich mit eini-gen wenigen Menschen bespricht, die klug und in solchen Dingen erfahrensind und uns behilflich sein können, uns rasch und richtig zu entscheiden.Haben wir es uns aber gut überlegt und eine Entscheidung getroffen, dannmüssen wir in dieser und in jeder anderen Sache, die den Dienst Gottes

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betrifft, fest und unverrückbar dabei bleiben, ohne uns durch irgendeinenAnschein, als sei etwas anderes noch besser, davon abbringen zu lassen.

4. Denn sehr oft, sagt der große hl. Bernhard (Sermo 33 in cant. § 9),führt uns der böse Feind hinters Licht. Um uns davon abzubringen, etwasGutes zu vollenden, schlägt er uns etwas anderes vor, das besser zu seinscheint. Kaum aber haben wir damit begonnen, stellt er uns, um von derAusführung abzulenken, etwas Drittes vor Augen. Es ist ihm recht, wennwir allerlei beginnen, wenn wir nur nirgends an ein Ende gelangen. Mansoll darum auch nicht ohne sehr schwerwiegende Beweggründe von einemOrden in einen anderen übertreten, sagt der hl. Thomas (wie oben, Art. 8)und vor ihm schon der Abt Nestorius, wie Cassian berichtet (Collat. Pa-trum 14,5).

Ich entnehme einem Brief des großen hl. Anselm an Lanzon (Br. 28 anL.) ein sehr schönes Gleichnis: Ein Bäumchen, das immer wieder ver-pflanzt wird, kann nicht Wurzel fassen, folglich auch nicht zu seiner vollenEntfaltung gelangen und die erhoffte Frucht bringen. So kann auch dieSeele, die ihr Herz von Vorsatz zu Vorsatz verpflanzt, nicht gedeihen,noch das richtige Wachstum in der Vollkommenheit erreichen. Denn dieVollkommenheit besteht nicht im Anfangen, sondern im Vollenden.

5. Die heiligen Wesen, die Ezechiel schaute, gingen dorthin, wo die Machtdes Geistes sie hintrieb, und sie wandten sich beim Gehen nicht um, son-dern jedes einzelne schritt seines Weges vor sich hin (Ez 1,12). Man mußdorthin gehen, wohin uns die Eingebung treibt; den Entschluß darf mannicht ändern und auf dem Weg nicht umkehren, sondern muß nach derRichtung hin gehen, wohin Gott unser Angesicht gekehrt hat, ohne dieRichtung zu ändern. Wer auf gutem Weg ist, möge sich retten.

Es geschieht manchmal, daß man das Gute aufgibt, um etwas Bessereszu suchen; man läßt dann das eine, ohne das andere zu finden. Besser istder Besitz eines gefundenen kleinen Schatzes als das Streben nach einemgrößeren, den man erst suchen muß. Die Einsprechung ist verdächtig, dieuns dazu drängt, ein erstes gegenwärtiges Gut zu verlassen, um einem zu-künftigen besseren nachzujagen.

Ein junger Portugiese namens Franz Bassus zeigte sich ganz hervorra-gend nicht nur in der geistlichen Beredsamkeit, sondern auch in der Übungder Tugend, als er in der Kongregation des Oratoriums in Rom unter derLeitung des hl. Philipp Neri stand. Er glaubte sich nun von Gott angetrie-ben, diese heilige Gemeinschaft zu verlassen, um sich einem formellen

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Orden anzuschließen, und schließlich führte er dies auch durch. Der seli-ge Philipp Neri, der seiner Aufnahme in den Dominikanerorden beiwohn-te, weinte dabei bitterlich. Franz Maria Tauruse, der spätere Erzbischofvon Siena und Kardinal frug ihn, warum er denn Tränen vergieße. Da sagteer: „Ich beweine den Verlust so vieler Tugenden.“ Und tatsächlich wurdedieser junge Mann, der in der Kongregation so durch Weisheit und Fröm-migkeit hervorstach, sobald er im Orden war, so unbeständig und wankel-mütig, daß er von verschiedensten Wünschen, Neuerungen und Änderun-gen immer in Unruhe gehalten, sehr bedauerliches Ärgernis gab (Galloni-us, Vita B. Phil. Nerii, C. VI).

6. Wenn der Vogelsteller geradeaus auf das Nest des Rebhuhns zugeht,wird die Henne sich vor ihm lahm und hinkend stellen, sie wird sich schein-bar zu hohem Flug aufschwingen, um sich dann plötzlich fallen zu lassen,als ob sie nicht mehr weiter könne, damit der Jäger sich mit ihr befasseund in der Meinung, daß er sie leicht fangen könne, davon abgelenkt wer-de, auf ihre Jungen außerhalb des Nestes zu stoßen. Hat er sie einige Zeitverfolgt und ist er eben daran, sie zu fangen, so wird sie auf- und davonflie-gen.

So handelt auch der böse Feind. Sieht er, daß ein Mensch auf EingebungGottes einen Beruf und eine Lebensweise ergreift, die geeignet ist, ihn inder himmlischen Liebe voranschreiten zu lassen, so überredet er ihn, einenanderen Weg einzuschlagen, der den Anschein größerer Vollkommenheithat. Hat er ihn von seinem ersten Weg abgebracht, so macht er es ihm dannnach und nach unmöglich, den zweiten Weg weiterzugehen, und schlägtihm einen dritten vor. Damit hält er ihn ständig auf der Suche nach ver-schiedenen neuen Mitteln, hindert ihn, irgendeines davon zu gebrauchenund so das Ziel zu erreichen, um dessentwillen er auf der Suche ist, näm-lich die Vollkommenheit.

Die jungen Hunde verlassen bei allem, was ihnen begegnet, die Meuteund wechseln ständig die Fährte, während die alten, erfahrenen Hunde niedie Fährte wechseln und immer die Spur verfolgen, auf der sie sind.

Darum bleibe jeder, der den heiligsten Willen Gottes in seinem Berufgefunden hat, in heiliger, liebevoller Weise diesem treu und widme sichden dazu gehörigen Übungen mit der Einsicht und mit dem Eifer, den dieVollkommenheit erfordert.

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12. KapitelDie VDie VDie VDie VDie Vereinigung des menschlichen Wereinigung des menschlichen Wereinigung des menschlichen Wereinigung des menschlichen Wereinigung des menschlichen Willens mit dem Willens mit dem Willens mit dem Willens mit dem Willens mit dem Willen Gottesillen Gottesillen Gottesillen Gottesillen Gottesin den Eingebungen,in den Eingebungen,in den Eingebungen,in den Eingebungen,in den Eingebungen, diediediediedie dendendendenden gewöhnlichen Gesetzen entgegengewöhnlichen Gesetzen entgegengewöhnlichen Gesetzen entgegengewöhnlichen Gesetzen entgegengewöhnlichen Gesetzen entgegensssssind. Friedind. Friedind. Friedind. Friedind. Friede ue ue ue ue und Sanftmut des Herzens: zweites Kennzeichen dernd Sanftmut des Herzens: zweites Kennzeichen dernd Sanftmut des Herzens: zweites Kennzeichen dernd Sanftmut des Herzens: zweites Kennzeichen dernd Sanftmut des Herzens: zweites Kennzeichen der

Einsprechung.Einsprechung.Einsprechung.Einsprechung.Einsprechung.

1. So also, mein Theotimus, muß man sich den Einsprechungen gegen-über verhalten, die nur insoweit außergewöhnlich sind, als sie uns antrei-ben, die gewöhnlichen Übungen eines Christen mit außergewöhnlicherHingabe und Vollkommenheit zu verrichten.

Es gibt aber noch andere Einsprechungen, die man außergewöhnlichnennt, nicht nur weil sie die Seele zu einem Fortschritt antreiben, der überdas gewöhnliche Maß hinausgeht, sondern auch weil sie zu Taten führen,die den allgemeinen Gesetzen, Regeln und Gebräuchen der heiligen Kircheentgegen und folglich mehr bewunderswert als nachzuahmen sind.

Die heilige Jungfrau, welche die Geschichtsschreiber Eusebia die Frem-de nennen, verließ mit zwei anderen Mädchen, alle drei als Knaben ver-kleidet, ihre Heimat Rom, schiffte sich ein, um über das Meer zu fahren,kam nach Alexandrien und von dort auf die Insel Cos. Als sie sich dort inSicherheit fühlte, zog sie wieder Kleider ihres Geschlechtes an, begab sichneuerdings zur See und kam nach Karien, in die Stadt Milassa, wo dergroße Paulus, der sie in Cos gefunden und unter seine geistliche Führunggenommen hatte, weiterhin ihre Seele leitete. Später, als er dort Bischofgeworden war, führte er sie auf so heilige Weise, daß sie ein Kloster errich-tete und sich dem Dienst der Kirche weihte. Sie bekleidete das Amt, dasman zu jener Zeit das einer Diakonissin nannte, mit solcher Liebe, daß sieals Heilige starb und durch eine große Zahl von Wundern, die Gott durchihre Reliquien und auf ihre Fürsprache wirkte, auch als solche anerkanntwurde. – Kleider des anderen Geschlechtes tragen und sich verkleidet aufder Reise dem Verkehr mit Männern aussetzen, das ist nicht nur außer-halb der Normen christlicher Bescheidenheit, sondern ihnen geradezuentgegengesetzt.

Ein junger Mann gab seiner Mutter einen Fußtritt. Von heftiger Reuegepackt, kam er, um seine Schuld dem hl. Antonius von Padua zu beichten.Dieser wollte in ihm einen noch größeren Abscheu vor der Sünde erwek-ken und sagte ihm daher unter anderem: „Mein Kind, dieser Fuß, derdeiner Bosheit als Werkzeug zu einer solchen Tat gedient hat, verdiente

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abgehauen zu werden.“ Der junge Mann nahm das so ernst, daß er, zuseiner Mutter zurückgekehrt, von Reue hingerissen, sich selbst den Fußabhackte (Liber miraculorum S. Ant. 4). Die Worte des Heiligen hättennach ihrer gewöhnlichen Tragweite nicht diese Kraft gehabt, wenn Gottihnen nicht seine Eingebung hinzugefügt hätte. Doch war diese so außer-gewöhnlich, daß man eher meinen könnte, es sei eine Versuchung gewe-sen, wenn nicht durch das Wunder, daß der Fuß durch den Segen desHeiligen wieder angeheilt wurde, die Eingebung als solche bestätigt wor-den wäre.

Der hl. Paulus, der erste Einsiedler, der hl. Antonius, die hl. Maria vonÄgypten haben sich nicht ohne eine kraftvolle Eingebung in eine so ausge-dehnte Einsamkeit zurückgezogen, wo sie weder der heiligen Messe bei-wohnen, noch die heilige Kommunion empfangen, noch beichten und inihrem doch jugendlichen Alter keinerlei Führung und Beistand habenkonnten. – Der große Simeon der Säulensteher hat ein Leben geführt, daskein Mensch ohne himmlische Eingebung und Hilfe ausdenken und un-ternehmen könnte.

Der heilige Bischof Johannes mit dem Beinamen der Schweiger verließheimlich, ohne daß sein Klerus davon wußte, sein Bistum und verbrachteden Rest seiner Lebenstage im Kloster zu Laura, ohne daß man je etwasvon ihm erfahren konnte. War das nicht gegen die Vorschrift, die denOberhirten zur Residenz in seinem Bistum verpflichtet?

Und wie konnte der große hl. Paulinus sich verkaufen, um das Kindeiner armen Witwe loszukaufen, da er doch dem gewöhnlichen Gesetzgemäß nicht sich selbst, sondern kraft seiner Bischofsweihe der Kircheund der Öffentlichkeit angehörte?

Die Mädchen und Frauen, die wegen ihrer Schönheit verfolgt, sich Ver-wundungen zufügten und so ihr Gesicht entstellten, um unter dem Schutzder Häßlichkeit ihre Keuschheit zu bewahren, taten sie nicht etwas, dasverboten zu sein scheint?

2. Eines der besten Kennzeichen für die Güte der Eingebungen, zumal deraußergewöhnlichen, ist Friede und Ruhe des Herzens, das sie empfängt.Denn der göttliche Geist ist wohl gewaltig, aber von einer sanften, milden,friedlichen Gewalt. Er kommt wie ein Sturmwind daher und wie ein himm-lischer Blitzstrahl, aber er schmettert die Apostel nicht zu Boden, er bringtsie nicht in Verwirrung. Die Furcht, die sie bei seinem Brausen überfällt,währt nicht lange; an ihre Stelle tritt unmittelbar eine ruhige Sicherheit.

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Deshalb läßt sich das göttliche Feuer auf jeden einzelnen von ihnen nieder(Apg 2,2 f), wie um dort heilige Ruhe zu finden und zu schenken.

So wie der Erlöser der friedliche und friedensliebende Salomo genanntwird (Hld), so heißt auch seine Braut Schulammit die Ruhige, die Tochterdes Friedens. Die Stimme, d. h. die Eingebung des Bräutigams, regt sienicht auf und verwirrt sie keineswegs, sondern zieht sie in so milder Weisean, daß ihre Seele dadurch ganz sanft mit ihm verschmilzt und in die seineeinströmt: „Meine Seele zerschmolz,“ sagt sie, „als mein Geliebter mitmir sprach“ (Hld 5,6). Obwohl sie kriegerisch und eine Kämpferin ist, istsie doch gleichzeitig so friedlich, daß sie sich inmitten der Heerlager undSchlachten in Akkorden unvergleichlicher Melodien ergeht. „Was wirstdu anderes in Schulammit sehen als die Chöre der Kriegsheere?“ sagt sie(Hld 7,1). Ihre Kriegsheere sind Chöre, d. h. auf einander abgestimmteSänger, und ihre Chöre sind Kriegsheere, denn die Waffen der Kirche undder gottliebenden Seele sind nichts anderes als ihre Gebete, ihre Hymnen,Gesänge und Psalmen. Darum sind die Diener Gottes, die die höchstenund erhabensten Eingebungen hatten, die sanftesten und friedliebendstender Welt gewesen: so Abraham, Isaak, Jakob. Mose wird als der gutmütig-ste aller Menschen bezeichnet (Num 12,3); David wird wegen seiner Sanft-mut gerühmt (Ps 132,1).

3. Der böse Geist ist im Gegenteil ungestüm, hart und unruhig. Wer sei-nen teuflischen Einflüsterungen folgt und sie für himmlische Einspre-chungen hält, ist für gewöhnlich dadurch erkennbar, daß er unruhig, ei-gensinnig, hochmütig ist und voller Geschäftigkeit allerhand unternehmenwill. Unter dem Vorwand des Eifers stürzen solche Menschen alles Beste-hende um, benörgeln alle Welt, beschimpfen jedermann und tadeln alles,wissen sich nicht zu benehmen, sind unnachgiebig, unverträglich, folgenden Eigenschaften ihrer Eigenliebe und nennen dies Eifer für die EhreGottes.

13. KapitelDas dritte Kennzeichen der Eingebung: der heilige GehorsamDas dritte Kennzeichen der Eingebung: der heilige GehorsamDas dritte Kennzeichen der Eingebung: der heilige GehorsamDas dritte Kennzeichen der Eingebung: der heilige GehorsamDas dritte Kennzeichen der Eingebung: der heilige Gehorsam

gegen die Kirche und die Vgegen die Kirche und die Vgegen die Kirche und die Vgegen die Kirche und die Vgegen die Kirche und die Vorgesetzten.orgesetzten.orgesetzten.orgesetzten.orgesetzten.

1. Dem Frieden und der Sanftmut des Herzens ist die hochheilige De-mut untrennbar verbunden.

Demut nenne ich aber nicht einen zeremoniellen Wortschwall, äußereGesten, das Küssen des Erdbodens, Ehrfurchtsbezeugungen, Verneigun-

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gen, wenn man diese Dinge, wie es häufig vorkommt, ohne inneres Emp-finden der eigenen Niedrigkeit und ohne gerechte Wertschätzung des Nächs-ten tut. Denn all das ist nur ein eitles Getue schwacher Geister und mußeher eine Verzerrung der Demut als Demut genannt werden. Ich rede viel-mehr von einer edlen, echten, markigen, handfesten Demut, die uns emp-fänglich für Zurechtweisungen, lenksam und bereit zum Gehorsam macht.

2. Während der unvergleichliche Simeon der Säulensteher noch als No-vize in Teleda weilte, war er dem Rat seiner Vorgesetzten gegenüber wi-derspenstig, als sie ihn davon abhalten wollten, so viele fremdartige Streng-heiten zu üben, durch die er sinnlos gegen sich wütete. Deswegen wurde erschließlich aus dem Kloster verwiesen, weil er kein Verständnis für dieAbtötung des Herzens hatte, aber die des Leibes übertrieb (Theodoretus,Hist. relig. 26).

Als er aber später wieder zurückgerufen wurde und im geistlichen Le-ben frömmer und vernünftiger geworden war, verhielt er sich ganz anders,wie es folgendes Ereignis bezeugt (Niceph. Callist. Hist. Eccl. 14,51): Alsdie in der Wüste bei Antiochia lebenden Einsiedler von dem außerge-wöhnlichen Leben erfuhren, das er auf der Säule führte, wo er ein irdischerEngel oder ein himmlischer Mensch zu sein schien, sandten sie einen vonihnen als Boten zu ihm und hießen ihn in ihrem Namen also zu ihm spre-chen: „Warum, Simeon, hast du den großen Weg des geistlichen Lebens,der von so vielen großen und heiligen Vorgängern gebahnt worden ist,verlassen und gehst einen anderen, der den Menschen unbekannt und soweit von allem entfernt ist, was man bisher gesehen und gehört hat? Ver-lasse diese Säule, Simeon, und reihe dich unter die anderen, in eine Le-bensweise und eine Methode, Gott zu dienen, ein, wie sie unter den heili-gen uns vorausgegangenen Vätern üblich war.“ Sollte Simeon geneigt sein,ihrem Rat zu folgen und aus Nachgiebigkeit gegen ihren Willen sich bereitzeigen, von der Säule herabzusteigen, dann sollte der Bote ihm die Frei-heit lassen, bei der begonnenen Lebensweise zu verharren. Denn, sagtendiese guten Väter, dann könnte man aus seinem Gehorsam erkennen, daßer diese Lebensart auf göttliche Eingebung hin unternommen habe. Sollteer aber im Gegenteil sich widersetzen und voll Geringschätzung für ihreErmahnung auf seinem Willen beharren, dann müsse man ihn mit Gewaltherunterholen und ihn zwingen, seine Säule zu verlassen.

Als der Bote zu der Säule kam und noch kaum seine Botschaft aus-gesprochen hatte, machte sich der große Simeon ohne Verzug, ohne Vor-

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behalt, ohne Widerrede daran, herunterzusteigen mit einem Gehorsamund einer Demut, die seiner seltenen Heiligkeit würdig waren. Da derAbgesandte das sah, sagte er ihm: „Halte ein, Simeon, bleibe, wo du bist,harre treu aus und habe guten Mut, bleibe tapfer bei deinem Unternehmen,dein Aufenthalt auf der Säule kommt von Gott.“

3. Beachte, Theotimus, wie diese alten, heiligmäßigen Einsiedler beiihrer Generalversammlung in einer so außergewöhnlichen Sache, wie esdas Leben dieses heiligen Säulenstehers war, kein zuverlässigeres Kenn-zeichen göttlichen Ursprungs wußten, als ihn so einfach, sanft und lenk-sam unter den Gesetzen des heiligen Gehorsams zu sehen. Darum segneteGott auch die Unterwürfigkeit dieses großen Mannes und verlieh ihm dieGnade, 30 Jahre lang auf einer 36 Ellen hohen Säule auszuharren, nach-dem er vorher sieben Jahre auf anderen Säulen, die sechs, zwölf und zwan-zig Fuß hoch waren, und zuerst schon zehn Jahre auf einer kleinen Felsen-spitze bei Mandra gestanden hatte. So war dieser Paradiesvogel, der in derLuft lebte, ohne die Erde zu berühren, ein Schauspiel der Liebe für dieEngel und der Bewunderung für die Menschen.

Alles ist gesichert im Gehorsam, alles ist verdächtig, was außerhalb desGehorsams geschieht.

Wenn Gott Eingebungen in ein Herz wirft, so ist die erste, mit der er sieerfüllt, die des Gehorsams. Gab es je eine leuchtendere und fühlbarereEingebung als die, die dem glorreichen hl. Paulus zuteil wurde? DerenHauptinhalt aber war, er solle in die Stadt gehen; dort werde er aus demMund des Hananias erfahren, was er zu tun habe (Apg 9,7). Dieser Hana-nias, ein sehr berühmter Mann, war, wie der hl. Dorotheus sagt (Synopsis§ 5, Patrol. Graeca 92. Bd., 1602. col) Bischof von Damaskus.

Wer sagt, er habe Eingebungen, und sich weigert, den Vorgesetzten zugehorchen und ihre Ratschläge zu befolgen, der ist ein Betrüger. Alle Pro-pheten und Prediger, die von Gott erleuchtet waren, haben immer dieKirche geliebt, immer ihrer Lehre angehangen, wurden auch immer vonihr anerkannt und haben nichts so stark betont wie die Wahrheit, „daß dieLippen des Priesters die Wissenschaft bewahren und man aus seinem Munddas Gesetz erfragen soll“ (Mal 2,7). Daher sind die außergewöhnlichenSendungen teuflische Illusionen und nicht himmlische Einsprechungen,wenn sie nicht von den Hirten, die die kirchliche Sendung haben, aner-kannt und gutgeheißen sind, denn damit stimmen Mose und die Prophetenüberein. Der hl. Franziskus, der hl. Dominikus und die anderen Ordens-

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gründer weihten sich auf eine außergewöhnliche Eingebung hin dem Dienstder Seelen. Aber um so demütiger und aus innerstem Herzen unterwarfensie sich der heiligen Hierarchie der Kirche.

4. Kurz gesagt, die drei besten und sichersten Kennzeichen der echtenEingebungen sind: Ausdauer, im Gegensatz zu Unbeständigkeit und Leicht-fertigkeit; Friede und Sanftmut des Herzens im Gegensatz zu Unruhe undHast; demütiger Gehorsam im Gegensatz zu Hartnäckigkeit und Launen-haftigkeit.

Was wir über die Vereinigung unseres Willens mit dem sogenanntenausgesprochenen Willen gesagt haben, wollen wir mit diesem Gleichnisbeschließen: Fast alle Pflanzen, die gelbe Blüten haben, und selbst diewilde Zichorie, die blaue Blüten trägt, wenden diese immer gegen dieSonne und folgen so ihrem Lauf. Aber die Sonnenblume dreht nicht nurihre Blüten, sondern auch alle ihre Blätter dieser großen Leuchte zu.

So wenden auch alle Auserwählten die Blume ihres Herzens, die derGehorsam gegen die Gebote ist, dem göttlichen Willen zu. Doch die vonder heiligen Liebe mächtig erfaßten Seelen schauen auf die göttliche Gütenicht nur durch den Gehorsam gegen die Gebote, sondern auch durch dieGesamtheit ihrer Empfindungen. Sie folgen so dem Lauf dieser göttlichenSonne in allem, was sie ihnen befiehlt, anrät und eingibt, ohne Vorbehaltund Ausnahme. Sie können mit dem Psalmisten sagen: „Herr, Du hastmeine rechte Hand ergriffen, hast mich nach Deinem Willen geleitet undin Herrlichkeit entrückt“ (Ps 73,24). „Ich bin wie ein Pferd vor Dir gewor-den und ich bin immer bei Dir“ (Ps 73,23). Denn wie ein gut dressiertesPferd sich in jeder Hinsicht durch den Reiter leicht, sanft und richtiglenken läßt, so fügt auch die liebende Seele sich geschmeidig dem WillenGottes, daß er alles mit ihr machen kann, was er will.

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14. KapitelKurze Methode, den Willen Gottes zu erkennen.Kurze Methode, den Willen Gottes zu erkennen.Kurze Methode, den Willen Gottes zu erkennen.Kurze Methode, den Willen Gottes zu erkennen.Kurze Methode, den Willen Gottes zu erkennen.

1. Der hl. Basilius (Mor. 9,12. 23; Regl 227) sagt, daß uns der WilleGottes durch Gottes Anordnung oder Gebote kundgetan wird und daß esda nichts zu überlegen gibt, weil man einfach das tun muß, was geboten ist.Für alles übrige aber ist uns die Freiheit gelassen, nach eigenem Beliebendas zu wählen, was uns gut scheint, obwohl man nicht alles tun soll, waserlaubt ist, sondern nur das, was sinnvoll ist. Schließlich soll man, um gutunterscheiden zu können, was passend ist, den Rat eines weisen geistli-chen Vaters einholen.

2. Hier aber, mein Theotimus, muß ich dich auf eine lästige Versuchungaufmerksam machen. Sie überkommt häufig die Seelen, die ein großesVerlangen haben, in allen Dingen das zu wählen, was am meisten demWillen Gottes entspricht. Denn bei jeder Gelegenheit läßt sie der Feind imZweifel, ob das, was sie tun, der Wille Gottes ist, oder ob sie etwas anderestun sollten. Zum Beispiel: ob es der Wille Gottes ist, daß sie mit demFreund zusammen speisen, oder ob sie es nicht tun sollen; ob sie graueoder schwarze Kleider tragen sollen; ob sie am Freitag oder am Samstagfasten sollen; ob sie zur Erholung gehen sollen oder sich davon enthalten.Damit verlieren sie sehr viel Zeit. Während sie damit beschäftigt und be-müht sind, zu erkennen, was das Bessere sei, versäumen sie unnütz dieZeit, in der sie manch Gutes tun könnten, dessen Ausführung mehr zurEhre Gottes gereichte als die Untersuchung darüber, was gut und wasbesser ist, wobei sie sich aufgehalten haben.

3. Es ist nicht gebräuchlich, das Kleingeld abzuwiegen, sondern nur diegroßen Münzen. Im Handel wäre das sehr umständlich und zeitraubend,wenn man die Pfennige, Heller und Rappen abwiegen würde. Ebenso darfman auch nicht jede einzelne geringe Handlung abwiegen, um zu erken-nen, ob sie besser ist als eine andere.

Ja es liegt sogar oft Aberglauben darin, eine solche Prüfung vornehmenzu wollen. Denn was soll es für einen Zweck haben zu erforschen, ob esbesser sei, die heilige Messe in dieser oder in einer anderen Kirche zuhören, zu spinnen oder zu nähen, einem Mann oder einer Frau ein Almo-sen zu geben? Das hieße nicht einem Herrn gut dienen, würde man gleich-viel Zeit darauf verwenden, darüber nachzudenken, was man tun solle, als

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das zu tun, was getan werden muß. Das Maß unserer Aufmerksamkeit mußder Wichtigkeit dessen entsprechen, was wir unternehmen. Es wäre eineungeordnete Sorge, ebensoviel Mühe für die Überlegungen zu einer Tag-reise zu verwenden als zu einer Reise, die Wochen oder Monate dauert.

4. Berufswahl, Planung einer Sache von großer Tragweite oder ein Werkvon langer Dauer oder eines, das große Ausgaben erfordert, Veränderungdes Wohnortes, Wahl des Umgangs und ähnliches sind Dinge, die es ver-dienen, daß man ernstlich erwägt, was mehr dem Willen Gottes entspricht.Aber bei den kleinen Alltagsdingen, wo ein Fehler weder Folgen nach sichzieht noch unverbesserlich ist, warum sollte man da mit so viel Aufwandund Geschäftigkeit mühsame Beratungen pflegen?

Warum sollte mir so viel daran gelegen sein zu erforschen, ob es Gottlieber ist, daß ich den Rosenkranz bete oder die Tagzeiten Unserer liebenFrau? Es ist doch nicht so viel Unterschied zwischen beiden, daß ich eineso große Sache daraus machen muß. Oder ob ich lieber im Krankenhausdie Kranken besuchen oder zur Vesper gehen soll; lieber zur Predigt oderin eine Kirche, wo ein Ablaß zu gewinnen ist. Weder das eine noch dasandere ist so wichtig, daß man so große Überlegungen anstellen müßte.Man muß bei solchen Gelegenheiten in aller Einfachheit und ohne Klein-lichkeit handeln und, wie der hl. Basilius sagt, in aller Freiheit tun, was unsgut dünkt, um unseren Geist nicht zu ermüden, keine Zeit zu verlierenund uns nicht der Gefahr der Beunruhigung, der Skrupeln und des Aber-glaubens auszusetzen. Das gilt freilich immer nur dann, wenn kein großesMißverhältnis zwischen dem einen Werk und dem anderen ist und keinwesentlicher Umstand bei dem einen oder anderen vorliegt.

5. Aber auch bei folgenschweren Dingen muß man recht demütig ansWerk gehen und nicht glauben, daß man den Willen Gottes durch Sinnierenund spitzfindiges Grübeln erkennen werde. Nachdem man um das Licht desHeiligen Geistes gebeten und sich bemüht hat zu erkennen, was Gott wohl-gefällig ist, nachdem man den Rat seines Seelenführers und, wenn notwen-dig, auch noch von zwei oder drei anderen geistlichen Personen angehörthat, soll man zu einem Entschluß kommen und sich im Namen Gottes füretwas entscheiden. Nachher darf man aber dann diese Entscheidung nichtwieder anzweifeln, sondern soll sie in aller Hingabe, Ruhe und Beharr-lichkeit durchführen und aufrechthalten. Wenn uns auch Schwierigkeiten,Versuchungen und verschiedene Ereignisse bei der Ausübung unsererAbsicht begegnen und einiges Mißtrauen einflößen, ob wir auch wirklich

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die richtige Wahl getroffen haben, müssen wir dennoch fest dabei bleibenund auf all das nicht achthaben, sondern bedenken, daß wir es bei eineranderen Wahl vielleicht noch hundertmal schlechter getroffen hätten.Überdies wissen wir ja nicht, ob Gott will, daß Trost oder Trübsal, Friedeoder Krieg unser Los sein soll.

Haben wir einmal auf heilige Weise einen Entschluß gefaßt, so dürfenwir nie an der Heiligkeit der Ausführung zweifeln, denn wenn es nicht anuns liegt, kann sie nicht fehlgehen. Anders handeln wäre ein Zeichen gro-ßer Eigenliebe oder eines kindischen, schwachen, albernen Geistes.

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NEUNTES BUCHNEUNTES BUCHNEUNTES BUCHNEUNTES BUCHNEUNTES BUCH

Die Liebe der Unterwerfung, durch die unser

Wille sich mit dem Wohlgefallen Gottes vereinigt.

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1. KapitelDie VDie VDie VDie VDie Vereinigung unseres Wereinigung unseres Wereinigung unseres Wereinigung unseres Wereinigung unseres Willens mit dem göttlichen Willens mit dem göttlichen Willens mit dem göttlichen Willens mit dem göttlichen Willens mit dem göttlichen Willen,i l len,i l len,i l len,i l len,

den man den Wden man den Wden man den Wden man den Wden man den Willen des Willen des Willen des Willen des Willen des Wohlgefallens nennt.ohlgefallens nennt.ohlgefallens nennt.ohlgefallens nennt.ohlgefallens nennt.

Nichts, die Sünde ausgenommen, geschieht ohne den Willen Gottes,den man den absoluten Willen oder den Willen des Wohlgefallens nennt.Diesen kann niemand verhindern; erkennen kann man ihn nur an seinenWirkungen. Sind diese eingetreten, so zeigen sie, daß Gott sie gewollt undbeabsichtigt hat.

1. Erwägen wir in seiner Gesamtheit alles, was gewesen ist, was ist undwas sein wird, so werden wir, Theotimus, von Staunen hingerissen und unsgedrängt fühlen, mit dem Psalmisten auszurufen: „O Herr, ich werde Dichpreisen, denn Du bist über alle Maßen verherrlicht, Deine Werke sindwunderbar und meine Seele erkennt es überaus klar. Dein Wissen ist be-wunderswert, es geht weit über mich hinaus und ich kann es nicht errei-chen“ (Ps 139,14.6).

Von diesem Staunen werden wir dann zu heiligem Wohlgefallen überge-hen und uns freuen, daß Gott so unendlich an Weisheit, Macht und Güteist. Von diesen drei göttlichen Eigenschaften ist das ganze Weltall ja nurwie eine kleine Probe, sozusagen nur ein Schaustück.

2. Sehen wir dann die Menschen und die Engel an, diese ganze Vielfaltvon Natur, Eigenschaften, Beschaffenheiten, Fähigkeiten, Affekten, Lei-denschaften, Gnaden und Vorzügen, welche die allerhöchste Vorsehungin dieser ungezählten Menge von himmlischen Geistern und menschli-chen Personen niedergelegt hat und worin die göttliche Gerechtigkeit undBarmherzigkeit sich so wunderbar auswirken, so werden wir uns nichtenthalten können, mit einer von Ehrfurcht und liebevoller Furcht erfülltenFreude zu singen:

„Gerechtigkeit und Gericht will ich besingen.Dir, Gott, dem ganz gerechten, dem ganz mildensei geweiht mein Gesang“ (Ps 101,1).

Theotimus, es soll uns überaus freuen zu sehen, wie Gott seine Barmher-zigkeit durch so viele verschiedenartige, Engeln und Menschen, im Him-mel und auf Erden erteilte Gunsterweise ausübt und wie er seine Gerechtig-keit in einer unendlichen Vielfalt von Leiden und Strafen walten läßt. Dennseine Gerechtigkeit und seine Barmherzigkeit sind in sich gleich liebens-wert und wunderbar. Die eine und die andere sind ja nichts anderes alseine und dieselbe ganz einzige Güte und Gottheit.

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3. Aber weil die Auswirkungen seiner Gerechtigkeit für uns herb undvoll Bitternis sind, mildert er sie uns immer durch eine Beigabe von Auswir-kungen seiner Barmherzigkeit. Er macht, daß mitten in den Sintflutwogenseiner gerechten Entrüstung der grüne Ölzweig erhalten bleibt und daßdie gottliebende Seele einer keuschen Taube gleich (Gen 8,11) ihn schließ-lich finden kann, vorausgesetzt, daß sie nach Taubenart (Jes 38,14; 59,11)zum liebevollen Nachsinnen bereit ist.

So sind Tod, Leiden, Schweiß und Mühsale, deren unser Leben voll ist,nach der gerechten Anordnung Gottes zwar Sündenstrafen, zugleich aberdurch seine milde Barmherzigkeit Himmelsstufen, Mittel zum Fortschrittin der Gnade und Verdienste, um die Glorie zu erringen.

Selig Armut, Hunger, Durst, Trauer, Krankheit, Tod und Verfolgung(Mt 5,3-10), denn sie sind zwar wirklich Strafen, die unseren Fehltrittengebühren, aber Strafen, die so sehr von göttlicher Milde, Güte und Hulddurchtränkt oder gewürzt sind, wie die Ärzte sagen, daß ihre Bitternisganz liebenswert ist.

4. Es ist zwar erstaunlich, aber doch wahr, Theotimus, daß die Verdamm-ten, wären sie nicht durch ihre Halsstarrigkeit und ihren Haß gegen Gottgeblendet, in ihren Peinen Trost finden und sehen würden, daß die Flam-men, die sie ewig verbrennen, wunderbar mit göttlicher Barmherzigkeit ver-mengt sind.

Darum preisen wohl die Heiligen, wenn sie die furchtbaren, entsetz-lichen Qualen der Verdammten erwägen, die göttliche Gerechtigkeit undrufen aus:

„Gerecht bist Du, o Gott, und richtest nach Billigkeit;immer herrscht Gerechtigkeit in Deinen Gerichten“ (Ps 119,137).

Wenn sie aber andererseits sehen, daß diese Peinen, wenn auch ewig undunbegreiflich, doch viel geringer sind als die Schuld und die Verbrechen,für die sie verhängt wurden, beten sie, hingerissen von der unendlichenBarmherzigkeit Gottes: O Herr, wie gut bist Du, denn mitten in Deinemärgsten Zorn kannst Du die Ströme Deiner Erbarmungen nicht zurückhal-ten, sich in die unerbittlichen Flammen der Hölle zu ergießen!

Herr, Du vergißt Deiner Güte nicht,selbst wenn Dein heiliger ZornVerdammte ewig in die Hölle schließt!Ja, Deine Huld und Sanftmut ergießen sichselbst in gerechte Strafen, die Dein Urteil spricht! (s. Ps 77,8 ff).

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5. Wenden wir nach alledem den Blick uns selbst zu. Sehen wir die Mengeinnerer und äußerer Güter, wie auch die so große Zahl innerer und äuße-rer Leiden, die die göttliche Vorsehung in ihrer überaus heiligen Gerechtig-keit und Barmherzigkeit uns bereitet hat. Öffnen wir gleichsam die Armeunserer Einwilligung und umfangen wir all das ganz liebevoll, fügen wiruns dem heiligsten Willen Gottes und singen wir Gott in einem Hymnusewiger Einwilligung: „Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auch aufErden“ (Mt 6,10).

Ja, Herr, Dein Wille geschehe auf Erden, wo es keine Freuden ohne Bei-mischung irgendeines Schmerzes gibt, keine Rosen ohne Dornen, keinenTag ohne darauffolgende Nacht, keinen Frühling ohne vorhergegangenenWinter; auf Erden, Herr, wo die Tröstungen selten, die Mühsale aber un-zählbar sind. O Gott, trotzdem geschehe Dein Wille, nicht nur durch Aus-führung Deiner Gebote, Räte und Eingebungen, die von uns befolgt wer-den müssen, sondern auch im Erleiden der Trübsale und Beschwernisse,die wir auf uns nehmen sollen, damit Dein Wille durch uns, für uns, in unsund an uns alles vollbringe, was ihm wohlgefällig ist.

2. KapitelDie VDie VDie VDie VDie Vereinigung unseres Wereinigung unseres Wereinigung unseres Wereinigung unseres Wereinigung unseres Willens mit dem Willens mit dem Willens mit dem Willens mit dem Willens mit dem Wohlgefallen Gottesohlgefallen Gottesohlgefallen Gottesohlgefallen Gottesohlgefallen Gottes

geschieht vor allem im Leiden.geschieht vor allem im Leiden.geschieht vor allem im Leiden.geschieht vor allem im Leiden.geschieht vor allem im Leiden.

1. Betrachtet man die Leiden an sich, so kann man sie gewiß nicht lieben.Schaut man sie aber in ihrem Ursprung, d. h. in der göttlichen Vorsehung,im göttlichen Willen, der sie anordnet, so sind sie unendlich liebenswert.

Sieh den Stab des Mose auf der Erde, er ist da eine furchterregendeSchlange; sieh ihn in der Hand des Mose, und er ist ein Wunder wirkenderStab (Ex 7). Betrachtest du das Leid an sich, so ist es grauenhaft; betrach-test du es aber im Willen Gottes, dann wird es Liebe und Wonne. Wie oftgeschah es, daß wir gegen Arzneien und Heilmittel Widerwillen empfan-den, wenn der Arzt oder der Apotheker sie uns reichte. Gab sie uns abereine liebe Hand, so überwand die Liebe den Abscheu und wir nahmen siemit Freude. Die Liebe nimmt dem Leid entweder die Herbheit oder sieläßt es uns als liebenswert empfinden (s. Aug. De bono viduit. c. 21).

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Man sagt, es gebe in Böotien einen Fluß, in dem alle Fische ganz goldfar-ben sind. Sobald man sie aber aus diesem Wasser und damit aus ihremUrsprungsort herausnehme, hätten sie die gewöhnliche Farbe der Fische(s. Plin. H. n. 2,103). So ähnlich ist es mit den Leiden. Betrachten wir sieaußerhalb des göttlichen Willens, so haben sie ihre natürliche Bitterkeit.Wer sie aber in diesem ewigen Wohlgefallen betrachtet, sieht sie ganz wievon Gold, liebenswert und kostbar, mehr als man sagen kann.

Hätte Abraham die Notwendigkeit, seinen Sohn zu opfern, außerhalbGottes Willen gesehen, was glaubst du, Theotimus, was er an Schmerzenund Herzensnot gelitten hätte. Doch da er sie im Wohlgefallen Gottes sah,erglänzte sie ihm wie Gold und er umfing sie mit zärtlicher Liebe.

Hätten die Märtyrer ihre Qualen außerhalb dieses göttlichen Wohl-gefallens gesehen, wie hätten sie inmitten der Fesseln und Flammen sin-gen können?

Ein wahrhaft liebendes Herz liebt das göttliche Wohlgefallen nicht nur inden Freuden, sondern auch in den Leiden. Ja, es liebt es sogar mehr imKreuz, in Mühen und Plagen, denn es ist die vorzüglichste Kraft der Liebe,daß sie den Liebenden für das, was er liebt, leiden läßt.

2. Für die Stoiker und insbesondere den guten Epiktet bestand die ganzePhilosophie darin, „sich zu enthalten und auszuhalten, zu verzichten undzu ertragen“ (Aulus Gell. Noct. Att. 17,19), irdischen Freuden, Genüssenund Ehren zu entsagen und darauf zu verzichten, Beleidigungen, Mühenund Beschwerden auszuhalten und zu ertragen.

Die christliche Lehre aber, die allein die wahre Philosophie ist, hat dreiGrundsätze, auf denen sie all ihr Wirken aufbaut (Mt 10,38; 16,24): dieSelbstverleugnung, – die weit mehr ist als Verzicht auf Vergnügen; dasKreuztragen, – das viel mehr ist als ein bloßes Ertragen; die Nachfolge desHerrn, – nicht nur in der Selbstverleugnung und im Kreuztragen, sondernin der Ausübung aller Arten guter Werke.

Allerdings beweist man die Liebe nicht so sehr in der Selbstverleugnungund in der Tätigkeit als im Leiden. Der Heilige Geist bezeichnet auch inder Heiligen Schrift als Höhepunkt der Liebe unseres Herrn gegen uns dasLeiden und Sterben, das er für uns auf sich genommen (Joh 15,13; Röm5,8.9; 1 Joh 3,16).

3. Den Willen Gottes 1) in den Tröstungen lieben ist eine gute Liebe,wenn man wirklich den Willen Gottes und nicht die Tröstungen liebt, indie er eingebettet ist. Es ist aber trotzdem eine Liebe ohne Widerspruch,

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ohne Widerwillen und ohne Anstrengung; denn wer sollte einen so hohenWillen in einer so angenehmen Sache nicht lieben? – 2) Den Willen Gottesin seinen Geboten, Räten und Einsprechungen lieben, ist eine zweite, vielvollkommenere Stufe der Liebe. Denn sie führt uns dazu, auf unsereneigenen Willen zu verzichten, ihn aufzugeben, uns verschiedener Genüssezu enthalten und auf sie zu verzichten, wenn auch nicht auf alle. – 3) DieLeiden und Trübsale aus Liebe zu Gott lieben, ist der Höhepunkt der hoch-heiligen Liebe. Denn in diesen Dingen liegt nichts Liebenswürdiges alseinzig nur der Wille Gottes; unsere Natur widerstrebt dem völlig. Nichtnur verzichtet man auf alle Lust, sondern umfängt liebevoll die Leidenund Mühen.

4. Der böse Geist wußte genau, daß dies die höchste Feinheit der Liebeist. Als er aus dem Mund Gottes gehört hatte (Ijob 1,8), daß Ijob gerecht,aufrichtig, gottesfürchtig war, Sünden vermied und in seiner Unschuldbeharrte, achtete er das alles gering im Vergleich zur letzten großen Prü-fung, die er der Liebe dieses großen Dieners Gottes durch Leiden undTrübsale auferlegen wollte. Damit diese Leiden den äußersten Grad er-reichten, häufte er zusammen den Verlust aller seiner Güter, aller seinerKinder, das Verlassenwerden von allen seinen Freunden, frechen Wider-spruch von Seiten jener, die ihm am nächsten standen, und von seinereigenen Frau, Widerspruch voll Verachtung, Spott und Vorwürfen. Demfügte er noch fast alle Krankheiten hinzu, von denen die Menschen befal-len werden können, vor allem, daß sein ganzer Leib eine grausame, übel-riechende, schreckliche Wunde wurde.

So saß also der große Ijob als König aller Elenden dieser Erde auf einemDüngerhaufen wie auf dem Thron des Elends, mit Wunden, Geschwürenund Eiter bedeckt wie mit königlichen Gewändern, die der Art seinesKönigtums angepaßt waren. In solcher Entäußerung und Erniedrigungsaß er da; hätte er nicht gesprochen, so hätte man nicht unterscheidenkönnen, ob Ijob ein zu Dünger gewordener Mensch, oder ob der DüngerFäulnis in Gestalt eines Menschen war. – Und dieser große Ijob ruft nunaus: „Haben wir Gutes aus der Hand Gottes empfangen, warum sollten wirnicht auch Übles annehmen?“ (Ijob 2,10).

O Gott, welche Liebe liegt in diesem Wort! Er erwägt, mein Theotimus,daß er alles Gute aus der Hand Gottes empfangen hat, und bezeugt damit,daß er die Güter nicht so sehr als Güter geschätzt hat, sondern weil sie ausder Hand Gottes kamen. Und weil es so ist, darum schließt er daraus, daßman auch die Widerwärtigkeiten mit Liebe ertragen muß, weil sie aus der

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gleichen Hand Gottes hervorgehen, die ebenso liebenswürdig ist, wenn sieLeiden schickt, wie wenn sie Tröstungen schenkt.

5. Gutes wird von allen bereitwillig angenommen, aber Übel ent-gegenzunehmen vermag nur die vollkommene Liebe, die sie um so mehrliebt, als sie nur in Anbetracht der Hand, die sie gibt, liebenswert sind.

Der Wanderer, der Angst hat, den rechten Weg zu verfehlen, der unsi-cher seines Weges geht, schaut da und dorthin in die Landschaft hinein,um zu sehen, wo er ist, und bleibt jeden Augenblick stehen, um zu erwä-gen, ob er nicht irregeht. Wer aber seines Weges sicher ist, geht fröhlich,kühn und hurtig einher.

So ähnlich ist es mit einer Liebe, die in Tröstungen dem Willen Gottesfolgen will: immer ist sie in Furcht, irrezugehen und statt des göttlichenWohlgefallens die in der Tröstung liegende eigene Freude zu lieben.

Die Liebe aber, die ihren Weg auf den Willen Gottes hin im Leiden geht,wandelt in Sicherheit. Da das Leid in sich selbst nicht liebenswürdig ist, istes leicht, es nur aus Ehrfurcht vor der Hand zu lieben, die es sendet. ImFrühling, wenn die Kräuter und Blumen so stark ihren Duft ausströmen,daß dieser die Spur des Hirsches oder des Hasen ganz überdeckt, verlau-fen sich die Hunde jeden Augenblick und haben kaum mehr eine Witte-rung. Im Frühling der Tröstungen achtet die Liebe fast nicht mehr auf dasWohlgefallen Gottes, weil die fühlbare Freude an der Tröstung so anzie-hend für das Herz ist, daß sie von der Aufmerksamkeit, die es dem WillenGottes schenken sollte, abgelenkt wird.

Als unser Herr der hl. Katharina von Siena die Wahl zwischen einergoldenen Krone und einer Dornenkrone ließ, wählte sie diese, weil siemehr der Liebe entspräche. „Es ist ein sicheres Zeichen der Liebe,“ sagt dieselige Angela von Foligno, „wenn man leiden will“ (Arnaldus, Leben dersel. Ang. v. Fol., 66. Kap.). Und der große Apostel ruft aus, daß er sich innichts anderem rühme als im Kreuz, in der Schwachheit und in der Verfol-gung (Gal 6,14; 2 Kor 12,5.10).

3. KapitelDie VDie VDie VDie VDie Vereinigung unseres Wereinigung unseres Wereinigung unseres Wereinigung unseres Wereinigung unseres Willens mit dem göttlichen Willens mit dem göttlichen Willens mit dem göttlichen Willens mit dem göttlichen Willens mit dem göttlichen Wohlgefallenohlgefallenohlgefallenohlgefallenohlgefallen

durch Ergebung in seelischen Leiden.durch Ergebung in seelischen Leiden.durch Ergebung in seelischen Leiden.durch Ergebung in seelischen Leiden.durch Ergebung in seelischen Leiden.

1. Die Liebe zum Kreuz läßt uns freiwillige Leiden auf uns nehmen, wiezum Beispiel Fasten, Nachtwachen, Bußgürtel und andere Kasteiungendes Fleisches, und sie läßt uns auf Vergnügen, Ehren und Reichtümer

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verzichten. Die Liebe, die in diesen Übungen zum Ausdruck kommt, istdem Vielgeliebten ganz wohlgefällig.

Und doch ist es ihm noch weit wohlgefälliger, wenn wir die Leiden, Wi-derwärtigkeiten und Ärgerlichkeiten in Anbetracht des göttlichen Wil-lens, der sie uns schickt, mit Geduld, sanftmütig und willig entgegennehmen.Die Liebe aber erreicht ihren höchsten Grad, wenn wir die Leiden nichtnur mit Sanftmut und Geduld entgegennehmen, sondern wenn sie unswillkommen sind, wenn wir sie gern annehmen und wegen des göttlichenWohlgefallens, aus dem sie hervorgehen, liebevoll umfangen.

2. Das Feinste und Erhabenste von allem, was die vollkommene Liebeunternimmt, ist die Einwilligung der Seele in Leiden des geistlichen Lebens.

Die selige Angela von Foligno beschreibt wunderbar die inneren Pei-nen, denen sie zeitweise unterworfen war (Arnaldus 19). Sie sagt, ihreSeele sei so gequält worden, „wie ein Mensch, der an Händen und Füßengefesselt, am Hals aufgehängt, aber nicht erwürgt wäre, sondern in diesemZustand zwischen Leben und Tod ohne Hoffnung auf Hilfe verbliebe“, sodaß er weder auf seinen Füßen stehen, noch sich mit seinen Händen hel-fen, noch mit dem Mund rufen, ja nicht einmal seufzen oder klagen könne.

So ist es, Theotimus. Manchmal ist die Seele derart von inneren Peinenbedrängt, daß alle ihre Kräfte und Fähigkeiten davon niedergedrückt sind,weil sie von allem beraubt ist, was ihr zur Erleichterung dienen könnte, undin der Bangigkeit und unter dem Eindruck alles dessen steht, was sie trau-rig machen kann. Gleich ihrem Heiland beginnt sie sich dann verlassen zufühlen, sich zu fürchten und zu entsetzen. Sie fällt in eine Traurigkeitgleich der von Sterbenden, so daß sie sagen kann: „Meine Seele ist betrübtbis in den Tod“ (Mk 14,33.34; Mt 26, 37-39). Und mit ganzer Seele sehntsie sich, bittet und fleht, daß „dieser Kelch, wenn es möglich ist, an ihrvorübergehe.“

3. Es verbleibt ihr nur die höchste Spitze des Geistes, die innigst verbun-den mit dem Herzen und Wohlgefallen Gottes in ganz einfacher Einwilli-gung sagt: „O ewiger Vater, aber nicht mein, sondern Dein Wille gesche-he“ (Lk 22,42).

Es ist wichtig zu wissen, daß die Seele diesen Akt der Ergebung inmittensolcher Verwirrung, solcher Widersprüche und Widerstände erweckt, daßsie sich fast nicht bewußt ist, ihn zu erwecken. Zum mindesten scheint esihr, er sei so kraftlos, als käme er nicht von Herzen und sei nicht so, wie es

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sich gehöre. Diese Einwilligung in das göttliche Wohlgefallen geschiehtnicht nur ohne Freude und Befriedigung, sondern entgegen jeder Freudeund Befriedigung alles übrigen in ihrem Herzen.

Die Liebe gestattet ihr wohl zu klagen, wenigstens darüber, daß sie nichtklagen kann, sie gestattet ihr, alle Lamentationen des Ijob und des Jeremianachzusprechen, aber unter der Bedingung, daß im Grund der Seele, inder höchsten und zartesten Spitze des Geistes die heilige Einwilligunggegeben werde.

Diese Einwilligung ist aber nicht zärtlich und selig, ja sie ist kaum fühlbar,obwohl wahrhaftig, kraftvoll, unüberwindbar und ganz liebevoll. Es scheint,als habe sie sich auf die höchste Spitze des Geistes, wie auf einen Festungs-turm zurückgezogen; dort bleibt sie mutig, wenn auch alles übrige vonTraurigkeit ergriffen und bedrückt ist. Je mehr die Liebe in diesem Zu-stand aller Hilfe bar, von allem Beistand der Kräfte und Fähigkeiten derSeele verlassen ist, desto wertvoller ist es, wenn sie ihre Treue beharrlichbewahrt.

4. Diese Vereinigung und Gleichförmigkeit mit dem göttlichen Wohlge-fallen geschieht entweder durch heilige Ergebung oder durch den hochhei-ligen Gleichmut.

Die Ergebung besteht darin, daß man sich mühevoll unterwirft: Man möch-te lieber leben als sterben; da es aber dem Wohlgefallen Gottes entspricht,daß man stirbt, so willigt man ein. Man würde gern leben, wenn es Gottgefallen würde, ja mehr noch, man hätte gern, daß es Gott gefiele, daß manlebe. Man stirbt bereitwillig, aber lieber noch würde man leben. Man schei-det guten Willens, aber es würde einen mehr freuen, könnte man bleiben.

Mitten in seinen Drangsalen erweckt Ijob den Akt der Ergebung: „Wennwir Gutes aus der Hand Gottes empfangen haben,“ sagt er, „warum solltenwir nicht auch die Leiden und Drangsale erdulden, die er uns sendet?“(Ijob 2,10 nach der Septuag.). Siehst du, Theotimus, er redet von Ertragen,Aushalten, Dulden. „Wie es dem Herrn gefallen hat, so ist es geschehen;der Name des Herrn sei gebenedeit“ (Ijob 1,21). Das sind Worte der Erge-bung und Hinnahme, als Erleiden und Erdulden gesprochen.

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4. KapitelDie VDie VDie VDie VDie Vereinigung unseres Wereinigung unseres Wereinigung unseres Wereinigung unseres Wereinigung unseres Willens mit dem Willens mit dem Willens mit dem Willens mit dem Willens mit dem Wohlgefallen Gottesohlgefallen Gottesohlgefallen Gottesohlgefallen Gottesohlgefallen Gottes

durch den Gleichmut.durch den Gleichmut.durch den Gleichmut.durch den Gleichmut.durch den Gleichmut.

1. Die Ergebung zieht den Willen Gottes allen Dingen vor. Sie hört abernicht auf, außer dem Willen Gottes noch viele andere Dinge zu lieben. DerGleichmut steht aber über der Ergebung, denn er liebt nichts, außer ausLiebe zum Willen Gottes. Daher kann in Gegenwart des göttlichen Wir-kens nichts das gleichmütige Herz berühren. Allerdings, solange es nochnicht weiß, wo der Wille Gottes gelegen ist, kann auch das gleichmütigsteHerz von irgendeiner Hinneigung berührt werden.

Als Elieser zum Brunnen von Haran kam und die Jungfrau Rebekkasah, fand er sie zweifellos überaus schön und anmutig. Dennoch verharrteer in Gleichmut, bis er durch das Zeichen, das Gott ihm eingegeben hatte,erkannte, daß der göttliche Wille sie für den Sohn seines Herrn bereitethatte. Dann erst gab er ihr die Ohrgehänge und die goldenen Armbänder(Gen 24,16-22).

2. Hätte im Gegenteil Jakob in Rahel nur den Bund mit Laban gesucht,zu dem ihn sein Vater Isaak verpflichtet hatte, so hätte er Lea ebenso wieRahel geliebt, denn beide waren Töchter des Laban, und folglich wäre derWille des Vaters ebenso mit der einen wie mit der anderen erfüllt worden.Da er aber außer dem Willen seines Vaters auch seine eigene Neigung befrie-digen wollte und von der Schönheit und Lieblichkeit der Rahel hingeris-sen war, widerstrebte es ihm, Lea zu heiraten, und er nahm sie nur wider-willig, aus Ergebung.

3. Das gleichmütige Herz ist anders geartet. Es weiß, daß die Widerwär-tigkeit, auch wenn sie häßlich ist wie eine andere Lea, doch eine Tochterdes göttlichen Wohlgefallens und zwar seine vielgeliebte Tochter ist, unddarum liebt er sie ebenso wie die Tröstung, wenn diese in sich selbst auchangenehmer ist. Ja, es liebt sogar die Widerwärtigkeit noch mehr, weil es inihr nichts Liebenswertes sieht, als daß es vom göttlichen Willen geprägt ist.Wenn ich nur reines Wasser will, was liegt mir daran, ob es mir in einemgoldenen Gefäß oder in einem Glas gereicht wird, wo ich doch nichts alsWasser haben will. Ich werde es sogar lieber aus dem Glas trinken, weildieses keine andere Farbe hat als das Wasser selbst, so daß ich es dort vielbesser sehen kann. – Was liegt daran, ob sich mir der Wille Gottes in derWiderwärtigkeit oder in der Tröstung zeigt? Ich will und suche doch in dereinen wie in der anderen nichts als den göttlichen Willen, der um so klarer

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in Erscheinung tritt, je weniger andere Schönheit in ihr enthalten ist als diedieses hochheiligen ewigen Wohlgefallens.

4. Heroisch, ja mehr als heroisch ist der Gleichmut des unvergleichlichenhl. Paulus. Er schreibt an die Philipper (1,23): „Von zwei Seiten fühle ichmich gedrängt; ich habe den Wunsch, von diesem Körper befreit und beiJesus Christus zu sein – und das ist bei weitem das Bessere, – aber euretwe-gen bin ich bereit, auch in diesem Leben zu bleiben.“

Darin wurde er auch von dem großen Bischof, dem hl. Martin, nachge-ahmt. Am Ende seines Lebens angelangt und von dem heißen Wunscherfüllt, zu Gott zu gehen, unterließ er es doch nicht zu bezeugen, daß ergerne noch weiterhin um des Wohles seiner Herde willen inmitten derMühen seines Amtes bleiben würde. Nachdem er den Psalm gesungenhatte:

„Wie lieblich sind Deine Gezelte,o Herr der Heere!Meine Seele hat sich gesehnt,ja verzehrt nach den Höfen des Herrn.Mein Herz und mein Leibjubeln zum lebendigen Gott“ (Ps 84,1-3),

rief er aus: „Und dennoch Herr, wenn ich noch zur Arbeit an dem HeilDeines Volkes gebraucht werde, verweigere ich die Arbeit nicht; DeinWille geschehe“ (Mt 6,10).

Wunderbar der Gleichmut des Apostels, wunderbar der Gleichmut die-ses apostolischen Mannes! Sie sehen das Paradies für sich geöffnet undsehen tausenderlei Mühen auf Erden. Dem einen und dem anderen aberstehen sie hinsichtlich der Wahl gleichmütig gegenüber. Einzig und alleinder Wille Gottes kann für ihre Herzen den Ausschlag geben. Das Paradies istfür sie nicht liebenswerter als das Elend dieser Welt, wenn das göttlicheWohlgefallen ebenso hier wie dort ist. Die Mühen werden für sie zumParadies, wenn sich der göttliche Wille in ihnen befindet, und das Para-dies wird ihnen zur Mühsal, wenn der Wille Gottes nicht dort ist. Denn,wie David sagt (Ps 73,25): sie verlangen sich nichts im Himmel und nichtsauf Erden, als das göttliche Wohlgefallen erfüllt zu sehen. „O Herr, washabe ich im Himmel und was suche ich auf Erden außer Dir?“

5. Das gleichmütige Herz ist wie eine Wachskugel in den Händen seinesGottes, bereit, alle Eindrücke in gleicher Weise von seinem ewigen Wohl-gefallen zu empfangen; ein Herz ohne Wahl, auf gleiche Weise zu allem

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bereit, mit seinem Willen nichts anderem zugewandt als dem Willen sei-nes Gottes. Es verlegt seine Liebe nicht in die Dinge, die Gott will, sondernin den Willen Gottes, der sie will. Wenn daher der Wille Gottes in verschie-denen Dingen ist, wählt es, was immer es auch koste, das, was Gott mehrwill.

Das Wohlgefallen Gottes liegt in der Ehe und in der Jungfräulichkeit;weil es aber mehr in der Jungfräulichkeit liegt, wählt das gleichmütigeHerz die Jungfräulichkeit, und wenn sie ihm auch das Leben kosten wür-de, wie es bei der lieben geistlichen Tochter des hl. Paulus, der hl. Thekla,bei der hl. Cäcilia, der hl. Agatha und tausend anderen der Fall war. GottesWille ist es, daß man dem Armen und dem Reichen diene, ein wenig mehraber will er den Dienst an dem Armen. Das gleichmütige Herz wählt da-her diesen. Gottes Wille ist Bescheidenheit in Tröstungen und Geduld inWiderwärtigkeiten; der Gleichmütige zieht diese vor, da der Wille Gottesnoch mehr in ihnen ist.

Mit einem Wort, das Wohlgefallen Gottes ist der alles beherrschendeGegenstand der gleichmütigen Seele. Überall, wo sie es sieht, läuft siedem „Wohlgeruch seiner Salben“ nach (Hld 1,3) und sucht immer denOrt auf, wo es sich am meisten findet, ohne etwas anderes in Betracht zuziehen.

Sie wird vom göttlichen Willen (Ps 73,24) wie an einem sehr liebens-werten Band geführt und sie folgt ihm, wohin immer er geht. Sie würde dieHölle mit dem Willen Gottes mehr lieben als das Paradies ohne GottesWillen; ja sie würde selbst die Hölle dem Paradies vorziehen, wenn siewüßte, daß es in jener ein klein wenig mehr göttliches Wohlgefallen gäbeals in diesem. Ja, wenn wir uns das Unmögliche vorstellen, daß sie wüßte,ihre Verdammung sei Gott ein klein wenig lieber als ihr Heil, so würde sieihr Heil lassen und zu ihrer Verdammung eilen.

5. KapitelDer heilige Gleichmut erstreckt sich auf alle Dinge.Der heilige Gleichmut erstreckt sich auf alle Dinge.Der heilige Gleichmut erstreckt sich auf alle Dinge.Der heilige Gleichmut erstreckt sich auf alle Dinge.Der heilige Gleichmut erstreckt sich auf alle Dinge.

1. Der Gleichmut muß in allen Dingen des natürlichen Lebens geübtwerden, in Gesundheit, Krankheit, Schönheit, Häßlichkeit, Schwäche,Kraft; in Dingen des bürgerlichen Lebens: in Ehre, Rang, Reichtum; imWandel des geistlichen Lebens: in Trockenheit, Trost, Freude und Dürre;in Handlungen und Leiden, kurzum in jeder Art von Ereignissen.

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2. Ijob wurde in seinem natürlichen Leben von den denkbar schrecklich-sten Wunden befallen; in seinem bürgerlichen Leben wurde er verspottet,verhöhnt, verunglimpft, und das von den Menschen, die ihm am nächstenstanden; in seinem geistlichen Leben litt er an Kraftlosigkeit, inneremDruck, Beklemmungen, Ängsten, Finsternissen und allen Arten unerträg-licher innerer Leiden, wie es uns seine Klagen und Lamentationen kund-tun.

3. Der große Apostel ruft uns zu einem allumfassenden Gleichmut auf,um uns

„als wahre Diener Gottes zu erweisen durch viel Geduldin Drangsalen, in Nöten und in Ängsten,bei Schlägen, in Kerkern und in Aufständen,in Mühen, Nachtwachen und Fasten;durch Keuschheit und Klugheit, durch Langmut und Güte;durch den Heiligen Geist, durch aufrichtige Liebe;durch Verkündigung der Wahrheit durch Gottes Kraft,bei Ehre und Schmach, bei Schmähung und Lob;mit Waffen der Gerechtigkeit zum Schutz und Trutz;für Betrüger gehalten und doch wahrhaftig,unbekannt und doch wohlbekannt,dem Tod nahe und doch lebend,gezüchtigt und doch nicht getötet,betrübt und doch immer fröhlich,in Dürftigkeit und doch viele bereichernd,ohne Besitz und doch im Besitz von allem“ (2 Kor 6,4-10).

Siehe, ich bitte dich, Theotimus, wie sehr das Leben der Apostel schwerbelastet war, dem Leib nach durch Wunden, dem Herzen nach durch Ängste,in der Welt durch Schmach und Gefängnis. Und mitten in alledem, wel-cher Gleichmut! Ihre Trauer ist fröhlich, ihre Armut ist reich, ihr Tod istvoll Leben und ihre Schmach ehrenvoll. Das heißt, sie sind froh, traurig zusein, zufrieden, arm zu sein, lebensmutig mitten in Todesgefahren, hoch-gemut, wenn sie verachtet werden, weil es so der Wille Gottes ist. Und weildieser im Leiden mehr erkannt wird als in der Ausübung anderer Tugenden,erwähnt der Apostel zuerst die Übung der Geduld, indem er sagt: „Zeigenwir uns in allem als Diener Gottes: durch große Geduld in Drangsalen, inNöten und in Ängsten,“ und dann erst sagt er: „durch Keuschheit, Klug-heit und Langmut.“

4. So wurde unser göttlicher Heiland in seinem gesellschaftlichen Leben

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unvergleichlich gemartert, indem er als Verächter der göttlichen undmenschlichen Majestät verurteilt, verhöhnt und gequält und aufs tiefsteerniedrigt wurde; in seinem natürlichen Leben, indem er unter den grau-samsten und denkbar schmerzlichsten Qualen starb; in seinem geistli-chen Leben, indem er Traurigkeit, Furcht, Entsetzen, Bangigkeit, Verlas-senheit und innere Bedrängnis erlitt, wie sie nie ihresgleichen hatten nochje haben werden. Denn wenn auch der oberste Teil seiner Seele sich inüberaus erhabener Weise der ewigen Herrlichkeit erfreute, so hindertedoch die Liebe diese Herrlichkeit, ihre Wonnen dem Gefühl der Einbil-dungskraft und der niederen Vernunft mitzuteilen, so daß das Herz ganzder Traurigkeit und Angst ausgeliefert war.

5. Ezechiel sah etwas wie eine Hand, die ihn bei einer einzigen Lockeseines Hauptes ergriff und ihn zwischen Erde und Himmel emporhob (Ez8,3). So war auch der Herr auf dem Kreuz zwischen Erde und Himmelerhöht, scheinbar von der Hand seines Vaters nur an der äußersten Spitzeseines Geistes gehalten, sozusagen an einem einzigen Haar seines Hauptes,das, von der gütigen Hand des ewigen Vaters berührt, einen über alleserhabenen Einstrom von Seligkeit empfing, während alles übrige in Trau-rigkeit und Verlassenheit versunken blieb, weshalb er auch ausrief: „MeinGott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ (Mt 27,46).

Man sagt, der sogenannte Laternenfisch hebe bei den ärgsten Unwetternseine Zunge aus den Fluten und diese sei so leuchtend, strahlend und hell,daß sie den Schiffern als Leuchte und Fackel diene (Plin. H. n. 9,27). Sowaren auch in dem Meer der Leiden, in das unser Herr versenkt war, alleFähigkeiten seiner Seele wie verschlungen von der Qual so vieler Peinenund wie begraben in ihr, außer der Spitze seines Geistes, die, frei von allerDrangsal, ganz hell und leuchtend war vor Herrlichkeit und Seligkeit.

Wie selig ist die Liebe, die in der höchsten Spitze des Geistes der Gläubi-gen herrscht, während sie in den Wogen und Fluten der inneren Drangsalesind!

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6. KapitelDie Übung des liebevollen Gleichmuts in allem,Die Übung des liebevollen Gleichmuts in allem,Die Übung des liebevollen Gleichmuts in allem,Die Übung des liebevollen Gleichmuts in allem,Die Übung des liebevollen Gleichmuts in allem,

was den Willen Gottes betrifft.was den Willen Gottes betrifft.was den Willen Gottes betrifft.was den Willen Gottes betrifft.was den Willen Gottes betrifft.

1. Das göttliche Wohlgefallen erkennt man fast nur aus den Ereignissen.Solange es uns unbekannt ist, müssen wir, so sehr wir nur können, demWillen Gottes anhangen, der uns geoffenbart oder ausdrücklich gezeigt wor-den ist. Sobald aber das Wohlgefallen der göttlichen Majestät in Erschei-nung tritt, müssen wir uns ihm sofort in liebevollem Gehorsam fügen.

Meine Mutter oder ich selbst (das bleibt sich ganz gleich) liegen krankzu Bett. Ich kann nicht wissen, ob Gott will, daß diese Krankheit zum Todführt. Das kann ich bestimmt nicht wissen; aber ich weiß, daß er ganzausdrücklich will, ich solle in Erwartung dessen, was sein Wohlgefallenbestimmt hat, die für die Genesung geeigneten Heilmittel anwenden. Ichwerde es darum gewissenhaft tun, ohne etwas zu unterlassen, was ich dazubeitragen kann. Liegt es aber im göttlichen Wohlgefallen, daß das Übelüber die Heilmittel siegt und schließlich den Tod herbeiführt, werde ich,sobald ich durch den Verlauf der Dinge darüber Gewißheit habe, liebevollmit der Spitze meines Geistes einwilligen, ungeachtet alles Widerstrebensder niederen Kräfte meiner Seele: „Ja, Herr, ich will es,“ werde ich sagen,„weil es Dir so wohlgefällt“ (Mt 11,26). So hat es Dir gefallen, und sogefällt es auch mir, der ich der demütige Diener Deines Willens bin.

2. Würde mir aber das göttliche Wohlgefallen vor dem Eintritt des Gesche-hens kundgetan, wie zum Beispiel dem hl. Petrus die Art seines Todes(Joh 21,18 f), oder dem hl. Paulus seine Bande und Gefangennahme (Apg20,23; 21,11), oder Jeremia die Zerstörung Jerusalems oder David derTod seines Sohnes (2 Sam 12,14), dann müßte ich im gleichen Augenblickmeinen Willen mit dem Willen Gottes vereinigen.

Nach dem Vorbild Abrahams und so wie er müßten wir, wenn es unsbefohlen würde, an die Ausführung des ewigen Ratschlusses gehen, selbstwenn es sich um den Tod unserer Kinder handelte. Wie bewundernswertist die Hingabe dieses Patriarchen an den Willen Gottes! Im Glauben, daßes dem göttlichen Wohlgefallen entspreche, sein Kind zu opfern, wollte eres auch und machte sich so starkmütig daran. Bewundernswert aber auchdie Hingabe des Kindes. Es unterwirft sich so schlicht dem väterlichen

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Schwert, damit das Wohlgefallen seines Gottes lebe selbst um den Preisseines eigenen Todes!

Beachte aber, Theotimus, diesen Zug vollkommener Vereinigung einesgleichmütigen Herzens mit dem göttlichen Wohlgefallen! Abraham stehtda, das Schwert in der Faust, mit erhobenem Arm, bereit, seinem einzigenKind den Todesstoß zu versetzen. Er tut es, dem göttlichen Willen zugefallen. Aber siehe da, sogleich erscheint ein Engel, vom gleichen göttli-chen Willen gesandt, und hält ihn kurzerhand zurück. Abraham hält so-fort inne; er ist ebenso bereit, seinen Sohn zu opfern als ihn nicht zuopfern; in Gegenwart des Willens Gottes steht er dem Leben und dem Toddesselben gleichmütig gegenüber. Wenn Gott ihm befiehlt, sein Kind zuopfern, wird er nicht betrübt; wenn er ihm das Opfer erläßt, freut er sichnicht darüber. Alles ist diesem großmütigen Herzen gleich, vorausgesetzt,daß dem Willen seines Gottes gedient werde.

3. Ja, Theotimus, Gott flößt uns oft, um uns im heiligen Gleichmut zuüben, erhabene Pläne ein, deren Gelingen er jedoch nicht will. Da müssenwir, wie wir kühn, mutig und beharrlich anfangen und das Werk weiterfüh-ren müssen, solange es möglich ist, ebenso sanft und ruhig in den Ausgangdes Unternehmens einwilligen, so wie es Gott gefällt, ihn uns zu geben.

So fährt der hl. Ludwig auf göttliche Eingebung über das Meer, das Hei-lige Land zu erobern. Es wurde ein großer Mißerfolg, der Heilige willigteaber ruhig in ihn ein. Ich schätze diese ruhige Einwilligung höher als dieHochherzigkeit, die ihn das Werk beginnen ließ.

Der hl. Franziskus reist nach Ägypten, um die Ungläubigen zu bekehrenoder unter den Ungläubigen als Märtyrer zu sterben. So war es der WilleGottes. Er kam jedoch zurück, ohne das eine oder andere getan zu haben,und auch das war der Wille Gottes.

Ebenso war es der Wille Gottes, daß der hl. Antonius von Padua nachdem Martyrium verlangte und es nicht erreichte.

Der selige Ignatius von Loyola hatte unter vielen Mühen die Gesell-schaft Jesu ins Leben gerufen. Er sah die vielen schönen Früchte, die siezeitigte, und sah voraus, daß sie in Zukunft noch viel schönere hervorbrin-gen werde. Dennoch hatte er den Mut, sich vorzunehmen, daß er im Falleihres Untergangs (was der herbste Schmerz gewesen wäre, der ihn hättetreffen können) nach einer halben Stunde gefaßt sein und sich in den Wil-len Gottes fügen würde.

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Der gelehrte und heilige Prediger Andalusiens, Johannes Avila, trug sichmit der Absicht, zur Verherrlichung Gottes eine Genossenschaft refor-mierter Priester zu gründen, und hatte darin schon große Fortschritte er-zielt. Da sah er aber, daß die Genossenschaft der Jesuiten bereits gegrün-det und in voller Tätigkeit war. Das schien ihm für die Bedürfnisse derZeit zu genügen; so ließ er seine Absicht kurzerhand mit einer Sanftmutund Demut ohnegleichen fallen.

4. O wie glücklich sind solche Seelen, die kühn und starkmütig an dieUnternehmungen gehen, die Gott ihnen eingibt, aber auch geschmeidigund sanft diese aufzugeben wissen, wenn Gott es so haben will! Das sindZeichen eines ganz vollkommenen Gleichmutes, wenn man aufhört, et-was Gutes zu tun, sobald Gott es so haben will, und auf halbem Wegumkehrt, sobald der Wille Gottes, der unser Führer ist, es befiehlt.

Jona war gewiß sehr im Unrecht, als er darüber trauerte, daß Gott seineWeissagungen über Ninive nicht in Erfüllung gehen ließ (Jona 4,1). Jonatat nach dem Willen Gottes, als er den Untergang Ninives verkündete.Aber er vermengte sein Interesse und seinen eigenen Willen mit dem Wil-len Gottes. Als er deshalb sah, daß Gott seine Voraussage nicht dem Wort-laut seiner Prophezeiung gemäß in Ausführung brachte, ärgerte er sichund murrte darüber in unwürdiger Weise. Wäre der einzige Beweggrundseiner Handlungen das Wohlgefallen des göttlichen Willens gewesen, sowäre er ebenso zufrieden gewesen, dieses in der Nachlassung der Strafe,die Ninive verdient hatte, erfüllt zu sehen als in der Bestrafung der Schuld,die Ninive auf sich geladen hatte.

Wir wollen, daß das, was wir unternehmen und was wir tun, gelinge. Eswäre aber nicht der Vernunft gemäß, wenn Gott alles nach unserem Belie-ben machen würde. Wenn er will, daß Ninive gewarnt, aber nicht demUntergang preisgegeben werde, weil die Warnung genügt, es zu bessern,warum beklagt sich Jona darüber?

5. Wenn sich aber die Dinge so verhalten, wäre es da nicht gut, sich fürgar nichts mehr mit Eifer einzusetzen, sondern alles gehen zu lassen, wie eseben geschieht? Verzeih mir, Theotimus, man darf nichts außer acht las-sen, was den Unternehmungen, die Gott in unsere Hände gelegt hat, zumErfolg verhelfen könnte, doch unter der Bedingung, daß wir Mißerfolgesanft und ruhig hinnehmen. Denn wir haben den Auftrag, mit großer Sorg-falt alles zu betreiben, was die Verherrlichung Gottes betrifft und uns

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anvertraut ist. Ihr Ausgang aber liegt außerhalb unseres Auftrages undunserer Verpflichtung, denn er übersteigt unsere Macht.

„Trage Sorge für ihn!“, wurde dem Besitzer der Herberge im Gleichnisvon dem Menschen gesagt, der halbtot auf der Straße zwischen Jerusalemund Jericho liegengeblieben war (Lk 10,30-35). Es wird nicht gesagt: „hei-le ihn“, sondern „trage Sorge für ihn“, bemerkt der hl. Bernhard (DeConsid. 4,2).

So predigten die Apostel mit unvergleichlicher Liebe zuerst den Juden,obwohl sie wußten, daß sie diese schließlich als unfruchtbares Erdreichverlassen und sich den Heiden zuwenden müßten (Apg 13,46 f). An uns istes, gut zu pflanzen und zu begießen; das Wachstum zu geben aber ist alleinSache Gottes (1 Kor 3,6). Das Gebet, das der Psalmist an den Erlöserrichtet, ist wie ein Freudenruf und eine Siegesvorhersage: „O Herr, durchDeine Schönheit und Anmut spanne Deinen Bogen, ziehe glücklich hin-aus“ (Ps 45,6), besteige dein Pferd. Es ist, als wollte er sagen, daß sich derHerr durch die in die Herzen der Menschen abgeschossenen Pfeile seinerLiebe zu ihrem Gebieter macht, um sie nach seinem Belieben zu lenken,so wie ein gut dressiertes Pferd. O Herr, Du bist der königliche Reiter, derden Geist Deiner treuen Liebenden ganz in Händen hat und nach seinemGutdünken wendet. Manchmal treibst Du sie mit verhängten Zügeln vor-an, und sie eilen, so schnell sie nur können, zu den Unternehmungen, dieDu Ihnen eingibst. Und dann, wenn es Dir gut dünkt, läßt Du sie halten,wenn sie im schönsten Lauf sind.

6. Wenn aber ein Unternehmen, das auf göttliche Eingebung begonnenwurde, durch die Schuld derjenigen scheitert, denen es anvertraut war, wiekann man da sagen, daß man dem Willen Gottes zustimmen soll? Manwird entgegenhalten: es ist ja nicht der Wille Gottes, der das Gelingenverhindert hat, sondern mein Fehler, dessen Ursache nicht der göttlicheWille war. – Es ist wahr, mein Kind, daß dein Fehler nicht durch denWillen Gottes geschehen ist, denn Gott ist nicht Urheber der Sünde. Wohlaber ist es der Wille Gottes, daß dein Fehler das Mißlingen und den Zusam-menbruch deines Unternehmens als Strafe für deinen Fehler nach sich zieht.Denn wenn auch seine Güte es ihm nicht gestatten kann, deinen Fehler zuwollen, so bewirkt doch seine Gerechtigkeit, daß er die Strafe wolle, diedu deswegen erleidest. So war Gott nicht die Ursache, daß David sündigte,wohl aber verhängte er über ihn die Strafe, die seiner Sünde gebührte. Erwar nicht die Ursache der Sünde Sauls, wohl aber war er es, der zur Strafeden Sieg seiner Waffen scheitern ließ.

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Geschieht es also, daß die göttlichen Absichten zur Strafe für unsereFehler nicht erfüllt werden, so muß man durch eine ernstliche Reue ebensoden Fehler verabscheuen, wie die Strafe annehmen, die er mit sich bringt.Denn so wie die Sünde gegen den Willen Gottes ist, ist die Strafe demWillen Gottes gemäß.

7. KapitelGleichmut in dem, was unseren ForGleichmut in dem, was unseren ForGleichmut in dem, was unseren ForGleichmut in dem, was unseren ForGleichmut in dem, was unseren Fortschritttschritttschritttschritttschritt

in den Tin den Tin den Tin den Tin den Tugenden betriffugenden betriffugenden betriffugenden betriffugenden betrifft.t.t.t.t.

1. Gott hat uns befohlen, alles zu tun, was wir können, um die heiligenTugenden zu erwerben. Lassen wir deshalb nichts außer acht, um bei die-sem heiligen Unternehmen Erfolg zu haben. Doch nachdem wir gepflanztund begossen haben, müssen wir wissen, daß es an Gott ist, den Bäumenunserer guten Neigungen und Haltungen das Wachstum zu geben (1 Kor3,6). Deshalb müssen wir die Frucht unserer Wünsche und Mühen von sei-ner göttlichen Vorsehung erwarten.

2. Wenn wir keinen solchen Fortschritt und keine solche Zunahme inunserem geistlichen Leben merken, wie wir es gerne wünschten, so beun-ruhigen wir uns nicht; bleiben wir in Frieden, damit immer Ruhe in unse-rem Herzen herrsche. An uns ist es, unsere Seelen gut zu bestellen; folg-lich müssen wir auch darauf treu bedacht sein. Die Sorge um die Größe vonGewinn und Ernte müssen wir aber unserem Herrn überlassen. Den Bauerwird man nie schelten, wenn die Ernte nicht gut ist, wohl aber, wenn er dasErdreich nicht ordentlich bearbeitet und besät hat.

Beunruhigen wir uns nicht, wenn wir uns immer wie Novizen in derTugendübung vorkommen, denn im Kloster des frommen Lebens hält sichjeder immer für einen Novizen, und das ganze Leben ist dort Probezeit. Esgibt kein deutlicheres Zeichen dafür, daß man erst Novize ist, ja nichteinmal das, sondern daß man es verdient, getadelt und verstoßen zu wer-den, als wenn man sich schon für einen Professen hält. Denn nach derRegel dieses Ordens macht nicht die Feierlichkeit der Gelübdeablegung,sondern die Erfüllung der Gelübde die Novizen zu Professen. Nun sindaber die Gelübde nie erfüllt, solange es noch etwas zu ihrer Beobachtungzu tun gibt. Die Verpflichtung, Gott zu dienen und Fortschritte in seinerLiebe zu machen, dauert immer bis zum Tod.

3. Aber, wird vielleicht jemand sagen, wenn ich erkenne, daß durch eige-ne Schuld mein Fortschritt in den Tugenden verzögert wird, wie kann ich es

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dann verhindern, traurig und beunruhigt zu sein? – Darüber habe ich inmeiner „Anleitung zum frommen Leben“ gesprochen (III,9), aber ich wie-derhole es gerne, denn es kann nicht oft genug gesagt werden. – Seinerbegangenen Fehler wegen soll man sich betrüben mit einer starken, beson-nenen, beharrlichen, ruhigen, aber nicht mit einer aufgeregten, unruhigen,verzagten Reue. Erkennst du, daß dein Zurückbleiben auf dem Tugendwegvon deiner eigenen Schuld herrührt? – Nun denn, verdemütige dich vorGott, rufe seine Barmherzigkeit an, wirf dich vor dem Angesicht seinerGüte nieder und bitte ihn deswegen um Vergebung. Bekenne deinen Feh-ler und bitte ihn um Verzeihung, auch vor deinem Beichtvater, um dieLossprechung zu erhalten. Ist das geschehen, so bleib in Frieden; nach-dem du die Beleidigung verabscheut hast, umfange liebevoll die Verde-mütigung, die du wegen der Verzögerung deines Fortschrittes im Gutenempfindest.

4. Ach Gott, mein Theotimus, die Seelen, die im Fegfeuer sind, sindzweifellos dort ihrer Sünden wegen, die sie verabscheut haben und überalles verabscheuen. Demütigung und Leid, das ihnen verbleibt, an einemOrt zurückgehalten zu sein, wo sie für eine Zeit der Freuden und derseligen Liebe des Paradieses beraubt sind, ertragen sie aber voll Liebe undsingen voll Andacht das Lied der göttlichen Gerechtigkeit: „Gerecht bistDu, o Herr, und ohne Fehl ist Dein Gericht“ (Ps 119,137).

Warten wir daher mit Geduld unseren Fortschritt ab, und anstatt uns zubeunruhigen, daß wir in der Vergangenheit so geringe Fortschritte gemachthaben, sorgen wir mit Eifer dafür, daß wir in Zukunft größere erzielen.

5. Betrachte zum Beispiel, ich bitte dich, diese gute Seele: sie hat sehrdanach verlangt und gestrebt, sich vom Zorn frei zu machen, und Gott hatsie darin mit seiner Gnade unterstützt und sie aller Sünden ledig gemacht,die vom Zorn herrühren. Sie würde eher sterben, als ein beleidigendesWort auszusprechen oder auch nur im geringsten dem Haß nachzugeben.Immerhin ist sie noch den Anstürmen und ersten Regungen dieser Leiden-schaft unterworfen, die in gewissen Aufwallungen, Erregungen und Aus-brüchen des gereizten Herzens bestehen. Die kaldäische Paraphrase nenntsie „Erregungen“, weshalb es dort heißt: „Erregt euch und sündigt nicht,“während in unserer lateinischen Übersetzung steht: „Zürnet, doch sündigtnicht!“ (Ps 4,5). In Wirklichkeit ist es ein und dasselbe. Der Prophet willja nichts anderes sagen, als daß wir auf der Hut sein sollen, wenn uns der

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Zorn überrascht. Wenn er die ersten Erregungen des Ärgers in unseremHerzen hervorruft, sollen wir uns hüten, uns von dieser Leidenschaft wei-ter fortreißen zu lassen, weil wir sonst sündigen.

6. Obwohl diese ersten Aufwallungen und Erregungen keineswegs Sündesind, so wird doch die davon oft befallene Seele unruhig, traurig und ver-wirrt. Und sie meint, sie müsse darüber traurig sein; die Traurigkeit kämedoch von ihrer Gottesliebe. Das ist aber nicht wahr, Theotimus. DieseUnruhe bewirkt nicht die himmlische Liebe, der nur die Sünde Leid berei-tet, – sondern die Eigenliebe. Diese möchte uns von der Mühe und Anstren-gung frei haben, die uns die Zornanfälle bereiten. Nicht die Schuld be-drängt uns bei diesen Zornanwandlungen, denn es liegt ja gar keine Sündevor, sondern die Mühe, ihnen Widerstand zu leisten, beunruhigt uns.

7. Diese Revolten des sinnlichen Begehrungsvermögens, sowohl im Zornals in der Begierlichkeit, werden uns gelassen, damit wir im Widerstandgegen sie geistliche Tapferkeit pflegen. Das ist der Philister, den die wah-ren Israeliten immer bekämpfen müssen, ohne ihn je niederwerfen zu kön-nen (Jos 23,13). Sie können ihn schwächen, aber nicht vernichten. Erstirbt erst, wenn wir selbst sterben, und lebt mit uns, solange wir selbstleben. Er ist sicher abscheulich und verabscheuungswürdig, da er aus derSünde hervorgegangen ist und ständig zur Sünde hinstrebt.

Wir werden Erde genannt, weil wir aus Erde gebildet sind und zur Erdezurückkehren (Gen 3,19). So wird auch diese Auflehnung vom großenApostel (Röm 6-8; Kol 3,9) Sünde genannt, weil sie von der Sünde her-rührt und zur Sünde hinzielt, wenngleich sie uns nur schuldig macht, wennwir ihr nachgeben und ihr folgen.

Der Apostel mahnt uns, „das Böse in unserem sterblichen Leib nichtdadurch herrschen zu lassen, daß wir dessen Gelüsten nachgeben“ (Röm6,12). Er verbietet uns nicht, die Sünde zu fühlen, sondern nur in sie einzu-willigen. Er befiehlt nicht, daß wir die Sünde hindern, in uns einzudringenund in uns zu sein, sondern er befiehlt, daß sie nicht in uns herrsche. Sie istin uns, wenn wir die Auflehnung des sinnlichen Begehrungsvermögensfühlen, aber sie herrscht nicht in uns, außer wenn wir ihr zustimmen.

8. Der Arzt wird dem Fieberkranken nie befehlen, keinen Durst zu haben,– das wäre unsinnig –; wohl aber wird er ihm sagen, er solle sich des

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Trinkens enthalten, wenn er auch Durst habe. Nie wird man einer schwan-geren Frau sagen, sie dürfe kein Verlangen nach außergewöhnlichen Spei-sen haben, weil das nicht in ihrer Macht steht. Wohl aber wird man ihrnahelegen, zu sagen, worauf sie Lust hat, damit man ihre Einbildungskraftdavon ablenken könne, wenn es schädliche Dinge sind, und diese Einbil-dungen nicht in ihrem Kopf überhand nehmen.

9. „Der Stachel des Fleisches, der Bote Satans,“ setzte dem großen hl.Paulus sehr zu, um ihn in die Sünde stürzen zu lassen. Der Apostel littdarunter, wie unter einer schmachvollen und schändlichen Beschimpfung.Darum sagte er auch, er werde geohrfeigt und verhöhnt, und er bat Gott,ihn davon zu befreien. Gott aber antwortete ihm: „Paulus, meine Gnadegenügt dir, denn in der Schwachheit kommt die Kraft zur Vollendung.“Worauf der große Heilige einwilligte und sagte: „Mit Freuden will ichmich darum lieber meiner Schwachheiten rühmen, damit die Kraft JesuChristi in mir wohne“ (2 Kor 12,7-9).

Beachte, daß die sinnliche Auflehnung wohl in diesem wunderbaren„Gefäß der Auserwählung“ (Apg 9,15) vorhanden ist, daß der Heiligeaber seine Zuflucht zu dem Heilmittel des Gebetes nimmt. Er zeigt uns sodas Mittel, durch das wir die Versuchungen bekämpfen sollen, die wirerleiden.

Beachte auch, daß der Herr, wenn er diese quälenden Revolten im Men-schen zuläßt, es nicht immer tut, um ihn einer Sünde wegen zu bestrafen,sondern um die Kraft und Stärke der göttlichen Hilfe und Gnade zu offen-baren.

Und beachte schließlich noch, daß wir uns unserer Versuchungen undSchwächen wegen nicht nur keiner Unruhe hingeben, sondern uns unsererSchwachheiten rühmen sollen, damit die göttliche Kraft in uns aufleuchte,da sie unsere Schwachheit gegen den Ansturm der Verleitung und Versu-chung stützt. Schwachheiten nennt ja der glorreiche Apostel die Aufwal-lungen und Regungen der Unlauterkeit, die er fühlte. Er sagt, daß er sichihrer rühme, weil er sie wohl seiner Armseligkeit wegen fühlte, aber durchGottes Barmherzigkeit nicht in sie einwilligte.

10. Wie ich schon oben sagte (I,3), hat die Kirche den Irrtum einigerEinsiedler verurteilt, die sagten, wir könnten in dieser Welt ganz frei vonZorn, Lüsternheit, Furcht und anderen ähnlichen Leidenschaften sein. Gottwill, daß wir Feinde haben, Gott will aber auch, daß wir sie zurückdrän-

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gen. Leben wir also mutig zwischen dem einen und dem anderen göttli-chen Wollen; erleiden wir in Geduld, angegriffen zu werden, aber trachtenwir den Angreifern tapfer die Stirne zu bieten und Widerstand zu leisten.

8. KapitelVVVVVereinigung unseres Wereinigung unseres Wereinigung unseres Wereinigung unseres Wereinigung unseres Willens mit dem Willens mit dem Willens mit dem Willens mit dem Willens mit dem Willen Gottesillen Gottesillen Gottesillen Gottesillen Gottes

bei der Zulassung der Sünden.bei der Zulassung der Sünden.bei der Zulassung der Sünden.bei der Zulassung der Sünden.bei der Zulassung der Sünden.

1. Gott haßt die Sünde über alles und dennoch läßt er sie in seiner höch-sten Weisheit zu. Er tut es, um das vernunftbegabte Geschöpf seiner Naturgemäß handeln und um die Guten umso lobwürdiger erscheinen zu lassen,wenn sie das Gesetz nicht übertreten, obwohl sie es könnten. Beten wiralso diese heilige Zulassung an und preisen wir sie.

Weil aber die Vorsehung, welche die Sünde zuläßt, diese doch unendlichhaßt, verabscheuen wir sie mit ihr, hassen wir sie, indem wir aus allenunseren Kräften danach verlangen, daß die Sünde, die Gott zuläßt, dochnicht begangen werde. Und weil wir dieses Verlangen hegen, gebrauchenwir alle Mittel, die uns zur Verfügung stehen, um in Nachahmung unseresHerrn zu verhindern, daß die Sünde entstehe, fortschreite und zur Herr-schaft gelange. Denn der Herr hört nicht auf, uns zu mahnen, zu verspre-chen, zu drohen, zu verbieten, zu befehlen und Einsprechungen zu geben,um unseren Willen von der Sünde so weit abzuwenden, als es ihm nurmöglich ist, ohne ihm seine Freiheit zu nehmen.

2. Ist die Sünde aber begangen, dann tun wir alles, was wir nur können,um sie zu tilgen; so wie der Herr, wie wir schon oben (VIII,4) sagten,Carpus die Versicherung gab, er würde, wenn es nötig wäre, noch einmalden Tod erleiden, um eine einzige Seele von der Sünde zu befreien. Ist aberder Sünder hartnäckig, so weinen wir, Theotimus, seufzen wir, beten wirfür ihn mit dem Erlöser unserer Seelen, der während seines Lebens vieleTränen über die Sünder vergoß und schließlich tränen- und blutüberströmtvoll Herzeleid über den Untergang der Sünder starb. Dieses Empfindenrührte David so sehr, daß er ohnmächtig dahinsank: „Ohnmacht ergriffmich,“ sagt er, „der Frevler wegen, die Dein Gesetz verlassen“ (Ps 119,53).Und der große Apostel beteuert, daß er im Herzen einen unaufhörlichenKummer trage wegen der Hartnäckigkeit der Juden (Röm 9,2).

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3. So hartnäckig jedoch die Sünder auch sein mögen, verlieren wir nichtden Mut, ihnen zu helfen und zu dienen. Denn was wissen wir, ob sie nichtvielleicht doch Buße tun und gerettet werden? Selig derjenige, der zu sei-nen Nächsten wie der hl. Paulus sagen kann: „Ich habe nicht aufgehört, beiTag und Nacht unter Tränen einen jeden von euch zu ermahnen (Apg 20,31).Darum bin ich rein vom Blute aller. Denn ich habe es nicht unterlassen,euch den ganzen Ratschluß Gottes zu verkünden“ (Apg 20,26 f). Solangewir uns innerhalb der Schranken der Hoffnung befinden, daß der Sündersich bessern könne (und diese Schranken erstrecken sich immer so weit,wie die seines Lebens), darf man ihn nie aufgeben, sondern soll für ihnbeten und ihm soweit helfen, als sein unseliger Zustand es zuläßt.

4. Zu guterletzt aber, nachdem wir über die hartnäckigen Sünder geweintund an ihnen die Pflicht der Liebe erfüllt und versucht haben, sie ihremUntergang zu entreißen, müssen wir nach dem Beispiel unseres Herrn undder Apostel unseren Geist davon ablenken und ihn anderen Dingen undder Verherrlichung Gottes nützlicheren Aufgaben zuwenden. „Euch muß-te,“ sagten die Apostel, „das Wort Gottes zuerst gepredigt werden. Weilihr es aber abweist und euch selbst“ des Reiches Jesu Christi „nicht werterachtet, wenden wir uns zu den Heiden“ (Apg 13,46). „Das Reich Gotteswird euch genommen werden,“ sagt der Heiland, „und einem Volk gege-ben werden, das rechte Früchte hervorbringt“ (Mt 21,43). Denn man kannsich nicht zu lange damit abgeben, über die einen zu weinen, ohne die Zeitzu verlieren, die geeignet und erforderlich ist, den anderen das Heil zuverschaffen. Wohl sagt der Apostel, daß er ständig Schmerz über den Un-tergang der Juden empfindet (Röm 9,2). Das ist aber so, wie wenn wirsagen, wir „preisen Gott allezeit“ (Ps 34,1), was nichts anderes heißenwill, als daß wir ihn sehr oft und bei allen Anlässen preisen. Desgleichenhatte der glorreiche hl. Paulus einen unaufhörlichen Kummer in seinemHerzen wegen der Verwerfung der Juden, weil ihn bei allen Anlässen ihrUnglück schmerzte.

5. Im übrigen muß man die rächende, strafende Gerechtigkeit unseresGottes anbeten, sie lieben und ewig preisen, genau so wie wir seine Barm-herzigkeit lieben, denn die eine wie die andere ist Tochter seiner Güte.Denn durch seine Gnade will er, der ganz Gute, ja der überaus Gute, unsgut machen. Durch seine Gerechtigkeit will er die Sünde strafen, weil ersie haßt. Er haßt sie aber, weil er der überaus Gute ist und daher dasüberaus Schlechte, das Böse, verabscheut.

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Zum Schluß sei noch bemerkt, daß Gott seine Barmherzigkeit nie vonuns zurückzieht, außer aus gerechter Rache seiner strafenden Gerechtig-keit, und daß wir der Strenge seiner Gerechtigkeit nie entgehen, außerdurch seine rechtfertigende Barmherzigkeit. Immer aber, ob er nun straftoder begnadigt, ist sein Wohlgefallen der Anbetung, der Liebe und desewigen Lobpreises würdig.

Deshalb wird der Gerechte, der die Barmherzigkeit lobpreist, bei de-nen, die gerettet werden, sich gleicherweise freuen, „wenn er die Rachesieht“ (Ps 58,11). Die Seligen werden mit Freuden der Verdammung derVerstoßenen zustimmen, ebenso wie dem Heil der Erwählten. Und dieEngel werden, nachdem sie den Menschen, die ihrem Schutz anvertrautwaren, Liebe erwiesen haben, in Frieden bleiben, wenn sie sehen, daßdiese hartnäckig sind, und sogar, wenn sie verdammt werden. Man mußalso dem göttlichen Willen zustimmen und mit gleicher Liebe und Ehrfurchtdie rechte Hand seiner Barmherzigkeit wie die linke seiner Gerechtigkeitküssen.

9. KapitelDie Übung reinen Gleichmuts in den WDie Übung reinen Gleichmuts in den WDie Übung reinen Gleichmuts in den WDie Übung reinen Gleichmuts in den WDie Übung reinen Gleichmuts in den Werkerkerkerkerken der heiligen Liebe.en der heiligen Liebe.en der heiligen Liebe.en der heiligen Liebe.en der heiligen Liebe.

1. Einer der besten Sänger und Lautenspieler der Welt wurde binnenkurzer Zeit so taub, daß er überhaupt nichts mehr hörte. Deswegen ließ eraber nicht ab, zu singen und seine Laute in wunderbar zarter Weise zuspielen, dank der großen Übung, die er besaß und die ihm die Taubheitnicht geraubt hatte. Da er aber selbst gar keine Freude an seinem Gesangund an seinem Lautenspiel empfand, weil er infolge seiner Taubheit des-sen Lieblichkeit und Schönheit nicht wahrnehmen konnte, sang und spiel-te er nur mehr zur Freude eines Fürsten, dessen Untertan er war. Eineaußerordentlich starke Neigung, diesem Fürsten zu gefallen, sowie dasBewußtsein, ihm unendlich verpflichtet zu sein, da dieser von Jugend auffür ihn gesorgt hatte, machten es ihm zu einer Freude ohnegleichen, ihmzu gefallen. Zeigte ihm der Fürst, daß ihm sein Gesang gefalle, so war eraußer sich vor Freude. Manchmal aber geschah es, daß der Fürst, um dieLiebe dieses liebenswürdigen Sängers auf die Probe zu stellen, ihm zusingen gebot, ihn dann im Zimmer allein ließ und auf die Jagd ging. DerWunsch des Sängers, den Wünschen seines Herrn zu entsprechen, ließ ihndessen ungeachtet seinen Gesang mit ebensolcher Aufmerksamkeit fort-

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setzen, als ob der Fürst anwesend geblieben wäre, obwohl er in Wahrheitgar keine Freude am Singen hatte. Er hatte keine Freude an der Melodie,da ihn die Taubheit des Genusses beraubte, noch hatte er die Freude, demFürsten zu gefallen, da dieser nicht anwesend war und die Lieblichkeit derschönen Weisen, die er sang, nicht genießen konnte.

„Getrost ist mein Herz, o Gott,getrost ist mein Herz ...Singen will ich und spielen.Wach auf, meine Seele!Wach auf, du Harfe und Zither!“ (Ps 57,8 f).

2. Fürwahr, das menschliche Herz ist der wahre Sänger des Hoheliedesder heiligen Liebe, und es ist selbst Harfe und Zither. Für gewöhnlich hörtsich dieser Sänger selbst und es gewährt ihm große Freude, die Melodieseines Liedes zu vernehmen. Das heißt: unser Herz verkostet, während esGott liebt, die Freuden dieser Liebe und findet eine unvergleichliche Be-friedigung darin, jemand zu lieben, der so überaus liebenswürdig ist.

3. Beachte, ich bitte dich, Theotimus, was ich sagen will: Anfangs versu-chen die kleinen Nachtigallen zu singen, um die alten Nachtigallen nach-zuahmen. Haben sie es einmal gelernt und sind sie selbst Meisterinnengeworden, dann singen sie aus Freude an ihrem eigenen Gesang. Ja, sielieben so leidenschaftlich diese Freude, wie ich schon anderswo gesagthabe (V,8), daß die gewaltige Anstrengung ihres Gesanges die Kehle zumBersten bringt und sie dann zugrundegehen.

So lieben unsere Herzen, wenn sie Anfänger in der Frömmigkeit sind,Gott, um sich mit ihm zu vereinigen, um ihm wohlgefällig zu sein und umihm nachzustreben, der uns von Ewigkeit her geliebt hat. Nach und nachaber werden sie in der heiligen Liebe mehr bewandert und geübt und dannschlagen sie unmerklich einen anderen Weg ein; anstatt Gott zu lieben, umihm zu gefallen, fangen sie an, ihn um der Freude willen zu lieben, die sieselbst an den Übungen der heiligen Liebe finden. Waren sie bisher Gott-liebende, so werden sie jetzt Liebende der Liebe, die sie Gott entgegen-bringen; sie lieben ihre eigenen Liebesempfindungen und finden nichtmehr Gefallen an Gott, sondern am Gefallen, das sie an seiner Liebe fin-den.

Sie haben ihre Befriedigung in dieser Liebe, insoweit sie die ihre ist,insoweit sie in ihrem Geist ist und aus ihm hervorgeht. Denn wenn dieseheilige Liebe auch Gottesliebe genannt wird, weil Gott durch sie geliebt

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wird, hört sie doch nicht auf, unsere Liebe zu sein, da wir die Liebendensind, die durch sie lieben.

4. Darin besteht nun die Veränderung: Statt daß wir diese heilige Liebelieben, weil sie auf Gott hinzielt, der der Vielgeliebte ist, lieben wir sie, weilsie von uns ausgeht, die wir die Liebenden sind. Wer sieht aber nicht, daßwir durch solches Tun nicht mehr Gott suchen, sondern zu uns selbstzurückkehren, daß wir die Liebe lieben, anstatt des Vielgeliebten? Daß wirdiese Liebe nicht wegen des Wohlgefallens und der Befriedigung Gotteslieben, sondern wegen des Gefallens und der Befriedigung, die wir selbstdaraus ziehen?

Der Sänger, der im Anfang zu Gott und für Gott sang, singt jetzt mehr zusich selbst und für sich selbst als für Gott; und wenn er am Singen Freudefindet, dann ist es nicht so sehr, weil er das Ohr Gottes erfreuen will, alsweil er sein eigenes befriedigen will. Und weil das Lied der göttlichenLiebe, das herrlichste von allen ist, liebt er es mehr als alle anderen, abernicht wegen der göttlichen Herrlichkeit, die darin gepriesen wird, sondernweil die Melodie des Gesanges dadurch lieblicher und angenehmer ist.

10. KapitelMittel, diese VMittel, diese VMittel, diese VMittel, diese VMittel, diese Verändererändererändererändereränderung in der heiligen Liebe zu erkung in der heiligen Liebe zu erkung in der heiligen Liebe zu erkung in der heiligen Liebe zu erkung in der heiligen Liebe zu erkennen.ennen.ennen.ennen.ennen.

1. Du wirst das leicht erkennen, Theotimus, denn singt die mystischeNachtigall, um Gott zu befriedigen, so wird sie das Lied singen, von dem sieweiß, daß es der göttlichen Vorsehung am meisten gefällt. Singt sie aber umder Freude willen, die sie selbst an der Melodie ihres Gesanges findet, sowird sie nicht das Lied singen, das der göttlichen Güte am angenehmstenist, sondern das, welches ihr selbst am meisten zusagt und von dem siemeint, daß es ihr am meisten Freude bereiten wird. Es kann leicht sein,daß von zwei Liedern, die an sich beide göttlich sind, eines gesungen wird,weil es göttlich ist, und das andere, weil es lieblich ist. Rahel und Leawaren beide Frauen Jakobs. Die eine liebte er aber nur, weil sie seine Frauwar, die andere dagegen ihrer Schönheit wegen. Das Lied ist göttlich, aberder Beweggrund, aus dem wir singen, ist die geistige Freude, die es unsbereiten soll.

2. Siehst du nicht, könnte man zum Beispiel jenem Bischof sagen, daßGott will, du sollst das Hirtenlied seiner Liebe inmitten deiner Herde singen,die er dir dreimal kraft seiner heiligen Liebe in der Person des hl. Petrus,

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des ersten der Hirten, zu weiden gebietet (Joh 21,15-17)? Was antwortestdu mir? Daß es in Rom, in Paris mehr geistliche Freuden gibt und mandort die heilige Liebe mit lieblicheren Empfindungen üben könne? – OGott, also nicht um Dir zu gefallen, will dieser Mann singen, sondern umdes Vergnügens willen, das er am Singen findet. Nicht Dich sucht er in derLiebe, sondern die Befriedigung in den Übungen der heiligen Liebe.

Die Ordensleute würden gern das Lied der Hirten singen, die Ver-heirateten das der Ordensleute, um, wie sie sagen, Gott besser lieben unddienen zu können. Ach, ihr täuscht euch, meine lieben Freunde! Sagt nicht,daß es euch darum geht, Gott besser lieben und dienen zu können. Ogewiß nicht! Um eurer eigenen Befriedigung besser zu dienen, darum wolltihr es, denn ihr liebt diese mehr als die Befriedigung Gottes.

Der Wille Gottes liegt in der Krankheit ebenso und für gewöhnlich nochmehr als in der Gesundheit. Wenn wir nun die Gesundheit mehr lieben,dann sagen wir nicht, daß es deswegen sei, um Gott besser zu dienen.Denn wer sieht nicht, daß es die Gesundheit ist, die wir im Willen Gottessuchen, und nicht der Wille Gottes in der Gesundheit.

3. Ich gebe zu, daß es nicht leicht ist, lange und mit Vergnügen die Schön-heit eines Spiegels anzuschauen, ohne sich selbst darin zu betrachten, jaohne Freude daran zu haben, sich selbst anzuschauen. Aber es ist doch einUnterschied zwischen der Freude, die man hat, einen Spiegel anzuschau-en, weil er schön ist, und der Befriedigung, die man daran hat, in einenSpiegel zu schauen, weil man sich selbst darin sieht. Es ist zweifellos auchschwierig, Gott zu lieben, ohne zugleich die Freude zu lieben, die man anseiner Liebe findet. Aber es ist doch ein Unterschied zwischen der Befrie-digung, die man darin findet, Gott zu lieben, weil er schön ist, und derjeni-gen, die man daran hat, ihn zu lieben, weil seine Liebe uns angenehm ist.

4. Nun muß man aber trachten, in Gott nur die Liebe zu seiner Schönheitzu suchen und nicht die Freude, die in der Schönheit seiner Liebe liegt. Werwährend des Betens zu Gott merkt, daß er betet, hat seine Aufmerksam-keit nicht ganz auf sein Gebet gerichtet; denn er lenkt sie von Gott ab, zudem er betet, um an das Gebet zu denken, durch das er zu ihm betet.Unsere Bemühungen, keine Zerstreuungen zu haben, werden uns oft zuganz großen Zerstreuungen.

Bei allen Werken des geistlichen Lebens ist die Einfachheit am meisten zuempfehlen. Willst du auf Gott schauen? Dann schau auf ihn, wende deine

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Aufmerksamkeit darauf. Denn wenn du über dich selbst nachdenkst unddeine Augen dir selbst zukehrst, um die Haltung zu sehen, die du ein-nimmst, während du zu Gott aufschaust, dann schaust du nicht mehr aufGott, sondern auf dein Verhalten, also auf dich selbst. Wer eifrig betet, weißgar nicht, ob er betet oder nicht, er denkt nicht an das Gebet, das er verrich-tet, sondern an Gott, an den er es richtet. Wer vom Feuer der heiligen Liebeentflammt ist, wendet sein Herz nicht sich selbst zu, um zu sehen, was ermacht, sondern hält es fest an Gott gebunden und mit Gott beschäftigt,dem seine Liebe gehört. Der himmlische Sänger findet eine solche Freudedaran, Gott zu gefallen, daß ihm der melodische Klang seiner Stimmekeine Freude bereitet, außer die, daß sie seinem Gott gefällt.

5. Warum glaubst du, Theotimus, daß Amnon, der Sohn Davids, Tamarso leidenschaftlich liebte, daß er vor Liebe zu sterben meinte (2 Sam 13)?Glaubst du, daß er sie selbst so liebte? Du wirst sogleich sehen, daß dasnicht der Fall war. Denn sobald er sein verbrecherisches Verlangen gestillthatte, stieß er sie grausam hinaus und trieb sie schändlich fort. Hätte erTamar geliebt, so hätte er das nicht getan, denn Tamar blieb immer Tamar.Da es aber nicht Tamar war, die er liebte, sondern die schändliche Lust, dieer an ihr suchte, verhöhnte er sie in gemeiner Weise und ging brutal mit ihrum, sobald er erreicht hatte, was er wollte. Er suchte seine Lust an Tamar;seine Liebe galt der Lust, nicht Tamar. Als daher seine Lust geschwundenwar, hätte er am liebsten gesehen, wenn Tamar auch verschwunden wäre.

6. Theotimus, sieh dir einmal diesen Menschen an, der zu Gott betet,und wie dir scheint, mit so großer Andacht betet und mit so großem Eifersich den Übungen der himmlischen Liebe hingibt. Aber warte ein wenigzu, und du wirst sehen, ob es wirklich Gott ist, den er liebt. Ach, leider,sobald die süße Freude und die Befriedigung, die er an der Liebe fand,aufhört und die Trockenheit einsetzt, wird er alles aufgeben und nur mehrhie und da beten. Wäre es Gott gewesen, den er geliebt, warum hätte erdann aufgehört, ihn zu lieben, wo doch Gott immer Gott bleibt? Es waralso der Trost Gottes, den er liebte, und nicht der Gott des Trostes (2 Kor1,3).

Viele gibt es, die kein Gefallen an der göttlichen Liebe finden, wenn sienicht irgendwie in den Zucker einer fühlbaren Süßigkeit getaucht ist, undgerne würden sie es wie die kleinen Kinder machen. Wenn man ihnen einmit Honig bestrichenes Brot reicht, lecken sie den Honig ab und werfen

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das Brot weg. Wäre der süße Trost trennbar von der Liebe, so würden siedie Liebe lassen und sich an den süßen Trost halten. Sie folgen der Liebealso um des süßen Trostes willen; begegnen sie diesem nicht in ihr, so küm-mern sie sich nicht um die Liebe.

Solche Menschen sind aber großen Gefahren ausgesetzt. Sie lassen ent-weder alles fallen, wenn ihnen Wohlgefühl und Tröstung fehlen, oder siegeben sich mit eitlen Süßigkeiten ab, die weit entfernt sind von wahrerLiebe, und sehen Herakleahonig für Narbonnehonig an.

11. KapitelRatlosigkeit des Herzens, das liebt, ohne zu wissen,Ratlosigkeit des Herzens, das liebt, ohne zu wissen,Ratlosigkeit des Herzens, das liebt, ohne zu wissen,Ratlosigkeit des Herzens, das liebt, ohne zu wissen,Ratlosigkeit des Herzens, das liebt, ohne zu wissen,

daß der Geliebte Gefallen an ihm hat.daß der Geliebte Gefallen an ihm hat.daß der Geliebte Gefallen an ihm hat.daß der Geliebte Gefallen an ihm hat.daß der Geliebte Gefallen an ihm hat.

1. Der Sänger, von dem ich gesprochen habe, hatte, da er taub gewordenwar, keine andere Befriedigung an seinem Gesang als die, ab und zu zusehen, daß ihm sein Fürst aufmerksam lauschte und Freude daran fand.Wie glückselig ist das Herz, das Gott liebt, ohne eine andere Freude zuhaben als die, Gott zu gefallen! Denn, welche Freude könnte reiner undvollkommener sein als die Freude, die man am Wohlgefallen Gottes fin-det?

2. Dennoch ist die Freude, Gott zu gefallen, nicht im eigentlichen Sinndes Wortes die Gottesliebe, sondern nur eine ihrer Früchte. Sie kann daherebenso von ihr getrennt sein, wie eine Zitrone vom Zitronenbaum. Dennunser Sänger sang, wie ich schon sagte, immer weiter, ohne Freude ausseinem Gesang zu schöpfen, weil ihn ja die Taubheit daran hinderte. Sound so oft sang er auch, ohne die Freude zu haben, seinem Fürsten zugefallen, weil der Fürst, nachdem er ihm zu singen geboten hatte, sichzurückzog oder auf die Jagd ging, ohne sich weder die Muße, noch dieFreude zu gönnen, ihn zu hören.

3. O mein Gott, während ich Dein freundliches Antlitz sehe, das mirbezeugt, daß Dir der Gesang meiner Liebe gefällt, ach, wie bin ich dagetröstet! Denn gibt es eine Freude, die der Freude gleicht, seinem Gott zugefallen? Aber wenn Du Deine Augen von mir abwendest und wenn ichnicht mehr das gütig-wohlwollende Gefallen wahrnehme, das Du an mei-nem Lied fandest, wahrhaftiger Gott, wie leidet da meine Seele! Aber siehört deswegen nicht auf, Dich treu zu lieben und Dir ohne Unterlaß denHymnus ihrer Liebe zu singen. Nicht wegen irgendeiner Freude, die sie

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daran findet, denn sie hat keine Freude daran, sondern sie singt aus reinerLiebe zu Deinem Willen.

Da hat ein krankes Kind trotz heftigsten Ekels tapfer gegessen, was ihmdie Mutter reichte, einzig und allein nur aus dem Wunsch, die Mutterzufriedenzustellen. Es hat gegessen, ohne irgendeine Freude an der Speisezu finden, aber nicht ohne eine wertvollere, höhere Freude, nämlich die,seiner Mutter zu gefallen und sie zufrieden zu sehen.

Ein anderes Kind aber, das, ohne seine Mutter zu sehen, alles nahm, wasman ihm von ihr brachte, nur weil es wußte, daß seine Mutter es wollte, hatohne jegliche Freude gegessen. Denn es hatte weder Freude am Essen,noch die Befriedigung, die Freude seiner Mutter zu sehen, sondern es hateinzig und allein gegessen, um ihren Willen zu erfüllen.

Die bloße Zufriedenheit eines anwesenden Fürsten oder irgendeinersehr geliebten Person macht Nachtwachen, Schweiß und Mühen ange-nehm und Wagnisse wünschenswert. Es gibt aber nichts Traurigeres, alseinem Herrn zu dienen, der von unserem Dienst nichts weiß, oder wenn erdavon weiß, in keiner Weise zeigt, daß es ihm so recht ist. Die Liebe mußdann ganz stark sein, denn sie muß sich auf sich selbst stützen, ohne voneiner Freude oder einer Aussicht auf etwas getragen zu werden.

4. So geschieht es manchmal, daß wir bei den Übungen der heiligen Liebekeinerlei Freude empfinden. Wir sind wie taube Sänger, wir hören nichtunsere eigene Stimme und können uns an der Schönheit unseres Gesangesnicht erfreuen. Im Gegenteil, wir sind überdies von tausend Ängsten be-drängt, von vielem Getöse beunruhigt, mit dem der Feind um unser Herzherum lärmt. Er macht uns vor, daß wir vielleicht unserem Herrn undMeister nicht genehm seien und daß unsere Liebe keinen Wert habe, ja daßsie falsch und eitel sei, da sie keine Freude hervorbringt. Dann, Theoti-mus, arbeiten wir nicht nur freudlos, sondern ganz verdrossen, da wir we-der das Gute an unserer Arbeit, noch die Zufriedenheit desjenigen sehen,für den wir arbeiten.

5. Was aber in dieser Lage das Übel noch vermehrt, ist, daß die höchsteSpitze der Vernunft uns keinerlei Erleichterung verschaffen kann. Denn die-ser arme höhere Bereich der Vernunft ist selbst derart von den Einflüste-rungen des Feindes umgarnt und dadurch sosehr geängstigt und aufgeregtbesorgt, sich ja nicht von einer Zustimmung zum Bösen überrumpeln zulassen, daß er keinen Ausfall wagen kann, um den niederen Teil des Geis-tes zu entlasten.

Hat auch die höchste Spitze des Geistes nicht den Mut verloren, so wird

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sie doch so furchtbar angegriffen, daß sie wohl ohne Schuld bleibt, aberdoch nicht ohne Leid. Um das Maß ihrer Drangsal voll zu machen, ist sieauch noch des Trostes beraubt, den man sonst bei fast allen anderen Übelndieser Welt hat, nämlich der Hoffnung, daß sie nicht ewig dauern, sonderndaß man ihr Ende erleben wird. Bei diesen geistlichen Prüfungen verfälltdas Herz in eine gewisse Unfähigkeit, an ein Ende der Leiden zu denken.Es kann folglich nicht in der Hoffnung Erleichterung finden.

Wohl versichert uns der Glaube, der in der höchsten Spitze des Geistesherrscht, daß diese Unruhe ein Ende nehmen wird und wir uns eines Tagesder Ruhe erfreuen werden. Aber das gewaltige Lärmen und Schreien desFeindes im übrigen Bereich der Seele, in der niederen Vernunft, bewirkt,daß die Ratschläge und Vorstellungen des Glaubens kaum gehört werden,so daß in der Einbildung nur der traurige Gedanke bleibt: „Ach, ich werdenie mehr froh werden“ (Aus: Leben des hl. Bernhard, s. Anleitung z. fr.Leben IV,15).

6. Ach Gott, mein lieber Theotimus, dann ist es erst recht an der Zeit,dem Heiland dadurch unüberwindliche Treue zu erweisen. daß man ihmrein nur aus Liebe zu seinem Willen dient, nicht nur ohne Freude, sondernmitten in dieser Flut von Traurigkeit, Entsetzen, Angst und Versuchungen,so wie es seine glorreiche Mutter und der hl. Johannes am Tag seinesbitteren Leidens taten. Mitten unter den Gotteslästerungen, den Schmer-zen und Todesnöten blieben sie stark in der Liebe, selbst dann, als derHerr, der seine ganze heilige Freude in die höchste Spitze seines Geisteszurückgezogen hatte, weder Freude noch Trost an seinem göttlichen Ant-litz ausstrahlte und seine matt gewordenen und von Todesschatten be-deckten Augen nur mehr schmerzerfüllte Blicke werfen konnten, wie auchdie Sonne nur mehr schaurige Strahlen in eine schreckliche Finsternishinein.

12. KapitelWie die Seele inmitten der inneren Leiden in UnkenntnisWie die Seele inmitten der inneren Leiden in UnkenntnisWie die Seele inmitten der inneren Leiden in UnkenntnisWie die Seele inmitten der inneren Leiden in UnkenntnisWie die Seele inmitten der inneren Leiden in Unkenntnis

ihrer Gottesliebe ist.ihrer Gottesliebe ist.ihrer Gottesliebe ist.ihrer Gottesliebe ist.ihrer Gottesliebe ist.Das ganz liebenswerDas ganz liebenswerDas ganz liebenswerDas ganz liebenswerDas ganz liebenswerte Sterben des Wte Sterben des Wte Sterben des Wte Sterben des Wte Sterben des Willens.il lens.il lens.il lens.il lens.

1. Am Vorabend des Tages, an dem der große hl. Petrus den Martertoderleiden sollte, erschien der Engel bei ihm im Gefängnis (Apg 12, 6-11),erfüllte es mit einem strahlenden Licht, weckte Petrus, hieß ihn sogleich

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aufstehen, sich gürten, seine Schuhe anziehen, den Mantel umwerfen, nahmihm Ketten und Handfesseln ab, zog ihn aus dem Gefängnis hinaus undgeleitete ihn an der ersten und zweiten Wache vorbei bis zum eisernen Tor,das in die Stadt führte. Dieses öffnete sich von selbst. Sie traten hinaus, undals sie eine Straße weiter gegangen waren, schied der Engel und ließ denglorreichen hl. Petrus dort in voller Freiheit zurück.

Hier hören wir von einer stattlichen Anzahl sehr sinnfälliger Handlun-gen, und dennoch schien es dem hl. Petrus, der doch zuerst geweckt wordenwar, daß das, was durch den Engel geschah, nicht Wirklichkeit wäre; ermeinte vielmehr ein Gesicht geschaut zu haben. Er war geweckt wordenund glaubte es nicht zu sein, er hatte Schuhe und Kleider angezogen undwußte nicht, daß er es getan hatte, er ging und glaubte nicht zu gehen, erwar in Freiheit gesetzt worden und glaubte es nicht zu sein. Und das, weildas Wunder seiner Befreiung so groß war und seinen Geist derart in Be-schlag nahm, daß er wohl genug Empfindung und Bewußtsein hatte, das zutun, was er tat, aber doch nicht ausreichend zu erkennen, daß er es wirklichund in Wahrheit tat. Er sah den Engel, aber er merkte nicht, daß es einewahre und wirkliche Erscheinung war. Deshalb freute ihn seine Befreiungauch erst, als er zu sich kam und sagte: „Jetzt weiß ich es wahrhaftig: derHerr hat seinen Engel gesandt und mich der Hand des Herodes und allerErwartung des Volkes der Juden entrissen.“

2. Das gleiche, Theotimus, trifft bei einer Seele zu, die schwer unterinneren Peinen zu leiden hat. Denn obwohl sie zu glauben, zu hoffen undGott zu lieben vermag und es in Wahrheit auch tut, so hat sie doch nicht dieKraft, klar zu unterscheiden, ob sie wirklich glaubt, hofft und ihren Gottliebt. Die Trostlosigkeit, in der sie sich befindet, nimmt sie derart in Be-schlag und drückt sie so sehr nieder, daß sie gar nicht auf sich selbst zu-rückkommen kann, um zu schauen, was sie tut. Darum scheint es ihr, alsob sie keinen Glauben, keine Hoffnung, keine Liebe habe, sondern nurTrugbilder und fruchtlose Eindrücke dieser Tugenden; sie nimmt sie wahr,fast ohne sie wahrzunehmen, und empfindet sie wie Fremdlinge, aber nichtals Hausgenossen ihrer Seele.

3. Wenn du darauf achtest, wirst du sehen, daß unser Geist immer ineinem ähnlichen Zustand ist, wenn er von einer heftigen Leidenschaft macht-voll ergriffen ist. Dann verrichtet er verschiedene Handlungen wie im Traumund ist sich derselben so wenig bewußt, daß er fast nicht glauben kann, daß

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diese Dinge in Wirklichkeit vor sich gehen. Darum drückt der Psalmistdie große Freude, die die Israeliten bei ihrer Heimkehr aus der babyloni-schen Gefangenschaft empfanden, mit den Worten aus:

„Als der Herr einst wandte Zions Geschick,da war’s uns, als ob wir träumten“ (Ps 126,1 nach d. Hebr.).

In der lateinischen Übersetzung entsprechend der Septuaginta aber heißtes: „Da waren wir wie getröstet“, d. h. die Bewunderung der Größe desGuten, das uns zuteil wurde, war so außerordentlich, daß sie uns hinderte,den Trost, den wir empfingen, richtig zu fühlen. So standen wir unter demEindruck, nicht wahrhaft getröstet zu sein und nicht in Wirklichkeit eineTröstung empfangen zu haben, sondern nur im Bild und im Traum.

4. Das sind die Empfindungen einer Seele, die unter geistlichen Qualenleidet. Durch sie wird die Liebe außerordentlich rein und lauter. Da sie jederFreude beraubt ist, durch die sie an Gott gefesselt sein könnte, vereinigtsie uns unmittelbar mit Gott, Willen an Willen, Herz an Herz, ohne ir-gendein Dazwischentreten von Befriedigung oder Verlangen.

5. Ach, Theotimus, wie traurig ist das arme Herz, wenn es, scheinbar vonder Liebe verlassen, überall hinblickt und sie nicht finden kann. Es findetsie nicht in den äußeren Sinnen, denn dafür sind diese nicht aufnahmefä-hig; nicht in der Einbildungskraft, die von den verschiedensten Eindrük-ken in grausamer Weise geplagt ist; noch in der Vernunft, die durch unzäh-lige Finsternisse im Denken und durch seltsame Ängste verstört ist. Schließ-lich findet die Seele sie im höchsten Bereich des Geistes, wo diese göttlicheLiebe ihren Sitz hat; dort erkennt die Seele sie nicht und meint, es sei nichtdie Liebe, weil die Größe der Nöte und Finsternisse sie hindern, ihre Süßezu fühlen. Die Seele sieht sie, ohne sie zu sehen, sie begegnet ihr, ohne siezu erkennen, „so wie im Traum“ und in einem Bild. So empfand Magdale-na, als sie ihrem geliebten Meister begegnete, keinerlei Trost, denn sieglaubte nicht, daß er es sei, sondern nur der Gärtner (Joh 20,15).

6. Was kann die Seele aber tun, wenn sie sich in diesem Zustand befin-det? Theotimus, sie weiß nicht, wie sie sich in all diesen Nöten aufrechter-halten soll, und hat nur mehr die Kraft, ihren Willen in den Armen desgöttlichen Willens nach dem Vorbild des göttlichen Heilands sterben zu las-sen. Am Höhepunkt der ihm vom Vater bestimmten Leiden am Kreuz, alser dem Übermaß an Schmerzen nicht mehr widerstehen konnte, war erähnlich dem Hirsch, der, atemlos, von der Meute gehetzt, sich dem Men-schen ergibt und tränenden Auges die letzten Laute von sich gibt. So stieß

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auch unser göttlicher Erlöser, dem Tod nahe, unter Tränen einen lautenSchrei aus und rief: „Ach Vater, in Deine Hände empfehle ich meinenGeist“ (Lk 23,46). Das war das letzte aller seiner Worte, Theotimus, einWort, durch welches der geliebte Sohn das erhabenste Zeugnis seiner Lie-be zum Vater ablegte.

Wenn uns also alles mangelt, wenn unsere Nöte ihr höchstes Maß er-reicht haben, so kann uns doch dieses Wort, diese Gesinnung, die Überga-be unserer Seele in die Hände unseres Erlösers nicht fehlen.

Der Sohn übergab seinen Geist dem Vater in diesem äußersten, unver-gleichlichen Elend. Und wenn wir uns unter den Qualen geistlicher Lei-den winden und uns diese jede andere Erleichterung und jedes Mittel,Widerstand zu leisten, nehmen, so empfehlen wir unseren Geist in dieHände des ewigen Sohnes, der unser wahrer Vater ist. Neigen wir unserHaupt (Joh 19,30) in Zustimmung zu seinem Wohlgefallen und überge-ben wir ihm unseren ganzen Willen.

13. KapitelIst der Wille sich selbst abgestorben, so lebt erIst der Wille sich selbst abgestorben, so lebt erIst der Wille sich selbst abgestorben, so lebt erIst der Wille sich selbst abgestorben, so lebt erIst der Wille sich selbst abgestorben, so lebt er

nur mehr im Willen Gottes.nur mehr im Willen Gottes.nur mehr im Willen Gottes.nur mehr im Willen Gottes.nur mehr im Willen Gottes.

1. Wir haben in der französischen Sprache einen überaus zutreffendenAusdruck für den Tod des Menschen: wir sprechen von einem Hinüberge-hen (trespas) und die Verstorbenen nennen wir Hinübergegangene (tres-passes). Damit wollen wir sagen, daß der Tod beim Menschen nichts ande-res ist als der Übergang von einem Leben in das andere, und daß dasSterben nichts anderes ist als das Überschreiten der Grenzen dieses sterb-lichen Lebens, um in das unsterbliche Leben einzugehen.

Sicher kann unser Wille nie sterben, ebensowenig wie unser Geist, abermanchmal überschreitet er die Schranken seines gewöhnlichen Lebens, umganz im göttlichen Willen zu leben. Das geschieht, wenn er nichts mehr zuwollen weiß und nichts mehr wollen will, sondern sich ganz und ohneVorbehalt dem Wohlgefallen der göttlichen Vorsehung überläßt, wenn ersich derart mit dem göttlichen Wohlgefallen vermengt und durchtränkt,daß er selbst gar nicht mehr in Erscheinung tritt, „sondern mit Jesus Chris-tus ganz in Gott verborgen ist“ (Kol 3,3), wo nicht mehr er selbst lebt,sondern der Wille Gottes in ihm lebt (Gal 2,20).

2. Was geschieht mit dem Licht der Sterne, wenn die Sonne auf unseremHorizont erscheint? Es verlischt sicher nicht, sondern es wird durch das

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stärkere Licht der Sonne, mit dem es sich vermengt und verbindet, wegge-wischt und aufgesogen. Und was geschieht mit dem menschlichen Willen,wenn er dem göttlichen Wohlgefallen ganz und gar hingegeben ist? Erstirbt nicht völlig, aber er ist so versunken im Willen Gottes und so mit ihmvermengt, daß er gar nicht mehr in Erscheinung tritt, kein vom WillenGottes getrenntes Wollen mehr hat.

3. Theotimus, stelle dir den glorreichen hl. Ludwig, dessen Lob man niegenug singen kann, in dem Augenblick vor, wie er sich einschifft, um überSee zu fahren, und die Königin, seine Gemahlin, sich mit ihm einschifft.Hätte jemand diese tapfere Fürstin gefragt, wohin sie fahre, so hätte siesicherlich geantwortet: „Ich fahre dorthin, wohin der König fährt.“ Undhätte man sie weiter gefragt: „Aber wissen Sie auch genau, wohin der Kö-nig fährt?“, so hätte sie geantwortet: „Er hat es mir wohl im allgemeinengesagt, doch bin ich gar nicht besorgt, zu wissen, wohin er fährt, sondernnur, daß ich mit ihm fahre.“ Hätte man darauf erwidert: „Haben Sie alsokeinerlei Plan bei dieser Reise?“, so hätte sie gesagt: „Nein, ich habe kei-nen anderen als den, bei meinem lieben Herrn und Gemahl zu sein.“„Aber sehen Sie,“ hätte man ihr sagen können, „er schifft sich nach Ägyp-ten ein, um von dort nach Palästina zu fahren; er wird sich in Damiette, inAcron und an mehreren Orten aufhalten. Haben Sie nicht auch die Ab-sicht, dorthin zu gehen?“ – Darauf hätte sie geantwortet: „Nein, wahrhaf-tig, ich habe keine andere Absicht, als die, bei meinem König zu sein. DieOrte, wohin er kommt, sind mir gleichgültig und keiner Erwägung wert,außer der, daß er sich dort aufhalten wird. Ich fahre hin, ohne daß ich mirwünsche, dorthin zu fahren, denn nichts ist mir lieb außer der Gegenwartdes Königs. Der König ist es also, der fährt und die Reise will. Ich hinge-gen reise nicht, sondern ich folge ihm; ich will nicht die Reise, sonderneinzig die Gegenwart des Königs. Aufenthalt, Reise und alles, was es sonstnoch gibt, sind mir ganz gleichgültig.“

Wenn man einen Diener, der in der Gefolgschaft seines Herrn ist, fragt,wohin er geht, kann er nicht antworten, daß er da- und dorthin geht, son-dern nur, daß er seinem Herrn folgt, denn er geht nirgendwo hin, weil er eswill, sondern überallhin nur, weil sein Herr es will.

4. Ebenso soll auch ein ganz in den Willen Gottes ergebener Wille nichtsanderes wollen, als dem Willen Gottes einfach zu folgen. Und so wie einMensch, der sich auf einem Schiff befindet, sich nicht selbst vorwärts be-wegt, sondern sich nur durch die Bewegung des Schiffes fortbewegen läßt,

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in dem er sich befindet, ebenso darf ein Herz, das sich im göttlichen Wohl-gefallen eingeschifft hat, keinen anderen Willen haben als den, sich vomWillen Gottes tragen zu lassen.

Dann spricht das Herz nicht mehr: „Dein Wille geschehe und nicht dermeine“ (Lk 22,42), denn es braucht keinem eigenen Willen mehr zu ent-sagen; es sagt vielmehr die Worte: „Herr, in Deine Hände übergebe ichmeinen Willen“ (Ps 31,6; Lk 23,46), so als ob sein Wille nicht mehr zuseiner Verfügung stände, sondern zur Verfügung der göttlichen Vorsehung.

Ein solches Herz verhält sich darum auch eigentlich nicht so wie Die-ner, die ihrem Herrn folgen. Denn wenn dort auch die Reise auf den Wil-len des Herrn hin erfolgt, so folgen sie ihm doch kraft ihres eigenen Wil-lens, wenn dieser Wille auch ein ihrem Herrn folgsamer, dienender, fügsa-mer und unterwürfiger Wille ist. Denn so wie der Herr und Diener zweiverschiedene Wesen sind, so sind auch der Wille des Herrn und der desDieners zwei Willen.

5. Hingegen hat der Wille, der sich selbst abgestorben ist, um nur mehrim Willen Gottes zu leben, kein besonderes Wollen mehr. Er bleibt demWillen Gottes nicht nur ganz gleichförmig und unterworfen, sondern er istfür sich selbst ganz untergegangen und in den Willen Gottes umgewandelt.Es ist wie bei einem kleinen Kind, das noch nicht den Gebrauch seinesWillens hat, um irgendetwas anderes als die Brust und das Angesicht sei-ner lieben Mutter zu wollen und zu lieben. Es denkt gar nicht daran, ob esauf der einen Seite sein will oder auf der anderen, oder ob es sonst irgend-etwas will, außer in den Armen seiner Mutter zu sein, mit der es ein Wesenzu sein glaubt. Es macht sich keine Sorge darum, seinen Willen dem derMutter anzupassen, denn es fühlt gar keinen eigenen Willen und glaubtauch gar nicht, einen zu haben. Es überläßt seiner Mutter die Sorge, dort-hin zu gehen, das zu wollen und zu tun, was sie für gut findet.

So mit dem Willen unseres höchsten Gutes ganz eins sein, ist sicher diehöchste Vollkommenheit unseres Willens. Derart war der Wille des Heili-gen, der sprach: „Herr, nach Deinem Willen hast Du mich geführt undgeleitet“ (Ps 73,24). Denn, was wollte er anders sagen, als daß er seinenWillen gar nicht gebraucht hat, um sich selbst zu leiten, sondern daß ersich einfach von seinem Gott hat führen und leiten lassen?

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14. KapitelErläuterung über das Sterben unseres Willens.Erläuterung über das Sterben unseres Willens.Erläuterung über das Sterben unseres Willens.Erläuterung über das Sterben unseres Willens.Erläuterung über das Sterben unseres Willens.

1. Die heiligste Jungfrau fand wohl eine solche Freude daran, ihren liebenkleinen Jesus in ihren Armen zu tragen, daß diese Freude ihr jede Müdigkeitnahm oder wenigstens ihr die Müdigkeit liebenswert machte. Denn wennschon das Tragen eines Zweigleins des Agnus castus den Wanderer er-quickt und ihm die Müdigkeit nimmt (s. VIII,5), welche Linderung berei-tete es erst der glorreichen Mutter, das unbefleckte Lamm Gottes (Joh1,36; 1 Petr 1,19) zu tragen! Ließ sie ihr Kind auch manchmal auf deneigenen Füßen gehen, indem sie es bei der Hand hielt, so geschah diesnicht deshalb, weil sie es nicht gerne trug, denn sicher hätte sie es lieber anihrer Brust getragen und seinen Arm um ihren Hals geschlungen gehabt.Sie tat es vielmehr, damit es sich darin übe, allein seine Schritte zu machenund selbst zu gehen.

2. Und wir, Theotimus, können als kleine Kinder des himmlischen Vatersauf zweierlei Weise mit ihm gehen. Erstens können wir mit den Schrittenunseres eigenen Wollens gehen, das wir dem seinen anpassen, indem wirimmer mit der Hand unseres Gehorsams die der göttlichen Absicht haltenund ihr überallhin folgen, wohin sie uns führt. Das ist das, was Gott vonuns durch die Offenbarung seines Willens fordert.

Denn will er, daß ich das tue, was er befiehlt, so will er auch, daß ich denWillen habe, es zu tun. Gott hat mir seinen Willen kundgetan, daß ich denTag der Ruhe heilige. Da er will, daß ich das tue, will er auch, daß ich es tunwill, daß ich folglich mein eigenes Wollen habe, mit dem ich seinem Wol-len folge und diesem gleichforme und anpasse.

3. Aber wir können auch mit dem Herrn gehen, ohne ein eigenes Wollen zuhaben; wir können uns, wie ein kleines Kind in den Armen seiner Mutter,ganz einfach von seinem göttlichen Wohlgefallen tragen lassen durch einebestimmte Art wundersamer Einwilligung, die man Vereinigung oder bes-ser noch Einheit unseres Willens mit dem Willen Gottes nennen kann.

Und das ist die Weise, wie wir trachten sollen, uns im Willen des göttlichenWohlgefallens zu verhalten. Denn die Wirkungen dieses Willens entsprin-gen einzig der Vorsehung Gottes; sie kommen, ohne daß wir etwas dazutun. Freilich können wir wollen, daß sie dem Willen Gottes gemäß ge-schehen, und dieses Wollen ist sehr gut. Wir können aber auch diese Fü-

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gungen des göttlichen Wohlgefallens durch eine ganz einfache Stille unse-res Willens entgegennehmen, der gar nichts will, sondern einfach allemzustimmt, was Gott in uns, an uns und aus uns machen will.

4. Hätte man das liebe Jesuskind, als es von den Armen seiner Muttergetragen wurde, gefragt, wohin es gehe, hätte es da nicht recht gehabt zuantworten: „Ich gehe nicht, sondern meine Mutter geht für mich.“ Undwenn man es gefragt hätte: „Aber gehst du nicht wenigstens mit deinerMutter?“ Hätte es da nicht mit Recht sagen müssen: „Nein, ich gehe kei-neswegs, und wenn ich dorthin gehe, wohin mich meine Mutter trägt, sogehe ich nicht mit ihr und durch meine eigenen Schritte, sondern durchdie Schritte meiner Mutter, durch sie und auf ihr.“ Und hätte man ihmerwidert: „Aber o liebstes göttliches Kind, du willst dich doch wenigstensvon deiner lieben Mutter tragen lassen?“ „Nein, sicher nicht,“ hätte es dasagen können, „das will ich gar nicht, sondern ebenso wie meine besteMutter für mich geht, so will sie auch für mich. Ich überlasse ihr ebensodie Sorge, für mich zu gehen, als für mich gehen zu wollen, wohin immeres ihr gut scheint. Und wie ich nur durch ihre Schritte gehe, so will ich nurdurch ihr Wollen. Sobald ich mich in ihren Armen befinde, achte ichüberhaupt nicht darauf, zu wollen oder nicht zu wollen. Ich lasse alleandere Sorge meiner Mutter außer der, an ihr Herz geschmiegt zu sein, vonihrer gebenedeiten Brust zu trinken und fest ihren lieben Hals zu um-schlingen, um sie zärtlich zu küssen mit den Küssen meines Mundes“(Hld 1,1 nach d. Hebr. und der Sept.).

„Und damit ihr es wißt: solange ich diese Zärtlichkeiten genieße, diealle Wonnen übersteigen, kommt es mir vor, als sei meine Mutter einLebensbaum und ich ihre Frucht, als sei ich wie ihr eigenes Herz inmittenihrer Brust, oder wie ihre Seele inmitten ihres Herzens. Daher kommt es,daß ebenso wie ihr Gehen für sie und für mich hinreicht, ohne daß ich einenSchritt zu tun brauche, auch ihr Wille für sie und für mich hinreicht und ichnicht ein eigenes Wollen brauche, zu gehen oder zu kommen. Ich achteauch nicht darauf, ob sie schnell oder ganz langsam geht, noch ob sie nachder einen oder anderen Seite hin geht, ich kümmere mich überhaupt nichtdarum, wohin sie gehen will. Ich begnüge mich damit, wie es auch immersei, stets in ihren Armen zu sein und mich an ihre Brust zu schmiegen, woich unter Lilien weide“ (Hld 2,16; 6,2).

O göttliches Kind Mariens, erlaube meiner schwachen Seele diesen Ausrufder Liebe: „So geh denn, du liebenswürdigstes Kindlein, oder besser ge-

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sagt, geh nicht, sondern bleib, wie du bist, heilig an die Brust deiner liebenMutter geschmiegt. Solange du Kind bist, geh immer in ihr und durch sieoder mit ihr und geh nie ohne sie. O wie selig ist der Schoß, der dichgetragen, und die Brust, die dich genährt hat!“ (Lk 11,27).

Der Erlöser besaß den Gebrauch seiner Vernunft von dem Augenblickan, als er im Schoß seiner Mutter empfangen wurde, und konnte sich daheralle diese Gedanken machen. Das war sogar der Fall bei seinem Vorläufer,dem glorreichen hl. Johannes, vom Tag der Heimsuchung an. Der eine wieder andere hatte während dieser Zeit und während ihrer ganzen Kindheitdie volle Freiheit, dies und jenes zu wollen und nicht zu wollen, dochüberließen sie die Sorge für alles, was ihr äußeres Verhalten betraf, ihrenMüttern und ließen sie alles Erforderliche für sie tun und wollen.

5. Auch wir, Theotimus, müssen so sein, müssen uns für das göttlicheWohlgefallen ganz geschmeidig und lenksam machen, als wären wir ausWachs. Wir dürfen uns nicht dabei aufhalten, dies oder jenes zu wünschenoder zu wollen, sondern müssen es Gott für uns wollen und tun lassen, wiees ihm gefällt. Wir müssen „unsere ganze Sorge auf ihn werfen, weil er füruns sorgt,“ wie der Apostel sagt (1 Petr 5,7). Beachte, daß er sagt „alleunsere Sorge“, das heißt, sowohl die Sorge, die wir haben, das, was sichereignet, entgegenzunehmen, als die Sorge, zu wollen oder nicht zu wol-len. Denn er wird für den Erfolg unserer Unternehmungen Sorge tragenund das für uns wollen, was das Beste ist.

6. Einstweilen sei aber unsere liebevolle Sorge, Gott für alles, was er tut, zupreisen, so wie Ijob es tat, als er sagte: „Der Herr hat mir viel gegeben, derHerr hat es mir genommen, der Name des Herrn sei gebenedeit“ (Ijob1,21). Nein Herr, ich will nicht, daß das oder jenes geschieht, ich überlassees Dir, alles für mich ganz nach Deinem Belieben zu wollen. Anstatt es zuwollen, will ich Dich preisen dafür, daß Du es gewollt hast.

O Theotimus, wie herrlich ist diese Haltung unseres Willens, wenn ervon der Sorge abläßt, die Wirkungen des göttlichen Wohlgefallens zu wäh-len und zu wollen, ihn aber dafür zu preisen und ihm dafür Dank zu sagen.

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15. KapitelDie erhabenste Übung bei inneren und äußeren Leiden diesesDie erhabenste Übung bei inneren und äußeren Leiden diesesDie erhabenste Übung bei inneren und äußeren Leiden diesesDie erhabenste Übung bei inneren und äußeren Leiden diesesDie erhabenste Übung bei inneren und äußeren Leiden dieses

Lebens, die dem Gleichmut und dem Absterben unseres WillensLebens, die dem Gleichmut und dem Absterben unseres WillensLebens, die dem Gleichmut und dem Absterben unseres WillensLebens, die dem Gleichmut und dem Absterben unseres WillensLebens, die dem Gleichmut und dem Absterben unseres Willensentspringt.entspringt.entspringt.entspringt.entspringt.

1. Es ist wahrhaftig eine ganz heilige Haltung, Gott für alle Ereignisse,die seine Vorsehung anordnet, zu preisen, ihm zu danken und ihm ganzanheimzustellen, in uns, über uns und mit uns zu schalten und zu walten,wie es ihm beliebt, ohne trotz unserer Empfindungen darauf zu achten,was geschieht. Aber noch größer wäre unsere innere Haltung, könnten wirunser Herz auf die göttliche Güte und Liebe hinrichten, unsere Auf-merksamkeit auf sie hinlenken und sie nicht nur in ihren Wirkungen undden Ereignissen, die sie anordnet, loben und preisen, sondern in sich selbstund in ihrer eigenen Vollkommenheit.

2. Als Demetrius Rhodos belagerte, hörte Protogenes, der sich in einemVorstadthäuschen aufhielt, nicht auf zu arbeiten, und er tat es mit einersolch unglaublichen Sicherheit und Ruhe des Geistes, daß er, obwohl stän-dig das Schwert an der Kehle, doch das hervorragende Meisterwerk einesflötenspielenden Satyrs zustandebrachte (Plin. H. n. 1,25).

O Gott, was sind das für Seelen, die mitten in den verschiedenartigstenEreignissen ihre Aufmerksamkeit und Liebe auf die ewige Güte gerichtethalten, um sie auf immer zu ehren und zu lieben!

Die Tochter eines ausgezeichneten Arztes und Chirurgen litt an ständi-gem Fieber. Da sie wußte, daß ihr Vater sie mit einer einzigartigen Liebeliebte, sagte sie zu einer ihrer Freundinnen: „Ich leide sehr viele Schmer-zen, aber ich denke an kein Heilmittel, denn ich weiß nicht, was meinerGenesung dienen könnte. Es könnte sein, daß ich mir etwas wünsche unddabei etwas anderes bräuchte. Tue ich da nicht viel besser, alle diese Sorgemeinem Vater zu überlassen, der alles weiß, kann und will, was für meineGesundheit erforderlich ist? Es wäre nicht recht, wenn ich daran dächte,denn er wird für mich genügend daran denken. Ich täte unrecht, etwas zuwollen, denn er wird alles das wollen, was für mich gut ist. Ich werde alsonur darauf warten, daß er das wolle, was er für geeignet hält, und werdenichts anderes tun, als ihn anschauen, wenn er bei mir ist, ihm meinekindliche Liebe bezeigen und ihm mein volles Vertrauen zu erkennengeben.“

Bei diesen Worten schlief sie ein. Ihr Vater aber, der es für angezeigthielt, sie zur Ader zu lassen, bereitete alles Nötige dazu vor. Als sie bei

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ihrem Erwachen wieder zu sich kam, fragte sie der Vater zuerst, wie siesich nach dem Schlaf fühle, und dann, ob sie sich zur Ader lassen wolle,um gesund zu werden. Da antwortete sie: „Vater, ich bin ganz dein, ichweiß nicht, was ich wollen soll, um gesund zu werden. An dir ist es, allesfür mich zu wollen und zu tun, was dir gut dünkt. Mir genügt es, dich vonganzem Herzen zu lieben und zu ehren, so wie ich es tue.“

Auf diese Antwort hin wurde ihr Arm unterbunden und der Vater öffne-te mit einer Lanzette die Ader. Während er den Schnitt ausführte und dasBlut hervorquoll, warf das liebe Mädchen nicht einmal einen Blick aufden verwundeten Arm, noch auf das aus der Ader fließende Blut, sondernrichtete immer nur seine Augen auf das Antlitz seines Vaters. Es sagtenichts anderes, als hie und da ganz leise: „Mein Vater liebt mich sehr undich bin ganz sein.“ Und als alles vorüber war, dankte es ihm nicht, sondernwiederholte bloß noch einmal die gleichen Worte der Liebe und des kind-lichen Vertrauens.

Und nun sage mir, mein Freund Theotimus, hat dieses Mädchen seinemVater nicht eine aufmerksamere und echtere Liebe bewiesen, als es derFall gewesen wäre, wenn es ihn sehr besorgt um Heilmittel gegen ihr Übelgebeten hätte, wenn es geschaut hätte, wie man ihm die Ader eröffnete undwie das Blut herausfloß, und wenn es ihm viele Dankesworte gesagt hätte?Darüber kann es gar keinen Zweifel geben. Denn wenn es an sich gedachthätte, was hätte es anderes davon gehabt als unnütze Sorgen, da doch derVater genügend Sorge für seine Tochter trug? Hätte sie ihren Arm ange-schaut, so hätte sie sich nur geängstigt; und hätte sie ihrem Vater gedankt,so hätte sie bloß die Tugend der Dankbarkeit geübt. Hat sie nicht vielbesser getan, sich ganz und gar den Erweisen ihrer kindlichen Liebe hin-zugeben, die dem Vater unendlich lieber waren als jede andere Tugend?

3. „Stets sind auf den Herrn meine Augen gerichtet; denn er befreitmeinen Fuß aus dem Netz“ (Ps 25,15) und aus den Schlingen. Bist du indie Netze der Widerwärtigkeiten geraten, so schau nicht auf das, was dirgeschehen ist, noch auf die Schlingen, die dich gefangen halten. Blicke aufGott und lasse ihn machen, er wird Sorge für dich tragen. „Wirf auf denHerrn deine Sorge! Er wird dich erhalten“ (Ps 55,23; 1 Petr 5,7).

Warum kümmerst du dich darum, die Ereignisse und Begebenheitender Welt zu wollen oder nicht zu wollen, da du doch gar nicht weißt, was

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du wollen sollst? Gott will doch ohnehin immer für dich alles, was duwollen kannst, ohne daß du dich darum bemühen mußt. Erwarte darum inder Ruhe des Geistes die Wirkungen des göttlichen Wohlgefallens. SeinWollen mag dir genügen, denn es ist immer ganz gut. Denn so befahl derHerr seiner geliebten hl. Katharina von Siena: „Denke an mich,“ sagte erzu ihr, „und ich werde für dich denken“ (Raym. von Cap. Leben der hl.Kath. 1,10).

4. Es ist gar nicht leicht, diesen vollkommenen Gleichmut des mensch-lichen Willens, der ganz im Willen Gottes untergegangen und gestorben ist,gut in Worten zu schildern. Denn mir kommt vor, man dürfe nicht sagen,der Wille stimme dem Willen Gottes zu, denn die Zustimmung ist ein Aktder Seele, die ihre Einwilligung ausdrückt. Man darf auch nicht sagen, ernimmt an oder empfängt. Denn Annehmen und Empfangen sind Tätigkei-ten, die man irgendwie passive Tätigkeiten nennen könnte, durch die wirdas, was auf uns zukommt, umfangen und annehmen. Man darf auch nichtsagen, der Wille erlaube, denn das Erlauben ist eine Tat des Willens undzwar ein gewisses müßiges Wollen, das in Wirklichkeit nichts tun, son-dern nur etwas tun lassen will.

Es kommt mir daher vor, daß von einer Seele, die in diesem Gleichmutist und nichts will, sondern Gott wollen läßt, was ihm gefällt, eher gesagtwerden soll, daß ihr Wille in einer einfachen und allgemeinen Erwartung ist.Denn erwarten heißt nicht, etwas tun oder irgendwie handeln, sondernheißt, einem Geschehen ausgesetzt bleiben.

Siehst du aber genauer zu, so merkst du, daß das Warten der Seele einwahrhaft freiwilliges ist. Und doch ist es keine Tätigkeit, sondern ein ein-faches Bereitsein, das zu empfangen, was geschehen wird. Und wenn dieEreignisse eingetreten und angenommen worden sind, verwandelt sich dieErwartung in eine Einwilligung oder Zustimmung. Aber vor ihrem Ein-treten ist die Seele in Wahrheit in einer einfachen Erwartung, gleichmütiggegen alles, was dem göttlichen Willen anzuordnen belieben wird.

5. Unser Erlöser drückt die restlose Unterwerfung seines menschlichenWillens unter den des Ewigen Vaters aus mit den Worten: „Gott der Herrhat mir das Ohr geöffnet“ (Jes 50,5 f), das heißt, er hat mir seinen Willengeoffenbart, daß ich viele Leiden auf mich nehmen soll; „ich aber,“ sagt erdann, „sträube mich nicht, ich weiche nicht zurück.“

Was heißt das: „Ich sträube mich nicht, ich weiche nicht zurück“? Wohldas: mein Wille ist in einer einfachen Erwartung und bleibt bereit für

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alles, was der Wille Gottes verfügen wird. Infolgedessen „biete ich meinenRücken den Schlägen dar und überlasse ihn ihnen und meine Wangen denMißhandlern“, bereit zu allem, was sie mir antun wollen.

Und siehe, ich bitte dich, Theotimus, wie der Herr nach seinem Gebetder Ergebung im Ölgarten und nach seiner Gefangennahme sich nicht nurmit einer wunderbaren Hingabe seines Leibes und seines Lebens denenauslieferte, die ihn kreuzigen wollten, sich von ihnen nach ihrem Beliebenbehandeln und wegführen ließ, sondern auch mit einem vollkommenenGleichmut seine Seele und seinen Willen in die Hände des Ewigen Vatersübergab. Denn obwohl er sagte: „Mein Gott, mein Gott, warum hast Dumich verlassen?“ (Mt 27,46), so geschah dies nicht, um dem heiligen Gleich-mut zuwiderzuhandeln, von dem er beseelt war, sondern um uns die tat-sächliche Bitternis und die Peinen seiner Seele erkennen zu lassen. Daszeigte er bald darauf, indem er sein ganzes Leben und sein bitteres Leidenmit den unvergleichlichen Worten abschloß: „Vater, in Deine Hände emp-fehle ich meinen Geist“ (Lk 23,46).

16. KapitelDie vollkommene Entäußerung der mit dem Willen GottesDie vollkommene Entäußerung der mit dem Willen GottesDie vollkommene Entäußerung der mit dem Willen GottesDie vollkommene Entäußerung der mit dem Willen GottesDie vollkommene Entäußerung der mit dem Willen Gottes

geeinten Seele.geeinten Seele.geeinten Seele.geeinten Seele.geeinten Seele.

1. Stellen wir uns, Theotimus, den gütigen Jesus bei Pilatus vor. Wegenseiner Liebe zu uns rissen ihm die Waffenknechte und Schergen alle seineKleider, eines nach dem anderen, vom Leib; nicht zufrieden damit, zerris-sen sie ihm auch noch durch Rutenschläge und Peitschenhiebe die Haut.Nachher wurde durch den Tod, den er am Kreuz litt, seine Seele ihresLeibes und sein Leib seines Lebens beraubt. Nachdem jedoch drei Tagevergangen waren, bekleidete sich seine Seele durch die Auferstehung mitihrem verklärten Leib, der Leib mit einer unsterblichen Haut und hülltesich in die verschiedensten Gewänder, in die eines Pilgers, eines Gärtnersoder anderer, je nachdem es das Heil der Menschen und die Verherrli-chung seines Vaters erforderte. Die Liebe vollbrachte das alles, Theoti-mus.

2. So ist es auch, wenn die Liebe in eine Seele einzieht. Damit diese sichselbst sterbe und in Gott zu neuem Leben erstehe, entblößt die Liebe sievon allen menschlichen Wünschen und von der Wertschätzung ihrer selbst,die ja dem Geist nicht weniger anhaftet, als die Haut dem Fleisch. Sie

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beraubt sie schließlich auch der edelsten Anhänglichkeiten, wie zum Bei-spiel der, die sie an geistliche Tröstungen, an Andachtsübungen, an Tu-gendvollkommenheiten hatte, lauter Dinge, die das eigentliche Leben dergottliebenden Seele auszumachen schienen.

Dann, Theotimus, ruft die Seele mit Recht aus: „Ich habe mein Gewandschon abgestreift, wie sollte ich es nochmals anziehen? Auch die Füßewusch ich mir schon – ach, beschmutzen müßte ich sie wieder“ (Hld 5,3).„Nackt bin ich gekommen“ aus der Hand Gottes, „nackt kehre ich wiederdorthin zurück. Der Herr hatte mir“ viele Wünsche „gegeben, der Herrhat“ sie mir „genommen, sein heiliger Name sei gebenedeit“ (Ijob 1,21).

Ja, Theotimus, der gleiche Herr, der uns anfänglich den Wunsch nachden Tugenden eingibt und sie uns jederzeit üben heißt, derselbe Herr nimmtuns die Anhänglichkeit an die Tugenden und an alle geistlichen Übungen,damit wir mit umso mehr Ruhe, Reinheit und Einfalt nichts anderes liebenals das Wohlgefallen seiner göttlichen Majestät.

Die schöne, keusche Judit bewahrte in ihrer Kammer ihre schönen Fest-tagskleider, trotzdem hing sie nicht an ihnen und zog sie als Witwe nichtmehr an, außer als Gott ihr eingab, es zu tun, um Holofernes zu vernichten(Jdt 10,3). Ebenso sollen auch wir, nachdem wir die Übung der Tugendenund der Frömmigkeit erlernt haben, unser Herz nicht daran hängen und esnur soweit damit bekleiden, als wir wissen, daß es dem göttlichen Wohlge-fallen entspricht. Judit ging immer in ihren Trauerkleidern umher, außerdamals, als Gott wollte, daß sie sich in ihre Prunkgewänder werfe. Sosollen auch wir friedlich in unser Elend und unsere Niedrigkeit gehülltbleiben, mitten in unseren Unvollkommenheiten und Schwächen, bis Gottuns zur Übung hervorragender Taten aufruft.

3. Doch kann man nicht lang in dieser Blöße, von jeder Art Zuneigungentkleidet, bleiben. Deshalb gibt uns der Apostel den Rat, nachdem wirdie Gewänder des alten Adam ausgezogen haben, uns mit den Gewänderndes neuen Menschen, das ist mit Jesus Christus, zu bekleiden (Kol 3,9 f).Denn nachdem wir allem entsagt haben, selbst der Liebe zu den Tugenden,und sowohl diese wie auch andere nur mehr insoweit wollen, als es dasgöttliche Wohlgefallen mit sich bringt, müssen wir uns doch wieder mitverschiedenen Neigungen bekleiden, vielleicht sogar mit denselben, aufdie wir verzichtet und denen wir entsagt haben. Doch müssen wir uns mitihnen bekleiden, nicht weil sie uns angenehm, nützlich, ehrenvoll und geeig-net sind, die Liebe zu befriedigen, die wir zu uns selbst haben, sondern weil

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sie Gott angenehm, seiner Ehre nützlich und zu seiner Verherrlichung be-stimmt sind.

4. Elieser brachte Ohrgehänge, Armbänder und neue Kleider für dasMädchen, das Gott dem Sohn seines Herrn bestimmt hatte. Und deshalbschenkte er sie der Jungfrau Rebekka, sobald er erkannte, daß sie dieErwählte sei (Gen 24,22.53). Die Braut des Erlösers bedarf neuer Klei-der; wenn sie sich aus Liebe zu ihm von ihrer alten Liebe zu ihren Eltern,ihrem Heimatland, ihrem Vaterhaus, ihren Freunden losgemacht hat, mußsie jetzt eine ganz neue Liebe fassen und all das seinem Rang nach, nichtnach menschlichen Erwägungen lieben, sondern weil der himmlische Bräu-tigam es will, es befiehlt und beabsichtigt und weil er diese Ordnung in dieLiebe gelegt hat (Hld 2,4).

Haben wir uns losgeschält von unserer alten Liebe zu geistlichen Trö-stungen, zu Übungen der Frömmigkeit, zur Übung der Tugenden, ja selbstzum eigenen Fortschritt in der Vollkommenheit, dann müssen wir uns miteiner ganz neuen Liebe bekleiden und alle diese Gnaden und himmli-schen Gunsterweise nicht mehr deshalb lieben, weil sie unseren Geistvervollkommnen und zieren, sondern weil „der Name“ des Herrn dadurch„geheiligt“ wird, sein „Reich“ Gewinn daraus zieht und sein Wohlgefallenverherrlicht wird (Mt 6,9 f).

5. Darum bekleidet sich der hl. Petrus im Gefängnis nicht so, wie es ihmbeliebt, sondern nach und nach, so wie es der Engel anordnet: er umgürtetsich, zieht seine Sandalen und dann seine anderen Kleidungsstücke an(Apg 12,8). Und der glorreiche hl. Paulus, der von einem Augenblick zumanderen all seiner Zuneigungen beraubt wurde, spricht: „Herr, was willstDu, daß ich tun soll?“ (Apg 9,6). Das heißt hier: Worauf willst Du, daß ichmeine Liebe richte, nachdem Du mich zu Boden geworfen und meineneigenen Willen zum Sterben gebracht hast? Ach Herr, setze Dein Wohlge-fallen an seine Stelle und lehre mich Deinen Willen tun, denn Du bistmein Gott (Ps 143,10).

6. Theotimus, wer alles für Gott verlassen hat, darf nichts zurücknehmen,außer wie Gott es will: er ernährt seinen Leib nur so, wie es Gott befiehlt,damit er dem Geist diene. Er studiert nur, um dem Nächsten und seinereigenen Seele den göttlichen Absichten gemäß zu dienen. Er übt die Tu-genden nicht so, wie es ihm selbst am meisten zusagen würde, sondern sowie Gott es wünscht.

Gott befahl dem Propheten Jesaja (Jes 20,2.3), sich ganz zu entkleiden;er tat es, ging und predigte auf diese Weise, wie manche sagen, drei Tage

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lang, oder wie manche meinen, drei Jahre lang; dann zog er wieder seineKleider an, als die Zeit vorüber war, die Gott ihm angegeben hatte. Somuß man sich von allen kleinen und großen Anhänglichkeiten entblößen.Wir müssen oft unser Herz prüfen, um zu sehen, ob es auch bereit ist, sowie Jesaja sich all seiner Gewänder zu entledigen, um dann auch, wenn esan der Zeit ist, die dem Dienst der Liebe zuträglichen Neigungen wiederzu ergreifen, damit wir ganz nackt mit unserem göttlichen Erlöser amKreuz sterben und dann als neuer Mensch mit ihm auferstehen (Röm6,4-6).

7. „Die Liebe ist stark wie der Tod“ (Hld 8,6). Sie gibt uns die Kraft, alleszu verlassen; sie ist strahlend wie die Auferstehung und schmückt uns mitHerrlichkeit und Ehre.

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ZEHNTES BUCHZEHNTES BUCHZEHNTES BUCHZEHNTES BUCHZEHNTES BUCH

Das Gebot, Gott über alles zu lieben.

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1. KapitelSchönheit des göttlichen Gebotes, Ihn über alles zu lieben.Schönheit des göttlichen Gebotes, Ihn über alles zu lieben.Schönheit des göttlichen Gebotes, Ihn über alles zu lieben.Schönheit des göttlichen Gebotes, Ihn über alles zu lieben.Schönheit des göttlichen Gebotes, Ihn über alles zu lieben.

1. Der Mensch ist Vollendung des Weltalls, der Geist Vollendung desMenschen, die Liebe Vollendung des Geistes und die göttliche Liebe Voll-endung der Liebe. Daher ist die göttliche Liebe Ziel, Vollendung und Krö-nung des Weltalls. Darin, Theotimus, besteht die Größe und der Vorrangdes Gebotes der göttlichen Liebe, das der Herr „das erste und größte Ge-bot“ nennt (Mt 22,38).

Dieses Gebot gibt, einer Sonne gleich, allen anderen heiligen Gesetzen,allen göttlichen Anordnungen und allen heiligen Schriften Glanz undWürde. Alles ist dieser himmlischen Liebe wegen gemacht und alles beziehtsich auf sie. Alle Ratschläge, Ermahnungen, Eingebungen und die übrigenGebote sind wie Blüten an dem heiligen Baum dieses Gebotes und dasewige Leben ist dessen Frucht. Alles, was nicht auf die ewige Liebe hin-zielt, zielt auf den ewigen Tod. – Großes Gebot, dessen vollkommeneErfüllung im ewigen Leben fortdauert, ja nichts anderes ist als das ewigeLeben!

2. Betrachte, Theotimus, wie liebenswert dieses Gebot der Liebe ist!Ach Herr, mein Gott! Hätte es nicht genügt, daß Du uns erlaubtest, Dich zulieben, so wie Laban es Rahel erlaubte, Jakob zu lieben (Gen 29,19). Muß-test Du uns noch dazu aufmuntern durch Ermahnungen und uns dazudrängen durch Deine Gebote? Doch nein, o göttliche Güte, Du befiehlst esuns, damit weder Deine Größe, noch unsere Niedrigkeit, noch sonst irgend-ein Vorwand uns abhalte, Dich zu lieben.

Der arme Apelles konnte sich nicht enthalten, die schöne Campaspe zulieben, und wagte es doch nicht, da sie dem großen Alexander gehörte. Alses ihm aber gestattet wurde, sie zu lieben, wie sehr fühlte er sich demverpflichtet, der ihm die Erlaubnis gegeben! Er wußte nicht, ob er mehrdie schöne Campaspe lieben sollte, die ein so großer Herrscher ihm abge-treten hatte, oder den großen Herrscher, der ihm eine so schöne Campas-pe überlassen hatte.

O Gott, wenn wir das verstehen könnten, mein lieber Theotimus, wiesehr wären wir dem höchsten Gut verpflichtet, das uns nicht nur erlaubt,sondern uns befiehlt, es zu lieben! Ach Herr, ich weiß nicht, ob ich mehrDeine unendliche Schönheit lieben soll, die mir eine so göttliche Güte,oder Deine göttliche Güte, die mir eine so unendliche Schönheit zu lieben

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befiehlt! O Schönheit, wie liebenswert bist du, da du mir von einer sounermeßlichen Güte geschenkt wirst! O Güte, wie liebenswert bist du, dadu mir eine so überaus erhabene Schönheit mitteilst!

3. Am Tag des Gerichtes wird Gott auf wunderbare Weise den Seelen derVerdammten einprägen, was Großes sie verloren haben. Die göttliche Ma-jestät wird sie die alles überragende Schönheit ihres Antlitzes und dieSchätze ihrer Güte klar schauen lassen. Beim Anblick dieses unendlichenAbgrunds von Herrlichkeit wird sich der Wille der Verdammten mit un-geheurer Wucht auf Gott werfen wollen, um sich mit ihm zu vereinigenund in den seligen Besitz seiner Liebe zu gelangen. Aber es wird umsonstsein. Sie werden Frauen in Geburtswehen gleichen, die heftigste Schmer-zen, grausamste Krämpfe und unerträgliche Ängste erdulden und dochsterben, ohne gebären zu können.

Denn in dem Maße, als die klare Erkenntnis der göttlichen Schönheit inden Verstand dieser unglückseligen Menschen dringt, wird die göttlicheGerechtigkeit ihrem Willen so sehr die Kraft entziehen, daß sie das garnicht lieben können, was der Verstand ihnen als so überaus liebenswertvorstellt und darstellt. Der Anblick, der eine so große Liebe in ihremWillen wecken sollte, wird dagegen eine unendliche Trostlosigkeit in ih-nen hervorrufen, die ewig währt, weil den Verdammten immer die Erinne-rung an die allerhabenste Schönheit bleiben wird, die sie gesehen haben.Und diese Erinnerung wird unfruchtbar an allem Guten sein, aber frucht-bar an Leiden, Mühen, Qualen und unsterblicher Verzweiflung. IhremWillen wird es nicht nur unmöglich sein zu lieben, sondern er wird sogarvon schrecklichem, ewig dauerndem Abscheu und Widerwillen erfülltsein, diese so überaus ersehnenswerte Herrlichkeit zu lieben.

So wird auch das Los dieser unseligen Verdammten auf ewig verzweifel-te Wut sein, zu wissen, daß es eine so überaus liebenswerte Vollkommenheitgibt, zu deren Liebe und seligen Besitz sie niemals zu gelangen vermögen,weil sie sich geweigert haben, sie zu lieben, als sie es konnten. Um soheftiger und brennender wird der Durst sein, der sie verzehrt, als die Erin-nerung an „die Quelle der Wasser des ewigen Lebens“ (Jer 2,13; Joh 4,14)ihre Gluten immer noch steigern wird. Eines unsterblichen Hungertodeswerden sie sterben. Sie werden hungrigen Hunden gleichen und ihr Hun-ger wird um so qualvoller sein, als ihr Gedächtnis mit unersättlicher Grau-samkeit in ihnen die Erinnerung an das Gastmahl wach halten wird, des-sen sie beraubt sind:

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„Der Frevler sieht dies voll Wut,knirscht mit den Zähnen und vergeht.Der Gottlosen Sehnsucht wird zunichte“ (Ps 112,10).Ich will gewiß nicht behaupten, daß die Schau der Schönheit Gottes, die

diesen Unseligen in blitzartigem Aufleuchten zuteil wird, von derselbenKlarheit ist, wie die der Seligen. Doch wird sie so klar sein, daß sie denMenschensohn in seiner Majestät sehen werden (Mt 24,30). Sie werdenden schauen, den sie durchbohrt haben (Joh 19,37; Apg 1,7). Beim An-blick dieser Herrlichkeit werden sie sich der Schwere ihrer Verdammnisbewußt werden.

4. Ach, wenn Gott dem Menschen verboten hätte, ihn zu lieben, welchesLeid wäre das für hochherzige Seelen! Was täten sie nicht alles, um dieseErlaubnis zu erlangen! David stürzte sich in die Gefahr eines äußerst schwe-ren Kampfes, damit die Tochter des Königs sein werde (1 Sam 18,25).Und was tat Jakob nicht alles, um Rahel zu gewinnen (Gen 29,18), undder Fürst von Sichem, um Dina heiraten zu können (Gen 34,11)! DieVerdammten würden sich glücklich preisen, dächten sie, daß sie Gott we-nigstens ab und zu lieben könnten. Die Seligen aber würden meinen, ver-dammt zu sein, wenn sie fürchten müßten, einmal der heiligen Liebe be-raubt werden zu können.

O mein Gott, wie ersehnenswert ist doch die Schönheit dieses Gebotes!Bedenke, Theotimus, wenn der göttliche Wille es den Verdammten aufer-legte, wären sie in einem Augenblick von ihrem größten Unglück befreit;bedenke, daß die Seligen nur durch die Erfüllung dieses Gebotes seligsind.

O himmlische Liebe, wie liebenswert bist du unseren Seelen! Gepriesensei auf ewig die Güte, die uns mit solcher Liebe befiehlt, daß wir sie lieben,obwohl ihre Liebe so wünschenswert und notwendig für unser Glück ist,daß wir ohne sie nur unglücklich sein können!

2. KapitelDas göttliche Liebesgebot zielt auf den Himmel, ist aber dochDas göttliche Liebesgebot zielt auf den Himmel, ist aber dochDas göttliche Liebesgebot zielt auf den Himmel, ist aber dochDas göttliche Liebesgebot zielt auf den Himmel, ist aber dochDas göttliche Liebesgebot zielt auf den Himmel, ist aber doch

den Gläubigen dieser Wden Gläubigen dieser Wden Gläubigen dieser Wden Gläubigen dieser Wden Gläubigen dieser Welt gegeben.elt gegeben.elt gegeben.elt gegeben.elt gegeben.

1. „Dem Gerechten,“ heißt es „wird kein Gesetz auferlegt“ (1 Tim 1,9),er kommt ja dem Gesetz zuvor und bedarf keiner Aufforderung durchdieses, sondern erfüllt den Willen Gottes durch den Antrieb der Liebe, diein seiner Seele herrscht. Wenn dem so ist, wie frei müssen dann die Seligen

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des Himmels von jeder Art von Geboten sein! Sie sind ja im beseligendenBesitz der über alles erhabenen Schönheit und Güte des Vielgeliebten, unddaraus quillt und entsteht eine ganz milde aber unvermeidliche Notwendig-keit, die allerheiligste Gottheit mit ewiger Liebe zu lieben.

Im Himmel, Theotimus, werden wir Gott lieben, nicht weil wir durchdas Gesetz gebunden und verpflichtet sind, sondern weil uns die Freudedazu drängt und hinreißt, mit der diese so überaus liebenswerte Gottheitunsere Herzen beschenken wird. Die Macht des Gebotes wird dann abge-löst durch die Macht der Beseligung, Frucht und Erfüllung der Beobach-tung des Gebotes.

2. Durch dieses Gebot, das uns für dieses vergängliche Leben gegeben ist,sind wir folglich hingeordnet auf die Beseligung, die uns für das unver-gängliche Leben verheißen ist. Wir sind aber verpflichtet, dieses Gebot hierauf Erden sehr genau zu nehmen, weil es das Grundgesetz ist, das Jesus,unser König, den Bürgern des streitenden Jerusalem gegeben hat, damitsie sich dadurch das Bürgerrecht und die Freude des triumphierendenJerusalem verdienen.

3. Zweifellos wird unser Herz im Himmel oben frei von allen Leiden-schaften, unsere Seele von allen Zerstreuungen geläutert, unser Geist vonallen Widersprüchen befreit und unsere Kräfte allen Widerstandes ledigsein. Dadurch werden wir Gott mit einer andauernden, ununterbrochenenLiebe lieben, so wie es in der Heiligen Schrift von jenen vier heiligenTieren, den Sinnbildern der vier Evangelisten, heißt, die Gott „Tag undNacht“ ohne Unterlaß preisen (Offb 4,8). O Gott, was wird das für eineFreude sein, wenn unsere Seelen in diesen ewigen Zelten wohnend, inewiger Bewegtheit die so heiß ersehnte Ruhe der ewigen Liebe genießenwerden! „Heil denen, die wohnen in Deinem Haus, die Dich allezeit prei-sen!“ (Ps 84,5).

4. In diesem sterblichen Leben können wir auf diese so außerordentlichvollkommene Liebe keinen Anspruch erheben, denn wir haben weder dasHerz, noch die Seele, noch den Geist, noch die Kräfte der Seligen. Esgenügt, wenn wir aus unserem ganzen Herzen lieben und aus allen Kräften,die wir besitzen.

Solange wir kleine Kinder sind, sind wir kindlich brav, reden kindlichund lieben kindlich. Wenn wir im Himmel oben zur Vollkommenheitgelangt sein werden, werden wir unsere Kindheit abgelegt haben (1 Kor13,11) und werden Gott auf vollkommene Weise lieben.

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Solange wir aber Kinder in diesem sterblichen Leben sind, Theotimus,dürfen wir, soweit es an uns liegt, nichts unterlassen von dem, was unsgeboten ist. Wir können das nicht nur, sondern es ist uns auch sehr leicht,da dieses Gebot nur in der Liebe und zwar in der Liebe zu Gott besteht,der über alles gut und daher über alles liebenswert ist.

3. KapitelWWWWWenn auch das ganze Herenn auch das ganze Herenn auch das ganze Herenn auch das ganze Herenn auch das ganze Herz von der heiligen Liebe in Ansprz von der heiligen Liebe in Ansprz von der heiligen Liebe in Ansprz von der heiligen Liebe in Ansprz von der heiligen Liebe in Anspruchuchuchuchuchgenommen ist, kann man doch Gott auf verschiedenerlei Wgenommen ist, kann man doch Gott auf verschiedenerlei Wgenommen ist, kann man doch Gott auf verschiedenerlei Wgenommen ist, kann man doch Gott auf verschiedenerlei Wgenommen ist, kann man doch Gott auf verschiedenerlei Weiseeiseeiseeiseeise

und auch noch andere Dinge mit Gott lieben.und auch noch andere Dinge mit Gott lieben.und auch noch andere Dinge mit Gott lieben.und auch noch andere Dinge mit Gott lieben.und auch noch andere Dinge mit Gott lieben.

1. Wer „ganz“ sagt, schließt nichts aus. Und dennoch kann ein Menschganz Gott und zugleich ganz seinem Vater, seiner Mutter, ganz seinem Für-sten, seinem Vaterland, seinen Kindern, ganz seinen Freunden angehören.Während er so einem jeden einzelnen ganz angehört, gehört er zugleichallen ganz an. Das ist so, weil die Pflicht, dem einen ganz anzugehören,nicht in Widerspruch steht mit der Pflicht, die einer hat, den anderen ganzanzugehören.

Durch die Liebe gibt sich der Mensch ganz hin, und er gibt sich in demMaße ganz hin, als er liebt. Deshalb ist er im höchsten Maße Gott hingege-ben, wenn er seine göttliche Güte in höchstem Maße liebt. Hat er sich soGott hingegeben, dann darf er nichts lieben, was das Herz seinem Gottwieder entziehen könnte. Keine Liebe entzieht aber Gott unser Herz, außereine ihm entgegengesetzte Liebe.

Sara ärgert sich nicht darüber, Ismael bei ihrem kleinen geliebten Isaakzu sehen, solange dieser nicht sein Spiel damit treibt, ihn zu schlagen undzu stoßen (Gen 21,9.10). So stößt sich auch die göttliche Güte nicht daran,daß wir neben der Liebe zu ihm auch noch andere lieben, vorausgesetztdaß jede Liebe ihm die schuldige Ehrfurcht und Unterwerfung bewahrt.

2. Ohne Zweifel, Theotimus, wird Gott im Himmel sich uns ganz undnicht nur teilweise schenken, weil er ein Ganzes ist, das keine Teile hat.Und doch wird er sich uns in verschiedenerlei Weise schenken und zwar inebenso vielfältiger Art, als es Selige geben wird. Das wird so geschehen,weil er sich wohl ganz allen und ganz jedem Einzelnen schenkt, aber dochnicht gänzlich, weder dem Einzelnen, noch der Gesamtheit.

Wir aber werden uns ihm schenken in dem Maße, als er sich uns schenkt,denn wir werden ihn alle wahrhaftig von Angesicht zu Angesicht (1 Kor

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13,12) schauen, so wie er in seiner Schönheit ist, und werden ihn von Herzzu Herz lieben, so wie er in seiner Güte ist. Doch werden ihn nicht alle mitder gleichen Klarheit schauen, noch werden ihn alle mit der gleichen In-nigkeit lieben, sondern jeder Einzelne wird ihn nach dem besonderen Maßder Glorie schauen und lieben, das ihm die göttliche Vorsehung bereitethat. Uns allen wird die Fülle der göttlichen Liebe in gleicher Weise zuteilwerden, doch wird diese Fülle verschieden an Vollkommenheit sein.

Der Honig von Narbonne ist ganz süß, ebenso der von Paris; beide sindvoll der Süße, der eine ist jedoch von einer besseren, feineren, stärkerenSüße. Obwohl beide Honigarten ganz süß sind, ist doch weder die einenoch die andere gänzlich süß.

3. Ich huldige dem obersten Landesherrn und ich huldige auch dem un-tergebenen Vorgesetzten; dem einen wie dem anderen bringe ich meineganze Treue entgegen und dennoch verausgabe ich sie gänzlich weder demeinen noch dem anderen gegenüber. Denn in der Treue, die ich dem Herr-scher entgegenbringe, schließe ich nicht die aus, die ich dem untergebenenVorgesetzten entgegenbringe, und in der, die ich diesem erweise, schließeich nicht die ein, die ich dem Landesherrn entgegenbringe.

Wenn es so große Unterschiede in der Liebe im Himmel geben wird, wodie Worte „Du sollst den Herrn, deinen Gott lieben aus deinem ganzenHerzen“ (Dtn 6,5; Mt 22,37) in so ausgezeichneter Weise geübt werden,dürfen wir uns nicht wundern, daß es deren viele in diesem sterblichen Le-ben gibt.

4. Nicht nur unter denen, Theotimus, die Gott aus ihrem ganzen Herzenlieben, gibt es solche, die ihn mehr, und andere, die ihn weniger lieben,sondern ein und derselbe Mensch überbietet sich sehr oft in dieser erhabe-nen Übung, Gott über alles zu lieben.

Apelles arbeitete manchmal besser als andere Male; zuweilen übertrafer sich aber selbst. Wenn er auch für gewöhnlich seine ganze Kunst undseine ganze Aufmerksamkeit darauf verwendete, Alexander den Großenzu malen, so wandte er sie doch nicht immer so gänzlich und so restlos an,daß er sich nicht doch noch hätte mehr anstrengen können. Sicher brachteer nicht eine höhere Kunstfertigkeit und eine größere Liebe auf, aber erwandte sie auf eine lebendigere und vollkommenere Weise an. Immerwenn er Alexander malte, war sein ganzer Geist vorbehaltlos damit be-

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schäftigt, ein gutes Bild von ihm herzustellen, aber zuweilen war er dies ineiner stärkeren und glücklicheren Art.

Wer wüßte nicht, daß man in dieser heiligen Liebe zunimmt und daß dasLebensende der Heiligen von einer vollkommeneren Liebe erfüllt ist alsihr Lebensbeginn?

5. Nach der Ausdrucksweise der Heiligen Schrift heißt „etwas von gan-zem Herzen tun“ nichts anderes, als es willigen Herzens vorbehaltlos tun.„O Herr,“ ruft David aus, „mit meinem ganzen Herzen suche ich Dich“(Ps 119,10). „Von ganzem Herzen rufe ich: Herr, erhöre mich!“ (Ps119,145) Und die Heilige Schrift bezeugt, daß er Gott wirklich aus gan-zem Herzen gefolgt war (1 Sam 13 f; Apg 13,22). Trotzdem sagt die Heili-ge Schrift von Hiskija: „Von allen Königen Judas kam ihm keiner gleich,weder unter seinen Nachfolgern noch unter seinen Vorgängern, er hieltunentwegt am Herrn fest“ (2 Kön 18,5.6). Und späterhin sagt sie vonJosias: „Es gab vor ihm keinen König seinesgleichen, der so von ganzemHerzen, von ganzer Seele und mit aller Kraft zum Herrn zurückgekehrtwäre, entsprechend dem ganzen mosaischen Gesetz. Auch nach ihm er-stand keiner seinesgleichen“ (2 Kön 23,25).

Siehst du, Theotimus, wie David, Hiskija und Joschija Gott aus ganzemHerzen liebten, da keiner der drei seinesgleichen hatte in dieser Liebe, wiedie Heilige Schrift bezeugt. Alle drei Könige liebten ihn aus ganzem Her-zen, aber keiner von ihnen und auch nicht alle drei zusammen liebten ihngänzlich, sondern jeder auf seine eigene Weise. Sie waren sich gleich darin,daß jeder von ihnen sein ganzes Herz hingab, ungleich aber waren sie inder Art, wie sie es hingaben. So besteht auch kein Zweifel, daß David fürsich allein betrachtet, sich selbst in dieser Liebe sehr unähnlich war. Mitjenem zweiten Herzen, das Gott „rein“ und lauter in ihm „geschaffen hat-te“ und mit dem „rechten Geist“, den Gott durch die heilige Buße „in ihmerneuert hatte“, sang er das Lied seiner Liebe unvergleichlich melodi-scher, als er es je mit seinem ursprünglichen Herzen und seinem erstenGeist getan hatte (Ps 51,12).

6. Alle wahren Liebenden sind sich darin gleich, daß alle ihr ganzes HerzGott schenken und dies aus ganzer Kraft tun; ungleich aber sind sie da-durch, daß sie alle es anders und auf verschiedene Weise tun. Die einengeben ihr ganzes Herz mit ganzer Kraft weniger vollkommen hin als ande-re. Die einen geben es ganz durch das Martyrium, andere ganz durch dieJungfräulichkeit, andere ganz durch die Armut, andere ganz durch ihre

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Tätigkeit, andere ganz durch die Beschauung, andere ganz durch die Seel-sorge; alle aber geben es durch die Beobachtung der Gebote hin, die einenjedoch mit weniger Vollkommenheit als die anderen.

Ja selbst Jakob, den David den „Heiligen Gottes“ (Dan 3,35) nennt, undvon dem Gott selbst beteuert, daß er ihn geliebt habe (Mal 1,2; Röm 9,13),bekennt, daß er Laban „mit seiner ganzen Kraft gedient“ habe (Gen 31,6).Und warum diente er Laban? Doch nur darum, weil er Rahel aus allenseinen Kräften liebte. Er diente Laban mit seiner ganzen Kraft, er dientGott mit seiner ganzen Kraft; er liebt Rahel mit seiner ganzen Kraft, erliebt Gott mit seiner ganzen Kraft und dennoch liebt er Rahel nicht so wieGott und Gott nicht so wie Rahel. Er liebt Gott als seinen Gott, über allesund mehr als sich selbst. Rahel liebt er als seine Frau, mehr als alle ande-ren Frauen und so wie sich selbst. Er liebt Gott mit der absolut allesübersteigenden höchsten Liebe, und Rahel mit der höchsten ehelichenLiebe. Die eine Liebe widerspricht der anderen nicht, weil die Liebe zuRahel die Privilegien und höchsten Vorrechte der Liebe zu Gott nichtverletzt.

7. Der Wert der Liebe, die wir Gott entgegenbringen, mein Theotimus,hängt also von der Erhabenheit und Vortrefflichkeit des Beweggrundes ab,aus dem und dem zufolge wir ihn lieben. Er liegt darin, daß wir ihn seineralles übertreffenden, unendlichen Güte wegen lieben als Gott und inso-fern, als er Gott ist. Ein Tropfen dieser Liebe ist aber mehr wert, hat mehrKraft und verdient mehr Hochschätzung als alle anderen Arten von Liebe,die jemals in dem Herzen eines Menschen oder unter den Chören derEngel sein kann. Denn solange diese Liebe lebt, herrscht sie, führt dasZepter über jede Liebe und bewirkt, daß man Gottes Willen allen anderenDingen vorzieht ohne Unterschied, Ausnahme und Vorbehalt.

4. KapitelZwei mögliche Stufen der VZwei mögliche Stufen der VZwei mögliche Stufen der VZwei mögliche Stufen der VZwei mögliche Stufen der Vol lko l lko l lko l lko l lkommenheit in der Erommenheit in der Erommenheit in der Erommenheit in der Erommenheit in der Erfül lungfüllungfüllungfüllungfüllung

dieses Gebotes hier auf Erden.dieses Gebotes hier auf Erden.dieses Gebotes hier auf Erden.dieses Gebotes hier auf Erden.dieses Gebotes hier auf Erden.

1. Als der große König Salomo sich noch vom Heiligen Geist leiten ließund das Hohelied verfaßte, hatte er nach der Sitte dieser Zeit eine großeAnzahl von Frauen und Mädchen, die sich seiner Liebe unter verschiede-nen Bedingungen und in verschiedener Eigenschaft hingaben (Hld 6,7 f).Da war 1) eine, die in einziger Weise seine einzige ganz vollkommene

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Freundin war, seine ganz auserlesene, einzig dastehende Taube, mit derdie anderen in keiner Weise verglichen werden konnten und der er des-halb den Namen Schulammit gab. 2) Da waren ferner sechzig Frauen, dienach dieser einen den ersten Ehrenrang einnahmen und Königinnen ge-nannt wurden. 3) Außer diesen gab es noch achtzig Frauen, die nicht Kö-niginnen, aber doch ehrenwerte und legitime Gemahlinnen des Königswaren. Und endlich gab es 4) noch eine ungezählte Schar junger Mädchen,vergleichbar einer Baumschule, die in Bereitschaft standen, an die Stelleder Vorhergenannten zu treten in dem Maße, als diese ausscheiden wür-den.

Nach dem Bild dessen, was in seinem Palast war, beschrieb nun Salomodie verschiedenartige Vollkommenheit der Seelen, die in Zukunft den gro-ßen Friedensfürsten, Jesus Christus, unseren Herrn, anbeten, lieben und ihmdienen sollten.

2. Unter diesen gibt es solche, die erst seit kurzem von ihren Sündenbefreit, zwar fest entschlossen sind, Gott zu lieben, aber doch noch Neu-linge, Lehrlinge, zart und schwach sind. Sie lieben wohl die göttliche Güte,ihre heilige Liebe ist aber vermengt mit so vielen anderen Zuneigungen, daßsie sozusagen noch im Kindesalter steht. Sie lieben außer dem Herrn nocheine Unzahl überflüssiger, eitler und gefährlicher Dinge.

Wenn der Phönix gerade erst aus seiner Asche wiedererstanden ist, hater nur kleine Flaumfedern und kann sich daher kaum in die Lüfte erheben,so daß man eher von Hüpfen als von Fliegen reden kann. – Ebenso könnensich auch diese jungen, zarten Seelen, die aus der Asche ihrer Buße neugeboren wurden, nicht hinaufschwingen und in das weite, unbegrenzteÄthermeer der heiligen Liebe fliegen. Eine Menge böser Neigungen undschlechter Gewohnheiten hält sie zurück, welche die Sünden ihres vergan-genen Lebens in ihnen zurückgelassen haben. Dennoch sind sie lebend,von der Liebe und zwar von der wahren Liebe beseelt und beschwingt;sonst hätten sie die Sünde nicht verlassen. Aber ihre Liebe ist noch schwachund jung, und da sie von einer Menge anderer Anhänglichkeiten umgebenist, kann sie nicht so viele Früchte hervorbringen, als wenn sie das ganzeHerz besäße.

So war es bei dem verlorenen Sohn, als er die ruchlose Gesellschaft unddie Schweineherde verließ, in deren Mitte er gelebt hatte. Halb nackt,schmutzig, besudelt und stinkend vom Unrat, von dem er durch das Lebeninmitten dieser schmutzigen Tiere bedeckt war, kehrte er in die Armeseines Vaters zurück. Denn was heißt „die Schweine verlassen“ anderes,

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als sich von der Sünde zurückziehen? Und was heißt zerrissen, zerlumptund stinkend sein anderes, als noch die Liebe gehemmt haben durch Ge-wohnheiten und Neigungen, die auf die Sünde abzielen? Dennoch besaß erdas Leben der Seele, das ja die Liebe ist, und wie ein aus seiner Ascheneugeborener Phönix war auch er neu erstanden: „Er war tot,“ sagte seinVater, „und ist wieder zum Leben gekommen“ (Lk 15,24.32).

3. Solche Seelen werden im Hohelied (6,7.8; 1,2.3) „junge Mädchen“genannt. Sie haben den „Duft“, der vom Namen des Bräutigams ausgeht,wahrgenommen; dieser atmet nur Heil und Verzeihung, so lieben sie ihnmit einer echten Liebe, die aber, wie sie selbst, noch zart und jugendlich ist.Wenn junge Mädchen einen Bräutigam haben, so lieben sie ihn wohl sehr,aber sie hören deswegen nicht auf, Ringe und andere Kleinigkeiten undihre Gefährtinnen zu lieben, mit denen sie überaus gern spielen, tanzenund Unsinn treiben und sich mit kleinen Vögeln, Hündchen, Eichkätz-chen und ähnlichem Spielzeug unterhalten. So lieben auch diese jungen,neubekehrten Seelen ihren himmlischen Bräutigam gewiß sehr, danebenaber auch freiwillig eine Menge von Dingen, die sie zerstreuen und ablenken.Sie lieben ihn wohl mehr als alles andere, hören aber deswegen nicht auf,sich bei so und so vielen Dingen aufzuhalten, die sie nicht nach seinemSinn, sondern neben ihm, außerhalb seiner und ohne ihn lieben. Gewißsind die kleinen Ungehörigkeiten in Wort, Gebärde, Kleidung, Unterhal-tung und all die kleinen Verrücktheiten streng genommen nicht gegen denWillen Gottes; aber auch nicht dem Willen Gottes gemäß, sondern liegenaußerhalb des göttlichen Willens, Gottes Wille liegt nicht in ihnen.

4. Es gibt aber auch Seelen, die schon einige Fortschritte in der Gotteslie-be gemacht und aller Liebe, die sie zu gefährlichen Dingen hegten, entsagthaben, aber doch noch in gefährlichen und überflüssigen Anhänglichkeitenverstrickt sind, weil ihre Liebe zu Dingen, die Gott geliebt wissen will, über-trieben, zu zärtlich und leidenschaftlich ist.

Gott wollte, daß Adam Eva zärtlich liebe, aber doch nicht so zärtlich,daß er den von seiner göttlichen Majestät erteilten Befehl ihr zuliebe über-trete. Was er liebte, war weder überflüssig, noch an sich gefährlich, aber erliebte es in übermäßiger und gefährlicher Weise. Die Liebe zu unserenEltern, Freunden, Wohltätern ist an und für sich Gott gemäß, aber wirkönnen sie übermäßig lieben.

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Auch unser Beruf, so geistlich er auch sein mag, und unsere Übungender Frömmigkeit, die wir ja sehr lieben sollen, können in ungeordneterWeise geliebt werden. Das geschieht, wenn wir sie dem Gehorsam oderdem allgemeinen Wohl vorziehen, wenn wir sie als letztes Ziel lieben, ob-wohl sie doch nur Mittel und Wege zu unserer letzten und eigentlichenAufgabe sind, die ja in der göttlichen Liebe liegt.

5. Diese Seelen, die nichts anderes lieben als das, was Gott geliebt wis-sen will, die aber in der Art zu lieben das Maß überschreiten, lieben inWahrheit das höchste Gut über alles, aber nicht in allem. Denn die Dinge,die ihnen in gottgemäßer Weise zu lieben nicht nur erlaubt, sondern gebo-ten ist, lieben sie nicht nur in gottgemäßer Weise, sondern aus Ursachenund Gründen, die sicher nicht gegen Gott gerichtet sind, wohl aber außerihm liegen. So gleichen sie dem Phönix, wenn dieser kaum die erstenFedern und einige Kraft gewonnen hat und sich schon in die Lüfte schwingt,aber doch nicht genügend Kraft hat, um einen längeren Flug auszuhalten,sondern oft auf die Erde herunter muß, um zu rasten.

So erging es dem armen jungen Mann, der von früher Jugend an dieGebote Gottes beobachtet hatte, kein Verlangen nach den Gütern deranderen hatte, aber zu sehr die liebte, die er besaß. Als ihm der Herr denRat gab, sie den Armen zu geben, „wurde er daher ganz traurig“ und nie-dergeschlagen (Mt 19,20-22; Lk 18,21-23). Er liebte nichts, was ihm nichterlaubt gewesen wäre zu lieben, aber er liebte es mit einer übermäßigenund zu engherzigen Liebe.

Diese Seelen, mein Theotimus, lieben also zu heiß und übermäßig; sielieben aber nichts Überflüssiges, sondern nur das, was sie lieben sollen.Darum erfreuen sie sich der Gemeinschaft mit dem himmlischen Salomo,d. h. der Vereinigung mit ihm, des Geborgenseins und Ruhens in seinerLiebe, wovon schon im 5. und 6. Buch die Rede war. Doch genießen siediese nicht als ihm Vermählte, da das Übermaß, mit dem sie die gutenDinge lieben, sie daran hindert, sehr oft die Vereinigung mit dem göttli-chen Bräutigam einzugehen. Sie sind beschäftigt und von ihm abgelenktdadurch, daß sie außer ihm und ohne ihn das lieben, was sie nur in ihm undfür ihn lieben sollten.

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5. KapitelZwei weitere Stufen höherer VZwei weitere Stufen höherer VZwei weitere Stufen höherer VZwei weitere Stufen höherer VZwei weitere Stufen höherer Vol lko l lko l lko l lko l lkommenheit, auf denenommenheit, auf denenommenheit, auf denenommenheit, auf denenommenheit, auf denen

wir Gott über alles lieben können.wir Gott über alles lieben können.wir Gott über alles lieben können.wir Gott über alles lieben können.wir Gott über alles lieben können.

1. Nun gibt es aber auch Seelen, die weder Überflüssiges lieben, noch mitÜbermaß lieben, sondern nur das lieben, was Gott will und so wie Gott eswill. Es sind glückliche Seelen, denn sie lieben Gott und lieben ihre Freun-de in Gott und ihre Feinde um Gottes willen. Sie lieben manches mitGott, aber nichts, was nicht Gott gemäß ist, und nichts, was sie nicht umGottes willen lieben. Gott ist es, den sie nicht nur über alles, sondern auchin allem lieben, und alles lieben sie in Gott. Sie gleichen dem vollkommenverjüngten und zu neuer Lebenskraft zurückgekehrten Phönix, den mannur in den Lüften und auf den Berggipfeln hoch in der Luft sieht. So liebenauch diese Seelen alles nur in Gott, obwohl sie mehrere Dinge mit Gottund Gott mit mehreren Dingen lieben.

Der hl. Lukas berichtet (9,59 f), daß der Herr einen Jüngling, der ihnwirklich sehr liebte, einlud, ihm zu folgen. Doch dieser hatte auch einegroße Liebe zu seinem Vater und wollte deshalb zu ihm zurückkehren.Der Herr tadelte aber dieses Übermaß an Liebe und forderte ihn zu einerreineren Liebe auf, damit er den Herrn nicht nur mehr als seinen Vater,sondern den Vater auch nur im Herrn liebe: „Lass die Toten ihre Totenbegraben, du aber, der du das Leben gefunden hast, geh und verkünde dasReich Gottes.“

Diese Seelen, Theotimus, die dem Bräutigam so innig vereinigt sind,verdienen es, wie du siehst, an seiner Würde Anteil zu haben und Königin-nen zu sein, so wie er König ist. Sie gehören ihm ja ganz an, ohne Teilungund Trennung, und lieben nichts mehr außer ihm und ohne ihn, sondernnur in ihm und für ihn.

2. Über allen diesen Seelen aber gibt es eine, die einzig in ihrer Art ist, dieKönigin aller Königinnen, die über alles liebende, die liebenswerteste unddie geliebteste unter allen Freundinnen des göttlichen Bräutigams. Sieliebt nicht allein Gott über alles und in allem, sondern sie liebt nur Gott inallem. Sie liebt also nicht mehreres, sondern nur eines, nämlich Gott. Undda es Gott ist, den sie in allem liebt, was sie liebt, so liebt sie ihn überall inganz gleicher Weise, so wie sein Wohlgefallen es fordert, außerhalb allemund ohne alles.

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3. Wenn Artaxerxes wirklich nur Ester liebt, warum sollte er sie dannreich geschmückt und parfümiert mehr lieben als in ihren gewöhnlichenKleidern? Wenn ich wirklich nur meinen Erlöser liebe, warum liebe ichdann nicht ebenso den Kalvarienberg wie den Tabor, da er auf dem einenebenso ist, wie auf dem anderen? Und warum sage ich dann nicht auf demeinen wie auf dem anderen aus tiefstem Herzen: „Hier ist gut sein“ (Mt17,4)?

Ich liebe den Heiland in Ägypten, ohne Ägypten zu lieben. Warum liebeich ihn nicht beim Gastmahl Simeons des Aussätzigen, ohne das Gast-mahl zu lieben? Und wenn ich ihn unter den Lästerungen liebe, warumsollte ich ihn dann nicht duftend vom kostbaren Salböl der Magdalenalieben, ohne das Salböl, noch dessen Wohlgeruch zu lieben (Mt 26,7)?

Das ist das wahre Kennzeichen dafür, ob wir nur Gott in allen Dingenlieben, wenn wir ihn in allen Dingen auf gleiche Weise lieben. Er ist ja sichselbst immer gleich; die Ungleichheit unserer Liebe kann also nur daherkommen, daß wir etwas im Auge haben, was nicht er ist.

Diese heilige Liebende liebt ihren König mitsamt dem ganzen Weltallnicht mehr, als wäre er ganz allein, ohne das Weltall, denn alles, was außer-halb Gottes und nicht Gott ist, ist für sie wie nichts. Eine Seele, ganz rein,die selbst das Paradies nur deshalb liebt, weil der Bräutigam dort geliebtwird. Aber auch ein Bräutigam, so über alles geliebt in seinem Paradies,daß, hätte er kein Paradies zu vergeben, er doch nicht weniger liebenswertwäre und von dieser mutigen Liebenden nicht weniger geliebt wäre. Sieliebt eben nicht das Paradies ihres Bräutigams, sondern den Bräutigam desParadieses und sie schätzt den Kalvarienberg, auf dem ihr Bräutigam ge-kreuzigt wird, nicht weniger als den Himmel, in dem er verherrlicht wird.

Wiegt man eines der drei Kügelchen ab, die man im Herzen der hl.Klara von Montefalco gefunden hat, so kommt man darauf, daß es schwe-rer ist als alle drei Kügelchen zusammengenommen. So findet auch diewahre, starke Liebe Gott allein ebenso liebenswert, wie alle Geschöpfemit ihm zusammen, denn sie liebt alle Geschöpfe nur in Gott und Gotteswegen.

4. Von diesen vollkommenen Seelen gibt es so wenige, daß jede von ihnen„einzige Tochter ihrer Mutter“, der göttlichen Vorsehung genannt wird.Von ihr heißt es auch, daß sie „einzige Taube“ heißt (Hld 6,9), die einzig

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und allein nur ihren Tauber liebt. Man nennt sie „vollkommen“, weil siedurch die Liebe mit der höchsten Vollkommenheit ganz eins wurde. Da-her kann sie in demütiger Wahrheit sagen: Nur meinem Liebsten bin ichzu eigen! Und seine Sehnsucht geht nach mir (Hld 7,11).

Nur die seligste Jungfrau, Unsere liebe Frau, hat diesen höchsten Gradder Liebe zu ihrem Vielgeliebten vollkommen erreicht. Sie ist eine Taube, soeinzigartig einzig in ihrer Liebe, daß alle anderen, wenn sie mit ihr inVergleich gezogen werden, eher Krähen als Tauben genannt zu werdenverdienen.

Doch abgesehen von dieser in ihrer einzigartigen Erhabenheit un-vergleichlichen Königin, hat es Seelen gegeben, die sich so sehr im Zu-stand dieser reinen Liebe befanden, daß sie im Vergleich zu den anderenden Rang von Königinnen, einzigartigen Tauben und vollkommenen Freun-dinnen des Bräutigams einnehmen konnten. Denn ich frage dich, meinTheotimus: Was war wohl der, der zu Gott aus seinem ganzen Herzensang: „Was habe ich im Himmel, wenn nicht Dich? Und bin ich bei Dir,dann freut mich die Erde nicht“ (Ps 73,25). Oder jener, der ausrief: „Alleshabe ich für Kehricht und Unrat erachtet, um Christus zu gewinnen“ (Phil3,8). Bezeugte er nicht, daß er nichts anderes liebte als seinen Herrn unddaß er ihn außerhalb aller Dinge liebte? Und was war wohl das Empfindenjenes großen Liebenden, der die ganze Nacht hindurch seufzte: „MeinGott und mein Alles“ (s. VII,5)?

Das war die Gesinnung der Heiligen Augustinus, Bernhard, Katharinavon Siena, Katharina von Genua und vieler anderer. In ihrer Nachahmungkann ein jeder nach diesem göttlichen Grad der Liebe streben.

5. Selten und einzig in ihrer Art sind diese Seelen und haben keine Ähn-lichkeit mehr mit den Vögeln dieser Welt, nicht einmal mehr mit dem soeigenartigen Phönix. Ihr einziges Sinnbild ist jener Vogel, der wegen sei-ner überaus großen Schönheit und wegen seines Adels nicht von dieserWelt, sondern vom Paradies zu sein scheint, dessen Namen er auch trägt.Denn dieser schöne Vogel schätzt die Erde so gering, daß er sie gar nichtberührt, sondern immer nur in den Lüften lebt. Selbst wenn er sich ausru-hen will, hängt er sich mit kleinen Fäden an einen Baum und bleibt so inder Luft hängen, außer der und ohne die er weder fliegen noch ruhen kann(Lopez, Hist. Indic. Occid., C. IX).

Gleicherweise lieben auch diese großen Seelen die Geschöpfe an sicheigentlich nicht, sondern in ihrem Schöpfer und den Schöpfer in ihnen. Wenn

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sie sich in Erfüllung des Gebotes der Liebe an irgendein Geschöpf an-schließen, so tun sie es nur, um in Gott zu ruhen, der das einzige und letzteBegehren ihrer Liebe ist. Da sie Gott in den Geschöpfen finden und dieGeschöpfe in Gott, so lieben sie Gott und nicht die Geschöpfe. Es ist wiebei den Perlenfischern, die Perlen in den Austern finden, aber doch beiihrem Fang nur auf die Perlen Wert legen.

Übrigens denke ich, daß es nie ein sterbliches Wesen gab, das den himm-lischen Bräutigam mit dieser einzigartigen, vollkommenen, reinen Liebeliebte, außer der Jungfrau, die seine Braut und Mutter zugleich war.

6. Hingegen kann man in der Ausübung dieser vier verschiedenen Artender Liebe kaum leben, ohne von der einen zur anderen überzugehen.

Die Seelen, die wie junge Mädchen noch von verschiedenen eitlen undgefährlichen Zuneigungen behindert sind, haben doch zuweilen auch Emp-findungen der reineren und höchsten Liebe. Doch da diese nur blitzartigaufscheinen und bald wieder vorübergehen, kann man nicht sagen, daßdiese Seelen den Zustand junger Anfänger und Lehrlinge überwunden ha-ben.

Ebenso kommt es zuweilen vor, daß Seelen, die bereits im Rang dereinzigen und vollkommenen Liebenden stehen, herabsinken und stark nach-lassen, so daß sie sogar große Unvollkommenheiten und bedauerlicheläßliche Sünden begehen. Man kann dies an einigen ziemlich heftigenAuseinandersetzungen zwischen großen Dienern Gottes, ja sogar zwischeneinigen Aposteln sehen. Es ist nicht zu leugnen, daß diese sich einige Un-vollkommenheiten zuschulden kommen ließen, in denen allerdings nichtdie Liebe selbst, aber doch deren Eifer verletzt wurde. Da diese großenSeelen Gott aber dennoch für gewöhnlich mit vollkommen reiner Liebeliebten, muß man trotzdem sagen, daß sie sich im Zustand der vollkom-menen Liebe befunden haben.

Gute Bäume bringen nie giftige Früchte hervor, wohl aber unreife, wur-mige, mißgebildete Früchte, sowie Flechten und Moos. So werden großeHeilige nie eine Todsünde begehen, aber es wird vorkommen, daß sieUnnützes tun und in einer herben, rauhen, unpassenden Art handeln. Vonsolchen Bäumen muß man sagen, daß sie Früchte bringen, sonst wären sieja nicht gut, doch darf man nicht leugnen, daß einige ihrer Früchte unge-nießbar sind. Denn wer wird leugnen, daß Misteln ungenießbar sind? Sowird man auch nicht in Abrede stellen, daß die kleinen Aufwallungen desZornes, zu heftige Ausbrüche der Freude, des Übermutes, der Eitelkeit

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und anderer solcher Leidenschaften unnütze und unrechtmäßige Regun-gen sind. Und dennoch läßt sich der Gerechte siebenmal, das heißt oftsolche zu schulden kommen (Spr 24,16).

6. KapitelAlle Gottliebenden haben gemeinsam,Alle Gottliebenden haben gemeinsam,Alle Gottliebenden haben gemeinsam,Alle Gottliebenden haben gemeinsam,Alle Gottliebenden haben gemeinsam,

daß sie Gott über alles lieben.daß sie Gott über alles lieben.daß sie Gott über alles lieben.daß sie Gott über alles lieben.daß sie Gott über alles lieben.

1. Es gibt zwar bei denen, die Gott wahrhaftig lieben, verschiedene Gra-de der Liebe, aber doch nur ein einziges Liebesgebot, das allgemein undgleichmäßig jeden an ein und dieselbe ganz gleiche Verpflichtung bindet.Sie wird aber auf verschiedenerlei Weise mit einer unendlichen Vielfalt vonVollkommenheitsgraden erfüllt. Es gibt wohl nicht zwei Seelen auf Erden,noch Engel im Himmel, welche die ganz gleiche Liebe haben. So wie jederStern vom anderen im Glanz verschieden ist (1 Kor 15,41), so wird jederHeilige nach der Auferstehung sich vom anderen unterscheiden. Jederwird ein eigenes Lied der Glorie singen und „einen Namen erhalten, denniemand kennt außer jenem, der ihn empfangen hat“ (Offb 2,17).

2. Welches ist aber der Grad der Liebe, zu dem das göttliche Gebot unsalle in gleicher Weise immer und überall verpflichtet?

Nicht ohne besondere Einwirkung des Heiligen Geistes wählte die all-gemein gebräuchliche und durch das Konzil von Trient kanonisierte undgeheiligte Übersetzung für die Wiedergabe des Liebesgebotes das Wort„dilectio“ und nicht das Wort „amor“. Denn dadurch ist klar ausgespro-chen, daß diese Liebe nicht eine gewöhnliche ist, sondern eine mit Wahlund Erwählung verbundene, wie schon der glorreiche hl. Thomas sagt (S.th. Ia, IIae, qu. 26, art. 3). Denn dieses Gebot verpflichtet uns zu einer Liebe,die unter Tausenden auserwählt ist, so wie der Vielgeliebte dieser Liebe„unter Tausenden hervorragt“, wie Schulammit im Hohelied beteuert (Hld5,10).

Es ist die Liebe, die über jede andere Liebe vorherrschen und alle unsereLeidenschaften beherrschen muß. Das ist es, was Gott von uns fordert. DieLiebe, die wir ihm entgegenbringen, muß die herzlichste sein, die unserganzes Herz beherrscht; sie muß die innigste sein, die unsere ganze Seelein Beschlag nimmt; die allgemeinste, die all unsere Fähigkeiten in ihrenDienst stellt; die erhabenste, die unseren ganzen Geist erfüllt; und diestandhafteste, die unsere ganze Stärke und Kraft in Tätigkeit setzt. Und da

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wir durch sie Gott zum höchsten Gegenstand unseres Geistes wählen, istes eine Liebe höchster Wahl und eine Wahl höchster Liebe.

3. Du weißt, Theotimus, daß es verschiedene Arten von Liebe gibt, zumBeispiel eine väterliche, eine kindliche, brüderliche, bräutliche Liebe, einegesellige, eine pflichtmäßige, eine abhängige Liebe und hundert andere.Alle diese Arten der Liebe sind verschieden an Wert und ihrem Gegen-stand so angepaßt, daß man sie leicht auf einen anderen Gegenstand über-tragen oder ihm anpassen kann. Wer seinen Vater nur mit einer brüderli-chen Liebe liebte, würde ihn sicher nicht genügend lieben. Wer seine Gat-tin nur so liebte, wie seinen Vater, würde sie nicht in der rechten Weiselieben; wer seinem Lakai eine kindliche Liebe entgegenbrächte, würdeetwas Unpassendes tun.

Mit der Liebe verhält es sich so, wie mit der Ehre; wie sich die Ehrenbe-zeugungen nach den verschiedenen Vorzügen richten, die man ehren will,so ist auch die Liebe verschieden nach der Verschiedenheit der guten Ei-genschaften, um deretwillen man liebt. Die höchste Ehre gebührt der höch-sten Erhabenheit und die höchste Liebe der höchsten Güte. Die Gotteslie-be ist eine Liebe ohnegleichen, weil die Güte Gottes eine Güte ohneglei-chen ist. „Höre Israel! Der Herr, dein Gott, ist allein Herr. So liebe dennden Herrn, deinen Gott mit deinem ganzen Herzen, mit ganzer Seele undall deiner Kraft“ (Dtn 6,4.5). Weil Gott allein der Herr ist und weil seineGüte alle Güte unendlich überragt. muß man ihn mit einer über allen Ver-gleich hohen, erhabenen und mächtigen Liebe lieben.

4. Diese über alles erhabene Liebe ist es, die Gott zu solcher Geltung inunserer Seele kommen läßt. Deswegen legen wir solchen Wert darauf, ihmwohlgefällig zu sein, daß wir dies allem anderen vorziehen und es überalles lieben.

Siehst du nun nicht, Theotimus, daß alle, die Gott so lieben, ihm ihreganze Seele und alle Kräfte geweiht haben? Denn immer und ewig und beiallen Gelegenheiten werden sie das Wohlwollen Gottes allen Dingen vor-ziehen und immer bereit sein, auf die ganze Welt zu verzichten, um dieLiebe zu bewahren, die sie der göttlichen Güte schulden.

Kurzum, es ist die erhabenste Liebe oder die Erhabenheit der Liebe, dieallen Sterblichen im allgemeinen und jedem einzelnen im besonderengeboten ist, sobald sie den freien Gebrauch ihrer Vernunft haben. DieseLiebe genügt für jeden und ist notwendig für alle, um gerettet zu werden.

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7. KapitelErklärung des vorausgehenden Kapitels.Erklärung des vorausgehenden Kapitels.Erklärung des vorausgehenden Kapitels.Erklärung des vorausgehenden Kapitels.Erklärung des vorausgehenden Kapitels.

1. Man erkennt nicht immer klar und nie ganz sicher, jedenfalls nicht „mitder Sicherheit des Glaubens“, ob man die wahre Liebe zu Gott hat, dieerforderlich ist, um gerettet zu werden (Konzil von Trient, 6. Sitz., 9. Kap.).Das hindert aber nicht, daß man mehrere Kennzeichen dafür hat. Das si-cherste und beinahe unfehlbare kommt dann zum Vorschein, wenn irgend-eine große Liebe zu den Geschöpfen sich den Absichten der göttlichen Lie-be widersetzt. Ist die göttliche Liebe in der Seele, so offenbart sie dann, wiegroß der Einfluß und die Macht ist, die sie über den Willen hat. Sie zeigtdann in der Tat, daß sie nicht nur keinen Herrn über sich hat, sondernnicht einmal einen Gefährten neben sich duldet, daß sie alles zurück-drängt und umstößt, was sich ihr widersetzt, und daß sie allen ihren Ab-sichten Gehorsam verschafft.

2. Als die unglückselige Schar der bösen Geister sich gegen ihren Schöp-fer auflehnte und das heilige Heer der seligen Geister mit sich reißenwollte, spornte sie der glorreiche hl. Michael zur Gott geschuldeten Treuean, indem er mit lauter Stimme nach Art der Engel im himmlischen Jeru-salem ausrief: „Wer ist wie Gott?“ Und durch diese Worte stürzte er dentreulosen Luzifer und seine Gefolgschaft, die der göttlichen Majestät gleichsein wollten. Von da ab, sagt man, empfing der hl. Michael seinen Namen,denn Michael bedeutet: Wer ist wie Gott! (Hugo zur Offb 12,7; vgl. Gre-gor d. Gr. Hom. 34 zum Evg. § 9).

Wenn Liebe zu geschaffenen Dingen unseren Geist auf ihre Seite ziehenund zum Ungehorsam gegen die göttliche Majestät verleiten will, dannstellt sich ihr in der Seele, die eine starke Gottesliebe besitzt, diese wie einanderer St. Michael entgegen und sichert die Fähigkeiten und Kräfte derSeele für den Dienst Gottes mit diesem entschlossenen Wort: „Wer ist wieGott?“ Was haben die Geschöpfe Gutes an sich, das das menschliche Herzso anziehen könnte, daß es sich gegen die unübertreffliche Güte Gottesempörte?

3. Als der heilige, tapfere und edle Josef erkannte, daß die Liebe seinerGebieterin darauf ausging, die Liebe zu zerstören, die er seinem Herrnschuldete, rief er aus: „Gott bewahre mich davor, die Ehrfurcht zu verlet-zen, die ich meinem Herrn schulde, der mir solches Vertrauen entgegen-bringt! Wie sollte ich ein so schweres Unrecht tun und mich so wider

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meinen Gott versündigen?“ (Gen 39,8 f). Beachte, Theotimus, diese dreiArten der Liebe im Herzen des liebenswürdigen Josef: er liebt seine Ge-bieterin, seinen Herrn und seinen Gott. Aber in dem Augenblick, wo dieLiebe zu seiner Gebieterin der Liebe zu seinem Herrn widerstreitet, ver-läßt er sie auf der Stelle und flieht. So hätte er auch die Liebe zu seinemHerrn preisgegeben, wenn sie im Gegensatz zur Gottesliebe gestandenhätte. Unter allen Arten der Liebe muß die Liebe zu Gott derart vorgezo-gen werden, daß man bereit ist, um ihretwillen alle anderen zu opfern.

Nach der rechtmäßigen Sitte der damaligen Zeit überließ Sara ihre Magdihrem Gatten Abraham, damit sie ihm Kinder schenke. Doch sobald Ha-gar merkte, daß sie Mutter geworden war, sah sie auf ihre Herrin Sara mitVerachtung herab. Bis zu diesem Zeitpunkt hätte man nicht gut unter-scheiden können, für wen Abraham eine größere Liebe hegte, für Saraoder für Hagar. Denn Hagar genoß die Rechte einer Gattin ebenso wieSara und hatte dazu den Vorteil der Fruchtbarkeit. Doch als es dazu kam,daß er die Liebe, die er beiden entgegenbrachte, gegeneinander abwägenmußte, ließ Abraham deutlich erkennen, welche die stärkere war. Dennkaum hatte Sara ihm mitgeteilt, daß Hagar sie geringschätzig behandle,antwortete er ihr: „Hagar, deine Magd, steht ja in deiner Gewalt; tu mitihr, was dir gut dünkt“ (Gen 16,6). Von da ab behandelte Sara sie so hart,daß Hagar sich gezwungen sah zu fliehen.

4. Die Gottesliebe läßt es wohl zu, daß wir andere lieben, und oft wird esschwer fallen, zu unterscheiden, welche Liebe in unserem Herzen vor-herrscht; denn das menschliche Herz gefällt sich oft voll Leidenschaft inder Liebe zu den Geschöpfen. Ja, es geschieht oft, daß es seine Zuneigungzu den Geschöpfen viel häufiger durch Akte äußert, als seine Liebe zumSchöpfer. Und dennoch hört die heilige Gottesliebe deswegen nicht auf, alleanderen Arten der Liebe zu übertreffen. Das wird bei Gelegenheiten augen-scheinlich, wenn das Geschöpf im Gegensatz zum Schöpfer steht. Denn daentscheiden wir uns für die heilige Gottesliebe und unterwerfen ihr alleunsere anderen Zuneigungen.

5. Bei geschaffenen Dingen ist oft ein Unterschied zwischen ihrer Größeund ihrem Wert. Eine einzige Perle Kleopatras war mehr wert als der höchs-te unserer Felsen, obwohl dieser doch weit größer ist. Das eine ist größer,das andere wertvoller. Man fragt sich, was wohl der höchste Ruhm einesFürsten ist: Der, den er sich im Kriege durch Waffen erwirbt, oder der, dener im Frieden durch die Gerechtigkeit gewinnt. Mir scheint, daß der mili-

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tärische Ruhm größer, der andere aber wertvoller ist. Unter den Instru-menten sind Trommeln und Trompeten lärmender, während Lauten undSpinette melodischer klingen. Der Klang der einen ist stärker, der deranderen lieblicher und geistiger. Eine Unze Balsam wird nicht so vielGeruch verbreiten wie ein Pfund Lavendelöl, doch wird der Duft des Bal-sams immer besser und angenehmer sein.

Oft wirst du gewahr werden, Theotimus, daß eine Mutter ihr Kind so sehrumsorgt, daß es den Anschein hat, als habe sie gar keine andere Liebe alsdiese. Sie hat Augen nur, um auf ihr Kind zu schauen, einen Mund nur, umes zu küssen, eine Brust nur, um es zu stillen, keine andere Sorge, als esgroßzuziehen. Man könnte meinen, daß ihr der Gatte im Vergleich zudiesem Kind gar nichts mehr ist. Doch wäre sie gezwungen, die Wahl zutreffen, entweder den einen oder das andere zu verlieren, würde man se-hen, daß sie den Gatten mehr schätzt. Ist auch die Liebe zu ihrem Kindzärtlicher, drängender, leidenschaftlicher, so ist doch die Liebe zu ihremGatten höher, stärker und tiefer.

6. Wenn daher ein Herz Gott in Anbetracht seiner unendlichen Güte liebt,so wird es, so wenig es auch von dieser vorzüglichen Liebe besitzen mag,den Willen Gottes allen Dingen vorziehen. Bei allen Gelegenheiten, diesich bieten, wird es alles darangeben, um sich die Gnade der allerhöchstenGüte zu bewahren, und wird sich durch nichts von ihr trennen lassen. Wennalso die göttliche Liebe das Herz auch nicht immer so umdrängt und mitZärtlichkeit erfüllt, wie andere Arten der Liebe, so setzt diese Liebe gele-gentlich doch weit erhabenere und vorzüglichere Taten, von denen eineeinzige mehr wert ist als zehn Millionen andere.

Die Kaninchen haben eine unglaubliche Fruchtbarkeit; die Elefantenhingegen bekommen nie mehr als ein Junges auf einmal. Aber dieses eineElefantenjunge ist mehr wert als alle Kaninchen der Welt. So ist auch dieLiebe zu den Geschöpfen oft sehr produktiv; vollbringt aber die heiligeGottesliebe ihr Werk, dann ist dieses so erhaben, daß sie damit alles ande-re übertrifft, denn sie bewirkt, daß man Gott allen Dingen ohne Vorbehaltvorzieht.

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8. KapitelEine denkwürdige Begebenheit, die gut erkennen läßt, worinEine denkwürdige Begebenheit, die gut erkennen läßt, worinEine denkwürdige Begebenheit, die gut erkennen läßt, worinEine denkwürdige Begebenheit, die gut erkennen läßt, worinEine denkwürdige Begebenheit, die gut erkennen läßt, worin

die Stärke und Erhabenheit der heiligen Liebe besteht.die Stärke und Erhabenheit der heiligen Liebe besteht.die Stärke und Erhabenheit der heiligen Liebe besteht.die Stärke und Erhabenheit der heiligen Liebe besteht.die Stärke und Erhabenheit der heiligen Liebe besteht.

1. O mein lieber Theotimus, welches Ausmaß an Kraft muß doch dieseLiebe besitzen, mit der man Gott über alles liebt! Sie muß jede Liebe über-treffen, jede Schwierigkeit überwinden und die Ehre des göttlichen Wohl-wollens allen Dingen vorziehen; ich sage aber, absolut allen Dingen, ohneirgendwelche Ausnahmen und Vorbehalte. Ich sage das mit solchem Nach-druck, weil es Menschen gibt, die mutig ihre Güter, ihre Ehre und ihreigenes Leben für den Herrn hingäben, aber auf irgendetwas anderes vonviel geringerem Wert nicht ihm zuliebe verzichten würden.

2. Zur Zeit der Kaiser Valerianus und Gallus gab es in Antiochia einenPriester namens Sapricius und einen Laien namens Nicephorus, die derinnigen und langjährigen Freundschaft wegen, die sie miteinander ver-band, für Brüder gehalten wurden. Und doch ging diese Freundschaft auseiner mir nicht bekannten Ursache in Brüche und schlug, wie es gewöhn-lich geschieht, in einen noch viel glühenderen Haß um. Dieser herrschteeine Zeit lang zwischen ihnen, bis Nicephorus seine Schuld erkannte unddreimal den Versuch machte, sich mit Sapricius zu versöhnen. Er ließ ihmbald durch die einen, bald durch die anderen ihrer gemeinsamen Freundealles sagen, was man zur Genugtuung und Verdemütigung nur wünschenkonnte. Sapricius blieb aber all diesen Aufforderungen gegenüber unbeug-sam und lehnte die Versöhnung jedesmal mit ebensolchem Stolz ab, alsNicephorus sie mit Demut von ihm erbat. Nicephorus kam schließlich aufden Gedanken, es würde Sapricius vielleicht eher rühren, wenn er vor ihmniederfallen und ihn um Verzeihung bitten würde; er suchte ihn deshalb inseiner Wohnung auf, warf sich mutig ihm zu Füßen und sagte zu ihm:„Mein Vater, verzeihe mir, ich bitte dich, um der Liebe unseres Herrnwillen.“ Aber auch diese Verdemütigung wurde ebenso wie die vorherge-hende mißachtet und zurückgestoßen.

Da brach eine heftige Verfolgung gegen die Christen los. Auch Sapriciuswurde mit anderen festgenommen und litt mit wunderbarer Standhaftig-keit zahllose Qualen für das Bekenntnis seines Glaubens. Selbst dannhielt er aus, als er in einem eigens verfertigten Folterwerkzeug grausam

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hin- und hergewälzt und geschüttelt wurde. Der Statthalter von Antiochi-en wurde dadurch auf das äußerste gereizt und verurteilte ihn zum Tod. Sowurde er aus dem Kerker gezogen, um vor den Augen aller an den Ortgeführt zu werden, wo er die glorreiche Märtyrerkrone empfangen sollte.

Kaum hatte Nicephorus das vernommen, eilte er herbei, und als er mitSapricius zusammentraf, warf er sich vor ihm zu Boden und rief mit lauterStimme aus: „Märtyrer Jesu Christi, verzeihe mir, denn ich habe dichbeleidigt!“ Da aber Sapricius gar nicht darauf achtete, trachtete der armeNicephorus, indem er durch eine andere Gasse lief, ihm zuvorzukommen,und beschwor ihn mit der gleichen Demut wie zuvor, ihm zu verzeihen,mit den Worten: „Märtyrer Jesu Christi, verzeihe mir die Beleidigung, dieich dir zugefügt habe; ich bin eben ein Mensch und als solcher fehlerhaft.Denn siehe, dir wird jetzt vom Herrn, den du nicht verleugnet, sonderndessen heiligen Namen du vor vielen Zeugen bekannt hast (1 Tim 6,12),eine Krone gereicht.“ Sapricius aber verharrte in seinem Stolz und erwi-derte ihm nicht ein einziges Wort. Die Henker wunderten sich über dieAusdauer des Nicephorus und sagten zu ihm: „Nie noch haben wir einensolchen Narren gesehen; dieser Mensch da wird doch sogleich sterben,was bedarfst du seiner Verzeihung?“ Darauf entgegnete Nicephorus: „Ihrwißt nicht, um was ich den Bekenner Jesu Christi bitte, aber Gott weiß es.“

Indessen war Sapricius auf dem Richtplatz angekommen. Noch einmalwarf sich Nicephorus vor ihm nieder und bat: „Ich flehe dich an, MärtyrerJesu Christi, mir zu verzeihen, denn es steht geschrieben: ‚Bittet und ihrwerdet empfangen‘ (Mt 7,4).“ Aber auch diese Worte vermochten nicht,das treulose, widerspenstige Herz des elenden Sapricius zu erweichen.

Weil er aber eigensinnig dabei verharrte, seinem Nächsten Barmherzigkeitzu verweigern, wurde er vom gerechten Gericht Gottes der glorreichenPalme des Martyriums beraubt. Als die Henker ihm befahlen, niederzu-knien, um den Todesstreich zu empfangen, verließ ihn der Mut, er begannmit ihnen zu verhandeln und sagte zum Schluß mit kläglicher und schänd-licher Unterwürfigkeit: „Ich bitte euch, enthauptet mich nicht, ich willdem Befehl des Kaisers gehorchen und den Götzen opfern.“ Als der gutearme Nicephorus das hörte, rief er mit Tränen in den Augen aus: „Achmein lieber Bruder, ich bitte dich, übertritt nicht das Gesetz und verleug-ne nicht Jesus Christus; trenne dich nicht von ihm, ich flehe dich an, laß

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nicht die himmlische Krone fahren, die du dir mit sovielen Mühen undQualen errungen hast.“

Leider war aber dieser beklagenswerte Priester zum Altar der Martergeschritten, sein Leben dem ewigen Gott darzubringen, ohne sich dabeides Wortes zu erinnern, das der König der Märtyrer gesprochen hatte:„Bringst du deine Opfergabe zum Altar und erinnerst dich dort, daß deinBruder etwas gegen dich hat, so laß deine Gabe dort vor dem Altar, gehzuvor hin und versöhne dich mit deinem Bruder; dann komm und opferedeine Gabe“ (Mt 5,23). Deshalb stieß Gott sein Geschenk zurück undindem er ihm sein Erbarmen entzog, ließ er nicht nur zu, daß er des erha-benen Glückes eines Märtyrers verlustig ging, sondern auch, daß er sich indas Unglück der Abgötterei stürzte.

Als nun der demütige, sanfte Nicephorus sah, daß durch den Abfall deshartherzigen Sapricius die Märtyrerkrone frei geworden, drängte er sich,ergriffen von einer starken, außerordentlichen Einsprechung, kühn vor,um sie für sich zu erlangen, indem er zu den Henkern und Schergen sprach:„Meine Freunde, ich bin wahrhaftig ein Christ und ich glaube an JesusChristus, den jener verleugnet hat. Laßt mich daher an seine Stelle tretenund enthauptet mich!“ Die Schergen, aufs höchste verwundert, brachtendiese Nachricht zum Statthalter. Dieser ließ Sapricius in Freiheit setzen,Nicephorus aber martern. Dies ereignete sich am 9. Februar um das Jahr260 unseres Heiles, wie Metaphrastes und Surius berichten (zum 9. Fe-bruar).

Eine schauerliche Geschichte und würdig, um des Gegenstandes willen,von dem wir hier handeln, ernst erwogen zu werden. Denn, mein lieberTheotimus, hast du gesehen, wie kühn und mit welchem Eifer dieser mu-tige Sapricius an seinem Glauben festhält, welche zahllose Qualen er lei-det, wie er unbewegt und fest im Bekenntnis des Namens seines Erlösersverharrt, während man ihn im Folterwerkzeug herumwälzt und schier zer-malmt, und wie er ganz bereit ist, den Todesstoß zu empfangen, um dasHöchste des göttlichen Gesetzes zu erfüllen und die Ehre Gottes demeigenen Leben vorzuziehen? Und dennoch hält er plötzlich in seinemLauf inne, weil er die Befriedigung, die seine Grausamkeit am Haß gegenNicephorus empfindet, dem göttlichen Willen vorzieht; und in dem Au-genblick, wo er daran ist, den Preis der Glorie durch das Martyrium zugewinnen, stürzt er so unglücklich, daß er sich den Hals bricht, indem erdem Götzendienst verfällt.

Es ist also wahr, mein Theotimus, daß es nicht genügt, Gott mehr als

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unser eigenes Leben zu lieben, wenn wir ihn nicht ganz in allem, unum-schränkt und ausnahmslos mehr lieben als alles, was wir lieben oder lie-ben könnten.

3. Aber, wirst du mir sagen, hat der Herr nicht die höchste Stufe derLiebe, die wir ihm entgegenbringen können, beschrieben, als er sagte: „Einegrößere Liebe hat niemand als jener, der sein Leben hingibt für seine Freun-de“ (Joh 15,13)? Es ist wahr, Theotimus, daß unter den einzelnen Aktenund Beweisen der Gottesliebe keiner an Größe dem gleichkommt, um derEhre Gottes willen den Tod zu erleiden. Aber es ist auch wahr, daß dies nurein einziger Akt und nur ein einziger Beweis, allerdings das Meisterwerkder Liebe ist; außer diesem aber gibt es viele andere, welche die Liebe vonuns verlangt, und zwar umso eindringlicher und kraftvoller von uns ver-langt, als es Akte sind, die für alle Liebenden leichter auszuführen, alltäg-licher, gewöhnlicher und im allgemeinen zur Bewahrung der heiligen Lie-be notwendiger sind.

O elender Sapricius, wagst du zu behaupten, daß du Gott so liebst, wiedu ihn lieben sollst, wenn du seinen Willen nicht der Leidenschaft desHasses und der Rachsucht vorziehst, die du gegen den armen Nicephorushegst? Für Gott sterben wollen, ist wohl der größte, aber nicht der einzigeAkt der Liebe, die wir Gott schulden. Diesen Akt allein wollen und dabeidie anderen verwerfen, ist nicht Liebe, sondern Eitelkeit. Die Liebe ist nichtwunderlich; sie wäre es aber in unerhörtem Maße, wenn sie dem Vielge-liebten nur bei äußerst schwierigen Dingen gefallen wollte und es ruhigzuließe, daß man ihm in leichteren Dingen mißfalle. Wie kann jemand,der nicht dem Willen Gottes gemäß leben will, für ihn sterben wollen?

4. Ein gut geordneter Geist, der willens ist, für einen Freund den Tod zuerleiden, würde gewiß auch alles andere erleiden, denn wer zuerst den Todgeringgeschätzt hat, muß alles andere geringschätzen. Doch der menschli-che Geist ist schwach, unbeständig und wunderlich. Daher kommt es, daßMenschen manchmal lieber sterben wollen, als andere viel geringere Leidenertragen, ja bereitwillig ihr Leben für nichtssagende, kindische und eitleDinge hingeben.

Als Agrippina vernommen hatte, daß das Kind, das sie unter ihrem Her-zen trug, Kaiser werden, sie aber dann töten lassen würde, sagte sie: „Mei-netwegen soll er mich töten, wenn er nur Herrscher wird“ (Tacitus, Annal.14,9). Welche Unordnung in diesem vernarrten mütterlichen Herzen: siezieht die Würde ihres Sohnes ihrem Leben vor.

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Cato und Kleopatra wollten lieber den Tod erleiden, als sehen, daß sichihre Feinde an ihrer Gefangenschaft freuten und sich deren rühmten. UndLukretia nahm sich lieber erbarmungslos das Leben, als daß sie die Schan-de ertragen hätte, die ungerechterweise einer Tat wegen auf ihr lastete, ander sie anscheinend keine Schuld trug.

Wie viele Menschen gibt es, die bereit wären, für ihre Freunde zu sterben,die aber nicht in ihrem Dienst leben, noch ihren Willensäußerungen gehor-chen wollten! Mancher setzt sein Leben aufs Spiel, der seine Geldbörsenicht gefährden würde. Und obwohl es nicht wenige gibt, die zur Verteidi-gung ihres Freundes ihr Leben einsetzen, gibt es in einem Jahrhunderthöchstens einen, der seine Freiheit preisgeben oder auch nur eine Unzedes eitelsten und wertlosesten weltlichen Rufes für wen immer opfernwürde.

9. KapitelBestätigung des Gesagten durch einen denkwürdigen VBestätigung des Gesagten durch einen denkwürdigen VBestätigung des Gesagten durch einen denkwürdigen VBestätigung des Gesagten durch einen denkwürdigen VBestätigung des Gesagten durch einen denkwürdigen Vergleich.ergleich.ergleich.ergleich.ergleich.

1. Du weißt, mein Theotimus, welche Liebe Jakob seiner Rahel entge-genbrachte (Gen 29). Was tat er nicht alles, um ihr deren Größe, Kraft undTreue zu beweisen, nachdem er sie am Brunnen beim Tränken der Herdebegrüßt hatte! Ohne Unterlaß verzehrte ihn die Liebe zu ihr, und um siezur Gattin zu erhalten, diente er sieben volle Jahre mit unvergleichlichemEifer. Dabei kam ihm vor, als ob das nichts sei, so sehr verschönte ihm dieLiebe alle Mühen, die er für seine Geliebte ertrug. Ja sogar als er in seinerErwartung enttäuscht wurde, diente er weitere sieben Jahre, um sie zugewinnen, so beharrlich, ehrlich und tapfer war er in seiner Liebe. Als ersie dann endlich erlangt hatte, vernachlässigte er alles andere, was er liebhatte; er beachtete kaum mehr seine Pflichten gegenüber der ersten GattinLea, die eine sehr verdienstvolle Frau war und würdig, geliebt zu werden.Er ging in seiner Mißachtung so weit, daß Gott selbst Mitleid mit Leahatte.

Nach all dem, das wohl ausreichend war, um auch die stolzeste Erden-tochter zur Liebe eines so treuen Liebhabers zu bewegen, ist es gewiß eineSchande zu sehen, wie schwach die Liebe war, die Rahel Jakob entgegen-brachte (Gen 30,14-16). Die arme Lea war durch kein Band der Liebemehr, außer dem ihrer Fruchtbarkeit mit Jakob verbunden, durch die sieihm drei Söhne geschenkt hatte. Der älteste dieser Söhne, Ruben, ging

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einst zur Zeit der Ernte auf die Felder, wo er Alraunen fand. Er pflücktesie und machte sie, zu Hause angekommen, seiner Mutter zum Geschenk.Als Rahel dies sah, sagte sie zu Lea: „Gib mir doch einige von den Alraun-äpfeln deines Sohnes!“ Lea aber antwortete ihr: „Ist es dir nicht genug, mirdie kostbare Liebe meines Mannes geraubt zu haben? Willst du mir nunauch die Alraunäpfel meines Sohnes nehmen?“ Rahel entgegnete ihr: „Gibmir die Alraunäpfel, meinetwegen kann mein Mann dafür diese Nacht beidir verbringen.“ Diese Bedingung wurde angenommen. Als nun Jakob amAbend vom Feld heimkam, ging ihm Lea voll Ungeduld, sich ihres Tau-sches zu erfreuen, entgegen und sagte ihm voll Freude: „Du mußt heuteAbend zu mir kommen, mein Herr und Freund, denn ich habe diesesGlück mit den Alraunäpfeln meines Sohnes erworben.“ Und sie berichte-te ihm, wie sie mit ihrer Schwester übereingekommen war. Jakob erwider-te, soviel man weiß, nicht ein Wort. Sicher war er erstaunt und es ging ihmdie Schwäche und Unbeständigkeit Rahels zu Herzen, die um eines sonichtssagenden Dinges willen für eine ganze Nacht auf die Ehre und Freu-de seiner Gegenwart verzichtet hatte. Denn sage, Theotimus, war es dennnicht ein sehr eigenartiger und großer Leichtsinn von Rahel, eine Hand-voll kleiner Äpfelchen den keuschen Liebesfreuden ihres liebenswürdi-gen Gatten vorzuziehen? Wenn es sich noch um Königreiche gehandelthätte! Aber einer armseligen Handvoll Alraunen wegen! Wie kommt dirdas vor, Theotimus?

2. Und dennoch, wenn wir jetzt zu uns zurückkehren, wie oft, o meinGott, treffen wir eine noch viel schändlichere und armseligere Wahl! Dergroße hl. Augustinus (Gegen Faustus, 22,56) unterhielt sich eines Tagesdamit, Alraunen genauer zu betrachten, um herauszubekommen, warumRahel ein solches Verlangen nach ihnen hatte. Er fand, daß sie wirklichsehr schön anzuschauen sind, einen angenehmen Geruch haben, aber sehrschal und geschmacklos sind. Plinius sagt (H. n. 25,13): Wenn der Saft derAlraunen von Chirurgen den Patienten, an denen sie einen Einschnitt vor-nehmen wollen, zu trinken dargeboten werde, um ihnen den Schnitt weni-ger fühlbar zu machen, komme es vor, daß der Geruch allein manchmaldiese Wirkung hervorrufe und die Patienten einschläfere. Daher ist dieAlraune eine Pflanze, die betäubt, die Augen beschwert, Schmerzen, Är-ger und alle Leidenschaften einschläfert. Wer sich aber zu lange diesemGeruch aussetzt, wird stumm, und wer reichlich davon trinkt, ist dem Todrettungslos preisgegeben.

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Sage mir, Theotimus, kann weltlicher Prunk, können weltliche Reichtü-mer und Genüsse besser versinnbildet werden? Sie haben etwas Verlok-kendes in der Art, in der sie in Erscheinung treten, wer aber in diese Äpfelbeißt, d. h. wer ihrem Wesen auf den Grund geht, findet keinen Geschmackund keine Befriedigung daran. Doch durch ihren eitlen Geruch betäubensie und schläfern sie ein. Der Ruf, mit dem die Kinder der Welt sie umgibt,betäubt und tötet jene, die ihnen zu große Aufmerksamkeit schenken oderdie sie in zu reichlichem Maße genießen. Um solcher Alraunen, Trugbil-der und Phantome von Genüssen willen verlassen wir die Liebe des himm-lischen Bräutigams! Wie können wir aber dann sagen, daß wir ihn überalles lieben, wenn wir seiner Gnade solch geringfügige Eitelkeiten vorzie-hen?

3. Ist dies nicht eine erstaunliche und überaus traurige Angelegenheit zusehen, wie David, der in der Überwindung seines Hasses so großmütigwar, der die Beleidigung so tapfer verzieh, dann in der Liebe ein so uner-hörtes Unrecht beging? Es genügt ihm nicht, eine ganze Anzahl von Frau-en auf rechtmäßige Weise zu besitzen, er nimmt noch dazu widerrechtlichund raubt freventlich die Frau des armen Urija; überdies überliefert er auswiderlicher Feigheit den rechtmäßigen Gatten einem grausamen Tod, umsich ungestört der Liebe dieser Frau hingeben zu können (2 Sam 11).

Wer bewundert nicht den Mut des hl. Petrus, der als einziger aus derSchar seines Meisters mitten unter den bewaffneten Soldaten die Handans Schwert legt und losschlägt (Mt 26,51)? Aber gleich darauf sehen wirihn Frauen gegenüber so feig, daß das bloße Wort einer Magd ihn dazubringt, seinen Meister zu verleugnen und zu verwünschen (Mt 26,69-74).

Warum finden wir es so merkwürdig, daß Rahel wegen Alraunäpfeln aufdie Liebkosungen Jakobs verzichtete, wo doch Adam und Eva um einesApfels willen, den eine Schlange ihnen darbot, die Gnade preisgaben?

4. Kurzum, Theotimus, ich sage dir dieses bemerkenswerte Wort: DieHäretiker sind Häretiker und tragen diesen Namen, weil sie unter denGlaubensartikeln nach Lust und Laune die auswählen, die zu glauben ih-nen gut scheint, während sie die anderen verwerfen und sich von ihnenlossagen. Die Katholiken aber sind Katholiken, weil sie, ohne irgendeineAuswahl zu treffen, mit gleicher Festigkeit und ohne Ausnahme den gan-zen Glauben der Kirche umfangen.

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Das gleiche gilt für die Vorschriften der heiligen Liebe: es ist Häresie,eine Auswahl unter den Geboten Gottes zu treffen, um die einen befolgen,die anderen aber übertreten zu wollen. Jener, der gesagt hat: „Du sollstnicht töten,“ hat auch gesagt: „Du sollst nicht ehebrechen.“ Wenn du nunnicht tötest, aber die Ehe brichst (Jak 2,11), so ist es also nicht aus Liebezu Gott, daß du nicht tötest, sondern du wählst die Beobachtung diesesGebotes eher als eines anderen aus irgendeinem anderen Beweggrund.Sich ein Gebot auf diese Weise auswählen, ist aber Häresie in Dingen derLiebe.

Wenn jemand mir sagte, er wolle mir aus Liebe zu mir nicht den Armabschneiden, würde mir aber ein Auge ausreißen, den Kopf zerschlagenoder den Leib durchbohren, dem würde ich sagen: Wie kannst du sagen,daß du mir aus Liebe zu mir den Arm nicht abschneidest, nachdem du mirein Auge ausreißt, das mir nicht weniger kostbar ist, oder mir deinen De-gen in den Leib stichst, was noch viel gefährlicher für mich ist?

Es ist ein Grundsatz (Dion. Areop. De div. nom. 4,30), daß das Gute auseiner wirklich ganzen Ursache herrührt, während das Böse jedem Mangelentspringt. Um einen Akt wahrer Liebe zu setzen, ist es notwendig, daß eraus einer alles umfassenden, alles einschließenden, ganzen Liebe hervor-gehe, die sich über alle göttlichen Gebote erstreckt. Lassen wir es in einemeinzigen Gebot an Liebe fehlen, so haben wir keine ganze, alles umfassendeLiebe; das Herz, in dem sich eine solche Liebe befindet, kann nicht einwahrhaft liebendes Herz, noch ein wahrhaft gutes Herz genannt werden.

10. KapitelWir müssen die göttliche Güte über alles,Wir müssen die göttliche Güte über alles,Wir müssen die göttliche Güte über alles,Wir müssen die göttliche Güte über alles,Wir müssen die göttliche Güte über alles,

mehr als uns selbst lieben.mehr als uns selbst lieben.mehr als uns selbst lieben.mehr als uns selbst lieben.mehr als uns selbst lieben.

1. Aristoteles hatte recht zu sagen, daß das Gute wirklich liebenswert ist,jedem einzelnen aber vor allem das ihm eigene Gute, so daß die Liebe, diewir anderen entgegenbringen, von der Liebe zu uns selbst herrührt (Eth.Nic. 8,2; 9,4). Wie konnte auch ein Philosoph, der nicht nur Gott nichtliebte, sondern auch fast nie von der Gottesliebe sprach, anderes sagen?Und dabei geht doch die Gottesliebe, da sie eine natürliche Neigung unse-res Willens ist, aller Liebe zu uns selbst voraus, wie ich es im ersten Buch(I,16) dargelegt habe.

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Der Wille ist ganz gewiß so sehr auf das Gute hingeordnet, ja man mußsagen, so der Güte geweiht, daß es ihm ohne ein Wunder unmöglich ist, dieunendliche Güte nicht über alles zu lieben, sobald sie ihm klar gezeigt wird.Deshalb sind die Seligen hingerissen und genötigt, wenn auch nicht gezwun-gen, Gott zu lieben, dessen alles überragende Schönheit sie klar schauen.Die Heilige Schrift führt uns das vor Augen, wenn sie die Freude, von derdie Herzen der glorreichen Bewohner des himmlischen Jerusalems erfülltsind, mit einem reißenden Strom vergleicht, dessen Fluten sich unaufhalt-sam in die Ebenen ergießen, die auf ihrem Weg liegen (Ps 36,9; 46,4).

2. Aber in diesem sterblichen Leben, Theotimus, stehen wir nicht in derNotwendigkeit, Gott derart über alles zu lieben, weil wir ihn nicht so klarerkennen. Im Himmel werden wir ihn von Angesicht zu Angesicht schau-en, und ihn daher auch von Herz zu Herz lieben. Das heißt, wie wir alle,jeder nach dem ihm entsprechenden Maße, die Unendlichkeit seiner Schön-heit auf höchst klare Weise schauen werden, so werden wir auch von derLiebe zu seiner unendlichen Größe in einer über alles starken Weise er-faßt und hingerissen werden, weshalb wir ihr einen Widerstand wederleisten wollen noch können werden.

Aber hienieden auf Erden schauen wir diese alles übertreffende Gütenicht in ihrer Schönheit, sondern ahnen sie nur mitten in unseren Dunkel-heiten. Daher sind wir wohl geneigt und angetrieben, aber nicht genötigt, siemehr als uns selbst zu lieben. Im Gegenteil haben wir trotz der in unsvorhandenen natürlichen heiligen Neigung, Gott über alles zu lieben, dochnicht die Kraft, diese Liebe ins Werk zu setzen, wenn Gott selbst nicht aufübernatürliche Weise seine höchst heilige Liebe in unsere Herzen ein-gießt.

Und doch ist es wahr: wie die klare Anschauung Gottes unfehlbar dieNotwendigkeit mit sich bringt, ihn mehr als uns selbst zu lieben, so ruftschon die bloße Ahnung von Gott, d. h. die natürliche Kenntnis der Gott-heit, unfehlbar die Neigung und das Streben in uns hervor, ihn mehr als unsselbst zu lieben. Ach, ich bitte dich, Theotimus: Der Wille, der ganz auf dieLiebe zum Guten ausgerichtet ist, wie könnte er bei einer auch nur gerin-gen Kenntnis eines höchsten Gutes nicht doch eine, wenn auch nur gerin-ge Neigung haben, es über alles zu lieben?

3. Unter allen Gütern, die nicht unendlich sind, wird unser Wille immerdasjenige in seiner Liebe vorziehen, das ihm am nächsten liegt, vor allemsein eigenes. Doch da ein so gewaltiger Abstand zwischen dem Unendli-

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chen und dem Endlichen besteht, wird unser Wille, der von einem unendli-chen Gut weiß, ganz sicher davon in Bewegung versetzt, geneigt und ange-trieben sein, die Freundschaft mit diesem Abgrund unendlicher Güte jeg-licher anderen Liebe und auch der Liebe zu uns selbst vorzuziehen.

Vor allem aber ist diese Neigung so stark, weil wir mehr in Gott als in unsselbst sind, weil wir mehr in Ihm, als in uns selbst leben (Apg 17,28) und sosehr von Ihm, durch Ihn, für Ihn da sind und Ihm angehören, daß wirruhigen Sinnes nicht erwägen können, was wir dem unendlichen Gott sindund was er uns ist, ohne uns gedrängt zu fühlen, auszurufen: „Herr, ich binDein (Ps 118,94) und soll nur Dir gehören. Meine Seele ist Dein und sollnur durch Dich leben. Mein Wille ist Dein und soll nur für Dich lieben.Meine Liebe ist Dein und soll nur nach Dir streben. Ich muß Dich liebenals meinen ersten Ursprung, denn von Dir komme ich; ich muß Dich lie-ben als mein Ziel und meine Ruhe, denn für Dich bin ich da. Ich muß Dichlieben mehr als mein eigenes Sein, denn dieses besteht nur durch Dich. Ichmuß Dich lieben mehr als mich selbst, weil ich ganz Dir gehöre und in Dirbin.“

4. Gäbe es eine über alles erhabene Güte oder könnte es eine solchegeben, von der wir unabhängig wären, so würden wir auch angespornt wer-den, sie mehr als uns selbst zu lieben, vorausgesetzt, wir könnten uns mit ihrdurch Liebe vereinigen. Ihre unendlichen Reize würden dann über allesstark sein, um unseren Willen zu ihrer Liebe anzulocken, stärker als jedeandere Güte, stärker sogar als unsere eigene.

Gäbe es aber (was ja unmöglich ist) eine unendliche Güte, der wir inkeiner Weise angehörten und mit der wir keine Einheit und keine Verbin-dung haben könnten, so würden wir sie sicher höher als uns selbst einschät-zen. Denn wir würden erkennen, daß ihr durch ihre Unendlichkeit einehöhere Achtung und Liebe zusteht als uns selbst. Wir könnten folglicheinfach wünschen, sie zu lieben, aber lieben im eigentlichen Sinn würden wirsie nicht; denn Liebe zielt auf Vereinigung. Und noch weniger könnten wirgöttliche Liebe zu ihr hegen, weil göttliche Liebe doch Freundschaft ist,Freundschaft aber nur gegenseitig sein kann, ist doch ihre Grundlage dieVerbindung und ihr Ziel das Einswerden.

Das sage ich für gewisse grillenhafte und eitle Menschen, die sich inschwermütigen, auf sinnlosen Phantasien aufgebauten Gedanken ergehen,die sie dann sehr niederdrücken.

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5. Wir hingegen, mein lieber Freund Theotimus, sehen wohl, daß wirkeine rechten Menschen sein können, haben wir nicht die Neigung, Gottmehr als uns selbst zu lieben, und wir sind auch keine echten Christen,setzen wir diese Neigung nicht in die Tat um. Lieben wir also mehr als unsselbst den, der uns mehr als alles ist, und mehr, als wir selbst uns sind.Amen. So ist es.

11. KapitelDie heilige Gottesliebe als Ursprung der Nächstenliebe.Die heilige Gottesliebe als Ursprung der Nächstenliebe.Die heilige Gottesliebe als Ursprung der Nächstenliebe.Die heilige Gottesliebe als Ursprung der Nächstenliebe.Die heilige Gottesliebe als Ursprung der Nächstenliebe.

1. So wie Gott den Menschen nach seinem Bild und Gleichnis geschaf-fen hat, hat er auch eine Liebe zu den Menschen geboten, nach dem Bildund Gleichnis jener Liebe, die seiner Gottheit gebührt. „Du sollst,“ spracher, „den Herrn deinen Gott lieben mit deinem ganzen Herzen. Das ist daserste und wichtigste Gebot. Ein zweites ist diesem gleich: Du sollst deinenNächsten lieben wie dich selbst“ (Mt 22,37-39). Warum lieben wir Gott,Theotimus? „Der Grund, warum wir Gott lieben,“ sagt der hl. Bernhard(De dilig. Dei), „ist Gott selbst.“ Es ist, als wollte er sagen, wir lieben Gott,weil er die höchste und unendliche Güte ist.

Warum lieben wir uns selbst in christlicher Liebe? Sicher, weil wir einBild und Gleichnis Gottes sind. Nachdem aber alle Menschen diese gleicheWürde besitzen, lieben wir sie auch wie uns selbst, nämlich als heilige, leben-dige Abbilder Gottes. Denn als solche, Theotimus, gehören wir Gott anund zwar durch eine so enge Verbundenheit mit ihm und in einer so lie-benswerten Abhängigkeit von ihm, daß es uns keinerlei Schwierigkeitenmacht, ihn unseren Vater und uns seine Kinder zu nennen (1 Joh 3,1 f). Alssolche sind wir fähig, mit der Wesenheit Gottes durch den beseligendenBesitz ihrer über alles erhabenen Güte und Seligkeit vereinigt zu werden.Als solche empfangen wir seine Gnade und wird unser Geist seinem über-aus heiligen Geist beigesellt und erhalten wir sozusagen Anteil an dergöttlichen Natur (2 Petr 1,4), wie der hl. Leo sagt (Sermo 12,1).

So bringt also dieselbe heilige Liebe, aus der die Akte der Gottesliebehervorgehen, in gleichem Maße Akte der Nächstenliebe hervor. Die Lei-ter, die der Patriarch Jakob sah, berührte gleichzeitig Himmel und Erdeund diente den Engeln sowohl zum Herabsteigen wie zum Hinaufsteigen

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(Gen 28,12). So wissen wir auch, daß ein und dieselbe heilige Liebe dieGottesliebe wie die Nächstenliebe in sich schließt. Sie hebt unseren Geisthinauf zur Vereinigung mit Gott, um uns dann wieder zum liebreichenVerkehr mit dem Nächsten zurückzuführen, jedoch so, daß wir den Nächs-ten als Abbild und Gleichnis Gottes lieben, der dazu geschaffen ist, mitder göttlichen Güte in Verbindung zu stehen, um teilzuhaben an GottesGnade und um sich des Besitzes seiner Glorie zu erfreuen.

Theotimus, den Nächsten mit heiliger Liebe lieben, heißt Gott im Men-schen oder den Menschen in Gott lieben; es heißt, Gott aus Liebe zu ihmselbst und das Geschöpf aus Liebe zu Gott lieben.

2. Als der junge Tobias in Begleitung des Engels Rafael zu seinem Ver-wandten Raguel kam, dem er jedoch unbekannt war, wandte sich Raguel,wie die Heilige Schrift sagt, kaum daß er ihn erblickte, Hanna, seiner Frauzu und sagte: „Sieh doch, wie sehr dieser junge Mann meinem Vettergleicht!“ Und kaum hatte er das gesagt, fragte er: „Woher kommt ihr,junge Männer, meine lieben Brüder?“ Sie antworteten: „Wir sind vomStamme Naftali und gehören zu den Gefangenen in Ninive.“ Raguel sprachzu ihnen: „Kennt ihr meinen Bruder Tobit?“ Sie erwiderten: „Wir kennenihn.“ Nachdem Raguel viel Gutes von ihm erzählt hatte, sagte der Engelzu ihm: „Tobit, nach dem du dich erkundigt hast, ist der Vater von diesemhier.“ Da fiel ihm Raguel um den Hals, küßte ihn unter Tränen, hielt ihnweinend umschlungen und sagte: „Gesegnet seist du, mein Sohn, denn dubist der Sohn eines guten, rechtschaffenen Mannes.“ Und die gute FrauHanna, die Frau des Raguel, und ihre Tochter Sara, weinten auch vorzärtlicher Liebe (Tobit 7,1-8).

Fällt dir nicht auf, daß Raguel den jungen Tobias umarmt, ohne ihn zukennen, ihn liebkost, ihn küßt, aus Liebe ihn weinend umschlungen hält?Woher kommt diese Liebe, wenn nicht aus seiner Liebe zum alten Tobit,dem Vater, dem sein Kind so sehr glich? „Gesegnet seist du,“ sagt er.Warum denn? Sicher nicht deswegen, weil du ein guter junger Mann bist,denn das weiß ich noch gar nicht, sondern weil du der Sohn deines Vatersbist und ihm ähnlich siehst, der ein ganz rechtschaffener Mann ist.

3. Wahrer Gott, Theotimus, wenn wir einen Mitmenschen sehen, dernach dem Bild und Gleichnis Gottes geschaffen ist, sollten wir da nichteinander sagen: Sieh doch dieses Geschöpf, wie sehr es dem Schöpfer gleicht?

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Sollten wir ihm nicht um den Hals fallen, ihn liebkosen und aus Liebe zuihm weinen? Sollten wir nicht tausend und abertausend Segnungen auf ihnherabrufen? Und warum denn? Aus Liebe zu ihm? Nein, sicher nicht, dawir nicht wissen, ob er in sich selbst der Liebe oder des Hasses würdig ist(Koh 9,1). Ja warum denn sonst? O Theotimus, aus Liebe zu Gott, der ihnnach seinem Bild und Gleichnis geformt und folglich fähig gemacht hat,an seiner Güte in der Gnade und Glorie teilzunehmen. Ich sage: aus Liebezu Gott, von dem er stammt, dem er angehört, durch den, in dem und fürden er ist und dem er auf eine ganz besondere Weise ähnlich ist.

Und darum befiehlt die göttliche Liebe nicht nur oftmals die Liebe zumNächsten, sondern sie bringt sie hervor und verbreitet sie selbst im mensch-lichen Herzen als ihrem Bild und Gleichnis. Denn so wie der Mensch dasAbbild Gottes ist, ebenso ist die heilige Liebe des Menschen zum Men-schen ein wahres Abbild der himmlischen Liebe des Menschen zu Gott.

Doch die Liebe zum Nächsten würde eine eigene Abhandlung erfordernund ich bitte den höchsten Liebhaber der Menschen, dies einem seinerbesten Diener einzugeben, denn der Gipfel der Liebe zur göttlichen Gütedes himmlischen Vaters besteht in der Vollkommenheit der Liebe zu un-seren Brüdern und Gefährten.

12. Kapitel

Die Liebe als Quelle des Eifers.Die Liebe als Quelle des Eifers.Die Liebe als Quelle des Eifers.Die Liebe als Quelle des Eifers.Die Liebe als Quelle des Eifers.

1. Die Liebe strebt das Wohl dessen an, was sie liebt, indem sie entwederihr Wohlgefallen daran findet, wenn diese es bereits besitzt, oder es ihmwünscht und zu verschaffen trachtet, wenn es dieses Wohl nicht besitzt.Die Liebe bringt auch den Haß hervor, der sie das der geliebten Sacheentgegengesetzte Übel fliehen läßt. Sie tut das, indem sie das Übel vonihm zu entfernen sucht oder es bekämpft, wenn es schon da ist, oder ab-lenkt und sein Kommen verhindert, wenn es noch nicht da ist. Kann dasÜbel nicht verhindert noch entfernt werden, so wird die Liebe zum min-desten verursachen, daß dieses Übel gehaßt und verabscheut wird.

Ist also die Liebe so glühend, daß sie das beseitigen, entfernen und ab-wenden will, was dem Gegenstand der Liebe entgegengesetzt ist, so nennt

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man sie Eifer. Demnach ist der Eifer eigentlich nichts anderes als die Liebein Glut, oder besser gesagt, die Glut der Liebe.

So wie die Liebe ist daher der Eifer, der deren Glut ist. Ist die Liebe gut,so ist der Eifer gut, ist die Liebe schlecht, ist auch der Eifer schlecht.

2. Wenn ich vom Eifer spreche, will ich auch von der Eifersucht spre-chen, denn die Eifersucht ist eine Art Eifer. Wenn ich mich nicht irre, soist der einzige Unterschied zwischen dem einen und der anderen, daß derEifer auf das gesamte Wohl des geliebten Gegenstandes sieht und daraufaus ist, das ihm entgegengesetzte Übel zu entfernen, während die Eifer-sucht auf das besondere Gut der Freundschaft gerichtet ist, um alles dasabzuweisen, was sich ihr entgegenstellt.

Wenn wir also weltliche, zeitliche Dinge, wie Schönheit, Ehren, Reich-tümer, Würden brennend lieben, so endet die Glut dieser Liebe, der Eifer,gewöhnlich im Neid. Diese niederen Dinge sind ja so geringfügig, privat,beschränkt, begrenzt und unvollkommen, daß man sie nicht mehr vollbesitzen kann, sobald ein anderer sie bereits besitzt. Werden sie also anviele ausgeteilt, so ist der Anteil eines jeden weniger vollkommen.

Wünschen wir uns aber insbesondere brennend, geliebt zu werden, sowird der Eifer oder die Glut dieser Liebe zur Eifersucht. Die menschlicheFreundschaft ist nämlich zwar eine Tugend, es ist ihr aber trotzdem wegenunserer Schwachheit diese Unvollkommenheit eigen, daß sie, auf mehrereverteilt, den Anteil jedes einzelnen verringert. – Daher kann das brennen-de Verlangen oder der Eifer, den wir haben, geliebt zu werden, es nichtertragen, daß wir Nebenbuhler oder Gefährten darin haben. Sobald wiruns einbilden, solche zu haben, erwacht in uns sofort die Leidenschaft derEifersucht.

3. Die Eifersucht ist gewiß dem Neid in einigem ähnlich, unterscheidetsich aber doch wieder sehr von ihm.

Erstens ist der Neid immer ungerecht, während die Eifersucht zuweilen,solange sie mäßig bleibt, ihre Berechtigung hat. Haben denn zum Beispielverheiratete Leute nicht recht, zu verhindern, daß ihre Freundschaft eineVerminderung oder Teilung erfahre?

Zweitens: Infolge des Neides betrüben wir uns darüber, daß der Nächstemehr oder ebenso viel wie wir besitzt, obwohl er uns nichts von dem nimmt,was wir haben. Darin liegt die Unvernunft des Neides, daß er uns glaubenmacht, daß das Wohl des Nächsten für uns ein Übel sei. Die Eifersuchthingegen ist keineswegs darüber betrübt, daß der Nächste etwas Gutes

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besitzt, wenn es nur nicht das unsere ist. Den Eifersüchtigen würde esnicht ärgern, wenn sein Gefährte von anderen Frauen geliebt würde, wennes nur nicht von seiner eigenen Frau wäre. Eigentlich eifert man erst miteinem Nebenbuhler, wenn man meint, die Freundschaft einer Person ge-wonnen zu haben. Wenn sich vorher eine Leidenschaft bemerkbar macht,ist das nicht Eifersucht, sondern Neid.

Drittens setzen wir keine Unvollkommenheit in dem voraus, den wirbeneiden, sondern im Gegenteil, wir glauben, daß er das Gut hat, um daswir ihn beneiden. Hingegen setzen wir voraus, daß die Person, auf die wireifersüchtig sind, unvollkommen, unbeständig, verführbar und wankel-mütig ist.

Viertens entspringt die Eifersucht aus der Liebe; der Neid aber rührtvon einem Mangel an Liebe her.

Fünftens kommt Eifersucht nur in Dingen der Liebe vor. Der Neid abererstreckt sich über alles, über Güter, Ehren, Gunstbezeugung, Schönheit.Beneidet man manchmal jemand um die Liebe, die ihm entgegengebrachtwird, so geschieht dies nicht der Liebe wegen, sondern um der Früchtewillen, die von ihr abhängen. Einem Neidigen liegt wenig daran, daß derFürst seinen Gefährten liebt, wenn er nur nicht bei jeder Gelegenheit Gunstund Gunsterweise empfängt.

13. KapitelWWWWW ie Gott mit uns eiferie Gott mit uns eiferie Gott mit uns eiferie Gott mit uns eiferie Gott mit uns eifert.t.t.t.t.

1. So spricht Gott: „Ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifernder Gott“ (Dtn5,9). „Eiferer ist der Name des Herrn“ (Ex 20,5; 34,14). Gott ist alsoeifersüchtig, Theotimus; aber worin besteht seine Eifersucht? Im erstenAugenblick scheint sie eine Eifersucht des Begehrens zu sein, ähnlich derEifersucht der Männer auf ihre Frauen. Denn er will, wir sollen so sehr ihmgehören, daß wir in keinerlei Weise irgendjemand anderem angehören. „Nie-mand,“ sagt er, „kann zwei Herren dienen“ (Mt 6,24). Er verlangt „unserganzes Herz, unsere ganze Seele, unseren ganzen Geist, alle unsere Kräf-te“ (Dtn 6,5; Mt 22,37).

Deswegen nennt er sich auch unseren Bräutigam und unsere Seelen sei-ne Bräute, und jede Art der Abwendung von ihm nennt er Unzucht undEhebruch. Und sicher hat dieser große, einzig gute Gott recht, unser gan-zes Herz in ganz vollkommener Weise für sich zu wollen. Unser Herz ist

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ja klein und kann nicht genug an Liebe hervorbringen, um die göttlicheGüte auf würdige Weise zu lieben. Ist es da nicht geziemend, daß es ihmwenigstens die Liebe gibt, die es geben kann, wenn es schon unmöglich ist,ihm alle Liebe zu schenken, wie es erforderlich wäre? Soll das Gut, dasüber alles liebenswert ist, nicht über alles geliebt werden? Über alles lie-ben heißt aber total lieben.

2. Dennoch ist die Eifersucht, die Gott auf uns hat, in Wirklichkeit keineEifersucht des Begehrens, sondern der höchsten Freundschaft; denn esliegt nicht in seinem Interesse, daß wir ihn lieben, sondern in unserem.Unsere Liebe bringt ihm keinen Nutzen, uns aber ist sie von großem Vor-teil, und wenn sie ihm wohlgefällig ist, so ist es, weil sie für uns vorteilhaftist. Denn da er das höchste Gut ist, freut es ihn, sich durch seine Liebemitzuteilen, ohne daß ihm daraus irgendein Vorteil erwächst. Darum be-klagt er sich über die Sünder und ruft gleichsam eifersüchtig aus: „Michließen sie, den Quell lebendigen Wassers, Zisternen haben sie sich gegra-ben, brüchige Zisternen, die kein Wasser zu halten vermögen“ (Jer 2,13).

Betrachte ein wenig, Theotimus, ich bitte dich, wie zart dieser göttlicheLiebhaber den Adel und die Hochherzigkeit seiner Eifersucht ausdrückt:„Mich haben sie verlassen,“ sagt er, mich „die Quelle lebendigen Was-sers“. Es ist, als wollte er sagen: Ich beklage mich nicht wegen eines Scha-dens, der mir daraus erwachsen wäre, weil sie mich verlassen haben. Waskönnte es auch einer lebendigen Quelle schaden, wenn man kein Wasseraus ihr schöpft? Wird sie deshalb aufhören, zu fließen und sich über dieErde zu ergießen? Aber ich bedaure ihr Unglück, weil sie mich verließen,um sich mit wasserlosen Brunnen zu begnügen. Wenn ich mir vorstellenkönnte, was ja unmöglich ist, daß sie einen anderen Brunnen lebendigenWassers gefunden hätten, würde ich es leicht ertragen, daß sie von mirfortgegangen sind, denn ich will ja nichts anderes in ihrer Liebe als ihrGlück. Aber daß sie mich verließen, um zugrundezugehen, daß sie vonmir fort sind, um sich in ihr Verderben zu stürzen, diese Narrheit setztmich in Erstaunen und schmerzt mich.

Aus Liebe zu uns will er also, daß wir ihn lieben. Wir können ja nichtaufhören, ihn zu lieben, ohne anzufangen, verlorenzugehen. Alles, was wirihm an Liebe entziehen, ist für uns verloren.

3. „Wie ein Siegel lege mich auf dein Herz, auf deinen Arm wie ein Siegel,“sagte der göttliche Hirte zu Schulammit (Hld 8,6). Schulammits Herz war

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voll der himmlischen Liebe zu ihrem Vielgeliebten. Dieser aber ist nichtzufrieden damit, obwohl er alles hat, sondern aus einem heiligen Mißtrau-en der Eifersucht will er auch noch auf dem Herzen thronen, das er besitzt,und will selbst dessen Siegel sein, damit nichts von der Liebe, die für ihndarin ist, daraus entweiche und damit nichts eindringe, was sich mit dieserLiebe vermengen könnte. Denn die Liebe, von der Schulammits Seeleerfüllt ist, befriedigt ihn nicht restlos, wenn sie nicht unveränderlich, ganzlauter ist und ganz einzig ihm gehört.

Und um sich nicht nur an der Liebe unseres Herzens zu erfreuen, son-dern auch an dem Wirken und an den Handlungen unserer Hände, will erauch noch wie ein Siegel auf unserem rechten Arm sein, auf daß er sich nurnach Werken, die seinem Dienst gewidmet sind, ausstrecke und nur dazuverwendet werde. Und der Grund für dieses Verlangen des göttlichen Lieb-habers ist der (Hld 8,6): Wie der Tod so stark ist, daß er die Seele vonallem, ja selbst von ihrem Leib trennt, so macht auch die heilige Liebe,wenn sie diesen Grad des Eifers erreicht hat, die Seele von allen anderenZuneigungen los, trennt sie und läutert sie von jeder Vermengung.

4. Sie ist nämlich nicht nur so „stark wie der Tod“, sondern sie ist auchherb, unerbittlich, hart und ungestüm, das Unrecht zu bestrafen, das manihr antut, wenn man mit ihr Nebenbuhler einläßt, wie die Hölle gewalttätigist, die Verdammten zu züchtigen. Und so wie die Hölle, voll des Grauens,der Wut und der Bosheit keine Spur von Liebe in sich duldet, so duldetauch die eifersüchtige Liebe keine Beimischung anderer Liebesneigungen,sondern will, daß alles dem Vielgeliebten gehöre.

Nichts ist so sanft wie der Tauber, aber auch nichts so ungestüm wie ergegen seine Taube, wenn er durch irgendeine Eifersucht gereizt ist. Wenndu jemals darauf geachtet hast, Theotimus, wirst du gesehen haben, daßdieses gutmütige Tier, wenn es von seinem Flug zurückkehrt und seineTaube unter anderen Taubern sieht, sich nicht zurückhalten kann, Miß-trauen zu empfinden und dadurch verärgert und wunderlich zu werden.Zuerst kreist er um sie herum, vor sich hinbrummelnd, trotzig dahertrip-pelnd, dann schlägt er sie mit seinen Flügeln, obwohl er weiß, daß sie treuist, und sie ganz rein in ihrer Unschuld sieht.

Eines Tages befand sich die hl. Katharina von Siena in einer Entrückung,ohne dabei den Gebrauch der Sinne zu verlieren. Während Gott sie nunseine Wunder sehen ließ, ging einer ihrer Brüder an ihr vorüber. Das Ge-

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räusch, das er dabei machte, zerstreute sie, so daß sie sich umwandte, umihn einen kleinen Augenblick anzusehen. Diese kleine unversehens zuge-stoßene Zerstreuung war weder Sünde noch Unvollkommenheit, sondernbloß ein Schatten von Sünde, bloß ein Bild von Unvollkommenheit. Trotz-dem tadelte sie die heiligste Mutter ihres himmlischen Bräutigams so starkund der glorreiche hl. Paulus beschämte sie deswegen so sehr, daß sieglaubte, in Tränen zu vergehen.

Und wie wurde David, nachdem er durch die vollkommene Liebe dieGnade wiedergewonnen hatte, einer einzigen läßlichen Sünde wegen be-handelt, die er dadurch beging, daß er sein Volk zählen ließ (2 Sam 24)?

5. Wer aber, Theotimus, diese Eifersucht in zarter und ausgezeichneterWeise beschrieben sehen will, der lese die Belehrungen der serafischen hl.Katharina von Genua über die Eigenschaften der reinen Liebe, unter wel-chen sie folgende besonders nachdrücklich hervorhebt (Anon., Vita S.Cath. 18 u. 37): Die vollkommene Liebe, d. h. die zum Eifer gewordeneLiebe kann die Einmischung, das Dazwischentreten oder die Beimengungirgendwelcher anderer Dinge nicht dulden, nicht einmal der Gaben Got-tes. Sie gestattet nicht einmal, daß man das Paradies liebe, außer um dieGüte dessen vollkommener zu lieben, dessen Geschenk es ist. Die Lam-pen dieser reinen Liebe haben kein Öl, keinen Docht, keinen Rauch, siesind ganz Feuer und Flamme, das nichts auf der Welt auszulöschen ver-mag (Hld 8,6 f).

6. Jene, die diese brennenden Lampen in Händen tragen (Lk 12, 35),sind von der heiligen Furcht keuscher Bräute ergriffen, nicht aber von derAngst ehebrecherischer Frauen. Diese fürchten und jene fürchten, aber aufverschiedene Weise, sagt der hl. Augustinus (zu Ps 127 §3). Die keuscheBraut fürchtet die Abwesenheit ihres Bräutigams, die Ehebrecherin des-sen Anwesenheit. Jene fürchtet, daß er fortgehe, und diese fürchtet, daß erbleibe; jene ist so voll der Liebe, daß sie ganz eifersüchtig auf ihn ist, dieseist keineswegs eifersüchtig, weil sie nicht liebt. Diese fürchtet, bestraft zuwerden, und jene fürchtet, nicht genug geliebt zu werden. Doch in Wahr-heit fürchtet sie nicht wirklich, nicht genug geliebt zu werden, wie dieanderen Eifersüchtigen, die sich selbst lieben und geliebt sein wollen. Siefürchtet vielmehr, jenen nicht genug zu lieben, den sie als so überaus lie-benswürdig erkennt, daß ihn niemand mit dem Maß an Liebe zu liebenimstande ist, das er verdient (wie ich schon oben gesagt habe). Es ist darum

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keine selbstsüchtige, sondern eine reine Eifersucht, die aus keiner Begier-lichkeit entspringt, sondern aus einer edlen und einfachen Freundschaft.

Es ist eine Eifersucht, die sich dann auch über den Nächsten erstrecktund der Liebe zu diesem entspringt. Da wir den Nächsten um Gottes wil-len so wie uns selbst lieben, sind wir auch um Gottes willen (2 Kor 11,2)eifersüchtig auf ihn, so wie wir es für uns selbst sind, so daß wir sogarsterben würden, um ihn vor dem Verderben zu retten.

7. Da der Eifer eine entflammte Glut oder eine brennende Flamme derLiebe ist, ist es nötig, daß er weise und klug in die Tat gesetzt werde. Sonstkönnte es geschehen, daß man unter dem Vorwand des Eifers die Grenzender Bescheidenheit oder des Taktes verletzt. Es könnte leicht geschehen,daß man vom Eifer zum Zorn übergeht und von einer rechtmäßigen Zu-neigung zu einer bösen Leidenschaft. Nachdem hier nicht der Platz ist,mein Theotimus, die Bedingungen eines heiligen Eifers darzulegen, ma-che ich dich darauf aufmerksam, daß du bei dessen Ausübung dich immervon demjenigen beraten lassen sollst, den Gott dir zum Führer für deinreligiöses Leben gegeben hat.

14. KapitelEifer für unseren Herrn oder Eifersucht.Eifer für unseren Herrn oder Eifersucht.Eifer für unseren Herrn oder Eifersucht.Eifer für unseren Herrn oder Eifersucht.Eifer für unseren Herrn oder Eifersucht.

1. Ein Ritter bestellte bei einem berühmten Maler ein Gemälde, das einPferd im Lauf darstellen sollte. Der Maler verfertigte es, reichte es ihmdann aber verkehrt hin, so daß es aussah, als würde sich das Pferd amBoden wälzen. Darüber geriet der Ritter in Zorn. Da kehrte der Maler esum und sagte: „Ärgern Sie sich nicht. Um die Stellung eines laufendenPferdes in die eines sich wälzenden umzuwandeln, genügt es, das Gemäl-de umzudrehen.“

Wer genau sehen will, Theotimus, welchen Eifer oder welche Eifersuchtwir Gott gegenüber an den Tag legen sollen, dem muß man wohl die Eifer-sucht genau schildern, die wir bei menschlichen Dingen haben, dann aberdas Gesagte umkehren, denn das ist dann die Eifersucht, die Gott von unsfür sich verlangt.

2. Vergleiche einmal solche, die sich des Lichtes der Sonne erfreuen, mitsolchen, die sich mit dem matten Licht einer Lampe begnügen müssen.Die einen sind nicht neidig und nicht eifersüchtig aufeinander, weil siewissen, daß das Licht der Sonne sehr gut für alle ausreicht, daß der Genuß,den der eine daran hat, den Genuß des anderen nicht verhindert und daß

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der einzelne, obwohl alle sie gemeinsam besitzen, nicht weniger besitzt,als wenn er sie allein nur für sich hätte. Das Lampenlicht aber will jeder inseinem Zimmer haben, weil es eben schwach, begrenzt und ungenügendfür mehrere ist. Und wer es hat, wird von den anderen beneidet. Die Güteder irdischen Dinge ist so armselig und gering, daß der eine sie nicht genie-ßen kann, ohne daß der andere dadurch beraubt wird. Menschliche Freund-schaft ist von so kurzer Dauer und so schwach, daß sie sich in dem Maße,als sie sich den einen mitteilt, anderen gegenüber entkräftet. Deshalb sindwir eifersüchtig und ärgern uns, wenn wir Nebenbuhler und Gefährtendarin haben.

Das Herz Gottes ist so überfließend reich an Liebe, das Gute in ihm istderart unendlich, daß alle es besitzen können, ohne daß der einzelne da-durch weniger besitzt. Diese Unendlichkeit an Güte kann nicht ausge-schöpft werden, wenn sie auch alle Geister des Weltalls erfüllt. Nachdemalles in überreichem Maße damit beschenkt ist, verbleibt Gott doch ihreganze Unendlichkeit, ohne irgendeine Verminderung. Die Sonne ergießtihr Licht auf eine Rose und tausend Millionen anderer Blumen nicht an-ders, als würde sie nur allein auf diese Rose scheinen. Und Gott ergießtseine Liebe auf eine Seele nicht weniger – wenn er auch eine Unzahl ande-rer liebt –, als liebte er nur sie allein. Die Kraft seiner Liebe nimmt nichtab durch die Menge der Strahlen, die sie aussendet, sondern sie bleibtimmer voll von ihrer Unermeßlichkeit.

3. Worin besteht aber dann der Eifer oder die Eifersucht, die uns für diegöttliche Güte erfüllen soll? Theotimus, das erste, wozu diese Eifersuchtanfacht, ist, soweit man kann, alles zu hassen, zu fliehen, zu verhindern, zuverabscheuen, zu verwerfen, zu bekämpfen und zu überwinden, was Gott,d. h. seinem Willen, seiner Ehre und der Heiligung seines Namens entgegen-gesetzt ist.

„Ich hasse die Ungerechtigkeit und verabscheue sie,“ sagt David (Ps119,163). „Soll ich nicht hassen, die Dich hassen, o Herr, soll ich nicht vorLeid verschmachten wegen Deiner Feinde?“ (Ps 139,21). „Mein Eifer zehrtmich auf, weil meine Bedränger auf Dein Wort vergessen“ (Ps 119,139).„Jeden Morgen bringe ich zum Schweigen alle Frevler im Land, um so ausder Stadt des Herrn alle Bösen zu verbannen“ (Ps 101,8). Sieh doch, Theo-timus, von welchem Eifer dieser große König beseelt ist und wie er dieLeidenschaften seiner Seele in den Dienst der heiligen Eifersucht stellt. Erhaßt nicht nur die Ungerechtigkeit, sondern er verabscheut sie auch, erverschmachtet vor Leid bei ihrem Anblick, Schwäche und Ohnmacht des

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Herzens überfällt ihn, er verfolgt sie, er schmettert sie zu Boden und rottetsie aus. So wurde Pinhas (Num 25,8) von heiligem Eifer erfaßt und durch-bohrte mit einer Lanze den schamlosen Israeliten und die schändlicheMidianiterin, die er bei ihrer Zuchtlosigkeit ertappt hatte. Der nämlicheEifer verzehrte das Herz unseres Erlösers und veranlaßte ihn, die unehrer-bietigen Käufer und Verkäufer aus dem Tempel zu entfernen und die Ent-heiligung zu bestrafen, die sie ihm zugefügt hatten (Joh 2,14-17).

4. Der Eifer macht uns zweitens brennend vor Eifersucht für die Reinheitder Seelen, der Bräute Jesu Christi, gemäß dem Wort des Apostels an dieKorinther: „Ich bin für euch mit göttlicher Eifersucht beseelt, denn ichhabe euch einem Mann verlobt, um euch als reine Jungfrauen Christuszuzuführen“ (2 Kor 11,2).

Elieser wäre sicher sehr zur Eifersucht aufgestachelt worden, hätte erdie keusche, schöne Rebekka, die er dem Sohn seines Herrn als Brautzuführte, in irgendeiner Gefahr gesehen, ihre Keuschheit zu verlieren. Erhätte zu diesem heiligen Mädchen sagen können: Ich bin eifersüchtig aufdich mit der Eifersucht meines Herrn, denn ich habe dich einem Mannverlobt, um dich als keusche Jungfrau dem Sohn meines Herrn Abrahamzuzuführen.

So will auch der glorreiche hl. Paulus den Korinthern sagen: Ich bin vonGott zu euren Seelen gesandt, um den ewigen Bund der Vermählung zwi-schen seinem Sohn, unserem Erlöser, und euch zu schließen; ich habeeuch ihm verlobt, um euch als keusche Jungfrau diesem göttlichen Bräuti-gam zuzuführen. Deshalb bin ich eifersüchtig auf euch, nicht mit meinerEifersucht, sondern mit der Eifersucht Gottes, in dessen Namen ich umeuch geworben habe.

Diese Eifersucht war es, Theotimus, deretwegen sich der heilige ApostelTag für Tag verzehrte und erschöpfte: „Tag für Tag schwebe ich in Todesge-fahr, um eures Ruhmes willen“ (1 Kor 15,31). „Wer wird schwach, ohnedaß ich schwach werde? Wer nimmt Anstoß, ohne daß ich in Glut gerate?“(2 Kor 11,29).

Schaut, sagten die Alten, welche Liebe, welche Sorge, welche Eifersuchteine Henne für ihre Küchlein hat (denn der Herr hielt diesen Vergleichnicht für unwürdig, in seine Frohbotschaft aufgenommen zu werden). So-lange die Henne nicht Mutter ist, ist sie ein recht furchtsames Tier ohneallen Edelmut. Sobald sie aber Mutter geworden ist, hat sie ein Löwen-herz; immer trägt sie den Kopf hoch, immer späht sie nach allen Seiten, ob

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nicht von irgendwo die geringste Gefahr für ihre Kleinen droht. Es gibtkeinen Feind, dem sie sich nicht entgegenstürzt, um ihre liebe Brut zuverteidigen. Ständig ist sie in Sorge um sie und läuft gluckend und klagendum sie herum. Kommt eines ihrer Küchlein ums Leben, – welch einSchmerz, welch ein Zorn!

Das ist die Eifersucht der Väter und Mütter für ihre Kinder, der Hirten fürihre Schäflein, der Brüder für ihre Brüder. Wie ereiferten sich die SöhneJakobs, als sie erfuhren, daß Dina geschändet worden war (Gen 34)! Wel-cher Eifer beseelte Ijob, als er fürchtete, daß seine Kinder Gott beleidigenkönnten (Ijob 1,5)! Welchen Eifer hatte der hl. Paulus für seine „Brüderdem Fleische nach“ und für die, die in Gott seine Kinder waren, für wel-che er „sogar mit dem Fluch beladen fern von Christus zu sein wünschte“(Röm 9,3)! Welchen Eifer hatte Mose für sein Volk, für das er bereit war,lieber selbst aus dem Buch des Lebens gestrichen zu werden (Ex 32,32)!

5. Drittens: Bei menschlicher Eifersucht fürchten wir, daß der geliebteGegenstand von jemand anderem in Besitz genommen werden könnte.Der Eifer, den wir für Gott haben, bewirkt aber im Gegenteil, daß wir mehrals alles fürchten, nicht ganz und gar von Gott in Besitz genommen zu sein.Die menschliche Eifersucht läßt uns fürchten, nicht genug geliebt zu wer-den; das Leid der christlichen Eifersucht aber ist, selbst nicht genug zulieben. Darum rief die heilige Schulammit aus: „Vielgeliebter meiner See-le, künde mir: Wo läßt du lagern am Mittag? Ich möchte nicht herumirrenbei den Herden deiner Genossen“ (Hld 1,7). Sie fürchtet, ihrem Hirtennicht ganz und gar anzugehören und sich auch nur in etwa mit denenabzugeben, die seine Nebenbuhler sein wollen. Denn sie will um nichts inder Welt, daß Vergnügen, Ehren und äußere Güter auch nur eine Faserihrer Liebe für sich in Anspruch nehmen, da sie diese ganz ihrem gelieb-ten Erlöser geweiht hat.

15. KapitelRatschläge für die Lenkung des heiligen Eifers.Ratschläge für die Lenkung des heiligen Eifers.Ratschläge für die Lenkung des heiligen Eifers.Ratschläge für die Lenkung des heiligen Eifers.Ratschläge für die Lenkung des heiligen Eifers.

1. Da der Eifer eine brennende, heftige Liebe ist, bedarf er der weisenLenkung; sonst würde er leicht die Grenzen der Bescheidenheit und desTaktes überschreiten. Nicht als ob die Liebe zu Gott je übertrieben werdenkönnte, sei es in sich selbst, sei es in ihren Regungen, sei es in den Neigun-gen, die sie im Geist auslöst. Sie bedient sich aber zur Ausführung ihrer

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Pläne des Verstandes, den sie beauftragt, die Mittel ausfindig zu machen,die zum Erfolg führen, ferner der Kühnheit oder des Zornes, um die Schwie-rigkeiten zu überwinden, die sich in den Weg stellen. So geschieht es dennoft, daß der Verstand zu schwere und gewaltsame Wege vorschlägt undergreifen läßt und daß der Zorn oder die Kühnheit, wenn sie einmal inBewegung gesetzt sind, sich nicht mehr in den Grenzen der Vernunft haltenkönnen und das Herz in Unordnung versetzen. Der Eifer wird dann intaktloser und ungeordneter Weise ausgeübt, wodurch er schlecht und ta-delnswert wird.

2. David entsandte Joab mit seiner Armee gegen seinen treulosen undabtrünnigen Sohn Abschalom; doch verbot er ihm streng, irgendwie Handan ihn zu legen, ja er befahl ihm, unter allen Umständen dafür zu sorgen,daß er gerettet werde. Joab aber tötete, vom Sieg berauscht, mit eigenerHand den armen Abschalom, ohne das alles zu beachten, was der Königihm gesagt hatte (2 Sam 18,5.14).

So bedient sich der Eifer des Zornes, um das Böse zu bekämpfen, undträgt ihm immer ganz ausdrücklich auf, zwar die Missetat und die Sündezu vernichten, den Sünder und Missetäter aber womöglich zu retten. Istaber der Zorn einmal in Harnisch geraten, so gleicht er einem hartmauligenund hitzigen Roß, das seinem Reiter durchgeht, über die Schranken hin-ausstürmt und erst innehält, wenn ihm der Atem ausgeht. Der gute Haus-vater, den der Herr im Evangelium beschreibt, wußte wohl, daß eifrigeund heftige Diener für gewöhnlich die Absicht ihres Herrn überschreiten.Als sich darum die Seinen anboten, sein Feld zu jäten, um das Unkrautauszureißen, sagte er ihnen: „Nein, ich will es nicht, ihr möchtet sonstbeim Sammeln des Unkrautes zugleich auch den Weizen ausreißen“ (Mt13,29).

3. Der Zorn, Theotimus, ist sicher ein tüchtiger, tapferer und sehr unter-nehmender Diener, der vieles zu bewerkstelligen vermag. Aber er ist sohitzig, so unruhig, so unüberlegt und wild, daß er für gewöhnlich nichtsGutes tut, ohne gleichzeitig viel Übles anzurichten.

Die Landwirte sagen, es sei nicht günstig, sich Pfaue im Hause zu halten,denn wenn sie auch Jagd auf Spinnen machen und die Wohnräume davonfreihalten, so ruinieren sie doch dermaßen die Dächer, daß der Nutzen,den man von ihnen hat, weit übertroffen wird von dem Schaden, den sieanrichten.

Die Natur hat den Zorn der Vernunft zur Hilfe gegeben und die Gnadeverwendet ihn im Dienst des Eifers zur Ausführung ihrer Pläne, doch ist er

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eine gefährliche und wenig wünschenswerte Hilfe. Denn wenn er stark wird,spielt er sich zum Herrn auf, stürzt die Autorität der Vernunft und die vonLiebe getragenen Gesetze des Eifers. Ist er aber schwach, so tut er nichts,was der Eifer allein, ohne ihn, nicht auch tun würde. Dabei muß man aberimmer die berechtigte Furcht haben, daß er, erstarkt, sich des Herzensund des Eifers bemächtigt, sie seiner Tyrannei unterwirft, so wie ein Feu-erwerk in einem Augenblick ein Gebäude in Flammen setzt, und niemandweiß, wie man es löschen kann. Es ist ein Verzweiflungsakt, wenn man ineinen Platz fremde Hilfstruppen hineinlegt, die die Oberhand gewinnenkönnen.

Die Eigenliebe betrügt uns oft und führt uns auf Irrwege, indem sie ihreeigenen Leidenschaften unter dem Deckmantel des Eifers ins Werk setzt.Wohl hat sich zuweilen der Eifer des Zornes bedient, dafür bedient sichjetzt der Zorn des Namens „Eifer“, um damit seine schändlichen Aus-schreitungen zu decken. Ich sage, er bedient sich des Namens Eifer, denndes Eifers selbst kann er sich nicht bedienen, ist es doch Eigenart allerTugenden und insbesondere der Liebe, aus der der Eifer entspringt, „so gutzu sein, daß niemand sie mißbrauchen kann“ (Aristot. Magna Moralia,2,7).

4. Einst kam ein berüchtigter Sünder und warf sich einem guten, würdi-gen Priester zu Füßen, indem er mit großer Unterwürfigkeit bekannte, erkomme, das Heilmittel für seine Übel zu suchen, d. h. die heilige Losspre-chung von seinen Fehlern zu empfangen. Ein Mönch namens Demophilusaber war der Ansicht, dieser arme bußfertige Sünder wage sich allzu nahean den Altar heran, und geriet darüber in einen so heftigen Zorn, daß ersich blindlings auf ihn stürzte, ihn mit Fußtritten behandelte, ihn stieß,davonjagte und in verletzender Weise auch den Priester beschimpfte, derden Reuigen gütig aufgenommen hatte, wie es seine Pflicht war. Dann eilteer zum Altar und entfernte von diesem alle heiligen Geräte, die sich dar-auf befanden, und trug sie fort, angeblich, weil die Stätte durch die Anwe-senheit des Sünders entheiligt worden sei. Er ließ es nicht bei diesemUnternehmen seines Eifers bewenden, sondern teilte das ganze voll Be-geisterung dem großen hl. Dionysius dem Areopagiten in einem Brief mit.

Der große Schüler des hl. Paulus gab ihm eine ausgezeichnete Antwort,die ein würdiger Ausdruck seines apostolischen Geistes ist. Er ließ ihnklar erkennen, daß sein Eifer taktlos, unklug und frech war. Wenn auchder Eifer für die den heiligen Dingen schuldige Ehre gut und lobenswert

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sei, so habe er ihn doch ganz gegen alle Vernunft, ohne alle Überlegungund urteilslos angewendet, denn er habe sich an einem Ort und gegenPersonen, die er ehren, lieben und achten sollte, Fußtritte, Beleidigungen,Schmähungen und Vorwürfe erlaubt. Dieser Eifer könne nicht gut sein,nachdem er in so unordentlicher Weise ausgeübt worden sei.

In der gleichen Antwort (Epist. VIII. ad Demophilum) bringt der Heili-ge ein denkwürdiges Beispiel heftigen Eifers einer zuvor guten aber durchihre Zornesausbrüche verunstalteten und geschädigten Seele.

Ein Heide hatte einen neubekehrten Christen aus Kandia dazu verleitet,wieder zum Götzendienst zurückzukehren. Darüber geriet Carpus, eindurch Reinheit und Heiligkeit des Lebens hervorragender Mann, der allerWahrscheinlichkeit nach Bischof von Kandia gewesen ist, in einen hefti-gen Zorn, wie er ihn noch nie empfunden hatte. Er ließ sich von dieserLeidenschaft so hinreißen, daß er, als er um Mitternacht aufstand, umnach seiner Gewohnheit zu beten, bei sich überlegte, es sei doch nichtvernünftig, daß derart gottlose Menschen weiterlebten. In seiner großenEmpörung bat er die göttliche Gerechtigkeit, durch einen Blitzstrahl bei-de Sünder auf einmal zu töten, den heidnischen Verführer und den ver-führten Christen.

Aber höre, Theotimus, was Gott tat, um die Härte der Leidenschaft zumildern, von welcher der arme Carpus so heftig erfaßt war. Erstens ließ erihn, wie einen zweiten hl. Stephanus (s. Apg 7,55) den Himmel offen undJesus Christus auf einem hohen Thron sitzen sehen, von einer Schar Engelumgeben, die ihn in menschlicher Gestalt umstanden. Dann sah er untendie Erde offen und einen schaurigen weiten Abgrund, an dessen Rand diezwei in die Irre Gegangenen, denen er soviel Übles gewünscht hatte, zit-ternd und vor Schrecken fast vergehend standen, weil sie daran waren,hinabzustürzen. Auf der einen Seite waren eine Menge Schlangen, die ausdem Abgrund hervorkrochen, sich um ihre Beine ringelten und mit ihrenSchwänzen kitzelten, um sie zu Fall zu bringen; auf der anderen Seitewaren Menschen, die sie stießen und schlugen, damit sie fallen sollten. Soschienen sie daran zu sein, in den Abgrund hinabzustürzen.

Stelle dir nun vor, mein Theotimus, wie heftig die Leidenschaft des Car-pus war. Wie er selbst dem hl. Dionysius erzählte, achtete er nicht darauf,den Herrn und die Engel im Himmel zu betrachten; er fand zu viel Ver-gnügen daran, sich die furchtbare Lage anzusehen, in der sich die beidenarmseligen Schuldbeladenen befanden, und ärgerte sich nur darüber, daßes so lange dauerte, bis sie zugrundegingen, und deshalb versuchte er selbst,

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sie hinabzuschleudern. Da er es aber doch nicht so schnell zu tun ver-mochte, wie er wollte, geriet er in Zorn und verfluchte die beiden, bis erendlich seine Augen zum Himmel erhob. Da sah er den sanften und erbar-mungsreichen Herrn, der von tiefstem Mitleid ergriffen über das, was sichda zutrug, sich von seinem Thron erhob und bis zu jenem Ort hinabstieg,wo sich die beiden Armen befanden, ihnen seine hilfreiche Hand reichte,während Engel kamen und sie an beiden Seiten hielten, um sie zu hindern,in den furchtbaren Abgrund zu stürzen. Zum Schluß wandte sich der lie-bevolle, gütige Jesus an den zornigen Carpus und sagte: „Schlage jetzt losauf mich, denn ich bin bereit, noch einmal zu leiden, um die Menschen zuretten. Ich würde es gern tun, wenn es ohne Sünde anderer Menschengeschehen könnte. Aber überlege dir, was besser für dich wäre, in diesemAbgrund mit den Schlangen zu sein, oder bei den Engeln zu wohnen, dieso große Freunde der Menschen sind.“

Sieh, Theotimus, es war recht von dem gottesfürchtigen Carpus, sichwegen der beiden Menschen zu ereifern, und mit Recht hatte ihn seinEifer in Zorn über die beiden geraten lassen. Doch der in Wallung ge-ratene Zorn hatte Vernunft und Eifer drangegeben, alle Schranken undGrenzen der heiligen Liebe und folglich auch des Eifers, der ja die Glutder Liebe ist, durchbrochen und den Haß gegen die Sünde in einen Haßgegen den Sünder und gütige Liebe in wütende Grausamkeit verwandelt.

5. Es gibt Menschen, die glauben, man könne nicht viel Eifer haben, wennman nicht in großen Zorn gerät. Sie meinen, nichts in Ordnung bringen zukönnen, ohne daß sie alles zerschlagen. In Wahrheit aber ist es so, daß sichder wahre Eifer fast nie des Zornes bedient. Wie man bei Kranken nur imäußersten Notfall, wenn nichts anderes mehr hilft, Eisen und Feuer an-wendet, so bedient sich der heilige Eifer nur im äußersten Notfall desZornes.

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16. KapitelDas Beispiel einiger HeiligerDas Beispiel einiger HeiligerDas Beispiel einiger HeiligerDas Beispiel einiger HeiligerDas Beispiel einiger Heiliger, die sich scheinbar in ihrem Eifer vom, die sich scheinbar in ihrem Eifer vom, die sich scheinbar in ihrem Eifer vom, die sich scheinbar in ihrem Eifer vom, die sich scheinbar in ihrem Eifer vom

Zorn hinreißen ließen, widerspricht nicht dem Gesagten.Zorn hinreißen ließen, widerspricht nicht dem Gesagten.Zorn hinreißen ließen, widerspricht nicht dem Gesagten.Zorn hinreißen ließen, widerspricht nicht dem Gesagten.Zorn hinreißen ließen, widerspricht nicht dem Gesagten.

1. Es ist sicher wahr, mein Freund Theotimus, daß mehrere große DienerGottes wie Mose (Ex 32,19-29), Pinhas (Num 25,7-11), Elija (1 Kön 18,40;2 Kön 1,10-12), Mattatias (1 Mak 2,24-26), sich des Zornes bei vielenwichtigen Gelegenheiten bedienten, um ihren Eifer zu betätigen. Aber be-denke bitte auch, daß das große Persönlichkeiten waren, die es verstanden,ihre Leidenschaften zu zügeln und ihren Zorn zu lenken, gleich jenemtapferen Hauptmann des Evangeliums (Mt 8,9), der zu seinen Soldatensagte: „Geht!“ und sie gingen; „Kommt!“ und sie kamen. Wir aber, die wirfast alle kleine Leute sind, wir haben nicht so viel Macht über unsereRegungen. Unser Roß ist nicht so gut dressiert, daß wir es antreiben unddann auch wieder nach unserem Belieben zurückhalten können.

Die klugen und gut abgerichteten Hunde laufen querfeldein und kehrenwieder auf ihrer eigenen Spur zurück, je nach dem Zuruf des Jägers, diejungen Hunde aber, die erst abgerichtet werden müssen, verirren sich leichtund sind unfolgsam. Die großen Heiligen, die ihre Leidenschaften dadurchzu brauchbaren Kräften machten, daß sie sie durch Tugendübungen abtö-teten, haben auch ihren Zorn in der Hand, können ihn loslassen und auchwieder zurückziehen, wie es ihnen gutdünkt. Aber wir anderen, die wirungezügelte Leidenschaften haben, ganz junge oder wenigstens schlechtdressierte, wir können unseren Zorn nur loslassen auf die Gefahr hin, großeUnordnung anzurichten, denn ist er einmal ins Feld gezogen, so kann manihn weder zurückhalten, noch ihn so lenken, wie es erforderlich wäre.

2. Als der hl. Dionysius mit jenem Demophilus sprach, der seine Wutund seinen Zorn mit dem Namen Eifer bezeichnen wollte (s. vorhergehen-des Kap.), sagte er zu ihm: „Wer andere bessern will, muß zuerst verhüten,daß der Zorn die Vernunft von dem ihr von Gott verliehenen Thron undvon der Herrschaft in der Seele vertreibe und im eigenen Innern Empö-rung, Aufruhr und Verwirrung hervorrufe. Daher können wir deine Hef-tigkeiten, zu denen taktloser Eifer dich getrieben hat, nicht gutheißen,wenn du auch tausendmal Pinhas und Elija im Mund führst. Denn Worte

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dieser Art mißfielen Jesus, als sie von seinen Jüngern ausgesprochen wur-den, bevor sie den sanften, gütigen Geist empfangen hatten.“

Als Pinhas sah, daß ein unglücklicher Israelit Gott mit einer Midianiterinbeleidigte, tötete er sie beide (Num 25,7-11). Elija hatte den Tod des Ahas-ja vorhergesagt, der, erzürnt über diese Vorhersage, zwei Hauptleute, ei-nen nach dem anderen, mit je fünfzig Soldaten absandte, um ihn gefangen-zunehmen; Elija ließ Feuer vom Himmel fallen, um sie zu verzehren (2Kön 1,10-12). Als unser Herr eines Tages durch Samaria zog, sandte erJünger in eine Stadt, um eine Unterkunft zu besorgen; allein die Bewoh-ner, die wußten, daß der Herr Jude und auf dem Weg nach Jerusalem war,wollten ihn nicht beherbergen. Als dies die Jünger Jakobus und Johanneswahrnahmen, sagten sie zum Herrn: „Herr, sollen wir nicht Feuer vomHimmel herabrufen, daß es sie verzehre?“ Der Herr aber wandte sich umund verwies es ihnen mit den Worten: „Ihr wißt nicht, wes Geistes Kinderihr seid. Der Menschensohn ist nicht gekommen, Seelen zu verderben,sondern zu retten“ (Lk 9,52-56).

Das ist es, Theotimus, was der hl. Dionysius dem Demophilus sagenwill, der sich auf das Beispiel des Phinees und des Elija berief. Denn der hl.Johannes und der hl. Jakobus, die Elija nachahmen und Feuer vom Him-mel über die Menschen herabrufen wollten, erhielten vom Herrn einenVerweis, der ihnen begreiflich machen sollte, daß sein Geist und sein Ei-fer sanft, gütig und liebenswürdig ist, daß er Unwillen und Zorn nur ganzselten anwendet, und zwar nur, wenn es ganz aussichtslos ist, durch andereMittel zum Ziel zu kommen.

3. Als der hl. Thomas von Aquin, diese große Leuchte der Gottesge-lehrtheit, an seiner Todeskrankheit im Zisterzienserkloster von Fossanuovadarniederlag, baten ihn die Mönche, ihnen eine kurze Erklärung des Ho-heliedes zu geben, wie es einst der hl. Bernhard getan hatte. Da antworteteer ihnen: „Meine lieben Väter, gebt mir den Geist des hl. Bernhard, dannwerde ich euch diesen göttlichen Gesang so erklären, wie es der hl. Bernhardgetan“ (Sixt. Senens., Biblioth. Sancta IV). Ebenso ist es, wenn man unskleinen, armseligen, unvollkommenen, schwachen Christen sagt: Bedienteuch in eurem Eifer des Zornes und der Empörung, wie es Pinhas, Elija,Mattatias, der hl. Petrus und der hl. Paulus taten; da müssen wir antwor-ten: Gebt uns den Geist der Vollkommenheit und des lauteren Eifers mit derinneren Einsicht dieser großen Heiligen, dann werden wir uns wie sie vomZorn erfassen lassen.

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Es ist nicht jedermanns Sache, zürnen zu können, wann und wie man essoll.

Diese großen Heiligen standen unmittelbar unter der Einsprechung Got-tes; folglich konnten sie sich ohne Gefahr des Zornes bedienen. Denn dergleiche Geist, der sie zu diesem Vorgehen antrieb, hatte auch die Zügelihres gerechten Zornes in der Hand, um sie die Grenzen nicht überschrei-ten zu lassen, die er ihnen gesetzt hatte. Ein Zorn, der vom Heiligen Geistinspiriert oder angeregt ist, ist kein Zorn des Menschen mehr. Es ist abernur der Zorn des Menschen, vor dem man sich hüten muß, da er, wie derhl. Jakobus sagt, „nicht tut, was recht ist vor Gott“ (Jak 1,20). Und in derTat, als sich diese großen Diener Gottes des Zornes bedienten, geschah esbei so wichtigen Anlässen und solch schauderbaren Verbrechen, daß kei-ne Gefahr bestand, die Strafe könnte ärger werden als die Schuld.

4. Darf man deshalb, weil der hl. Paulus die Galater einmal „unverstän-dig“ nennt (Gal 3,1), den Kretern ihre bösen Neigungen vor Augen stellt(Tit 1,12) und dem glorreichen hl. Petrus, seinem Vorgesetzten Aug’ inAuge entgegentrat (Gal 2,11), sich die Freiheit nehmen, die Sünder zubeschimpfen, bestimmten Nationen Vorwürfe zu machen, unsere geistli-chen Führer und Bischöfe zu tadeln und zu verurteilen? Es ist doch nichtjeder ein hl. Paulus, um solches in rechter Weise tun zu können. Aber dieerbitterten, verärgerten, dünkelhaften und schmähsüchtigen Leute, die ih-ren Neigungen, Launen, Abneigungen und Narrheiten folgen, möchten ihrUnrecht gern mit dem Mantel des Eifers bedecken.

Jeder brennt angeblich von heiligem Feuer, in Wahrheit aber vom Feuerseiner eigenen Leidenschaften. Den Seeleneifer schiebt der Ehrgeizige vor,um nach der Bischofswürde zu streben; aus Seeleneifer angeblich läuft derMönch, der in den Chor gehört, überall herum, wie es ihm sein unruhigerGeist eingibt; aus angeblichem Seeleneifer erlaubt sich ein arroganterMensch harte Vorwürfe und Angriffe gegen kirchliche und weltliche Ob-rigkeiten. – Man spricht nur von Eifer, es ist aber kein Eifer zu sehen, son-dern nur üble Nachrede, Zorn, Haß, Neid, unruhige Gemüter und unge-ordnete Zungen.

5. Man kann den Eifer auf dreierlei Weise üben. Erstens, indem man dieGerechtigkeit durch große Aktionen walten läßt, um das Böse zurückzu-drängen. Das steht jedoch nur denen zu, die in öffentlichen Ämtern dieAufgabe haben, als Vorgesetzte ihre Untergebenen zu bessern, zu tadeln

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und zurechtzuweisen, wie Fürsten, Behörden, Prälaten und Prediger. Daein solches Amt aber ehrenvoll ist, will jeder es ausüben und jeder sichhineinmengen.

Zweitens handelt man aus Eifer, wenn man große Tugendwerke verrichtet,um ein gutes Beispiel zu geben, wenn man Gegenmittel gegen das Böseempfiehlt und zu deren Gebrauch ermahnt und wenn man das Gute tut,das dem auszurottenden Bösen entgegengesetzt ist. Das ist Aufgabe einesjeden und doch wollen es nur wenige tun.

Und endlich betätigt man den Eifer in ausgezeichneter Weise, indem manviel leidet und erduldet, um das Böse zu verhindern und abzuwenden. Dochfindet sich fast niemand für diese Art des Eifers.

Man verlegt sich auf den weithin sichtbaren Eifer; an diesem will jedersein Können versuchen. Man merkt gar nicht, daß es nicht der Eifer ist,den man anstrebt, sondern der Ruhm und die Befriedigung der Überheb-lichkeit, des Zornes, des Ärgers und anderer Leidenschaften.

6. Der Eifer unseres Herrn zeigte sich hauptsächlich darin, daß er amKreuz starb, um den Tod und die Sünde des Menschen zu vernichten. Da-rin wurde er in unvergleichlicher Weise nachgeahmt von dem wunderba-ren „Gefäß der Auserwählung“ (Apg 9,15) und der Liebe, wie es der großehl. Gregor von Nazianz in goldenen Worten darlegt, da er von dem heili-gen Apostel sagt (Orat. II, §55): „Er kämpft für alle, er betet für alle, er istvoll Eifersucht für alle, er glüht für alle, ja er hat sogar noch mehr gewagtfür jene, die seine Brüder sind dem Fleisch nach; kühn will ich es ausspre-chen: aus Liebe wünschte er, daß sie seine Stelle einnähmen bei JesusChristus (Röm 9,3). O welch herrlicher Mut und welch unglaublicherEifer des Geistes! Er ahmte Jesus Christus nach, der „für uns zum Fluchwurde“ (Gal 3,13), der „unsere Leiden getragen und unsere Schmerzenauf sich geladen hat“ (Jes 53,4); noch deutlicher will ich es sagen: Er warder erste, der nach unserem Erlöser sich nicht weigerte, ihretwegen zuleiden und ihretwegen für gottlos gehalten zu werden.“

Unser Heiland wurde gegeißelt, verurteilt, gekreuzigt als ein Mensch,der dazu geweiht, ausersehen und bestimmt war, die Schmach und Schan-de und die Strafen zu erdulden, die allen Sündern der Welt gebührten, unddas für alle Sünde geltende Opfer zu sein – war er doch von seinem himm-lischen Vater gleichsam verflucht, von ihm getrennt und verlassen (Mt27,46; Gal 3,13).

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So wünschte auch, nach der Lehre des großen Heiligen von Nazianz, derglorreiche Apostel Paulus mit Schmach überhäuft, gekreuzigt, ausgesto-ßen, verlassen und geopfert zu werden für die Sünden der Juden. Für siewünschte er den Fluch und die Strafe zu tragen, die sie verdient hatten.

Doch ebenso, wie unser Heiland die Sünden der Welt zwar trug und zumFluch wurde, für die Sünde geopfert und von seinem Vater verlassen, aberdoch nicht aufhörte, ständig sein vielgeliebter Sohn zu sein, an dem derVater sein Wohlgefallen hatte (Mt 3,17; 17,5), so wünschte auch der Apo-stel, verflucht und von seinem Meister getrennt, von ihm verlassen und dervon den Juden verdienten Schmach und Strafe überantwortet zu sein, aberdoch nie die Liebe und Gnade seines Herrn zu verlieren, von der ihnnichts trennen konnte (Röm 8,35-39). Das heißt: er wünschte, wie ein vonGott getrennter Mensch behandelt zu werden, aber nicht wirklich vonGott getrennt, noch seiner Gnade beraubt zu sein; denn so etwas läßt sichauf heilige Weise nicht wünschen.

7. So erkennt auch die Braut im Hohelied (Hld 8,6), daß „die Liebestark ist wie der Tod“, der die Seele vom Körper scheidet, daß aber derEifer, der eine brennende Liebe ist, noch weit stärker ist. Er gleicht derHölle, welche die Seele von der Anschauung des Herrn trennt. Nie aberwurde gesagt und kann gesagt werden, daß Liebe oder Eifer der Sündegleichen, die allein von der Gnade Gottes trennt. Wie könnte es dahersein, daß der Eifer der Liebe zu dem Wunsch führen könnte, von der Gna-de getrennt zu sein, wo doch Liebe die Gnade selbst ist oder wenigstensnicht ohne Gnade sein kann?

Der Eifer des großen hl. Paulus wurde, wie mir scheint, in gewisserBeziehung von dem kleinen hl. Paulus, ich will sagen, vom hl. Paulinus indie Tat umgesetzt, da er, um einen Sklaven aus der Gefangenschaft zubefreien, selbst zum Sklaven wurde, seine Freiheit opferte, um sie seinemNächsten zu verschaffen.

8. „O wie glücklich ist jener,“ sagt der hl. Ambrosius, „der seinen Eifer zuzügeln weiß!“ (18. Pred. zu Ps 118, §17). Und der hl. Bernhard sagt: „Sehrleicht kann es sein, daß der Teufel mit deinem Eifer sein Spiel treibenwird, wenn du das Wissen vernachlässigst; laß daher deinen Eifer vonLiebe entflammt, vom Wissen verschönert, von der Beharrlichkeit gefe-stigt sein.“ Der wahre Eifer ist ein Kind der Liebe, denn er ist deren Glut.Daher ist er auch wie sie geduldig, gütig, ohne Unruhe, Streit, Haß und Neid,hat Freude an der Wahrheit (1 Kor 13,4-6). Die Glut des echten Eifers ist

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der eines Jägers vergleichbar, der sorgfältig, sorgsam, wachen Sinnes, ohneMühe zu scheuen, und mit Freude dem Wild nachsetzt, aber ganz ohneZorn, Unwillen und Unruhe ist. Denn wäre das Waidmannswerk von Zorn,Unwillen und Ärger begleitet, dann wäre es nicht so beliebt. So ist auchdie Glut des wahren Eifers außerordentlich stark, dabei aber beharrlich,ohne Wankelmut, sanft, bereit, Mühen auf sich zu nehmen, liebenswürdigund gleichzeitig unermüdlich. Der falsche Eifer ist hingegen aufbrausend,verwirrend, anmaßend, stolz, zornig, flüchtig, ebenso ungestüm wie unbe-ständig.

17. Kapitel

Wie der Herr die erhabensten Liebesakte alle übte.Wie der Herr die erhabensten Liebesakte alle übte.Wie der Herr die erhabensten Liebesakte alle übte.Wie der Herr die erhabensten Liebesakte alle übte.Wie der Herr die erhabensten Liebesakte alle übte.

Nachdem ich nun so lange über die heiligen Akte der göttlichen Liebegesprochen habe, will ich dir, um alles leicht und tief ins Gedächtnis ein-zuprägen, davon eine kurze Zusammenfassung vor Augen stellen.

„Die Liebe Jesu Christi drängt uns,“ sagt der große Apostel (2 Kor 5,14).Ja wahrlich, Theotimus, sie zwingt und nötigt uns durch ihre unendlicheGüte, die im ganzen Werk unserer Erlösung zum Ausdruck kommt, inwelchem „die Liebe und Menschenfreundlichkeit Gottes“ erschienen ist(Tit 2,11; 3,4). Denn was hat dieser göttliche Liebende nicht alles an Liebegetan!

1. Er hat uns mit der Liebe des Wohlgefallens geliebt, denn „seine Wonnewar es, bei den Menschenkindern zu sein“ (Spr 8,31) und den Menschenan sich zu ziehen dadurch, daß er selbst Mensch wurde.

2. Er liebte uns mit der Liebe des Wohlwollens, indem er seine Gottheit inden Menschen versenkte, so daß der Mensch Gott wurde.

3. Er vereinigte sich mit uns, indem er eine unbegreifliche Verbindungmit uns einging, durch welche er sich unserer Natur so kraftvoll, so unauf-löslich und auf immer in so unendlicher Weise anschloß und sich mit ihrso eng verband, daß mit der Menschheit nie etwas so innig und fest verei-nigt war, als es jetzt die göttliche Wesenheit in der Person des SohnesGottes ist.

4. Er ergoß sich ganz in uns und ließ sozusagen seine Größe vergehen,um sich der Gestalt und Form unserer Kleinheit anzupassen. Deswegenwird er Quelle lebendigen Wassers (Jer 2,13), Tau und Regen des Him-mels (Jes 45,8) genannt.

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5. Er ist sich selbst entrückt gewesen, nicht nur dadurch, daß er wie der hl.Dionysius sagt (De divin. nomin. IV § 13), in einem Übermaß seinerliebevollen Güte sozusagen außer sich geriet, um seine Vorsehung überalle Dinge zu erstrecken und in allem gegenwärtig zu sein; sondern auchdarin, daß er, wie der hl. Paulus sagt (Phil 2,7), sich selbst gewissermaßenverlassen hat, von sich selbst leer geworden ist, sich seiner Größe und Glorieentledigte, vom Thron seiner unbegreiflichen Majestät herabstieg, und,wenn man so sagen kann, „sich selbst vernichtete“, um zu unserer Mensch-heit zu gelangen und sie mit seiner Gottheit zu erfüllen, uns mit seinerGüte zu überhäufen, uns zu seiner Würde zu erheben und uns das göttli-che Sein der „Kinder Gottes“ zu verleihen (Joh 1,12; 3,1).

Jener, von dem so oft geschrieben steht: „Ich selbst lebe, spricht derHerr“, konnte sich danach der Worte seines Apostels bedienen und sagen:Ich lebe, doch nicht mehr ich selbst lebe, sondern der Mensch lebt in mir(s. Gal 2,20). Mein Leben ist der Mensch und Sterben mein Gewinn (s.Phil 1,21). Mein Leben ist mit dem Menschen verborgen in Gott (s. Kol3,3). Jener, der in sich selbst wohnte, wohnt jetzt in uns, und der, der vonEwigkeit im Schoß seines ewigen Vaters lebte (Joh 1,18), lag dann alsSterbender im Schoß seiner zeitlichen Mutter.

Jener, der von Ewigkeit sein göttliches Leben lebte, lebte in der Zeit einmenschliches Leben, und der, der von Ewigkeit her Gott und sonst nichtsanderes war, wird in alle Ewigkeit auf immer auch Mensch sein. So sehrhat die Liebe zum Menschen Gott entrückt und zur Ekstase hinabgezo-gen!

6. Aus Liebe bewunderte er öfters Menschen, so zum Beispiel den Haupt-mann (Mt 8,10) und die Kanaanäerin (Mt 15,28).

7. Er schaute den Jüngling liebevoll an, der bis zur Stunde die Gebotegehalten hatte und sich auf den Weg der Vollkommenheit machen wollte(Mk 10,21).

8. Er nahm heilige Liebesruhe in uns, die sogar zeitweise den Gebrauchder Sinne aufhob, als er als Kind im Schoße seiner Mutter ruhte.

9. Den kleinen Kindern erwies er eine entzückende Zärtlichkeit, indemer sie in seine Arme nahm und liebkoste (Mk 10,16). Auch für Marta undMagdalena hegte er eine zärtliche Liebe und für Lazarus (Joh 11,5), überden er weinte (Joh 11,35 f), ebenso wie über die Stadt Jerusalem.

10. Ein unvergleichlicher Eifer beseelte ihn, der sich, wie der hl. Dionysi-us sagt, in Eifersucht verwandelte, so daß er alles tat, was er konnte, um mit

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Gefahr und selbst auf Kosten seines eigenen Lebens alles Böse von seinergeliebten menschlichen Natur abzuwenden, daß er den Teufel vertrieb,den Fürsten dieser Welt (Joh 14,30), der sich gleichsam als sein Neben-buhler und Gefährte aufspielte.

11. Tausend- und abertausendmal war er von Liebessehnsucht erfüllt;denn woher sonst kamen seine Worte: „Ich muß mit einer Taufe getauftwerden, und wie treibt es mich, wie drängt es mich, bis ich es erfülle“ (Lk12,50 nach dem Griech.)? Er sah ständig aus nach der Stunde, in der er inseinem Blut getauft werden sollte, und sehnte sich danach, bis es voll-bracht war; denn die Liebe zu uns drängte ihn, uns durch seinen Tod vomewigen Tod befreit zu sehen. So wurde er „traurig“ und vergoß blutigenAngstschweiß im Ölgarten (Mt 26,37 f; Lk 22,43 f) nicht nur des ungeheu-ren Schmerzes wegen, den er im niederen Teil seiner Seele empfand, son-dern auch der ungeheuren Liebe wegen, die er in deren höherem Teil zuuns trug. Der Schmerz flößte ihm Scheu vor dem Tod ein, während dieLiebe ihn mit ungeheurer Sehnsucht danach erfüllte. So entstand ein sehrharter Streit und ein grausamer Todeskampf zwischen der Sehnsucht nachdem Tod und der Scheu vor ihm, so daß er Ströme von Blut vergoß, die wieeine lebendige Quelle auf die Erde rannen.

12. Und schließlich, Theotimus, starb dieser göttliche Liebhaber in denFlammen und Gluten der Liebe wegen der unendlichen Liebe, die er zuuns trug und durch die Kraft und Gewalt dieser Liebe. Das heißt also, daßer in der Liebe, durch die Liebe, für die Liebe und aus Liebe starb. Warenauch die grausamen Qualen und Foltern hinreichend, um wen immer zutöten, so hätte der Tod doch nie in das Leben desjenigen eintreten können,der die Schlüssel des Lebens und des Todes (Offb 1,18) in Händen hatte,wenn nicht die göttliche Liebe, die diese Schlüssel gebraucht, dem Tod dieTore geöffnet hätte, damit er über den göttlichen Leib herfallen und ihmdas Leben rauben könne. Denn die Liebe gab sich nicht damit zufrieden,ihn um unseretwillen sterblich gemacht zu haben, sie wollte ihn wirklichdem Tod überliefern. Aus eigener freier Wahl starb er und nicht durch dieMacht des Bösen. „Niemand entreißt mir das Leben,“ sagt er (Joh 10,17 f),„ich gebe es selbst freiwillig hin und verlasse es. Ich habe die Macht, eshinzugeben und es selbst wieder zu gewinnen.“ „Er wurde geopfert,“ sagtJesaja, „weil er es selbst wollte“ (53,7). Darum wird auch nicht gesagt, daßsein Geist von ihm wich, sich von ihm trennte; sondern im Gegenteil, daß

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er seinen Geist aufgab, ihn aushauchte, ihn seinem ewigen Vater übergab(Mt 27,50; Mk 15,37; Lk 23,46; Joh 19,30). Der hl. Athanasius (Zu denGleichn. 41) bemerkt, daß er zum Sterben sein Haupt neigte, um so seineZustimmung, seine Freiwilligkeit für das Kommen des Todes zu offenba-ren, der sonst nicht gewagt hätte, sich ihm zu nähern. Er rief mit lauterStimme (Lk 23,46) und übergab seinen Geist seinem Vater. Damit zeigteer, daß er genug Kraft und Atem hatte, um nicht zu sterben, aber auchsoviel Liebe, um nicht länger leben zu können, ohne durch seinen Tod jenezu beleben, die sonst unmöglich dem Tod ausweichen, noch zum wahrenLeben gelangen konnten.

Daher war der Tod unseres Erlösers ein wahres Opfer, und zwar ein Ganz-opfer, das er selbst seinem Vater für unsere Erlösung dargebracht hat. Dennwenn auch die Peinen und Leiden seiner Passion so groß und stark waren,daß jeder andere Mensch daran gestorben wäre, so wäre Jesus doch nichtdaran gestorben, wenn er nicht gewollt hätte und wenn das Feuer seinerunendlichen Liebe nicht sein Leben verzehrt hätte. Er war also selbst derOpferpriester, der sich seinem Vater dargebracht und sich in Liebe, derLiebe, durch Liebe, für die Liebe und aus Liebe geopfert hat.

Doch hüte dich ja davor, Theotimus, zu sagen, daß dieser Liebestod desErlösers sich in der Weise einer Entrückung vollzogen hat. Denn der Ge-genstand, um dessentwillen ihn die Liebe dem Tod überantwortet hat, warkeineswegs so liebenswürdig, daß er seine göttliche Seele hätte an sichreißen können. Sie verließ also in ekstatischer Weise seinen Körper, vonder Überfülle und Kraft der Liebe getrieben und hinausgeschleudert, sowie die Myrrhe einzig nur durch ihren Überfluß ihre ersten Säfte ausstößt,ohne daß man sie preßt oder den Saft irgendwie herauszieht. Darum sagteer ja selbst, wie wir schon oben bemerkt haben: „Niemand entreißt mirmeine Seele, ich gebe sie freiwillig hin.“ O Gott! Theotimus, was ist dasfür ein Glutherd, uns zu entflammen, daß wir uns doch den Übungen derheiligen Liebe für unseren so guten Heiland hingeben, der sich ihnen füruns, die wir so böse sind, so liebreich hingegeben hat! Diese Liebe JesuChristi drängt uns (2 Kor 5,14).

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ELFTES BUCHELFTES BUCHELFTES BUCHELFTES BUCHELFTES BUCH

Die oberste Herrschaft der heiligen Liebe über

alle Tugenden, Handlungen und

Vollkommenheiten der Seele.

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1. KapitelAlle TAlle TAlle TAlle TAlle Tugenden sind Gott wohlgefällig.ugenden sind Gott wohlgefällig.ugenden sind Gott wohlgefällig.ugenden sind Gott wohlgefällig.ugenden sind Gott wohlgefällig.

1. Die Tugend ist ihrer Natur nach so liebenswert, daß Gott ihr überallseine Gunst erweist, wo er ihrer gewahr wird.

Die Heiden, obwohl Feinde seiner göttlichen Majestät, übten zuweilenverschiedene menschliche und bürgerliche Tugenden, die die Kräfte desvernunftbegabten Geistes nicht übersteigen. Du kannst dir denken, Theo-timus, wie geringfügig das war. Schienen diese Tugenden auch nach außen-hin etwas Großes zu sein, so war doch ihr Wert in Wirklichkeit geringwegen der niederen Absicht derjenigen, die sie übten. Sie mühten sich fastimmer nur der Ehre wegen ab, wie der hl. Augustinus sagt (St. G. 5,12),oder wegen eines anderen seichten Beweggrundes, z. B. um den Bestandder bürgerlichen Gesellschaft zu sichern. Oder sie hatten eine gute Veran-lagung, die kleine Tugendakte ermöglichte, wo kein starker Widerstand zuüberwinden war, z. B. einander zu grüßen, den Freunden beizustehen,mäßig zu leben, nicht zu stehlen, den Herren treu zu dienen, den Arbei-tern ihren Lohn auszuzahlen.

2. Obwohl dies alles geringfügig und von vielen Unvollkommenheitenbegleitet war, rechnete es Gott diesen Menschen doch gut an und belohntesie reichlich dafür.

Die Hebammen, denen Pharao den Auftrag gab, alle männliche Nach-kommenschaft bei den Israeliten zu töten, waren sicher alle Ägypterinnenund folglich Heidinnen; denn als sie sich entschuldigten, den Willen desKönigs nicht ausgeführt zu haben, sagten sie: „Die Hebräerinnen sindnicht wie die ägyptischen Frauen, sondern wissen sich selbst zu helfen.Ehe wir zu ihnen kommen, haben sie schon geboren“ (Ex 1,19). DieseEntschuldigung wäre nicht passend gewesen, wenn die Hebammen selbstHebräerinnen gewesen wären, und es ist auch nicht anzunehmen, daß derPharao einen so erbarmungslosen Auftrag Frauen gleicher Nation undReligion gegeben habe. Auch Josephus sagt (Antiq. Jud 2,5), daß es ägyp-tische Frauen waren. Wiewohl sie also Ägypterinnen und folglich Heidin-nen waren, fürchteten sie, Gott durch eine so barbarische und widernatür-liche Grausamkeit zu beleidigen, wie es das Hinmorden so vieler kleinerKinder gewesen wäre. Das gefiel der göttlichen Güte so sehr, daß er „ihnenHäuser baute“ (Ex 1,21), d. h. eine große Nachkommenschaft schenkteund es ihnen gut ergehen ließ.

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Nebukadnezzar, König von Babylon, führte einen gerechten Krieg ge-gen die Stadt Tyrus, welche die göttliche Gerechtigkeit strafen wollte. UndGott sprach zu Ezechiel, er wolle als Lohn dafür Nebukadnezzar undseiner Armee Ägypten zur Beute geben; denn, sprach Gott, „für michhaben sie gearbeitet“ (Ez 29,18-20). Daraus, erklärt Hieronymus in sei-nem Kommentar, lernen wir, daß selbst die Heiden, wenn sie etwas Gutestun, vom Gericht Gottes nicht unbelohnt gelassen werden.

Darum ermahnt auch Daniel (4,24) den heidnischen Nebukadnezzar,seine Sünden durch Almosen wieder gutzumachen, d. h. sich von den zeit-lichen Strafen, die seinen Sünden gebührten und von denen er bedrohtwar, loszukaufen.

Siehst du also, Theotimus, wieviel Gott von den Tugenden hält, auchwenn sie von Personen geübt werden, die sonst schlecht sind. Wäre ihmdie Barmherzigkeit der Hebammen und die Gerechtigkeit des Krieges derBabylonier nicht wohlgefällig gewesen, hätte er sie dafür belohnt? Undhätte Daniel nicht gewußt, daß der Unglaube Nebukadnezzars Gott nichthindern würde, seine Almosen zu billigen, warum hätte er ihm dann dazugeraten?

3. Gewiß versichert uns der Apostel (Röm 2,14), daß die Heiden, „diekeinen Glauben haben, aus natürlichem Antrieb das tun, was das Gesetzvorschreibt.“ Wenn sie es aber tun, wer kann dann daran zweifeln, daß sieetwas Gutes tun und daß Gott dem Rechnung trägt?

Die Heiden erkannten, daß die Ehe gut und notwendig ist. Sie sahen ein,daß es ratsam ist, die Kinder in den Künsten auszubilden, sie zur Vater-landsliebe und zum bürgerlichen Leben zu erziehen, und sie taten es. Ichüberlasse es dir, darüber zu urteilen, ob das in den Augen Gottes nicht gutwar, da er doch dem Menschen das Licht der Vernunft und den natürlichenTrieb dafür verliehen hat.

Die natürliche Vernunft ist ein guter Baum, den Gott in uns gepflanzthat; seine Früchte können daher nur gut sein. Verglichen mit den Früch-ten, welche die Gnade hervorbringt, sind sie allerdings wenig wertvoll,aber doch nicht ganz ohne Wert, denn Gott hat sie gelobt und zeitlicheBelohnungen dafür gegeben. So lohnte er, wie der große hl. Augustinus(St. G. 5,15) sagt, die sittlichen Tugenden der Römer mit der weiten Aus-dehnung und dem glanzvollen Ruhm ihres Reiches.

4. Durch die Sünde erkrankt der Geist und kann daher keine großen,starken Werke vollbringen; kleine aber kann er tun, denn nicht alle Hand-

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lungen eines Kranken sind selbst auch krankhaft. Der Kranke kann nochsprechen, sehen, hören, trinken.

Die Seele, die in der Sünde ist, kann Gutes tun, das, weil es etwas natür-lich Gutes ist, mit natürlichem Sold belohnt wird, weil es in bürgerlichemSinne gut ist, mit bürgerlicher, menschlicher Münze, d. h. mit zeitlichenAnnehmlichkeiten bezahlt wird.

Der Sünder befindet sich nicht im gleichen Zustand wie die Teufel, de-ren Wille derart vom Bösen durchtränkt und diesem so einverleibt ist, daßer gar nichts Gutes mehr wollen kann. Nein, Theotimus, so steht es mitdem Sünder hier auf Erden nicht: hier ist er auf dem Weg zwischen Jeru-salem und Jericho (Lk 10,30), tödlich verwundet, aber noch nicht tot,denn, sagt das Evangelium, „sie ließen ihn halbtot liegen“. Er ist also nochhalblebendig und kann daher halblebendige Werke verrichten. Vermag erauch nicht zu gehen, noch aufzustehen, noch um Hilfe zu rufen, ja kaumseines schwachen Herzens wegen zu sprechen, so kann er doch die Augenöffnen, seine Finger bewegen, stöhnen und irgendein Wort der Klage vonsich geben. Das sind allerdings kraftlose Handlungen, die nicht verhinderthätten, daß er jammervoll verblutet wäre, hätte nicht der barmherzige Sa-mariter ihm Öl und Wein in die Wunden geträufelt, ihn in die Herbergegebracht und auf seine eigenen Kosten pflegen und versorgen lassen (Lk10,33f).

5. Die natürliche Vernunft ist durch die Sünde stark verwundet undgleichsam halbtot. Sie vermag daher in diesem kläglichen Zustand nichtalle Gebote zu beobachten, wenn sie auch sieht, daß dies ratsam wäre. Siekennt ihre Pflicht, kann sie aber nicht erfüllen; ihre Augen haben mehrKlarheit, ihr den Weg zu weisen, als die Beine Kraft besitzen, ihn zu gehen.

Freilich vermag der Sünder ab und zu einige Gebote zu beobachten, jaer kann sie sogar eine Zeit lang alle beobachten, solange nicht eine wichti-ge Angelegenheit hohe Forderungen an die Übung der befohlenen Tugen-den stellt oder eine schwere Versuchung dazu drängt, Handlungen zu be-gehen, die verboten, also Sünden sind.

Daß aber der Sünder lange in seiner Sünde leben könne, ohne neueSünden hinzuzufügen, ist nur durch einen ganz besonderen Schutz Gottesmöglich. Denn die Feinde des Menschen sind voll Eifer, ständig tätig undin Bewegung, ihn ins Elend zu stürzen. Sehen sie, daß sich keine Gelegen-heit ergibt, die befohlenen Tugenden zu üben, so schaffen sie unzähligeVersuchungen, um uns in verbotene Dinge stürzen zu lassen. Ohne die

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Gnade aber vermag die Natur nicht, sich vor dem Abgrund zu bewahren,denn wenn wir siegen, so ist es „Gott, der uns den Sieg durch Jesus Chris-tus verleiht“, wie der hl. Paulus sagt (1 Kor 15,57).

„Wachet und betet, damit ihr nicht in Versuchung fallet.“ Würde derHerr nur sagen: „Wachet“, so würden wir meinen, allein auskommen zukönnen. Da er aber hinzufügt: „Betet“, zeigt er uns, daß das Wachen derje-nigen, die unsere Seele behüten, umsonst ist, wenn er sie in der Zeit derVersuchung nicht behütet (Ps 127,2).

2. KapitelDie heilige Liebe macht die TDie heilige Liebe macht die TDie heilige Liebe macht die TDie heilige Liebe macht die TDie heilige Liebe macht die Tugenden weit wohlgefälligerugenden weit wohlgefälligerugenden weit wohlgefälligerugenden weit wohlgefälligerugenden weit wohlgefälliger,,,,,

als sie es ihrer Natur nach sind.als sie es ihrer Natur nach sind.als sie es ihrer Natur nach sind.als sie es ihrer Natur nach sind.als sie es ihrer Natur nach sind.

1. Die in ländlichen Dingen Bewanderten bewundern die frische Unbe-rührtheit und Reinheit der Erdbeeren; denn obwohl sie auf der Erde lie-gen und beständig von Schlangen, Eidechsen und anderen giftigen Tierenniedergedrückt werden, nehmen sie nicht die geringste Wirkung des Gif-tes, noch irgendeine schädliche Eigenschaft an; ein Zeichen, daß sie garkeine Anfälligkeit dafür haben.

Von dieser Art sind auch die menschlichen Tugenden, Theotimus. Hal-ten sie sich auch in einem niederen, irdisch gesinnten und von der Sündesehr eingenommenen Herzen auf, so werden sie doch in keiner Weise vondessen Bosheit angesteckt. Sie sind von so echter und lauterer Natur, daßdiese durch das Beisammensein mit dem Laster nicht verdorben werdenkann. Hat doch Aristoteles selbst gesagt, die Tugend sei eine Fertigkeit,mit der niemand Mißbrauch treiben könne (s. X,15).

2. Es darf uns nicht wundernehmen, daß die Tugenden, die in sich selbstgut sind, nicht mit ewigem Lohn belohnt werden, wenn sie von ungläubigenoder in der Sünde lebenden Menschen geübt werden. Das Herz des Sün-ders, aus dem sie hervorgehen, ist des ewigen Gutes nicht fähig, da es sichvon Gott abgewendet hat. Die himmlische Erbschaft steht dem Sohn Got-tes zu, und keiner, der nicht in ihm und sein Adoptivbruder ist, kannderselben teilhaft werden. Außerdem hat Gott sein Paradies nur denenverheißen, die in der Gnade sind. Die Tugenden der Sünder aber habennur den Wert, der ihnen von Natur aus zukommt, und können daher denMenschen nicht zum Verdienst übernatürlicher Belohnung erheben. Die-

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se werden ja deswegen übernatürlich genannt, weil die Natur, und was vonihr abhängt, sie weder geben noch verdienen kann.

3. Die Tugenden der Freunde Gottes hingegen werden auch dann, wennsie ihrer eigenen Beschaffenheit nach nur sittlich und natürlich sind, wegender Erhabenheit des Herzens, aus dem sie hervorgehen, geadelt und zurWürde heiliger Werke erhoben. Es gehört zu den Eigenheiten der Freund-schaft, daß sie den Freund und alles, was an ihm Gutes und Ehrbares ist,angenehm macht. Die Freundschaft breitet ihre Anmut und Liebe überalle Handlungen dessen aus, der geliebt wird, wenn sie dazu nur irgendwiefähig sind. Rücksichtslosigkeiten der Freunde werden als Liebenswürdig-keiten empfunden, Liebenswürdigkeiten der Feinde dagegen als Rück-sichtslosigkeiten.

Alle tugendhaften Werke eines in der Freundschaft mit Gott lebendenHerzens sind Gott geweiht; denn wenn ein Herz sich selbst hingegebenhat, hat es damit nicht auch alles hingegeben, was von ihm abhängt? Werden Baum ohne Vorbehalt gibt, gibt er nicht auch die Blätter, die Blütenund die Früchte? „Der Gerechte aber sproßt wie die Palme, gleich derZeder vom Libanon wächst er empor. Eingepflanzt im Haus des Herrnwerden sie aufsprießen in unseres Gottes Höfen“ (Ps 92,13 f). Da derGerechte eingepflanzt ist im Haus des Herrn, wachsen seine Blätter, seineBlüten und Früchte dort und sind dem Dienst seiner Majestät geweiht. Erist „wie ein Baum an Wasserbächen gepflanzt, der zur rechten Zeit seineFrucht bringt; selbst sein Laub welkt nicht, und was auch immer er tut, esgedeiht“ (Ps 1,3 f). Nicht nur Früchte der Liebe und die Blüten der Werke,die sie anordnet, sondern selbst das Laub der sittlichen und natürlichenTugenden erhalten eine ganz eigene Güte von der Liebe des Herzens, diesie hervorbringt.

Veredelst du einen Rosenstock und legst du in die Spalte des Stiels einKörnchen Moschus, so werden alle Rosen, die er hervorbringt, nach Mo-schus duften. Spalte also dein Herz durch die heilige Buße und lege indiese Spalte die Liebe zu Gott. Welche Tugend auch immer du auf dieseaufpfropfen magst, es werden die Werke, die daraus hervorgehen, von Hei-ligkeit duften, ohne daß man dafür etwas anderes tun braucht.

Die Spartaner hielten einen schönen Sinnspruch, den sie aus dem Mundeines schlechten Menschen vernommen hatten, nicht für annehmbar, so-lange er nicht von einem tugendhaften Menschen wiederholt worden war.Um ihn also der Annahme würdig zu machen, taten sie nichts anderes, als

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ihn von einem tugendhaften Mann aussprechen zu lassen (Plutarch; sieheVIII,1). Willst du die menschliche und sittliche Tugend eines Epiktet,eines Sokrates oder Demades heiligen, so laß sie nur von einer wahrhaftchristlichen Seele, d. h. von einer Seele üben, welche die Gottesliebe hat.Gott sah auch zuerst auf den guten Abel und dann auf seine Gaben (Gen4,4). Demnach erhielten die Opfergaben in den Augen Gottes ihre Schön-heit und Würde von der Güte und Frömmigkeit dessen, der sie darbrach-te.

4. O höchste Güte Gottes, die so voll Huld ist für jene, die sie lieben, daßsie ihre geringsten Handlungen, wenn sie nur gut sind, liebt und in herrli-cher Weise adelt, ihnen Titel und Eigenschaften heiliger Handlungen ver-leiht, Gott tut dies im Hinblick auf seinen vielgeliebten Sohn, dessen Ad-optivkinder Gott ehren will, indem er alles heiligt, was an ihnen gut ist:ihre Gebeine, Haare, Gewänder, Grabstätten, ja selbst den Schatten ihrerLeiber; ihren Glauben, ihre Hoffnung, Liebe und Gottesverehrung, ja selbstihre Mäßigkeit, Höflichkeit und ihre herzliche Freundlichkeit.

„Darum, meine geliebten Brüder,“ sagt der Apostel, „seid fest, seid un-erschütterlich, seid allzeit voll Eifer im Werk des Herrn, überzeugt, daßeure Mühe im Herrn nicht vergeblich ist“ (1 Kor 15,58).

5. Beachte, Theotimus, daß jedes tugendhafte Werk als ein Werk des Herrnangesehen werden muß, selbst dann, wenn ein Ungläubiger es vollbrachthätte. Gott selbst sagt ja zu Ezechiel (29,18-20), daß Nebukadnezzar undsein Heer für ihn gearbeitet haben dadurch, daß sie einen gerechten Krieggegen die Tyrier geführt. Damit zeigt Gott, daß die Gerechtigkeit der Un-gerechten sein ist, daß sie auf ihn hinstrebt und ihm angehört, obwohl dieUngerechten, die das Gerechte tun, nicht sein sind, nicht auf ihn hinstre-ben und ihm nicht angehören.

Der große Seher und Fürst Ijob gehörte immer Gott an, obwohl er heid-nischer Abkunft war und im Lande Uz wohnte. So gehören auch die sittli-chen Tugenden selbst dann Gott an, wenn sie aus dem Herzen eines Sün-ders kommen.

Finden sich dieselben Tugenden aber in einem wahrhaft christlichen, dasheißt in einem mit heiliger Liebe ausgestatteten Herzen, dann gehören sienicht nur Gott an, sondern sie sind auch nicht fruchtlos in unserem Her-zen, vielmehr werden sie reich an Frucht und wertvoll vor den Augenseiner Güte. „Gib einem Menschen die Liebe,“ sagt darum der hl. Augu-

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stinus, „und alles wird nützen; nimm ihm die Liebe, so ist alles übrige zunichts nütze“ (138. Pred. De Script. § 2). Und der Apostel sagt: „Denen,die Gott lieben, wirkt alles zum Guten mit“ (Röm 8,28).

3. KapitelDie GegenwarDie GegenwarDie GegenwarDie GegenwarDie Gegenwart der göttlichen Liebe verleiht einigen Tt der göttlichen Liebe verleiht einigen Tt der göttlichen Liebe verleiht einigen Tt der göttlichen Liebe verleiht einigen Tt der göttlichen Liebe verleiht einigen Tugendenugendenugendenugendenugenden

einen höheren Weinen höheren Weinen höheren Weinen höheren Weinen höheren Wererere re rt.t.t.t.t.

1. Es gibt Tugenden, die auf Grund ihrer natürlichen Beziehung zur heili-gen Liebe viel fähiger sind, ihren kostbaren Einfluß aufzunehmen und folg-lich auch an deren Würde und Wert teilzuhaben. So der Glaube und dieHoffnung, die gemeinsam mit der Liebe sich unmittelbar auf Gott bezie-hen, dann die Tugenden der Religion, der Buße und der Frömmigkeit, diesich für die Ehre seiner göttlichen Majestät verwenden. Diese Tugendensind ihrer eigenen Beschaffenheit nach so stark auf Gott bezogen und soempfänglich für die Eindrücke der himmlischen Liebe, daß sie nur beiihm, d. h. in einem gottliebenden Herzen sein müssen, um an ihrer Heilig-keit teilzunehmen. Will man den Trauben Olivengeschmack geben, sobraucht man nur den Weinstock zwischen die Ölbäume zu pflanzen. Ohnedaß sie sich gegenseitig berühren, durch die bloße Nachbarschaft, werdendiese Pflanzen ihre Säfte und Eigenarten untereinander austauschen, sostark sind ihre Beziehungen und ihre Neigungen zueinander.

2. Alle Blumen, mit Ausnahme des Trauerbaumes und einiger andererwidernatürlicher Pflanzen, freuen sich, entfalten sich und verschönern sichbeim Anblick der Sonne durch die Lebenswärme, die sie von ihren Strah-len empfangen. Aber alle gelben Blumen, besonders jene, welche die Grie-chen Heliotropium und wir Sonnenblume nennen, haben nicht nur Freu-de und Wohlgefallen am Dasein der Sonne, sondern folgen den Lockungenihrer Strahlen, indem sie durch eine freundliche Kreisbewegung immer-fort von ihrem Aufgang bis zu ihrem Untergang auf sie schauen und sichihr zuwenden.

So empfangen alle Tugenden einen neuen Glanz und eine höhere Würdedurch die Gegenwart der heiligen Liebe. Aber die Tugenden des Glau-bens, der Hoffnung, Gottesfurcht, Frömmigkeit, Buße und alle anderenTugenden, die an sich in besonderer Weise auf Gott und seine Ehre hinzie-len, empfangen nicht nur den Einfluß der Gottesliebe, durch den sie zu

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einem hohen Wert erhoben werden, sondern sie neigen sich ganz und garder Liebe zu, gesellen sich ihr bei, folgen ihr und dienen ihr bei allen Gele-genheiten. Schließlich schreibt ja, mein lieber Theotimus, die HeiligeSchrift dem Glauben, der Hoffnung, der Frömmigkeit, der Gottesfurcht,der Buße eine besondere Eignung und Kraft zu, zu erlösen, zu heiligenund zu verherrlichen. Damit bezeugt sie, daß dies Tugenden von hohemWert sind und daß sie, von einem gottliebenden Herzen geübt, weit frucht-barer und heiliger werden als die anderen Tugenden, die nicht so starkeinnere Beziehungen zur heiligen Liebe haben.

Jener, der ausruft: „Und hätte ich einen Glauben, der Berge versetzt,hätte aber die Liebe nicht, so wäre ich nichts“ (1 Kor 13,2), weist dochsicherlich darauf hin, daß dieser Glaube in Verbindung mit der Liebe ihmgroßen Nutzen bringen würde.

3. Die Liebe ist also eine Tugend, die ihresgleichen nicht hat. Sie ver-schönt nicht nur das Herz, in dem sie sich befindet, sondern sie segnet undheiligt durch ihre bloße Gegenwart auch alle Tugenden, die sie im Herzenantrifft. Sie durchduftet sie mit ihrem himmlischen Wohlgeruch, wodurchsie vor Gott einen hohen Wert erlangen. Das tut sie aber in einem weithöheren Maße am Glauben, an der Hoffnung und an den anderen Tugen-den, die aus sich heraus ein auf die Frömmigkeit hinzielendes Wesen ha-ben.

4. Deshalb, Theotimus, müssen wir unter allen Tugenden vor allem dieder Religion, der Ehrfurcht vor den göttlichen Dingen, des Glaubens, derHoffnung und der hochheiligen Gottesfurcht mit besonderer Sorgsamkeitpflegen, indem wir oft von göttlichen Dingen reden, oft an die Ewigkeitdenken und uns nach ihr sehnen, indem wir eifrig sind im Besuch derKirchen und der gottesdienstlichen Handlungen, geistliche Lektüre pfle-gen und die Zeremonien der christlichen Religion beobachten. Von sol-chen Übungen nährt sich die heilige Liebe und breitet über sie ihre Schön-heit und ihre duftigen Gaben reichlicher aus, als über die Werke der einfa-chen menschlichen Tugenden, so wie der Regenbogen alle Pflanzen, die erberührt, wohlriechender macht, in unvergleichlicher Weise aber jene, dieAspalatus heißt (Plin. H. n. 12,24).

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4. KapitelDie heilige Liebe heiligt die TDie heilige Liebe heiligt die TDie heilige Liebe heiligt die TDie heilige Liebe heiligt die TDie heilige Liebe heiligt die Tugenden noch erheblicherugenden noch erheblicherugenden noch erheblicherugenden noch erheblicherugenden noch erheblicher,,,,,wenn sie auf ihr Geheiß und ihren Befehl geübt werden.wenn sie auf ihr Geheiß und ihren Befehl geübt werden.wenn sie auf ihr Geheiß und ihren Befehl geübt werden.wenn sie auf ihr Geheiß und ihren Befehl geübt werden.wenn sie auf ihr Geheiß und ihren Befehl geübt werden.

1. Nachdem die schöne Rahel sehnsüchtig danach verlangt hatte, ihremgeliebten Jakob Nachkommenschaft zu erwecken, wurde sie auf zweierleiArt fruchtbar und hatte folglich auch Kinder von zweierlei Art. Denn dasie in den ersten Jahren ihrer Ehe selbst keine Kinder haben konnte, be-diente sie sich gleichsam leihweise des Leibes ihrer Magd Bilha, indem siezu ihrem Mann sprach: „Ich habe Bilha, meine Magd, nimm sie zur Ehe,wohne ihr bei, damit sie auf meinen Knien gebäre und ich durch sie zuKindern komme“ (Gen 30,3). Und es geschah nach ihrem Wunsch, dennBilha empfing und gebar mehrere Kinder auf den Knien Rahels. Rahelnahm sie als die ihren an, als Leibesfrucht zweier Personen, von denen dieeine, Jakob, ihr nach dem Ehegesetz angehörte und die andere, Bilha,durch ihre Dienstpflicht und weil deren Zeugung auf ihre Anordnung hinund nach ihrem Willen erfolgt war. Späterhin aber bekam sie zwei Kinder,die nicht auf ihr Gebot und ihren Befehl zur Welt gebracht wurden, son-dern die sie selbst empfangen und die aus ihrem eigenen Schoß hervorge-gangen waren, nämlich Josef und ihren geliebten Benjamin.

2. Nun sage ich dir, mein lieber Theotimus, daß die heilige Liebe, hun-dertmal schöner als Rahel, und dem menschlichen Geist vermählt, fort-während danach verlangt, heilige Werke hervorzubringen. Kann sie an-fangs solche nicht aus sich selbst, kraft der nur ihr eigenen heiligen Verei-nigung hervorbringen, so ruft sie die anderen Tugenden als ihre treuen Mäg-de zu Hilfe, gesellt sie ihrem Ehebund bei und befiehlt dem Herzen, sichihrer zu bedienen, um aus ihnen heilige Werke hervorzubringen. Sie adop-tiert diese aber und sieht sie als ihre Kinder an, weil sie durch ihre Anord-nung und auf ihren Befehl hin und von einem Herzen hervorgebrachtwurden, das ihr gehört. Denn wie wir schon anderswo ausgeführt haben, istdie Liebe die Herrin des Herzens und folglich auch aller mit ihrer Zustim-mung vollbrachten Werke der anderen Tugenden (I,8.6; VIII,1; X,1).

3. Überdies sind der göttlichen Liebe aber zwei Akte eigen, die direkt ausihr hervorgehen. Einer davon ist die effektive Liebe, die Tatliebe, die wieein zweiter Josef sich der Fülle der königlichen Autorität bedient, um das

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ganze Volk unserer Fähigkeiten, Kräfte, Leidenschaften und Affekte demWillen Gottes zu unterwerfen und einzuordnen, auf daß er über alles ge-liebt, daß ihm gehorcht und gedient und so das größte Gebot Gottes erfülltwerde: „Den Herrn, deinen Gott sollst du lieben mit deinem ganzen Her-zen, mit deiner ganzen Seele, mit deinem ganzen Gemüte und mit alldeinen Kräften“ (Mk 12,30). Der andere ist die affektive oder Herzenslie-be, die wie ein zweiter Benjamin ganz fein, zart, freundlich und lieb ist,sich darin aber glücklicherweise von Benjamin unterscheidet, daß seineMutter, die heilige Liebe, bei seiner Geburt nicht stirbt, sondern, wie esden Anschein hat, durch die Freude, die sie dabei empfindet, neues Lebengewinnt.

4. Auf gleiche Weise, Theotimus, gehören die tugendhaften Handlungender Kinder Gottes alle der heiligen Liebe an. Die einen bringt sie aus ihrerNatur heraus selbst hervor, die anderen werden durch ihre lebenspenden-de Gegenwart geheiligt, wieder andere bringt sie zur Welt kraft der Auto-rität und Befehlsgewalt, die sie auf die anderen Tugenden ausübt. Sinddiese letzten in Wahrheit auch nicht so erhaben an Würde wie die Hand-lungen, die unmittelbar aus der Liebe hervorgehen, so übertreffen sie dochin unvergleichlicher Weise die Handlungen, deren Heiligkeit von der blo-ßen Anwesenheit und dem Beisammensein mit der heiligen Liebe her-rührt.

Hat ein Feldherr eine große Schlacht gewonnen, so wird ihm zweifellosund nicht grundlos die Ehre des Sieges zuteil; denn sicherlich hat er ineigener Person an der Spitze der Armee gekämpft, dabei manch glänzendeWaffentat vollbracht und überdies hat er die Aufstellung der Armee undalles, was diese ausgeführt hat, angeordnet und befohlen. Somit wird er alsder angesehen, der alles selbst gemacht: sowohl durch sein eigenes Ein-greifen in den Kampf, als auch durch seine Führung, die alles angeordnethat. Selbst wenn Hilfstruppen überraschend kommen und sich der Armeeanschließen, so wird man trotzdem den Ruhm ihrer Taten dem Feldherrnzuschreiben. Haben diese auch nicht seinen Befehl erhalten, so haben sieihm doch gedient und sind auf seine Absichten eingegangen. Hat manjedoch dem Feldherrn den ganzen Ruhm des Sieges zugesprochen, so wirdman es hernach nicht unterlassen, die einzelnen Teile der Armee zu rüh-men, und genau angeben, was die Vorhut, die Haupttruppe und die Nach-hut geleistet haben, wie sich die Franzosen, die Italiener, die Deutschen,

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die Spanier geschlagen, ja man wird sogar Einzelne nennen, die sich imKampf besonders ausgezeichnet haben.

Ebenso, mein lieber Theotimus, wird unter allen Tugenden der Got-tesliebe der Ruhm unseres Heiles und unseres Sieges über die Hölle zuge-schrieben; denn sie ist es, die als Fürstin und Befehlshaberin des ganzenTugendheeres alle Heldentaten vollbringt, durch welche uns der Sieg zuteilwird. Denn die heilige Liebe hat die ihr eigenen Aktionen, die aus ihrselbst hervorgehen, durch die sie Wunder an Waffentaten gegen unsereFeinde vollbringt. Außerdem verfügt sie über die Handlungen der ande-ren Tugenden, befiehlt sie und ordnet sie an. Deshalb werden sie als Aktebezeichnet, die von der Liebe befohlen und angeordnet sind. Und wennschließlich einige Tugenden ohne deren Befehl ihre Werke vollbringen,aber doch ihrer Absicht, nämlich der Verherrlichung Gottes dienen, soerkennt sie diese trotzdem als ihre Werke an.

5. Nachdem wir aber im allgemeinen mit dem Apostel gesagt haben:„Die Liebe erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles“ (1Kor 13,7), kurzum, sie macht alles, unterlassen wir es doch nicht, dieeinzelnen Tugenden zu loben und das Heil der Seligen im besonderen denTugenden zuzuschreiben, in welchen sie sich ausgezeichnet haben. Wir sa-gen zum Beispiel, daß der Glaube die einen gerettet, andere das Almosen-geben, wieder andere die Mäßigkeit, das innerliche Gebet, die Demut, dieHoffnung, die Keuschheit, weil in diesen Heiligen Akte dieser Tugendenmit besonderem Glanz hervorgeleuchtet haben. Hat man aber diese Tu-genden im einzelnen gerühmt, so muß man doch wieder die ganze Ehre derheiligen Liebe zuschreiben, die allen Tugenden die Heiligkeit mitteilt, diesie besitzen. Denn was anderes will der Apostel sagen, wenn er beteuert:„Die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig, sie glaubt alles, sie hofft alles,sie duldet alles“ (13,4), als daß die Liebe der Geduld befiehlt, langmütigzu sein, der Hoffnung zu hoffen, dem Glauben zu glauben?

Freilich, Theotimus, deutet er damit auch an, daß die Liebe die Seeleund das Leben aller Tugenden ist. Es ist, als wollte er sagen, die Geduld seinicht geduldig genug, der Glaube nicht treu genug, die Hoffnung zu wenigvertrauensvoll, die Güte zu wenig gütig, wenn die Liebe sie nicht beseeltund belebt. Das gleiche will uns derselbe Apostel, dieses „Gefäß der Aus-erwählung“ mit den Worten sagen, wenn er die Liebe nicht habe, nützeihm nichts und sei er nichts (1 Kor 13,2 f). Es ist, als wollte er sagen, daß

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er ohne die Liebe weder geduldig, noch gütig, noch beharrlich, noch treu,noch hoffnungsvoll sei, so wie es sich für einen Diener Gottes gehöre.Darin aber besteht das wahre und wünschenswerte Sein des Menschen.

5. KapitelDie heilige Liebe verleiht ihre Würde den anderen TDie heilige Liebe verleiht ihre Würde den anderen TDie heilige Liebe verleiht ihre Würde den anderen TDie heilige Liebe verleiht ihre Würde den anderen TDie heilige Liebe verleiht ihre Würde den anderen Tugendenugendenugendenugendenugenden

und erhöht zugleich deren eigene Würde.und erhöht zugleich deren eigene Würde.und erhöht zugleich deren eigene Würde.und erhöht zugleich deren eigene Würde.und erhöht zugleich deren eigene Würde.

1. „Ich sah in Tivoli einen Baum,“ erzählt Plinius (H. n. 17,16), „der aufalle mögliche Art aufgepfropft war und alle Arten von Früchten trug; aufeinem Zweig befanden sich Kirschen, auf einem anderen Nüsse, auf ande-ren Trauben, Feigen, Granatäpfel, Äpfel, überhaupt alle Gattungen vonFrüchten.“ Das war wohl etwas Wunderbares, Theotimus, aber viel wun-derbarer ist es, in einem Christen die göttliche Liebe zu sehen, auf die alleTugenden gepfropft sind. Denn ebenso, wie man von diesem Baum sagenkönnte, er sei ein Kirschbaum, ein Apfelbaum, ein Nußbaum, ein Granat-apfelbaum, so kann man auch von der Liebe sagen, sie sei geduldig, sanft,tapfer, gerecht oder vielmehr, sie sei die Geduld, die Sanftmut und dieGerechtigkeit selbst.

Aber der Baum von Tivoli hatte keine lange Lebensdauer, wie der glei-che Plinius bezeugt, denn die große Mannigfaltigkeit an Früchten erschöpf-te rasch seine Wurzelsäfte, sodaß er verdorrte und starb. Die Liebe hinge-gen gewinnt an Kraft und Stärke, wenn sie durch die Übung aller Tugen-den viele Früchte hervorbringt. Ja, sie ist, wie die heiligen Väter sagen,unersättlich in ihrer Neigung, Früchte hervorzubringen, und sie hört nichtauf, das Herz zu drängen, in dem sie sich befindet, so wie Rahel ihrenMann drängte und zu ihm sprach: „Gib mir Kinder, sonst sterbe ich“(Gen 30,1).

Die Früchte der veredelten Bäume entsprechen dem Pfropfreis, mit demsie veredelt worden sind. Ist das Pfropfreis von einem Apfelbaum, so wirdes Äpfel ansetzen, ist es von einem Kirschbaum, so wird es Kirschen tra-gen; immer aber werden die Früchte etwas vom Aroma des Baumstammeshaben, an dem sie sich befinden. Ebenso haben unsere Handlungen zwarNamen und Gattung von der besonderen Tugend, aus der sie hervorgegan-gen sind, aber das Aroma der Heiligkeit gewinnen sie aus der heiligen Liebe;denn die Liebe ist Quelle und Wurzel aller Heiligkeit im Menschen. Der

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Stamm teilt sein Aroma allen Früchten mit, welche die aufgepfropftenReise hervorbringen; diese bewahren aber dabei die natürliche Art desReises, aus dem sie hervorkommen. So teilt auch die Liebe ihren hohenWert und ihre Würde den anderen Tugenden mit, sie läßt aber trotzdemjeder Tugend ihren besonderen Wert und ihre besondere Güte, die sieihrer natürlichen Beschaffenheit nach haben.

2. In der Dunkelheit der Nacht verlieren alle Blumen Glanz und Anmut.Wenn dann die Sonne am Morgen sie wieder sichtbar macht und lieblicherscheinen läßt, so gibt sie doch nicht allen die gleiche Schönheit undAnmut. Gießt sie auch ihre Helligkeit über alle gleichmäßig aus, so wer-den sie doch nicht alle gleich hell und leuchtend, sondern in dem Maße,als sie für die Wirkungen des Sonnenglanzes empfänglich sind. So gleich-mäßig das Sonnenlicht auch ein Veilchen und eine Rose bescheinen mag,wird es doch nie die Schönheit des einen der Schönheit der anderen gleich-machen, noch auch die Anmut eines Maßliebchens der einer Lilie. Würdeaber ein Veilchen durch das Sonnenlicht hell erleuchtet, eine Rose aberdurch dichte Nebel verhüllt, dann würde das Sonnenlicht sicher das Veil-chen den Augen angenehmer erscheinen lassen als die Rose.

Ebenso ist es auch mit der Liebe, mein Theotimus. Würde einer mit dergleichen Liebe den Martertod dulden, wie ein anderer durch sein FastenHunger leidet, so wird doch jeder erkennen, daß der Wert des Fastensnicht dem des Martyriums gleich sein kann. Nein, Theotimus! Wer würdezu behaupten wagen, daß das Martyrium an und für sich nicht etwas Erha-beneres ist als das Fasten? Ist es aber etwas Erhabeneres, so nimmt ihm diedazukommende Liebe nicht seine Größe, sondern vervollkommnet dieseund läßt ihm daher die Überlegenheit, die es natürlicherweise dem Fastengegenüber hat. Kein vernünftiger Mensch wird die eheliche Keuschheitder Jungfräulichkeit gleichstellen, noch den rechten Gebrauch der Reich-tümer einer gänzlichen Entäußerung von ihnen. Wer würde zu behauptenwagen, daß die hinzukommende Liebe diesen Tugenden ihre Eigenart undihre Vorzüge nimmt? Die Liebe ist ja nicht eine Tugend, die zerstört undarm macht, sondern die alles gut macht, alles belebt und bereichert, wassie an Gutem in den Seelen findet, über die sie herrscht. Die himmlischeLiebe nimmt den Tugenden daher keineswegs ihre natürlichen Vorzüge undihre Würde, sondern es ist ihr im Gegenteil eigen, die Vollkommenheiten,die sie antrifft, noch zu vervollkommnen und in dem Maße, als sie höhereVollkommheiten vorfindet, diese noch in höherem Maße zu vervollkomm-

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nen. Der Zucker versüßt alle eingekochten Früchte, macht sie aber nichtalle gleichen Geschmackes und gleicher Süße, sondern beläßt sie in derUngleichheit ihres natürlichen Geschmackes; Pfirsiche und Nüsse wer-den nie so süß wie Aprikosen und Mirabellen.

3. Dennoch wird die Liebe, wenn sie glühend, machtvoll und erhaben ineinem Herzen herrscht, auch alle tugendhaften Handlungen, die aus ihrhervorgehen, in höherem Maße bereichern und vervollkommnen. Mankann, ohne die Liebe zu haben, für Gott den Tod und das Feuer erleiden,wie der hl. Paulus es voraussetzt und wie ich es anderswo erklärt habe. (1Kor 13,3; s. X,8). Um so eher kann man ihn mit geringer Liebe erdulden.Nun sage ich, Theotimus, es kann wohl vorkommen, daß eine ganz kleineTugend in einer von glühender Liebe beherrschten Seele mehr Wert hat alsselbst das Martyrium in einer Seele, in der die Liebe matt, schwach undschwunglos ist. So waren die kleinen Tugenden Unserer lieben Frau, deshl. Johannes und anderer großer Heiliger vor Gott wertvoller als die erha-bensten Tugenden manch kleiner Heiliger und so sind die kleinsten Lie-besakte der Serafim feuriger als die stärksten des niedersten Engelchores;ist ja doch auch der Gesang der noch ungeübten Nachtigallen viel harmo-nischer als der der geübtesten Stieglitze.

4. Pireicus malte in den letzten Jahren seines Lebens nur Bilder kleinenFormats und unbedeutender Gegenstände: so malte er Barbierstuben, Schu-sterwerkstätten, kleine mit Gemüse beladene Esel und ähnliche Kleinig-keiten. Das tat er, wie Plinius meint (H. n. 35,10), um seinen Ruhm etwasabzuschwächen. Schließlich sprach man von ihm als von einem Malerminderer Art. Und dennoch kam die Größe seiner Kunst gerade in diesenWerken geringen Inhalts so sehr zur Geltung, daß sie viel mehr gekauftwurden, als die großen Werke anderer Künstler. Ebenso, mein Theotimus,waren die kleinen Einfältigkeiten, Abtötungen und Verdemütigungen, indenen sich die großen Heiligen so sehr gefielen, um sich zu verbergen undihr Herz vor eitler Ehrsucht zu schützen, Gott wegen der großen Kunstfer-tigkeit und Glut himmlischer Liebe, die sie dabei beseelte, viel wohlgefälli-ger als große und berühmte Werke anderer, die mit wenig Liebe und Fröm-migkeit getan waren.

Die heilige Braut verwundet ihren Bräutigam mit einem einzigen derHaare ihres Hauptes (Hld 4,9), von denen er so viel Aufhebens macht, daßer sie mit den „Ziegenherden von Gilead“ vergleicht (Hld 6,5). Gleichnachdem er die Augen seiner treuen Geliebten, den edelsten Teil ihres

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Antlitzes gelobt hat, lobt er auch ihre Haare, das Vergänglichste, Wertlo-seste und Geringste an ihr. Und er tut das, damit man wisse, daß bei einerSeele, die von der göttlichen Liebe erfaßt ist, selbst die Übungen, die nurganz armselig zu sein scheinen, seiner göttlichen Majestät überaus wohl-gefällig sind.

6. KapitelWWWWWelch hohen Welch hohen Welch hohen Welch hohen Welch hohen Werererere rt die Liebe den aus ihr und aus den anderent die Liebe den aus ihr und aus den anderent die Liebe den aus ihr und aus den anderent die Liebe den aus ihr und aus den anderent die Liebe den aus ihr und aus den anderen

TTTTTugenden herugenden herugenden herugenden herugenden hervorgehenden Handlungen verleiht.vorgehenden Handlungen verleiht.vorgehenden Handlungen verleiht.vorgehenden Handlungen verleiht.vorgehenden Handlungen verleiht.

1. Was ist dieser Wert, wirst du mich nun fragen, welchen die heiligeLiebe unseren Handlungen verleiht? O mein Gott, Theotimus, ich würdenicht wagen, es zu sagen, hätte es nicht der Heilige Geist in ganz ausdrück-lichen Worten durch den großen hl. Paulus erklärt, der sagt: „Die augen-blickliche, leichte Bedrängnis bewirkt in uns ein überschwengliches, ewigesGewicht an Herrlichkeit“ (2 Kor 4,17).

Um Gottes willen, wollen wir doch diese Worte abwägen! Unsere Be-drängnisse, die so leicht sind, daß sie in einem Augenblick vorübergehen,bewirken in uns das dauerhafte und beständige Schwergewicht der Herr-lichkeit. Betrachte doch, ich bitte dich, diese Wunder: die Bedrängnisverschafft die Herrlichkeit, die Leichtigkeit der Last löst das Schwerge-wicht aus und die Augenblicke bewirken die Ewigkeit!

2. Aber wer kann denn diesen flüchtigen Augenblicken und diesen leich-ten Bedrängnissen solche Kraft geben? Scharlach, Purpur, ferner violetterKarmesin sind kostbare, königliche Stoffe, aber nicht der Wolle, sondernder Farbe wegen. Die Werke guter Christen haben so großen Wert, daß unsihretwegen der Himmel geschenkt wird. Das geschieht aber nicht deswe-gen, Theotimus, weil sie von uns herrühren und Wolle unseres Herzenssind, sondern weil sie gefärbt sind mit dem Blut des Sohnes Gottes.

Ich will damit sagen, daß der Heiland unsere Werke durch das Verdienstseines Blutes heiligt. Die mit dem Weinstock verbundene Rebe bringtnicht aus eigener Kraft Frucht, sondern durch die Kraft des Weinstockes.Wir aber sind durch die Liebe mit unserem Erlöser verbunden, wie dieGlieder mit dem Haupt (Eph 4,15 f). Darum verdienen unsere Früchte undguten Werke das ewige Leben, weil sie aus Ihm ihren Wert schöpfen.

3. Der Stab Aarons war dürr und außerstande, aus sich selbst Fruchtanzusetzen. Doch als der Name des Hohepriesters ihm eingeschrieben

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wurde, brachte er in einer Nacht Blätter, Blüten und Früchte hervor (Num17,8). Wir sind, auf uns selbst angewiesen, dürre, unnütze, unfruchtbareZweige, die nicht fähig sind, aus eigener Kraft auch nur einen Gedankenzu fassen; unsere Fähigkeit dazu stammt vielmehr von Gott. Er hat uns zugeeigneten Dienern des Neuen Bundes und für seinen Willen fähig ge-macht (2 Kor 3,5 f). Und weil jetzt durch die heilige Liebe der Name unse-res Erlösers, „des großen Bischofs unserer Seelen“ (1 Petr 2,25) in unsereHerzen eingegraben ist, beginnen wir köstliche Früchte für das ewige Lebenzu tragen.

Die Melonenkerne bringen aus sich selbst nur Melonen von ganz fademGeschmack hervor, aber sobald man sie in Zucker- oder Muskatwassertaucht, dann erzeugen sie sehr süße und schmackhafte Melonen. So ist esauch mit unseren Herzen. Sie, die aus sich selbst keinen einzigen gutenGedanken für den Dienst Gottes fassen können, bringen, wenn sie durch-tränkt sind von der Liebe des Heiligen Geistes, der in uns wohnt (Röm5,5; 8,11), heilige Taten hervor, die auf die ewige Herrlichkeit hinzielenund uns ihr zuführen.

Unsere Werke sind, insofern sie von uns ausgehen, nur armseliges Schilf-rohr; die Liebe aber verwandelt sie zu Gold und so werden sie zu jenengoldenen Meßrohren, mit denen das himmlische Jerusalem gemessen wird(Offb 21,15).

Denn sowohl den Engeln wie den Menschen wird die Herrlichkeit ver-liehen nach der Liebe und deren Taten, so daß das Maß des Engels gleichist jenem des Menschen (Offb 21,17). Und Gott hat jedem vergolten undwird jedem vergelten „nach seinen Werken“, wie uns die ganze HeiligeSchrift lehrt. Bezeichnet sie doch das Glück und die ewige Freude desHimmels als Lohn für die Mühen, die wir hier auf Erden ertragen und fürdie guten Werke, die wir hier vollbracht haben.

4. Es ist ein herrlicher Lohn, der der Größe des Herrn entspricht, dem wirdienen. Wäre es ihm so genehm gewesen, so hätte er unseren Gehorsamund unseren Dienst gerechterweise von uns fordern können, ohne uns ir-gendeinen Sold oder eine Belohnung zu verheißen, sind wir doch aus tau-send rechtmäßigen Gründen sein Eigentum und können ohne ihn nichtsWertvolles tun, sondern nur in ihm, durch ihn, für ihn und aus ihm.

Seine Güte aber hat es anders angeordnet; in Anbetracht seines Sohnes,unseres Erlösers, wollte er mit uns einen bestimmten Preis vereinbaren. Er

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nahm uns in seinen Sold und verpflichtete sich uns gegenüber, durch seinVersprechen, uns nach unseren Werken zu belohnen und zwar mit ewigemLohn. Unser Dienst ist ihm gewiß weder notwendig noch nützlich; dennnachdem wir alles getan haben, was er uns aufgetragen hat, müssen wirdoch in sehr demütiger Wahrheit und in wahrer Demut bekennen, daß wirin Wirklichkeit sehr unnütze Knechte sind (Lk 17,10), daß unser Herrnichts von uns hat. Er besitzt ja seinem Wesen nach einen solchen Über-fluß an Gutem, daß er von uns keinen Nutzen ziehen kann. Er wendetvielmehr alle unsere Werke uns zu, zu unserem eigenen Vorteil und Wohl.Er macht, daß wir ihm ohne Nutzen für ihn, aber mit großem Nutzen füruns dienen und damit durch ganz geringe Mühen so große Belohnungengewinnen.

5. Er war nicht verpflichtet, unseren Dienst uns zu vergelten, wenn er esnicht versprochen hätte. Glaube aber nicht, Theotimus, daß er bei diesemVersprechen so sehr seine Güte offenbar machen wollte, daß er daraufvergessen hätte, seine Weisheit zu verherrlichen. Er hat im Gegenteil sehrgenau die Regeln der Gerechtigkeit beobachtet und wunderbar die Schick-lichkeit mit seiner Freigebigkeit verbunden. Denn sind auch unsere Wer-ke ihrem Gewicht nach äußerst gering und keineswegs in Vergleich zuziehen mit seiner Herrlichkeit, so sind sie ihm ihrer Güte nach doch ange-messen durch den Heiligen Geist, der durch die Liebe in unseren Herzenwohnt (Röm 8,11) und der sie in uns, durch uns und für uns wirkt.

Er tut dies in so überaus kunstvoller Weise, daß die gleichen Werke ganzunsere Werke, aber noch mehr seine Werke sind; denn er bringt sie in unshervor, und wir wiederum bringen sie in ihm hervor; so wie er sie für unsverrichtet, verrichten wir sie für ihn, und wie er sie mit uns vollbringt,vollbringen wir sie mit ihm.

Der Heilige Geist wohnt aber in uns, wenn wir lebendige Glieder JesuChristi sind, der deshalb zu seinen Jüngern gesagt hat: „Wer in mir bleibtund in wem ich bleibe, der bringt viele Frucht“ (Joh 15,5). Und das ist so,Theotimus, weil derjenige, der in ihm bleibt, teilhat an seinem göttlichenGeist, der inmitten des menschlichen Herzens wie eine Quelle ist, dieemporspringt und ihre Wasser bis ins ewige Leben treibt (Joh 4,14).

So teilt sich das Öl der Segnung, das über den Erlöser als Haupt derstreitenden und triumphierenden Kirche ausgegossen ist, der Schar derSeligen mit, die wie der Bart des göttlichen Meisters immer an sein glor-

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reiches Antlitz geheftet sind, und es träufelt auch über die Menge derGläubigen, die wie Gewänder durch die Liebe seiner göttlichen Majestätverbunden und geeint sind. Diese und jene könnten daher wie rechte Ge-schwister ausrufen: „Sieh, wie das schön, wie das lieblich ist, wenn Brüderfriedlich beisammen wohnen! Es ist wie köstliches Öl auf dem Haupt, dasherab in den Bart rinnt, den Aaronsbart, das zum Saum des Gewandesherabtrieft“ (Ps 133,1 f).

So sind also unsere Werke wie ein kleines Senfkorn (Mt 13,31), garnicht vergleichbar dem Baum der Herrlichkeit, der aus ihnen entsprießt.Dennoch haben sie die Kraft und Fähigkeit, ihn hervorzubringen, weil sievom Heiligen Geist ausgehen, der durch das wunderbare Ausgießen sei-ner Gnade in unsere Herzen unsere Werke zu den seinen macht und siedabei doch unsere Werke sein läßt. Und dies, weil wir Glieder eines Haup-tes sind, dessen Geist er ist, und weil wir einem Baum eingepfropft sind,dessen göttlicher Lebenssaft er ist. Und weil er so in unseren Werkenwirksam ist und wir in gewisser Hinsicht in seiner Tätigkeit wirken odermitwirken, läßt er uns das ganze Verdienst und den Nutzen unserer Dien-ste und guten Werke.

6. Wir aber lassen ihm alle Ehren und alles Lob und anerkennen, daßAnfang, Fortschritt und Ende alles Guten, das wir tun, von seiner Barm-herzigkeit abhängt, durch die er zu uns gekommen und uns zuvorgekom-men ist, durch die er in uns gekommen und uns beigestanden ist, durch dieer mit uns gekommen ist und uns geführt und vollendet hat, was er begon-nen (Phil 1,6). Aber o Gott, Theotimus, wie barmherzig ist diese Güte mituns bei dieser Teilung! Wir geben ihm die Ehre unserer Lobpreisungenund er gibt uns die Glorie seines beseligenden Besitzes! Kurzum, durchdiese leichten vorübergehenden Bedrängnisse erlangen wir unvergängli-che Güter für die ganze Ewigkeit. – So sei es!

7. KapitelDie vollkDie vollkDie vollkDie vollkDie vollkommenen Tommenen Tommenen Tommenen Tommenen Tugenden sind nie voneinander getrennt.ugenden sind nie voneinander getrennt.ugenden sind nie voneinander getrennt.ugenden sind nie voneinander getrennt.ugenden sind nie voneinander getrennt.

1. Man sagt, beim Menschen sei das Herz das erste, das durch die Verei-nigung mit der Seele Leben empfängt, das Auge aber das letzte (Arist. Degener. Animal. 2,4). Umgekehrt aber, wenn man eines natürlichen Todesstirbt, beginnt das Auge zuerst zu erlöschen, das Herz aber zuletzt. Wenndas Herz zu leben beginnt, noch bevor die anderen Teile des Körpersbelebt sind, ist sein Leben allerdings nur schwach, zart und unvollkom-

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men. In dem Maße aber, als es sich über den Körper ausbreitet, wird es injedem Teil, besonders aber im Herzen kräftiger. Auch sieht man, daß dasLeben, wenn es in einem Glied Schaden leidet, in allen anderen Gliedernseine Kraft verliert. Wird ein Mensch an seinem Fuß oder an seinem Armverletzt, so fühlt er sich im ganzen unbehaglich, sein ganzer Körper istdavon betroffen, in Anspruch genommen und in Mitleidenschaft gezogen.Haben wir Magenschmerzen, so leiden Augen, Stimme und das ganzeGesicht darunter, so sehr sind die einzelnen Teile des menschlichen Kör-pers in der Teilnahme am natürlichen Leben aufeinander eingestellt.

2. Man kann nicht alle Tugenden auf einmal in einem Augenblick errin-gen, sondern nur eine nach der anderen, und zwar in dem Maße, als dieVernunft, die gleichsam die Seele unseres Herzens ist, sich einmal dereinen Leidenschaft und dann wieder einer anderen bemächtigt, um sie zumäßigen und zu beherrschen. Für gewöhnlich nimmt dieses Leben unsererSeele seinen Anfang im Herzen unserer Leidenschaften, nämlich in der Lie-be. Es breitet sich dann auf alle anderen Leidenschaften aus und belebtschließlich auch das Erkenntnisvermögen durch die Beschauung.

Dagegen geht der moralische oder geistliche Tod zuerst durch die Unbe-sonnenheit in die Seele ein. (Durch die Fenster stieg uns der Tod, sagt dieHeilige Schrift; Jer 9,20). Und seine letzte Wirkung besteht darin, daß erdie rechte Liebe zerstört; sobald diese aber zugrunde geht, ist das ganzesittliche Leben in uns erstorben.

3. Wenngleich man also auch einzelne von anderen abgesonderte Tugen-den besitzen kann, so können das doch nur sehr matte, unvollkommeneund schwache Tugenden sein. Die Vernunft, die das Leben unserer Seeleist, kann nie zufrieden sein und sich in einer Seele wohlfühlen, wenn sienicht alle Fähigkeiten und Leidenschaften derselben besetzt und besitzt.Wird sie durch eine unserer Leidenschaften oder Zuneigungen beleidigtoder verletzt, so verlieren alle anderen ihre Kraft und Stärke und erschlaf-fen in auffälliger Weise.

Alle Tugenden, Theotimus, sind nur Tugenden durch ihre Überein-stimmung und Gleichförmigkeit mit der Vernunft. Eine Handlung kannnicht tugendhaft genannt werden, wenn sie nicht aus der Liebe hervorgeht,die das Herz der Ehrbarkeit und Schönheit der Vernunft entgegenbringt.Wenn die Liebe zur Vernunft einen Geist beherrscht und beseelt, wird er

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bei allen Gelegenheiten alles tun, was die Vernunft will, und folglich wirder alle Tugenden üben.

Wenn Jakob Rahel deshalb geliebt hätte, weil sie die Tochter Labanswar, warum mißachtete er dann Lea, die doch nicht nur Tochter, sonderndie älteste Tochter Labans war? – Weil er aber Rahel ihrer Schönheitwegen liebte, brachte er es nicht über sich, die arme Lea ebenso zu lieben,obgleich sie fruchtbar und klug, wenn auch für sein Gefühl nicht so schönwar (Gen 29,16-30). Wenn jemand eine Tugend aus Liebe zur Vernunftund zur Ehrbarkeit liebt, die aus ihr hervorleuchtet, so wird er alle Tugen-den lieben, weil er das in allen findet, und er wird die eine oder anderemehr oder weniger lieben, je nachdem die Vernunft mehr oder wenigerhell leuchtend in ihr aufscheint.

Wer die Freigebigkeit liebt, aber die Keuschheit nicht liebt, zeigt, daß er dieFreigebigkeit nicht wegen der Schönheit der Vernunft liebt, denn die Keusch-heit besitzt noch mehr von dieser Schönheit, und wo die Ursache stärkerist, sollten auch die Wirkungen stärker sein. Es ist also ein augenscheinli-ches Zeichen, daß dieses Herz nicht aus Erwägungen und Beweggründender Vernunft zur Freigebigkeit hinneigt. Daraus folgt, daß die Freigebig-keit in diesem Fall wohl eine Tugend zu sein scheint, aber doch nur eineScheintugend ist, denn sie entspringt nicht der Vernunft, dem wahren Be-weggrund der Tugenden, sondern irgendeinem anderen ihr fremden Be-weggrund.

Um vor der Welt Namen, Wappen und Titel des Ehegatten seiner Mut-ter zu tragen, genügt es, daß ein Kind in der Ehe geboren ist. Aber um desBlutes und der Natur teilhaft zu sein, muß es nicht nur in der Ehe geboren,sondern auch aus dieser hervorgegangen sein. Handlungen tragen Namen,Wappen und Kennzeichen der Tugenden, weil sie aus einem vernunftbe-gabten Herzen stammend vernunftgemäß erscheinen. Doch fehlt ihnenWesen und Kraft der Tugenden, wenn sie aus einem fremden, ehebrecheri-schen Beweggrund und nicht aus der Vernunft hervorgehen.

4. Es kann darum möglich sein, daß ein Mensch einige Tugenden besitzt,während ihm andere fehlen; dann sind sie aber entweder erst keimende,ganz zarte Tugenden, gleichsam Blütenknospen, oder zugrundegehende,sterbende Tugenden, gleich verwelkenden Blumen. Denn wie uns die ge-samte Philosophie und Theologie lehrt, besitzen die Tugenden nur dannihre Unversehrtheit und Vollkraft, wenn sie alle beisammen sind.

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Ich bitte dich, mein Theotimus, wie kann ein unmäßiger, ungerechterund feiger Mensch klug sein, wenn er das Laster wählt und die Tugendfallen läßt?

Und wie kann man gerecht sein, ohne klug, stark und mäßig zu sein?Gerechtigkeit ist nichts anderes als ein andauernder, starker und beharr-licher Wille, jedem das zu geben, was ihm gebührt, und die Wissenschaft,durch die das Recht ausgeübt wird, heißt Jurisprudenz (Klugheit imRecht).

Um jedem das zu geben, was ihm gebührt, muß man ferner weise undmäßig leben und die Unordnung der Unmäßigkeit bei uns verhüten, umuns selbst zu geben, was uns gebührt.

Bezeichnet man mit dem Wort Tugend nicht eine Kraft und Stärke, diedie Seele als Eigenheit besitzt, so wie man von Kräutern und Edelsteinensagt, daß sie diese oder jene Tugend oder Kraft besitzen? Ist Klugheit abernicht unklug in einem unmäßigen Menschen?

Stärke ohne Klugheit, Gerechtigkeit und Mäßigkeit ist nicht Stärke, son-dern wildes Rasen. Gerechtigkeit wird bei einem feigen Menschen zurUngerechtigkeit, wenn er es nicht wagt, dafür einzustehen, desgleichen beieinem Unmäßigen, der sich von seinen Leidenschaften hinreißen läßt, beieinem Unklugen, der nicht zu unterscheiden vermag zwischen Recht undUnrecht.

Gerechtigkeit ist keine Gerechtigkeit, wenn sie nicht klug, stark undmaßvoll ist. Auch Klugheit ist keine Klugheit, wenn sie nicht mäßig, ge-recht und stark ist; Stärke ist keine Stärke, wenn sie nicht gerecht, klug undmaßvoll ist; Mäßigkeit ist keine Mäßigkeit, wenn sie nicht klug, stark undgerecht ist. Kurzum, eine Tugend ist keine vollkommene Tugend, wenn sienicht von allen anderen begleitet ist.

5. Es ist wohl wahr, Theotimus, daß man nicht alle Tugenden auf einmalüben kann, weil die Gelegenheiten dazu sich nicht auf einmal ergeben. Sogibt es Tugenden, welche zu üben manche Heilige gar keine Gelegenheithatten. Welche Möglichkeit hatte zum Beispiel der hl. Paulus, der ersteEinsiedler, Beleidigungen zu verzeihen, Freundlichkeit, Freigebigkeit,Milde zu üben? Trotzdem sind solche Seelen allem, was die Vernunft alsehrbar erklärt, so sehr zugeneigt, daß sie zwar nicht im Besitz aller Tugen-den ihren Wirkungen nach sind, aber doch nach ihrer Liebe zu ihnen. Siesind ja bereit und geneigt, der Vernunft bei allen Vorkommnissen ohneAusnahme und Vorbehalt zu folgen und zu dienen.

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6. Es gibt gewisse Neigungen, die man für Tugenden hält, die aber keineTugenden sind, sondern glückliche Anlagen und Vorzüge der Natur. Wieviele Menschen gibt es, die aus natürlicher Veranlagung mäßig, einfach,sanft, schweigsam, ja selbst keusch und rechtschaffen sind! Das alles scheintTugend zu sein, hat aber doch nicht deren Verdienst, ebenso wie schlechteNeigungen erst dann tadelnswert werden, wenn wir auf diese natürlicheGemütsart die freie Zustimmung unseres Willens pfropfen. Es ist keineTugend, aus natürlicher Veranlagung wenig zu essen, wohl aber, sich ausfreier Wahl von Speisen zu enthalten. Es ist keine Tugend, aus bloßerNeigung schweigsam zu sein, wohl aber, aus Vernunft zu schweigen. Vieleglauben Tugenden zu besitzen, wenn sie nicht in die entgegengesetzten La-ster fallen. Wer nie angegriffen wurde, kann sich wohl rühmen, vor demGegner nicht geflohen zu sein, aber nicht, tapfer gewesen zu sein. Wernicht Trübsal zu leiden hat, kann sich darüber freuen, daß er nicht unge-duldig ist, aber er kann nicht sagen, er sei geduldig. Auch glauben viele,Tugenden zu besitzen, die bloß gute Anlagen haben; und weil bei diesenAnlagen wohl die einen ohne die anderen sein können, meinen sie, daß dasbei den Tugenden auch so sei.

7. Gewiß, der große hl. Augustinus zeigt in einem Brief, den er an den hl.Hieronymus geschrieben hat, daß wir wohl irgendeine Art von Tugendhaben können, ohne die anderen Tugenden zu besitzen, daß wir aber keinevollkommenen Tugenden haben können, ohne sie alle zu besitzen. Bei denLastern ist es hingegen so, daß man die einen ohne die anderen habenkann, daß es aber unmöglich ist, sie alle zu besitzen. Wenn daher jemandalle Tugenden verloren hätte, so folgt daraus nicht, daß er jetzt alle Lasterhabe. Fast alle Tugenden haben ja zwei ihnen entgegengesetzte Laster; die-se stehen nicht nur zur Tugend im Gegensatz, sondern sie sind auch einan-der entgegengesetzt. Wer durch Verwegenheit der Tapferkeit verlustig ge-worden ist, kann nicht gleichzeitig das Laster der Feigheit haben. Und werdurch Verschwendung die Freigebigkeit eingebüßt hat, kann nicht gleich-zeitig der Knauserei beschuldigt werden. „Catilina,“ sagt der hl. Augusti-nus, „war mäßig, wachsam, geduldig im Ertragen der Kälte, der Hitze unddes Hungers. Es kam daher ihm und seinen Mitverschworenen vor, als seier sehr standhaft gewesen. Aber diese Stärke war nicht klug, wählte erdoch das Böse statt des Guten; sie war nicht mäßig, denn er suchte seineEntspannung in häßlichen Vergnügungen; sie war nicht gerecht, da er sichgegen sein Vaterland verschwor. Sie war daher nicht Standhaftigkeit, son-

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dern Eigensinn, der den Namen Standhaftigkeit führte, „um die Dummenzu täuschen“ (Ep 167, § 2).

8. KapitelDie Liebe begreifDie Liebe begreifDie Liebe begreifDie Liebe begreifDie Liebe begreift alle Tt alle Tt alle Tt alle Tt alle Tugenden in sich.ugenden in sich.ugenden in sich.ugenden in sich.ugenden in sich.

1. „Vom Ort der Wonne her kam zur Bewässerung des Gartens ein Strom,der sich beim Heraustreten aus ihm in vier Arme verzweigte“ (Gen 2,10).Der Mensch befindet sich an einem Ort der Wonne, wo Gott den Stromder Vernunft und der natürlichen Erkenntnis entspringen läßt, um das gan-ze Paradies unserer Herzen zu bewässern. Dieser Strom teilt sich in vierArme, d. h. er fließt nach vier verschiedenen Richtungen, in die vier ver-schiedenen Seelenbezirke. 1) Das natürliche Licht ergießt Klugheit überdas sogenannte praktische Erkennungsvermögen, durch welches wir un-terscheiden, welche Handlungen wir tun und welche wir lassen sollen.Durch die Klugheit wird unser Geist geneigt, weise über das Böse zu urtei-len, das wir meiden und verjagen, und über das Gute, das wir tun und eifrigverfolgen sollen. 2) Über unseren Willen läßt es die Gerechtigkeit strö-men, die nichts anderes ist als der andauernde und feste Entschluß, jedemdas zu geben, was ihm gebührt. 3) Über die Begierlichkeit ergießt es dieMäßigkeit, die alle Leidenschaften mäßigt, die sich darin befinden, und 4)die Fluten des Starkmutes über die Reizbarkeit oder den Zorn, der alleRegungen des Zornes zügelt und lenkt.

Diese vier voneinander getrennten Ströme teilen sich nachher in mehre-re andere, damit alle menschlichen Handlungen in geeigneter Weise aufdie natürliche Rechtschaffenheit und Glückseligkeit hingelenkt werdenkönnen.

2. Da Gott aber den Christen mit einer besonderen Gunst bereichernwollte, ließ er auf der höchsten Spitze seines Geistes einen übernatürlichenQuell entspringen, den wir Gnade nennen. Diese schließt wohl den Glau-ben und die Hoffnung ein, besteht aber letztlich in der Liebe. Diese reinigtdie Seele von allen Sünden, schmückt und ziert sie sodann mit sehr anzie-hender Schönheit und ergießt schließlich ihre Wasser über alle ihre Fähig-keiten und Handlungen, um dem Erkenntnisvermögen himmlische Klug-heit zu verleihen, dem Willen heilige Gerechtigkeit, der Begierlichkeitgeheiligte Mäßigkeit und der Neigung zum Zorn heiligen Starkmut, damit

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das ganze menschliche Herz nach der übernatürlichen Rechtschaffenheitund Glückseligkeit ausgerichtet sei, die in der Vereinigung mit Gott be-steht.

3. Treffen diese vier Ströme und Flüsse der Liebe in einer Seele die eineoder andere der vier natürlichen Tugenden an, so bringen sie diese unterihren Gehorsam, indem sie sich mit ihr vermengen, um sie zu vervoll-kommnen, so wie duftendes Wasser natürliches Wasser vervollkommnet,indem es sich mit ihm vermischt. Findet aber die heilige Liebe keine dernatürlichen Tugenden in der Seele vor, so übernimmt sie selbst deren Aufga-ben, je nachdem es die Gelegenheiten erfordern. So fand die himmlischeLiebe in den Heiligen Paulus, Ambrosius, Dionysius und Pachomius ver-schiedene Tugenden vor und verlieh ihnen eine wohltuende Klarheit, in-dem sie alle in ihren Dienst zog. Bei der hl. Magdalena jedoch, bei der hl.Maria von Ägypten, beim guten Schächer und bei hundert anderen Bü-ßern, die früher große Sünder waren, fand die göttliche Liebe keine Tu-gend vor, übernahm daher selbst Aufgaben und Werke aller Tugenden,indem sie in ihnen geduldig, sanft, demütig und freigebig war.

Wir säen in unsere Gärten eine große Vielfalt von Samen, bedecken siealle mit Erde, als würden wir sie begraben, bis die Sonne mit ihrer Kraftbewirkt, daß sie aufgehen und gleichsam auferstehen, denn sie treibendann Blätter und Blüten mit neuen Samenkörnern, jedes nach seiner Art(Gen 1,12). Ein und dieselbe himmlische Wärme bewirkt also die ganzeMannigfaltigkeit dieser Gewächse durch die Samen, die sie im Schoß derErde verborgen findet. So, mein Theotimus, hat Gott in unsere Seelen dieSamen aller Tugenden ausgestreut; sie sind jedoch so sehr mit unserenUnvollkommenheiten und Schwächen überdeckt, daß sie nicht oder nursehr wenig in Erscheinung treten, bis die lebenspendende Wärme der hei-ligen Liebe sie belebt und auferweckt und durch sie die Werke aller Tugen-den verrichtet. So wie das Manna den mannigfaltigen Geschmack allerSpeisen in sich enthielt und die Lust danach im Mund der Israeliten erreg-te (Weish 16,20), so enthält die himmlische Liebe die verschiedenen Voll-kommenheiten aller Tugenden in einer so hervorragenden und erhabenenWeise in sich, daß sie alle ihre Werke den Gelegenheiten entsprechend zuihrer Zeit und an ihrem Ort verrichtet.

Josua schlug gewiß tapfer die Feinde Gottes durch eine gute Führungder unter ihm stehenden Truppen; aber Simson schlug sie noch glorrei-cher, als er mit einem Eselskinnbacken Tausende tötete (Ri 15,15). Josua

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wirkte Gewaltiges, indem er es verstand, durch kluge Führung und Diszi-plin die Tapferkeit seiner Truppen richtig einzusetzen. Simson aber wirkteaus eigener Kraft Wunderbares, ohne daß er andere dazu brauchte. Josuahatte die Kräfte vieler Soldaten unter sich; Simson aber hatte diese Kräftein sich und konnte allein das, was Josua und die vielen Soldaten, die mitihm waren, vollbrachten.

Die himmlische Liebe ragt auf die eine wie auf die andere Art hervor.Findet sie Tugenden in einer Seele (und für gewöhnlich findet sie wenigs-tens den Glauben, die Hoffnung und die Buße), so belebt sie diese, erteiltihnen Befehle und setzt sie auf glückliche Weise zum Dienst Gottes ein;für die übrigen Tugenden, die sie nicht antrifft, vollbringt sie selbst dieWerke, denn sie allein hat ebensoviel und noch mehr Kraft, als sie allezusammen hätten.

4. Der große Apostel sagt nicht nur, daß die Liebe uns Geduld, Güte,Beharrlichkeit, Einfachheit verleiht, sondern er sagt, daß sie selbst geduldig,gütig, beharrlich ist (1 Kor 13,4). Es ist den höchsten Tugenden, sowohlbei den Menschen wie bei den Engeln eigen, daß sie nicht bloß den niede-ren befehlen können, zu wirken, sondern daß sie auch selbst das vermö-gen, was sie den anderen befehlen. Der Bischof teilt die Ämter für allekirchlichen Aufgaben aus: die Kirche zu öffnen, darin vorzulesen, diebösen Geister zu beschwören, zu unterrichten, zu predigen, zu taufen, dasOpfer darzubringen, die Kommunion zu spenden, loszusprechen. Er selbstkann all dies und tut es auch, weil er in sich eine höhere Gewalt hat, diealle anderen niederen in sich schließt.

In Erwägung der Worte des hl. Paulus: „Die Liebe ist geduldig, gütig,stark“, erklärt der hl. Thomas: „Die Liebe tut und vollbringt die Werkealler Tugenden“ (St. th. IIa, IIae qu 23, art 4, ad 2). Und der hl. Ambrosiusnennt die Geduld und die anderen Tugenden in seinem Schreiben an De-metrius „Glieder der Liebe“ (Epist ad Demetr., früher unter den Werkendes hl. Ambr.). Und der große hl. Augustinus sagt (De Morib. Eccl. c. 15),daß die Gottesliebe alle Tugenden in sich begreift und alle ihre Werke inuns verrichtet. Das sind seine Worte: „Wenn man euch sagt, daß die Tu-gend sich in vier verschiedene Tugenden einteilen läßt (er spricht von denvier Kardinaltugenden), so sagt man dies, kommt mir vor, der verschiede-nen Affekte wegen, die von der Liebe herrühren. Ich hätte gar keine Be-denken, diese vier Tugenden so zu definieren, daß die Mäßigkeit die Liebeist, die sich Gott ganz und gar schenkt, der Starkmut eine Liebe, die gern

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alles für Gott erträgt; die Gerechtigkeit eine Liebe, die Gott allein dient unddeswegen alles richtig anordnet, was dienlich ist, um sich mit Gott zu verei-nigen, und das verwirft, was ihr schädlich wäre.“

5. Derjenige also, der die Liebe hat, hat seinen Geist mit einem schönenhochzeitlichen Gewand bekleidet, welches wie das des Josef (Gen 37,3)besät ist mit der ganzen Buntheit der Tugenden; oder besser gesagt, er hateine Vollkommenheit, welche die Tugend aller Vollkommenheiten oder dieVollkommenheit aller Tugenden enthält. Und daher „ist die Liebe gedul-dig, gütig; sie ist nicht eifersüchtig“ sondern voll Güte, sie „ist nicht unbe-sonnen“ sondern klug; sie „ist nicht aufgeblasen“ vom Stolz, sondern de-mütig; sie „ist nicht ehrsüchtig“ und nicht geringschätzig, sondern lie-benswürdig und leutselig; sie „sucht nicht spitzfindig das Ihre“, sondernsie ist freimütig und herablassend; „sie denkt nichts Böses“, sondern istgutmütig; „sie hat nicht Freude am Unrecht“, sie hat vielmehr Freude ander Wahrheit und in der Wahrheit, „sie erträgt alles, sie glaubt“ gern alles,was man ihr Gutes sagt, ohne allen Eigensinn, ohne je den Mut zu verlie-ren, ihm sein Heil sichern zu können. Sie „trägt alles“ (1 Kor 13,4-7) underwartet ohne Sorge das, was ihr versprochen ist. Die Liebe ist endlichjenes „feine, im Feuer geglühte Gold“, das der Herr dem Bischof vonLaodicäa zu kaufen rät (Offb 3,18), das den Wert aller Dinge in sich ent-hält, sie kann alles, sie tut alles (1 Kor 13,4-7).

9. KapitelDie TDie TDie TDie TDie Tugenden gewinnen ihre Vugenden gewinnen ihre Vugenden gewinnen ihre Vugenden gewinnen ihre Vugenden gewinnen ihre Vol lko l lko l lko l lko l lkommenheitommenheitommenheitommenheitommenheit

aus der heiligen Liebe.aus der heiligen Liebe.aus der heiligen Liebe.aus der heiligen Liebe.aus der heiligen Liebe.

1. Die Liebe ist also das Band der Vollkommenheit (Kol 3,14), da in ihralle Vollkommenheiten der Seele enthalten und vereinigt sind. Ohne siekönnte man weder die Gesamtheit der Tugenden, noch eine einzige Tugendin ihrer Vollkommenheit haben. Ohne Zement und Mörtel, die Steine undMauer verbinden, bricht jedes Gebäude zusammen; ohne Nerven, Mus-keln und Sehnen zerfiele der ganze Körper und ohne die Liebe können dieTugenden sich nicht untereinander halten und stützen.

Unser Herr verbindet immer die Erfüllung der Gebote mit der Liebe: „Wermeine Gebote hat und sie hält,“ sagt er, „der ist es, der mich liebt“ (Joh14,21). „Wer mich nicht liebt, der hält meine Gebote nicht“ (Joh 14,24).„Wenn jemand mich liebt, wird er mein Wort halten“ (Joh 14,23). Daswiederholt der Liebesjünger, indem er sagt: „Wer sein Wort hält, in dem

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ist die Liebe zu Gott wahrhaft vollkommen“ (1 Joh 2,5). „Darin bestehtdie Liebe zu Gott, daß wir seine Gebote halten“ (1 Joh 5,3).

Wer alle Tugenden besäße, würde auch alle Gebote halten; denn wer dieTugend der Religion hätte, hielte die drei ersten Gebote; wer die Ehr-furcht hätte, hielte das vierte; wer die Sanftmut und Güte hätte, das fünfte;durch die Keuschheit hielte man das sechste; durch die Freigebigkeit wür-de man es vermeiden, das siebente zu verletzen; durch die Wahrhaftigkeitwürde man das achte erfüllen; und durch die Sparsamkeit und Schamhaf-tigkeit das neunte und zehnte beobachten.

2. Kann man die Gebote nicht ohne die Liebe beobachten, so kann manum so weniger ohne sie alle Tugenden besitzen.

Man kann gewiß, auch wenn man keine Gottesliebe besitzt, die eineoder andere Tugend haben und eine Zeit hindurch Gott nicht beleidigen.Entwurzelte Bäume können wohl noch einiges hervorbringen, aber nurauf kurze Zeit und nichts Vollendetes. Ebenso kann ein Herz, das von derLiebe getrennt ist, wohl noch einige Akte der Tugend setzen, aber sichernicht lange.

Alle Tugenden, die von der Liebe getrennt sind, sind sehr unvollkommen,denn ohne sie können sie ihr Ziel nicht erreichen, nämlich den Menschenglücklich zu machen.

Die Bienen kommen als kleine unförmige Würmchen, ohne Füße, ohneFlügel, auf die Welt; mit der Zeit aber wandeln sie sich und werden kleineInsekten; endlich aber, wenn sie stark geworden und ihr volles Wachstumerreicht haben, nennt man sie fertig ausgebildete, vollendete Bienen, dennsie haben alles, was sie brauchen, um fliegen und um Honig bereiten zukönnen.

Die Tugenden haben ihre Anfänge, ihren Fortschritt und ihre Vollendung.Ich leugne nicht, daß sie ohne die Liebe ihren Anfang nehmen, ja selbstFortschritte machen können. Aber daß sie zur Vollendung gelangen undfertige, ausgebildete und vollendete Tugenden genannt werden können,das kann nur die Liebe bewirken, die ihnen die Kraft verleiht, sich zu Gottaufzuschwingen und aus seiner Barmherzigkeit den Honig echten Ver-dienstes und der Heiligkeit zu empfangen für die Herzen, in denen dieTugenden sich vorfinden.

3. Die Liebe ist unter den Tugenden das, was die Sonne unter den Sternenist; sie ist es, die allen ihr Licht und ihre Schönheit verleiht. Glaube, Hoff-nung, Furcht und Buße sind für gewöhnlich vor ihr in der Seele, um ihr dieWohnung zu bereiten; sobald sie aber da ist, gehorchen und dienen sie ihr

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wie alle übrigen Tugenden und sie beseelt, ziert und belebt sie durch ihreGegenwart.

Die anderen Tugenden können sich gegenseitig in ihren Werken undÜbungen unterstützen und anspornen. Wer weiß nicht, daß die Keusch-heit der Mäßigkeit bedarf und sie anregt und daß der Gehorsam uns zurFreigebigkeit, zum innerlichen Gebet, zur Demut führt? Durch diese Ver-bindung, die sie untereinander haben, nehmen die einen an den Vollkom-menheiten der anderen teil.

Die Keuschheit, die aus Gehorsam beobachtet wird, hat eine doppelteWürde, ihre eigene und die des Gehorsams und zwar mehr die des Gehor-sams als die ihre. Denn wie Aristoteles sagt (Eth. ad Nic. 5,2), daß einer,der stiehlt, um Unzucht zu begehen, mehr ein Unzüchtiger als ein Diebist, weil sein Affekt ganz auf die Unzucht gerichtet ist und er sich desDiebstahls nur als eines Weges bedient, um dorthin zu gelangen – so isteiner, der aus Gehorsam die Keuschheit beobachtet, mehr gehorsam alskeusch, da er die Keuschheit im Dienst des Gehorsams verwendet. Trotz-dem kann aus der Vermengung von Gehorsam und Keuschheit keine voll-endete und vollkommene Tugend hervorgehen, weil die letzte Vollkom-menheit, die die Liebe ist, beiden mangelt.

Angenommen, in einem Menschen befänden sich alle Tugenden, nur dieLiebe allein mangelte, so würde diese Gesamtheit der Tugenden wohl ei-nen in all seinen Teilen sehr vollendeten Körper darstellen – wie der Adamswar, als Gott ihn mit seiner Meisterhand aus dem Lehm der Erde bildete,– aber einen Körper bar aller Bewegung, allen Lebens und aller Anmut, bisGott ihm den Odem des Lebens einhaucht (Gen 2,7), das will heißen, dieheilige Liebe, ohne die uns alles übrige nichts nützt (1 Kor 13,3).

4. Übrigens ist die Vollkommenheit der göttlichen Liebe so über alleserhaben, daß sie alle Tugenden vervollkommnet, selbst aber nicht durch dieanderen vervollkommnet werden kann, nicht einmal durch den Gehor-sam, die Tugend, die am meisten Vollkommenheit auf die anderen auszu-strahlen vermag. Denn wenn auch die Liebe befohlen ist und wir dadurch,daß wir lieben, den Gehorsam üben, so zieht doch die Liebe ihre Voll-kommenheit nicht aus dem Gehorsam, sondern aus der Güte desjenigen,den sie liebt. Denn die Liebe ist nicht so erhaben, weil sie gehorsam ist,sondern weil sie ein über alles erhabenes Gut liebt. Es ist wohl wahr, daßwir gehorchen, indem wir lieben, ebenso wie wir lieben, indem wir gehor-chen. Wenn aber dieser Gehorsam in so außerordentlicher Weise liebens-

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wert ist, so ist es, weil er auf die Herrlichkeit der Liebe zielt, und seineVollkommenheit hängt nicht davon ab, daß wir durch unsere Liebe gehor-chen, sondern daß wir durch unser Gehorchen lieben. So wie Gott dasletzte Ziel alles Guten und gleichzeitig dessen Ursprung ist, ebenso ist dieLiebe, die der Ursprung jedes guten Affektes ist, gleichzeitig auch dessenletztes Ziel und dessen Vollkommenheit.

10. KapitelDie Unvollkommenheit der von den alten HeidenDie Unvollkommenheit der von den alten HeidenDie Unvollkommenheit der von den alten HeidenDie Unvollkommenheit der von den alten HeidenDie Unvollkommenheit der von den alten Heiden

geübten Tgeübten Tgeübten Tgeübten Tgeübten Tugenden.ugenden.ugenden.ugenden.ugenden.

1. Die Philosophen des Altertums hielten einst wunderbare Reden zuEhren der sittlichen Tugenden, ja selbst zum Lob der Religion. Was jedochPlutarch über die Stoiker gesagt hat, gilt noch mehr von den übrigen Hei-den. Er sagt (Opusc. cujus argumentum est Stoicos quam poetas absurdio-ra dicere): Wir sehen Schiffe, die großartige Inschriften tragen, die einenheißen Victoria (Sieg), die anderen Tapferkeit, andere bezeichnen sich alsSonne; deswegen hören sie aber nicht auf, Wind und Wellen ausgeliefertzu sein. So rühmen sich die Stoiker, sie seien Menschen, frei von Leiden-schaften, von Furcht, Traurigkeit, Zorn, sie seien unveränderlich, dem Wan-kelmut nicht unterworfen. In Wirklichkeit sind sie aber doch der Sorge,der Unruhe, dem Ungestüm und anderen Ungehörigkeiten preisgegeben.

Mein Gott, ich bitte dich, Theotimus, welche Tugenden sollten dieseMenschen auch haben, die absichtlich und als ob sie dafür gedungen wä-ren, alle Gesetze der Religion umstürzten? Seneca hatte ein Buch gegenden Aberglauben geschrieben, in dem er den heidnischen Götzendienstmit großer Freiheit tadelte: Diese Freiheit, sagt der große hl. Augustinus(St. G. 6,10 und 11), fand sich jedoch bloß in seinen Schriften, aber nichtin seinem Leben; riet er doch sogar, man sollte den Aberglauben aus sei-nem Herzen verbannen, es aber nicht unterlassen, ihn in Handlungen zuüben. Denn das sind seine Worte: „Der Weise wird sich an diese abergläu-bischen Lehren halten, weil die Gesetze sie vorschreiben, aber nicht, weilsie den Göttern wohlgefällig sind!“ – Wie konnten jene tugendhaft sein,die nach dem Bericht des hl. Augustinus (St. G. 19,4) der Ansicht waren,der Weise solle sich das Leben nehmen, wenn er die Leiden des Lebensnicht länger ertragen könne oder dürfe, die dabei aber gleichzeitig nichtzugeben wollten, daß die Leiden ein Elend und das Elend Leiden sei,

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sondern behaupteten, der Weise sei immer glücklich und sein Leben seiimmer ein glückliches. „Was ist das doch für ein glückliches Leben,“ ruftder hl. Augustinus aus, „dem zu entgehen man in den Tod flüchtet? Wennes ein so glückliches Leben ist, warum verbleiben sie nicht in ihm?“ (Ebd.).

2. Jener stoische Heerführer, der in der Stadt Uttica Selbstmord beging,um einem Unglück zu entgehen, das er seines Lebens unwürdig erachtete,und darob von kleinen Geistern gerühmt wurde, hat, wie der hl. Augusti-nus (St. G. ebd. und 1,22 f) ausführt, in dieser Tat sehr wenig echte Tugendgeoffenbart. Sein Selbstmord war kein Zeugnis für einen Mut, der Schan-de meiden will, sondern für eine schwache Seele, die es nicht vermag, mitRuhe den Schicksalsschlag abzuwarten. Hätte er es wirklich für ehrlosgehalten, den Sieg Cäsars zu überleben, warum befahl er dann, auf dieMilde Cäsars zu hoffen? Warum hat er seinem Sohn nicht geraten, mit ihmzu sterben, wenn der Tod besser und ehrenhafter war als das Leben? Ernahm sich also entweder deshalb das Leben, weil er Cäsar den Ruhm nichtgönnte, ihm das Leben zu schenken, oder weil er sich vor der Schandefürchtete, unter einem Sieger, den er haßte, zu leben. So mag man ihmwohl einen massiven oder auch vielleicht einen großen Mut nachrühmen,aber nicht ein weises, tugendhaftes und standhaftes Gemüt. Die Grausam-keit, die ohne Gemütserregung kaltblütig vollzogen wird, ist die allergrau-samste. Das gleiche gilt von der Verzweiflung; wer dabei am langsamsten,überlegtesten, entschlossensten vorgeht, ist am wenigsten zu entschuldi-gen und seine Verzweiflung ist die schlimmste.

Was nun Lukretia betrifft (s. Aug. St. G. 1,19) – denn, wir wollen dietapferen Taten des weniger mutigen Geschlechtes nicht übergehen: be-wahrte sie bei der Vergewaltigung und dem Zwang, den ihr der Sohn desTarquinius antat, ihre Keuschheit oder nicht? Hat Lukretia ihre Keusch-heit nicht bewahrt, warum lobt man sie dann ihrer Keuschheit wegen?War Lukretia aber bei dieser Untat keusch und unschuldig geblieben, wares dann nicht schlecht von ihr, die unschuldige Lukretia zu ermorden?„Hat sie Ehebruch begangen, warum wird sie dann so gelobt? War siekeusch, warum wurde sie dann ermordet?“ Aber sie fürchtete Schmachund Schande, falls sie am Leben bliebe. Sie meinte, man könnte glauben,daß sie die Schande, die ihr mit Gewalt angetan worden war, freiwilligerduldet hätte. Man könnte sie dann für mitschuldig an der Sünde anse-hen, wenn sie das, was ihr in so niedriger Weise angetan worden war, ge-duldig ertragen hätte. Soll man also, um der Schmach und Schande zu

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entgehen, die von der Meinung der Menschen abhängt, über Unschuldigeherfallen und Gerechte morden? Soll man auf Kosten der Tugend die Ehrezu erhalten suchen und den guten Namen auf die Gefahr hin, die Gerech-tigkeit zu verletzen?

So sahen die Tugenden der tugendhaftesten Heiden Gott und sich selbstgegenüber aus.

3. Von den Tugenden, die den Nächsten betreffen, traten sie deren erste,nämlich die Ehrfurcht, durch ihre Gesetze in ganz schamloser Weise mitFüßen. Denn Aristoteles, der größte Denker unter ihnen, spricht diesenfurchtbaren, erbarmungslosen Satz aus (Pol 7,15): „Was die Aussetzungder Kinder,“ d. h. deren Ausstoßung, „oder ihre Erziehung betrifft, lautedas Gesetz also: Keines soll aufgezogen werden, dem ein Glied mangelt.Außerdem soll man, wenn einer schon doppelt soviel Kinder hat, als er zuversorgen imstande ist, und die Gesetze und Gebräuche der Stadt dasAussetzen der Kinder verbieten, dem zuvorkommen und eine Abtreibungherbeiführen.“ Und Seneca, dieser so sehr gerühmte Weise, sagt: „Wirtöten die Mißgeburten, und wenn unsere Kinder häßlich, schwach, unvoll-kommen oder mißgestaltet sind, so verstoßen wir sie und setzen sie aus“(De ira. 1,15). Es ist daher nicht ohne Grund, daß Tertullian den Römernvorwarf, daß sie ihre Kinder den Wellen, der Kälte, dem Hunger und denHunden auslieferten (Apol. cap. 9). Und zwar geschah dies nicht aus Ar-mut, denn wie er sagt, verübten selbst die Präsidenten und hohen Beamtendiese widernatürliche Grausamkeit.

O wahrer Gott, Theotimus, was sind das für tugendhafte Leute! Wiekann man solche Menschen weise nennen, die eine so grausame und bru-tale Weisheit lehrten? Ach, sagt der große Apostel (Röm 1,22.28), „siewollten Weise sein und sind Toren geworden. Ihr unverständiges Herzverfinsterte sich. Gott überließ sie ihrer verworfenen Gesinnung.“ Wieentsetzlich, daß ein so großer Philosoph zur Abtreibung rät! „Das heißtdoch den Totschlag vorwegnehmen,“ sagt Tertullian, „wenn man verhin-dert, daß ein Mensch geboren werde, der bereits im Mutterschoß empfan-gen ist.“ Und der hl. Ambrosius tadelt die Heiden wegen der gleichenBarbarei und sagt: „Man nimmt auf diese Weise den Kindern das Leben,bevor es ihnen noch geschenkt wurde“ (Lib. 5 Exhameron. 18).

4. Haben die Heiden auch einige Tugenden geübt, so geschah es mei-stens weltlichen Ruhmes wegen, folglich hatten sie von der Tugend nur dieHandlung, nicht aber die richtigen Beweggründe und Absichten. Tugend

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ist aber keine echte Tugend, wenn ihr die richtige Absicht fehlt. „Mensch-liche Begierlichkeit bildet die Stärke der Heiden,“ sagt das Konzil vonOranien (Conc. Araus. c. 17), „während die göttliche Liebe die Stärke desChristen ausmacht.“ „Die Tugenden der Heiden,“ sagt der hl. Augustinus(Gegen Jul. Pel. c. 3), „waren nicht echte Tugenden, sondern Scheintugen-den, weil sie nicht des rechten Zieles, sondern verderblicher Ziele wegengeübt wurden.“ Fabricius wird weniger bestraft werden als Catilina, nichtweil er gut war, sondern weil jener schlechter war, nicht weil Fabriciusechte Tugenden besaß, sondern weil er von den wahren Tugenden nicht soweit entfernt war. Am Tag des Gerichtes werden daher die Tugenden derHeiden für sie sprechen, zwar nicht so, daß sie gerettet werden, sonderndaß sie nicht so schwer verurteilt werden.

Mit einem Laster trieb man bei den Heiden ein anderes aus, ein Lastertrat an die Stelle des anderen, aber für die Tugend war kein Raum. Um deseinen Lasters der Ruhmsucht willen unterdrückten sie den Geiz und man-che andere Laster, ja manchmal verachteten sie sogar die Eitelkeit ausEitelkeit. Einer aus ihnen, der von Eitelkeit am weitesten entfernt schien,trat das reiche Prunkbett des Platon mit Füßen. Da frug ihn Platon: „Wasmachst du, Diogenes?“ – „Ich trete Platons Hochmut mit Füßen.“ – „Dasist wahr,“ antwortete Platon, „aber du tust es aus einem anderen Hochmutheraus“ (Diog. Laert., de Vitis et Dom. Philosoph., Diogenes).

Ob Seneca eitel war, kann man aus seinen letzten Äußerungen entneh-men; denn das Ende krönt das Werk und die letzte Stunde spricht dasUrteil über alle anderen Stunden (Tacitus, Annal., 15,62). Welche Eitel-keiten, ich bitte dich! Als sein Ende herannahte, sagte er zu seinen Freun-den, bisher habe er ihnen noch nie in würdiger Weise danken können.Deshalb wolle er ihnen jetzt ein Vermächtnis hinterlassen von dem Bestenund Schönsten, das er besäße. Wenn sie dieses treulich bewahrten, würdensie großes Lob ernten. Dann fügte er hinzu, daß dieses wunderbare Ver-mächtnis nichts anderes sei als „das Bild seines Lebens.“ Merkst du, meinTheotimus, wie übel die Reden dieses Menschen nach Eitelkeit riechen?

Nicht die Liebe zur Ehrenhaftigkeit, sondern die Liebe zur Ehre war es,die diese Weltweisen zur Übung der Tugenden antrieb; und ebenso ver-schieden wie die Ehre von der Ehrenhaftigkeit ist und die Liebe zum Ver-dienst von der Liebe zur Belohnung, ebenso verschieden waren ihre Tu-genden von wahren Tugenden. Menschen, die den Fürsten aus eigenemInteresse dienen, sind meist viel geschäftiger, eifriger und auffälliger in

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ihren Diensten. Jene aber, die ihnen aus Liebe dienen, tun es in eineredleren, großmütigeren und daher achtbareren Weise.

5. Die Griechen haben für Karfunkel und Rubinen zwei gegensätzlicheNamen, denn sie nennen sie Piropen, feurig, flammend und Apiropen, d.h. ohne Feuer, ohne Flamme (Plin. H. n. 1,37 c. 7; Theophr. De Lapid.,§3). Sie nennen sie „feurig“, weil sie durch ihren Glanz und ihr Leuchtendem Feuer gleichen, doch nennen sie sie „ohne Feuer“ und sozusagenunentflammbar, weil ihr Leuchten nicht bloß keine Wärme ausstrahlt,sondern weil sie für Wärme ganz unempfindlich sind und es kein Feuergibt, das sie erhitzen kann.

So nannten auch die heiligen Väter die Tugenden der Heiden „Tugen-den“ und auch „Untugenden“, beides zugleich: Tugenden, weil sie derenGlanz und Schein hatten; Untugenden, weil ihnen nicht bloß die lebendigeWärme der Gottesliebe fehlte, die ihnen allein Vollkommenheit verlei-hen konnte, sondern weil sie, von Ungläubigen geübt, dafür ganz unemp-fänglich waren. „Es gab zu jener Zeit zwei Römer,“ sagt der hl. Augusti-nus, „die groß an Tugend waren, Cäsar und Cato; die Tugend des Cato kamaber der echten Tugend viel näher als die des Cäsar“ (St. G. 5,12). Undnachdem er irgendwo gesagt hatte, daß „die Philosophen, denen die wahreFrömmigkeit mangelte, im Glanz der Tugend geleuchtet hätten“ (De Or-dine 1,11), nahm er dies im Buch seiner Retractationen zurück (Retr. 1,3)und meint, daß dies ein zu hohes Lob für Tugenden sei, die so unvollkom-men waren wie die der Heiden. Diese glichen eigentlich Glühwürmchen,die nur in der Nacht leuchten, bei Tag aber ihren Glanz verlieren. So sagter, seien diese heidnischen Tugenden nur Tugenden im Vergleich zu La-stern, aber verglichen mit Tugenden echter Christen verdienten sie keines-wegs diesen Namen.

6. Da sie aber trotzdem etwas Gutes an sich haben, kann man sie mitwurmstichigen Äpfeln vergleichen, denn die Farbe und die geringe Sub-stanz, die ihnen noch verbleiben, sind so gut wie die ganzer Tugenden.Aber der Wurm der Eitelkeit steckt in ihrem Innern und verdirbt sie. Weralso davon Gebrauch machen will, muß zuvor das Gute von dem Schlech-ten trennen.

Ich gebe gern zu, daß Cato einen kraftvollen Mut besaß und daß dieserMut an sich lobenswert ist; diejenigen, die sich auf dieses Beispiel stützenwollen, müssen diesen Mut für eine gerechte und gute Sache einsetzen,nicht um sich selbst das Leben zu nehmen, sondern indem sie den Tod

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erleiden, wenn es die Tugend verlangt, nicht für eitlen Ruhm, sondern zumRuhm der Wahrheit, wie es die Märtyrer taten. Diese vollbrachten mitunbesiegbarem Mut Wunder der Standhaftigkeit und Tapferkeit, neben de-nen Menschen wie Cato, Horaz, Lukretia, Arria keiner Erwähnung wertsind. Wenn ich an die Blutzeugen Laurentius, Vinzentius, Vitalis, Eras-mus, Eugenius, Sebastian, an die Heiligen Agatha, Agnes, Katharina, Per-petua, Felicitas, Symphorosa, Natalia und tausend andere denke, bewun-dere ich immer wieder die Bewunderer der heidnischen Tugenden, undzwar nicht deswegen, weil sie die unvollkommenen Tugenden der Heidenin übertriebener Weise bewundern, sondern weil sie die überaus vollkom-menen Tugenden der Christen nicht bewundern, Tugenden, die hundert-mal würdiger der Bewunderung und allein würdig der Nachahmung sind.

11. KapitelWWWWWerererere rtlosigktlosigktlosigktlosigktlosigkeit der ohne göttliche Liebe vollbrachteneit der ohne göttliche Liebe vollbrachteneit der ohne göttliche Liebe vollbrachteneit der ohne göttliche Liebe vollbrachteneit der ohne göttliche Liebe vollbrachten

menschlichen Handlungen.menschlichen Handlungen.menschlichen Handlungen.menschlichen Handlungen.menschlichen Handlungen.

1. Der große Freund Gottes Abraham hatte von Sara, seiner Hauptgat-tin, nur einen einzigen Sohn, seinen innig geliebten Isaak, der auch alleinsein Universalerbe war. Obwohl er von seinen Mägden und Nebenfrauenauch noch Kinder hatte, von Hagar den Ismael, von Ketura einige Kinder,gab er diesen nur einige Geschenke und Vermächtnisse, um sie abzuferti-gen und zu enterben, denn da sie von seiner ersten Frau nicht anerkanntwurden, konnten sie auch keinen Anspruch darauf erheben, in seine Erb-folge einzutreten. Sie waren aber nicht anerkannt, weil die Kinder derKetura erst nach dem Tod Saras zur Welt kamen (Gen 25,1f), Ismael zwarauf Geheiß Saras, ihrer Herrin, von Hagar empfangen wurde (Gen 14,4),Hagar aber ihr Kind nicht auf den Knien ihrer Herrin gebären durfte, wieBilha die ihren auf den Knien Rahels, weil sie Sara verachtet hatte, als sieguter Hoffnung war (Gen 16,4).

Theotimus, nur die Kinder, d. h. die Akte der heiligen Liebe sind ErbenGottes und Miterben Jesu Christi (Röm 8,17) und die Kinder oder Akte,welche die anderen Tugenden auf ihrem Schoß, auf ihr Geheiß oder wenigs-tens unter den Fittichen und der Gunst ihrer Gegenwart empfangen undgebären. Doch wenn die sittlichen Tugenden und selbst die übernatürlichenTugenden ihre Handlungen in Abwesenheit der Liebe hervorbringen, wiees nach Augustinus bei den Schismatikern (De Bapt., 1,8. 9) oder manch-

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mal auch bei schlechten Katholiken geschieht, haben sie gar keinen Wertfür den Himmel; auch nicht das Almosen, selbst dann nicht, wenn wir unsangetrieben fühlten, unser ganzes Vermögen unter die Armen zu vertei-len, noch das Martyrium, wenn wir unseren Leib den Flammen zum Ver-brennen auslieferten (1 Kor 13,3). Nein, Theotimus, ohne die Liebe, sagtder Apostel, nützt uns das alles nichts, wie wir anderswo ausführlich ge-zeigt haben (X,8).

2. Wenn ferner Werke sittlicher Tugenden im Ungehorsam gegen dieLiebe, die Herrin des Willens, hervorgebracht werden, wenn Stolz, Eitel-keit, zeitliche Interessen oder sonst ein schlechter Beweggrund die Tugen-den von ihrer eigenen Natur abwenden, dann werden diese Handlungenaus dem Haus Abrahams und Saras verjagt und verbannt, d. h. sie gehender Früchte und Vorrechte der Liebe verlustig und bleiben folglich ohneWert und Verdienst. Diese Handlungen, die durch eine schlechte Absichtvergiftet werden, sind eigentlich eher lasterhaft als tugendhaft. Sie habennach außenhin die Gestalt von Tugenden, innerlich aber gehören sie demLaster an, das ihnen als Beweggrund dient. Ein Beispiel dafür sind Fasten,Opfer und andere Werke der Pharisäer (Lk 18,12.14).

3. Die Israeliten wohnten zu Lebzeiten Josefs und Levis friedlich inÄgypten. Nach dem Tod Levis wurden sie sofort auf tyrannische Weiseversklavt. Daher stammt das jüdische Sprichwort: „Ist einer der Brüdertot, so leiden die anderen Not“ (So zu lesen im 3. Kap. der Großen Chro-nologie der Hebräer, die der gelehrte Erzbischof von Aix, Gilbert Gene-brard, veröffentlicht hat. Ich nenne diesen Namen, weil es mir eine Ehreund Freude ist, sein Schüler, wenn auch ein unnützer, gewesen zu sein, alser als königlicher Lektor in Paris das Hohelied erklärte). So erfreuen sichauch die Verdienste und Früchte der sittlichen und christlichen Tugendeneines stillen, ruhigen Daseins in der Seele, solange die heilige Liebe in ihrlebt und herrscht. Sobald aber die göttliche Liebe in ihr stirbt, ersterben mitihr alle Verdienste und Früchte der anderen Tugenden. Die Theologen spre-chen dann von „ertöteten“ Werken, denn sie sind wohl lebend unter derGunst der Liebe geboren, verlieren aber dann gleich Ismael in der FamilieAbrahams durch den darauffolgenden Ungehorsam und die Auflehnungdes menschlichen Willens, der ihre Mutter ist, ihr Leben und Erbrecht.

4. O Gott, Theotimus, welches Unglück! „Wenn sich aber der Gerechtevon seiner Gerechtigkeit abwendet und Frevel verübt, wird ihm all sein

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gerechtes Tun nicht angerechnet werden und er wird in der Sünde ster-ben,“ sagte der Herr zu Ezechiel (Ez 18,24; 33,13). Die Todsünde zerstörtalles Verdienst der Tugenden.

Was die Tugendwerke betrifft, die die Seele hervorbringt, während dieTodsünde in ihr herrscht, so kommen sie schon tot zur Welt, sodaß sie fürimmer ohne Nutzen für das ewige Leben sind.

Die Tugendwerke aber, die getan wurden, ehe die Todsünde begangenwurde, also zu einer Zeit, da die heilige Liebe in der Seele lebte, verlierenim Augenblick, da die Sünde in die Seele einzieht, Wert und Verdienst;beides stirbt und kann das Leben nicht länger bewahren, nachdem dieLiebe gestorben ist, die es ihnen gegeben hat.

5. Der See, den die profanen Schriftsteller für gewöhnlich den Asphalt-see, die Bücher der Heiligen Schrift aber das Tote Meer nennen, ist miteinem so schweren Fluch belastet, daß nichts, was in sein Wasser geworfenwird, am Leben bleibt. Wenn sich die Fische des Jordan ihm nähern, ster-ben sie, wenn sie nicht sofort stromaufwärts schwimmen. Die Bäume anseinen Ufern bringen nichts hervor, das Leben in sich hätte; wenn ihreFrüchte auch den Anschein und die äußere Gestalt der Früchte andererGegenden haben, so sieht man, wenn man sie pflücken will, daß sie nichtsanderes sind als mit Asche gefüllte Rinden und Schalen, deren Inhalt imWind verflüchtigt, Spuren der furchtbaren Sünden, für die jene Gegend, inder ehemals vier blühende Städte standen, gestraft und in diesen Abgrundvon Gestank und Verderbnis verwandelt wurde.

Nichts kann, so kommt mir vor, besser das Unglück der Sünde dar-stellen, als dieser abscheuliche See, der durch den verdammungswürdig-sten Mißbrauch des menschlichen Fleisches entstanden ist. Die Sünde istwie ein totes und tötendes Meer, das alles mordet, was mit ihm in Be-rührung kommt. Nichts von all dem, was die von der Sünde beherrschteSeele hervorbringt, hat Leben in sich und auch nichts, was um sie herumwächst. O Gott, mein Theotimus, wahrhaftig nichts! Alles ist leblos; denndie Sünde ist nicht nur ein totes Werk, sondern sie ist auch sosehr Pest-hauch und Gift, daß die herrlichsten Tugenden der sündhaften Seele keineeinzige lebendige Tat hervorbringen. Obwohl die Werke der Sünder oftgroße Ähnlichkeit mit den Werken der Gerechten haben, so sind sie dochnichts anderes als mit Wind und Staub gefüllte Rinden. Die göttliche Gütesieht wohl auf sie und belohnt sie mit einigen zeitlichen Geschenken, dieihnen wie den Kindern der Mägde zuteil werden; dennoch sind sie nur

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äußere Hülsen, an denen die göttliche Gerechtigkeit keinen Geschmackund keine Freude haben kann, um sie mit ewigem Lohn zu vergelten. Siegehen auf den Bäumen selbst zugrunde und können in Gottes Hand nichtbewahrt werden, weil sie leer sind an echtem Wert. Das wurde, wie es inder Geheimen Offenbarung heißt, dem Bischof von Sardes gesagt, der aufGrund einiger Tugenden, die er übte, als lebendiger Baum angesehen wur-de, aber dennoch tot war, weil er sich in der Sünde befand und seine Tugen-den daher nicht lebendige Früchte, sondern tote Hülsen waren, für dieAugen zwar eine Lust, aber keine saftigen, schmackhaften, genießbarenÄpfel.

6. Daher können wir alle mit dem heiligen Apostel in voller Wahrheitausrufen: „Ohne die Liebe bin ich nichts und nützt mir nichts“ (1 Kor13,2 f). Und mit dem hl. Augustinus: „Gib einem Herzen die Liebe, undalles wird ihm zum Vorteil; nimm dem Herzen die Liebe, und nichts istihm von Nutzen“ (s. XI,2).

Ich will damit sagen: Nichts nützt ihm für das ewige Leben; denn wie ichanderswo schon sagte, sind die tugendhaften Werke der Sünder nicht ohneNutzen für das zeitliche Leben. Aber, mein Freund Theotimus, was nütztes dem Menschen, wenn er für eine Zeit „die ganze Welt gewinnt, aberseine Seele für ewig verliert“ (Mt 16,26)?

12. KapitelAAAAAufleben der durch die Sünde zugrufleben der durch die Sünde zugrufleben der durch die Sünde zugrufleben der durch die Sünde zugrufleben der durch die Sünde zugrundegegangenen Wundegegangenen Wundegegangenen Wundegegangenen Wundegegangenen Werkerkerkerkerkeeeee

durch die Wiederkehr der heiligen Liebe in die Seele.durch die Wiederkehr der heiligen Liebe in die Seele.durch die Wiederkehr der heiligen Liebe in die Seele.durch die Wiederkehr der heiligen Liebe in die Seele.durch die Wiederkehr der heiligen Liebe in die Seele.

1. Werke, die der Sünder vollbringt, während er der heiligen Liebe be-raubt ist, nützen ihm also nie etwas für das ewige Leben, deswegen werdensie tote Werke genannt. Die guten Werke des Gerechten nennt man imGegensatz dazu lebendige Werke, weil die göttliche Liebe sie beseelt undsie mit ihrer Würde belebt. Wenn sie durch den Einbruch der Sünde in dieSeele das Leben und ihren Wert verlieren, bezeichnet man sie als abgestor-bene, erloschene oder wohl auch als ertötete, aber nicht als tote Werke,besonders wenn man die Werke der Auserwählten im Auge hat.

2. Als der Herr von der kleinen Tabita, der Tochter des Jairus, sprach,sagte er, sie sei nicht tot, sondern sie schlafe bloß (Mt 9,24), denn da siesogleich auferweckt werden sollte, war ihr Tod von so kurzer Dauer, daß ermehr einem Schlaf als einem wirklichen Tod glich. Ebenso werden die

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Werke der Gerechten, besonders der Auserwählten, welche die hinzuge-kommene Sünde tötete, nicht tote Werke, sondern bloß erloschene, abgetö-tete, betäubte oder ohnmächtige Werke genannt, weil sie bei der nächstenRückkehr der heiligen Liebe sehr bald wieder aufleben und auferstehensollen oder wenigstens können.

Die Rückkehr der Sünde raubt dem Herzen und allen seinen Werkendas Leben; die Rückkehr der Gnade gibt dem Herzen und allen seinenWerken das Leben wieder. Ein strenger Winter ertötet alle Pflanzen derFluren; würde er immer andauern, so würden auch sie immer in diesemZustand des Todes bleiben. Die Sünde, dieser traurige und ganz furchtbareWinter der Seele, ertötet alle heiligen Werke, die er in ihr vorfindet; würdesie immer andauern, so könnte nichts mehr Leben und Kraft wiedererhal-ten.

Beim Einzug des lieblichen Frühlings keimen und treiben dank dieserschönen fruchtbaren Jahreszeit nicht bloß die neuen Samen, die in dieErde gestreut wurden, je nach ihrer Art, – nein, auch die alten Pflanzen,die die Strenge des Winters verwelkte, ausdörrte und ertötete, ergrünen neu,erstarken und gewinnen Kraft und Leben zurück. So werden auch, wenndie Sünde getilgt ist und die Gnade der göttlichen Liebe in die Seele zu-rückkehrt, nicht nur die neuen Regungen, welche die Rückkehr diesesheiligen Frühlings mit sich bringt, viele Verdienste und Segnungen her-vorbringen, sondern die Werke, die durch die Strenge des Winters derfrüheren Sünde ihre Schönheit und ihr Leben eingebüßt haben, werdenauch, wie von ihrem Todfeind befreit, neue Kraft gewinnen, erstarken undgleichsam auferstehen, aufs neue erblühen und für das ewige Leben anVerdiensten fruchtbar werden.

3. So groß ist die Allmacht der himmlischen Liebe oder die Liebe derhimmlischen Allmacht! „Wendet sich der Gottlose von seiner Gottlosig-keit ab, die er verübt hat, und übt er Recht und Gerechtigkeit, so wird erseine Seele beleben. Bekehrt euch und wendet euch ab von all euren Sün-den und die Sünde wird euch nicht weiter zum Verderben gereichen, sprichtder allmächtige Herr“ (Ez 18,27.30). Die Sünde wird euch nicht weiterzum Verderben gereichen, was heißt das anderes, als daß das Verderben, dassie angerichtet hat, wieder gutgemacht wird? So empfing der verloreneSohn nicht nur viele Liebkosungen von seinem Vater, sondern wurde nochmit schönen Gewändern versehen und mit allen Ehren in Gnaden, Begün-stigungen und Würden wieder eingesetzt, die er verloren hatte (Lk 15,22).

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Und Ijob, der, obwohl unschuldig, ein Bild des reumütigen Sünders ist,erhält schließlich alles wieder zweifach, was er besessen hatte (Ijob 42,10).

4. Gewiß will das Konzil von Trient (6. Sitz. 16), daß man den reuigenSünder zur heiligen Liebe des ewigen Gottes ermuntere mit den Wortendes Apostels: „Seid allzeit voll Eifer im Werk des Herrn, überzeugt, daßeure Mühe im Herrn nicht vergeblich ist“ (1 Kor 15,58). „Gott ist ja nichtungerecht, daß er eurer werktätigen Liebe vergäße, die ihr um seines Na-mens willen bekundet habt“ (Hebr 6,10). Gott vergißt also die Werkejener nicht, die die Liebe durch die Sünde verloren haben, sie aber durchdie Buße wieder gewinnen. Er vergißt die Werke, wenn sie ihren Wert undihre Heiligkeit durch die Sünde verlieren, und er erinnert sich ihrer wieder,wenn sie durch die Gegenwart der heiligen Liebe zum Leben und zu ihremWert zurückkehren. Damit also die Gläubigen sowohl mit der Vermehrungder Gnade und der zukünftigen Herrlichkeit, als auch mit dem tatsächli-chen Genuß des ewigen Lebens für ihre guten Werke belohnt werden, istes nach dem Ausspruch des heiligen Konzils nicht notwendig, daß sienicht in die Sünde zurückfallen, sondern es genügt, daß sie „in der Gnade“und in der Liebe Gottes aus diesem Leben scheiden (6. Sitz. can 32).

Gott hat den Werken des gerechten Menschen ewige Belohnung ver-sprochen. „Wenn sich aber der Gerechte von seiner Gerechtigkeit durchdie Sünde abwendet, wird Gott all seines gerechten Tuns, das er vollbracht,nicht eingedenk sein“ (Ez 18,24). Wenn jedoch dieser arme, in Sünde ge-fallene Mensch sich nachher wieder erhebt und durch Buße wieder zurgöttlichen Liebe zurückkehrt, wird Gott sich seiner Sünde nicht mehrerinnern (Ez 28,21f). Erinnert er sich aber der Sünde nicht mehr, so erin-nert er sich der vorhergegangenen guten Werke und der Belohnung, die erihnen versprochen hat, weil die Sünde, die allein sie aus dem GedächtnisGottes getilgt hatte, gänzlich ausgelöscht, weggeräumt und vernichtet ist.Daher verpflichtet die Gerechtigkeit Gottes seine Barmherzigkeit odervielmehr, seine Barmherzigkeit verpflichtet seine Gerechtigkeit, die frü-heren guten Werke von jetzt an so anzunehmen, als ob er sie nie vergessenhätte. Wäre es nicht so, dann hätte der heilige Büßer nie gewagt, zu seinemHerrn zu sagen: „Deines Heiles Freude laß mich neu erfahren und bestär-ke mich in Deinem ursprünglichen Geist“ (Ps 51,14). Denn, wie du siehst,bittet er nicht nur um die Erneuerung des Geistes und des Herzens (Ps51,12), sondern er wünscht auch, daß ihm die Freude zurückgegeben wer-de, die ihm die Sünde geraubt hat. Diese Freude aber ist nichts anderes als

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der „Wein“ der himmlischen Liebe, die „das Herz des Menschen erfreut“(Ri 9,13; Ps 104,15).

5. Was hier von den Werken der Liebe gesagt ist, gilt nicht für die Sünde,denn die Werke des Gerechten sind nicht ausgelöscht, vertilgt und zunichtegemacht durch die hinzugekommene Sünde, sondern sie sind bloß verges-sen. Die Sünde des Bösen ist aber nicht bloß vergessen, sondern sie wirddurch die heilige Buße ausgelöscht, weggefegt, getilgt und vernichtet. Des-halb läßt auch die einem gerechten Menschen zugestoßene Sünde nichtdessen schon verziehene Sünden neu aufleben, da sie ja schon ganz ver-nichtet waren. Die in die Seele des Büßers einziehende Liebe aber erwecktdessen frühere heilige Werke zu neuem Leben, denn sie waren ja nichtgetilgt, sondern bloß vergessen. Dieses Vergessen der guten Werke des Ge-rechten, die ihrer Gerechtigkeit und Liebe verlustig gegangen sind, bestehtdarin, daß sie uns nutzlos gemacht wurden, solange die Sünde uns unfähigdes ewigen Lebens, der Frucht guter Werke, macht. Sobald wir durch dieRückkehr der Liebe aber wieder in den Stand der Kinder Gottes zurück-versetzt und folglich der ewigen Glorie fähig sind, erinnert sich Gott wie-der unserer einstigen guten Werke und sie werden aufs neue für uns frucht-bringend.

6. Es wäre nicht vernünftig, hätte die Sünde ebensolche Kraft gegen dieLiebe, wie die Liebe gegen die Sünde, denn die Sünde rührt von unsererSchwäche her, die Liebe aber von der göttlichen Macht. Wenn die Sündeüberreich an Bosheit ist, um zu zerstören, so ist die Gnade noch reichli-cher, um gutzumachen (Röm 5,20). Und die Barmherzigkeit Gottes, durchdie er die Sünde auslöscht, erhebt sich immer und triumphiert herrlichüber die Strenge des Gerichtes (Jak 2,13), kraft dessen Gott die gutenWerke, die der Sünde vorausgegangen waren, vergessen hatte. So gab derHerr auch bei den körperlichen Heilungen, die er durch seine Wunderbewirkte, nicht nur die Gesundheit zurück, sondern er fügte neue Segnun-gen hinzu und ließ die Heilung die Krankheit weit übertreffen. So gütig ister gegen die Menschen.

Ich habe weder je gesehen, noch gelesen, noch gehört, daß Wespen, Brem-sen, Stechmücken und andere kleine schädliche Tiere, nachdem sie ge-storben sind, zu neuem Leben auferstehen können. Daß aber die liebenund so überaus nützlichen Bienen zu neuem Leben erwachen können, sagtman allgemein und ich habe es auch schon oft gelesen. Man sagt aber vonden Bienen (so Plinius H. n. 11,20), wenn man ihre toten, ertränkten Lei-

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ber den ganzen Winter im Haus aufbewahre und sie im darauffolgendenFrühling mit Asche vom Feigenbaum bedeckt in die Sonne lege, dannkehren sie zum Leben zurück und seien so kräftig wie zuvor.

Daß die Missetaten und bösen Werke, die durch die Buße ertränkt undgetilgt worden sind, wieder aufleben können, ist, soviel ich weiß, weder inder Heiligen Schrift noch von irgendeinem Theologen gesagt worden; viel-mehr lehrt das Wort Gottes das Gegenteil und es ist auch die allgemeineAnsicht aller Kirchenlehrer. Daß aber die heiligen Werke, die gleich fei-nen Bienen den Honig der Verdienste bereiten, nachdem sie in der Sündeuntergegangen waren, nachher wieder aufleben können, wenn man sie,bedeckt mit der Asche der Buße, der Sonne der Gnade und der Liebeaussetzt, das sagen alle Theologen und lehren es klar und eindeutig. Des-halb darf man keinen Zweifel hegen, daß sie wieder so nützlich und frucht-bringend sind, wie sie es vor der Sünde waren.

Als Nebusaradan Jerusalem zerstörte und Israel in die Gefangenschaftführte, wurde das heilige Feuer des Altares in einen Brunnen versteckt, woes sich in Schlamm verwandelte; doch als dieser Schlamm bei der Rück-kehr aus der Gefangenschaft wieder aus dem Brunnen gezogen und derSonne ausgesetzt wurde, erstand das tote Feuer zu neuem Leben und derSchlamm verwandelte sich in Flammen (2 Makk 1,19-22). Wenn der Ge-rechte zu einem Sklaven der Sünde wird, geraten alle guten Werke, die erverrichtet hat, in elende Vergessenheit und werden zu Schlamm. Dochbeim Austritt aus der Gefangenschaft, sobald er durch die Buße in dieGnade der göttlichen Liebe zurückkehrt, werden seine früheren gutenWerke aus dem Brunnen der Vergessenheit gezogen. Von den Strahlen derhimmlischen Barmherzigkeit berührt, erhalten sie neues Leben und ver-wandeln sich in so helle Flammen wie zuvor. Als solche werden sie aufden heiligen Altar der göttlichen Anerkennung gelegt, um ihre frühereWürde, ihren ursprünglichen Wert zurückzuerhalten.

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13. KapitelWWWWW ie wir die ganze Übung der Tie wir die ganze Übung der Tie wir die ganze Übung der Tie wir die ganze Übung der Tie wir die ganze Übung der Tugenden und unserer Handlungenugenden und unserer Handlungenugenden und unserer Handlungenugenden und unserer Handlungenugenden und unserer Handlungen

auf die heilige Liebe zurückführen sollen.auf die heilige Liebe zurückführen sollen.auf die heilige Liebe zurückführen sollen.auf die heilige Liebe zurückführen sollen.auf die heilige Liebe zurückführen sollen.

1. Da die Tiere den Zweck ihrer Handlungen nicht erkennen können,richten sie diese wohl auf ihr Ziel, aber sie streben nicht nach diesem;denn streben heißt planmäßig auf etwas hinzielen, bevor man es in der Tatdurchführt. Die Tiere handeln auf ihr Ziel hin, entwerfen aber keinenPlan, sondern folgen wahl- und absichtslos ihrem Instinkt. Der Menschaber ist so sehr Herr seiner menschlichen, vernunftgemäßen Handlungen,daß er sie alle irgendeines Zieles wegen verrichtet. Er kann sie auf ein Zieloder auf mehrere besondere Ziele hinrichten, wie es ihm gut dünkt. Erkann den natürlichen Zweck einer Handlung ändern; er kann z. B. schwö-ren, um zu täuschen, obwohl der Zweck des Schwörens ist, die Täuschungzu vermeiden. Er kann auch dem natürlichen Zweck einer Handlung ir-gendeinen anderen Zweck hinzufügen, wenn er zum Beispiel der Absicht,dem Armen beizustehen, worauf das Almosengeben an sich hinzielt, nochdie Absicht hinzufügt, den Notleidenden in gleicher Weise zu verpflich-ten.

2. Manchmal fügen wir dem Zweck unserer Handlungen ein Ziel hinzu,das weniger vollkommen als diese ist, manchmal fügen wir eines von glei-cher oder ähnlicher Vollkommenheit hinzu und zuweilen auch ein Ziel, dashöher und erhabener ist. Denn kann man beim Almosen außer der Unter-stützung des Dürftigen, das ja der besondere Zweck des Almosens ist,nicht auch anstreben: 1) seine Freundschaft zu erringen, 2) den Nächstenzu erbauen und 3) Gott zu gefallen? Das sind drei verschiedene Ziele, vondenen das erste weniger vollkommen ist als das gewöhnliche Ziel des Al-mosens, das zweite kaum um vieles besser und das dritte viel erhabener.Folglich können wir unseren Handlungen je nach den Beweggründen, Zie-len und Absichten, die wir bei deren Verrichtung haben, verschiedeneVollkommenheiten verleihen.

„Seid gute Wechsler,“ sagt der Heiland (Nach Origen. Ambr., Hieron.und anderen). Seien wir darum sehr bedacht, Theotimus, die Beweggrün-de und das Ziel unserer Handlungen nur mit Nutzen und vorteilhaft zuwechseln und bei diesem Handel nichts zu tun, was nicht vernunft- undordnungsgemäß ist.

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Da ist ein Mann, der sein Amt antritt, um dem öffentlichen Wohl zudienen und Ehre zu erringen. Ist es ihm mehr darum zu tun, Ehren zuerlangen, als den öffentlichen Angelegenheiten zu dienen, oder ist ihm umdas eine ebenso wie um das andere zu tun, dann handelt er unrecht und istehrgeizig. Er stürzt ja die Ordnung der Vernunft um, indem er sein Inter-esse dem öffentlichen Wohl gleichsetzt oder vorzieht. Strebt er aber alssein Hauptziel an, dem öffentlichen Wohl zu dienen, und freut er sichnebenbei, die Ehre seiner Familie zu vermehren, so darf man ihn gewißdeswegen nicht tadeln, denn beides sind nicht nur ehrbare Absichten, son-dern sie stehen auch in der richtigen Reihenfolge.

Ein anderer empfängt die heilige Kommunion zu Ostern, um von seinerNachbarschaft nicht Vorwürfe zu hören und um Gott zu gehorchen. OhneZweifel handelt er gut. Doch wenn es ihm ebensoviel oder noch mehrdarum zu tun ist, den Vorwürfen seiner Nachbarschaft auszuweichen, alsGott zu gehorchen, so besteht kein Zweifel, daß er in ungehöriger Weisekommuniziert, da er die Furcht vor den Menschen dem Gehorsam, den erGott schuldig ist, gleichsetzt oder vorzieht.

Ich kann während der Fastenzeit entweder aus Liebe fasten, um Gott zugefallen, oder aus Gehorsam, weil es die Kirche anordnet, oder aus Mäßig-keit, oder aus Fleiß, um besser studieren zu können, oder aus Klugheit, umnotwendige Ersparnisse zu machen, oder aus Keuschheit, um meinen Leibzu bändigen, oder aus Ehrfurcht vor Gott, um besser beten zu können.Wenn ich will, kann ich alle diese Absichten auf einmal haben und aus alldiesen Gründen fasten, doch muß ich da sehr auf der Hut sein, die Beweg-gründe in die richtige Reihenfolge zu bringen. Denn faste ich hauptsäch-lich, um zu sparen, mehr als um der Kirche zu gehorchen, – oder um gut zustudieren, mehr als um Gott zu gefallen, wer sieht dann nicht ein, daß ichdamit das Recht und die Ordnung umstürze? Ich ziehe ja dann meineInteressen dem Gehorsam gegen die Kirche oder dem Wohlgefallen Got-tes vor. Fasten, um zu sparen, ist gut; fasten, um der Kirche zu gehorchen,ist besser; fasten, um Gott zu gefallen, ist sehr gut. Doch obwohl es scheint,daß man aus drei guten Dingen nichts Böses machen könne, so würde dochzweifellos derjenige eine tadelnswerte Unregelmäßigkeit begehen, der diesedrei Beweggründe in falscher Ordnung reihen wollte, indem er das weni-ger Gute dem Besseren vorzieht.

3. Wenn jemand nur einen seiner Freunde einlädt, beleidigt er keineswegsdie anderen; lädt er sie aber alle ein und weist er den weniger Angesehenen

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die ersten Plätze zu und läßt die Vornehmeren unten am Ende des Tischessitzen, beleidigt er da nicht die einen und die anderen? Die einen, weil ersie ohne Grund herabsetzt, die anderen, weil er sie lächerlich macht.

Ebenso handelt man nicht gegen die Vernunft, wenn man eine Handlungaus einem einzigen vernünftigen, wenn auch noch so unbedeutenden Grundtut. Wer aber mehrere Beweggründe haben will, muß ihnen den ihrer Eigen-art zukommenden Rang geben, sonst versündigt er sich; denn Unordnungist Sünde, so wie Sünde Unordnung ist.

Wer Gott und Unserer lieben Frau gefallen will, tut etwas sehr Gutes;wer aber Unserer lieben Frau ebenso wie Gott, ja noch mehr gefallenwollte, würde sich einer unerträglichen Verfehlung schuldig machen. Mankönnte auf ihn die Worte anwenden, die an Kain gerichtet worden sind:„Du hast gut getan, zu opfern, aber du hast schlecht geteilt, höre auf, duhast gesündigt“ (Gen 4,7 nach der Septuag.). Man muß jedem Ziel denRang einräumen, der ihm zukommt, und folglich es als höchstes Ziel an-sehen, Gott zu gefallen.

4. Das höchste Motiv unserer Handlungen, das der Gottesliebe, besitzt dieerhabene Eigenschaft, als reinstes Motiv die Handlung, die aus ihm hervor-geht, ganz rein zu machen. Daher lieben die Engel und Heiligen des Him-mels nichts aus einem anderen Grund als aus Liebe zur göttlichen Güteund mit dem Beweggrund, ihr gefallen zu wollen. Sie lieben einander wohlinnig und glühend, sie lieben auch uns und lieben die Tugenden, aber alldies einzig und allein, um Gott zu gefallen. Sie üben die Tugenden nicht,weil sie schön und lobenswert sind, sondern weil sie Gott wohlgefälligsind. Sie lieben ihre Glückseligkeit nicht, weil es die ihre ist, sonderninsofern sie Gott gefällt. Ja selbst die Liebe, mit der sie Gott lieben, liebensie nicht, weil sie in ihnen ist, sondern weil sie Gott gefällt; nicht weil siesie haben und besitzen, sondern weil Gott sie ihnen schenkt und daransein Wohlgefallen hat.

14. KapitelPraktische Durchführung des im vorigen Kapitel Gesagten.Praktische Durchführung des im vorigen Kapitel Gesagten.Praktische Durchführung des im vorigen Kapitel Gesagten.Praktische Durchführung des im vorigen Kapitel Gesagten.Praktische Durchführung des im vorigen Kapitel Gesagten.

1. Reinigen wir daher, sosehr wir nur können, alle unsere Absichten; undda wir allen unseren tugendhaften Handlungen den heiligen Beweggrundder göttlichen Liebe geben können, warum es dann nicht tun? Weisen wirbei allen Gelegenheiten schlechte Absichten wie Ehrsucht, Eigennutz zu-

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rück und erwägen wir alle guten Beweggründe, die wir haben können, dieHandlung, vor der wir stehen, zu vollbringen, um dann den der heiligenLiebe zu wählen, der als der ausgezeichnetste sie alle benetzen und durch-tränken soll.

Will ich mich z. B. tapfer den Kriegsgefahren aussetzen, so kann ich esaus verschiedenen Beweggründen tun; der natürliche Beweggrund dieserHandlung ist Tatkraft und Tapferkeit, der es eigen ist, mit Überlegunggefährliche Dinge zu unternehmen. Doch außer diesem Motiv kann ichnoch verschiedene andere haben, etwa Gehorsam dem Fürsten, dem ichdiene, oder Liebe zum allgemeinen Wohl, oder Großmut, der mich an derGröße dieser Handlung Gefallen finden läßt. Kommt es dann zur Ausfüh-rung, so stürze ich mich in die Gefahr, vorbereitet durch alle diese Beweg-gründe. Doch um sie alle zur Höhe der göttlichen Liebe emporzuhebenund sie vollkommen zu reinigen, werde ich aus ganzem Herzen in meinerSeele sprechen: O ewiger Gott, Du liebste Liebe meines Herzens, wennDir Tapferkeit, Gehorsam gegen den Fürsten, Liebe zum Vaterland undGroßmut nicht wohlgefällig wären, würde ich ihren Regungen, die ichjetzt in mir fühle, niemals Folge leisten. Doch weil Du an diesen TugendenWohlgefallen hast, ergreife ich diese Gelegenheit, um sie zu üben, undgebe ihrem Antrieb und ihrer Neigung nur nach, weil Du es liebst undwillst.

2. Daraus siehst du, mein lieber Theotimus, daß wir durch diese Überle-gung alle anderen Beweggründe mit dem Wohlgeruch und der Lieblichkeitder Liebe würzen, denn wir folgen ihnen nicht als einfachen tugendhaftenBeweggründen, sondern als Beweggründen, die von Gott gewollt, die vonihm gutgeheißen und geliebt werden.

Wer stiehlt, um sich zu betrinken, der ist nach Aristoteles mehr einTrunkenbold als ein Dieb (s. XI,9). Und wer demnach Tapferkeit, Gehor-sam, Vaterlandsliebe, Großmut übt, um Gott zu gefallen, ist mehr einGottliebender als ein tapferer, gehorsamer, guter Bürger und großmütigerMensch. Sein ganzer Wille zielt ja bei dieser Übung auf die Liebe Gotteshin und geht in ihr auf und alle anderen Beweggründe werden nur dazuverwendet, zu diesem Ziel zu gelangen. Wir sagen nicht, daß wir nachLyon fahren, sondern nach Paris, wenn wir nach Lyon nur fahren, um nachParis zu kommen; und wir sagen nicht, daß wir singen gehen, sondern daßwir Gott dienen gehen, wenn wir nur singen gehen, um Gott zu dienen.

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3. Werden wir manchmal von einem besonderen Beweggrund ergriffen,geschieht es uns z. B., daß wir die Keuschheit wegen ihrer schönen, soanziehenden Reinheit lieben, so müssen wir diesen Beweggrund sogleichmit dem der göttlichen Liebe durchtränken, etwa in der Weise: „O höchstsittsame und liebliche Reinheit der heiligen Keuschheit, wie liebenswertbist du, da dich doch die göttliche Liebe so sehr liebt!“ Wenden wir unsdann an den Schöpfer mit den Worten: „Ach Herr, nur eines erflehe ichvon Dir, nämlich, daß ich in dem Streben nach Keuschheit Dein Wohlge-fallen und die Freude, die Du daran findest, sehe und danach handle“ (Ps27,4). Wenn wir uns an die Übung der Tugenden machen, sollen wir oftaus ganzem Herzen sprechen: „Ja, ewiger Vater, ich werde es tun, denn sowar es Dir von aller Ewigkeit her wohlgefällig“ (Mt 11,26).

Auf diese Weise müssen wir alle Handlungen mit diesem göttlichenWohlgefallen beseelen, indem wir die Ehrbarkeit und Schönheit der Tu-genden hauptsächlich deshalb lieben, weil sie Gott wohlgefällig sind.

4. Es gibt nämlich Menschen, mein lieber Theotimus, die die Schönheiteiniger Tugenden über alles lieben, nicht nur ohne die heilige Liebe zu lieben,sondern sogar, indem sie diese verachten. Origenes und Tertullian liebtendie fleckenlose Reinheit der Keuschheit so sehr, daß sie dadurch die gro-ßen Gesetze der Liebe arg verletzten; der eine, indem er lieber Götzen-dienst übte, als daß er eine Schandtat duldete, mit der die Tyrannen seinenLeib beflecken wollten; der andere, indem er sich von seiner Mutter, derganz keuschen katholischen Kirche trennte, um nach seinem Sinn dieKeuschheit seiner Frau zu festigen.

Wer weiß nicht von den „Armen von Lyon“, die, um in übertriebenerWeise die Armut zu verherrlichen, zu Häretikern und aus Bettlern Tauge-nichtse wurden? Wer kennt nicht die Eitelkeit der Enthusiasten, der Mes-salier und Euchiten, die die Liebe aufgaben, um das Beten herauszustrei-chen? Wer weiß nicht, daß es Häretiker gegeben hat, die, um die Liebe zuden Armen hochzuheben, die Liebe zu Gott herabsetzten und von derTugend des Almosengebens das ganze Heil der Menschen abhängig mach-ten, wie es der hl. Augustinus bezeugt (St. G. 21,27)? Obwohl doch derApostel ausruft: „Wer alle seine Habe den Armen austeilt, aber die Liebenicht hat, dem nützt es nichts“ (1 Kor 13,3).

5. „Sein Banner über mir ist seine Liebe,“ sagt Schulammit (Hld 2,4nach dem Hebr.). Die Liebe, Theotimus, ist das Banner in der Armee derTugenden, nach ihr müssen sich alle richten. Sie ist die einzige Fahne,

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unter welcher der Herr, der wahre Feldherr dieser Armee, sie kämpfenläßt. So reihen wir denn alle Tugenden unter den Gehorsam der Liebe;lieben wir die einzelnen Tugenden, aber hauptsächlich, weil sie Gott wohlge-fällig sind. Lieben wir die besonders vorzüglichen Tugenden auf vorzügli-che Weise, nicht deswegen, weil sie vorzüglich sind, sondern weil Gott sieauf vorzügliche Weise liebt. So wird die heilige Liebe alle Tugenden bele-ben, sie alle mit Liebe erfüllen, sie liebenswert, ja überaus liebenswertmachen.

15. KapitelDie Liebe schließt die Gaben des Heiligen Geistes in sich.Die Liebe schließt die Gaben des Heiligen Geistes in sich.Die Liebe schließt die Gaben des Heiligen Geistes in sich.Die Liebe schließt die Gaben des Heiligen Geistes in sich.Die Liebe schließt die Gaben des Heiligen Geistes in sich.

1. Damit der menschliche Geist leicht den Regungen und Antrieben derVernunft folgen könne, um zu dem natürlichen Glück zu gelangen, dasihm erreichbar ist, wenn er nach den Gesetzen der Rechtschaffenheit lebt,bedarf er erstens der Mäßigkeit, um die anmaßenden Neigungen der Sinn-lichkeit zurückzudrängen; zweitens der Gerechtigkeit, um Gott, demNächsten und sich selbst das zu geben, was er zu geben schuldig ist; drit-tens des Starkmutes, um die Schwierigkeiten zu besiegen, die man beimGutsein und bei der Bekämpfung des Bösen empfindet; viertens der Klug-heit, um zu unterscheiden, welches die geeignetsten Mittel sind, zum Gu-ten und zur Tugend zu gelangen; fünftens der Wissenschaft, um das wahr-haft Gute, nach dem man streben soll, und das wahrhaft Böse, das manverwerfen soll, zu erkennen; sechstens der Einsicht, um in die ersten undwichtigsten Grundlagen oder Grundsätze der Schönheit und des Wertesder Rechtschaffenheit gut einzudringen; siebtens und letzten Endes derWeisheit zur Betrachtung der Gottheit, des Ursprungs alles Guten.

Das sind die Eigenschaften, durch die unser Gemüt gegenüber den Ge-setzen der uns innewohnenden Vernunft sanft, gehorsam und willig wird.

2. Der Heilige Geist, der in uns wohnt, will unsere Seele geschmeidig,lenksam und gehorsam für seine göttlichen Anregungen und himmlischenEingebungen machen. Es sind dies die Gesetze seiner Liebe, in derenBeobachtung die übernatürliche Glückseligkeit dieses gegenwärtigen Le-bens liegt. Dazu verleiht er ihr sieben Eigenschaften und Vollkom-menheiten, die den sieben, die wir eben aufgezählt haben, fast gleich sind,und die in der Heiligen Schrift (Jes 11,2 f; Apg 2,38) und von den Theolo-

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gen Gaben des Heiligen Geistes genannt werden. Diese sind nicht nuruntrennbar von der Liebe, sondern, wenn wir alles gut erwägen und richtigsagen, sind sie die Haupttugenden, Eigenheiten und Eigenschaften derLiebe.

Denn erstens ist die Weisheit in der Tat nichts anderes als die Liebe, dieempfindet, verkostet und erfährt, wie gütig und liebreich Gott ist. Zwei-tens: Der Verstand ist nichts anderes als die Liebe, die ihr Augenmerkdarauf lenkt, die Schönheit der Glaubenswahrheiten zu erwägen und zudurchdringen, um darin Gott, wie er in sich selbst ist, zu erkennen und umdann von da herabzusteigen und ihn in den Geschöpfen zu betrachten.Drittens: Die Wissenschaft dagegen ist nichts anderes als dieselbe Liebe,die unsere Aufmerksamkeit darauf richtet, uns selbst und die Geschöpfezu erkennen, um uns dadurch zu einer vollkommeneren Kenntnis desDienstes gelangen zu lassen, den wir Gott schuldig sind. Viertens: Der Ratist auch die Liebe, insofern sie dahin wirkt, uns in der Wahl der geeignetenMittel, Gott heilig zu dienen, sorgfältig, aufmerksam und befähigt zu ma-chen. Fünftens: Die Stärke ist die Liebe, die das Herz ermutigt und an-spornt, das auszuführen, was der Rat als das festgesetzt hat, was getanwerden muß. Sechstens: Die Frömmigkeit ist die Liebe, die die Arbeiterleichtert und uns dazu drängt, uns für die Werke, die Gott, unseremVater, gefallen, herzlich, freundlich und mit kindlicher Liebe zu verwen-den. Siebtens und letztlich ist die Furcht nichts anderes als die Liebe,insofern sie uns alles, was der göttlichen Majestät mißfällt, fliehen undvermeiden läßt.

3. Auf diese Weise, Theotimus, wird die Liebe uns zu einer Jakobsleiter(Gen 28,12), deren Stufen die sieben Gaben des Heiligen Geistes sind, aufdenen die engelhaften Menschen von der Erde zum Himmel emporsteigen,um dort am Herzen des allmächtigen Gottes zu ruhen, und auf denen sievom Himmel auf die Erde herabsteigen, um den Nächsten bei der Hand zunehmen und ihn in den Himmel zu führen.

Denn sobald wir die erste Stufe betreten, bewirkt die Furcht, daß wir dasBöse meiden. Auf der zweiten regt uns die Frömmigkeit dazu an, das Gutezu wollen. Auf der dritten läßt uns die Wissenschaft das Gute, das wir tun,und das Böse, das wir fliehen sollen, erkennen. Auf der vierten gewinnenwir durch die Stärke Mut, allen Schwierigkeiten zu begegnen, die sichunserem Unternehmen in den Weg stellen. Auf der fünften läßt uns derRat die geeignetsten Mittel dazu wählen. Auf der sechsten vereinigen wirunser Erkenntnisvermögen mit Gott, um die Züge seiner unendlichen

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Schönheit zu sehen und sie uns einzuprägen. Und auf der siebten vereini-gen wir unseren Willen mit Gott, um die Wonnen seiner unbegreiflichenGüte zu verkosten und zu erfahren. Denn auf der höchsten Spitze dieserLeiter neigt sich Gott zu uns herab, gibt uns den Liebeskuß und stillt unsan seiner heiligen Brust mit seinen Wonnen, die köstlicher sind als derWein (Hld 1,1).

4. Haben wir nun diese Liebesbezeugungen Gottes selig verkostet undwollen wieder auf die Erde herabsteigen, um den Nächsten zur gleichenSeligkeit zu führen, so müssen wir von der ersten und höchsten Stufe, aufder wir unseren Willen mit einem ganz glühenden Eifer und unsere Seelemit den Wohlgerüchen der alles beherrschenden Liebe zu Gott erfüllthaben, auf die zweite Stufe herabsteigen. Auf dieser gewinnt unser Er-kenntnisvermögen eine unvergleichliche Klarheit und sammelt sich einenVorrat wertvollster Gedanken und Grundsätze zum Ruhm der Schönheitund Güte Gottes. Von da kommen wir zur dritten, wo wir durch die Gabedes Rates überlegen, durch welche Mittel wir dem Geist unserer Mitmen-schen Geschmack an den göttlichen Freuden und deren Wertschätzungeinflößen können. Auf der vierten schöpfen wir Mut und empfangen heili-ge Stärke, um die Schwierigkeiten zu überwinden, die uns an diesem Vor-haben hindern könnten. Auf der fünften fangen wir mit der Gabe der Wis-senschaft zu predigen an und reden den Seelen zu, die Tugenden zu übenund die Laster zu fliehen. Auf der sechsten versuchen wir ihnen die heiligeFrömmigkeit einzuprägen, damit sie Gott als ihren überaus liebenswürdi-gen Vater erkennen und ihm mit kindlicher Furcht gehorchen. Und aufder letzten Stufe drängen wir sie dazu, die Gerichte Gottes zu fürchten,damit sie mit kindlicher Ehrfurcht auch Furcht vor der Verdammung ver-binden und so eifriger darauf aus sind, die Erde zu verlassen und sich mituns zum Himmel zu erheben.

5. Die Liebe schließt die sieben Gaben in sich; sie gleicht einer schönenLilie, die sechs Blätter hat, alle weißer als Schnee, in deren Mitte goldeneHämmerchen, die Staubgefäße der Weisheit sich befinden, die unseremHerzen liebevolles Verkosten der Güte des Vaters, unseres Schöpfers, derBarmherzigkeit des Sohnes, unseres Erlösers, und der Lieblichkeit desHeiligen Geistes, unseres Heiligmachers, einhämmern.

Ich setze hier die zweifache Furcht auf die zwei letzten Stufen, um alleÜberzeugungen in Übereinstimmung zu bringen mit der Norm der Aus-gabe des Heiligen Textes (Jes 11,2). Denn, wenn im hebräischen Text das

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Wort Furcht zweimal vorkommt, so geschieht das nicht ohne eine geheim-nisvolle Absicht. Es soll damit gesagt sein, daß es eine Gabe kindlicherFurcht gibt, die nichts anderes ist als die Gabe der Frömmigkeit, und eineGabe knechtischer Furcht, die der Anfang unseres Weges zur höchstenWeisheit ist (Ps 111,10).

16. KapitelDie liebevolle Furcht bräutlicher Seelen.Die liebevolle Furcht bräutlicher Seelen.Die liebevolle Furcht bräutlicher Seelen.Die liebevolle Furcht bräutlicher Seelen.Die liebevolle Furcht bräutlicher Seelen.

ForForForForFortsetzung der begonnenen Abhandlung.tsetzung der begonnenen Abhandlung.tsetzung der begonnenen Abhandlung.tsetzung der begonnenen Abhandlung.tsetzung der begonnenen Abhandlung.

1. „Jonatan, wie warst du mir lieb! Höher als Minne um Frauen galtdeine Liebe mir!“ rief David aus (2 Sam 1,26), und es ist, als wollte ersagen: du verdienst eine größere Liebe als die der Frauen zu ihren Män-nern.

Alle vortrefflichen Dinge sind selten. Stelle dir, Theotimus, eine Brautvor mit einem wahren Taubenherzen, das die Vollkommenheit bräutlicherLiebe besitzt. Ihre Liebe ist unvergleichlich sowohl an Größe und Schön-heit, wie an einer Vielzahl schöner Liebesaffekte und Eigenschaften, diesie begleiten. Sie ist nicht nur keusch, sondern schamhaft; sie ist kräftig,aber zugleich anmutig; sie ist gewaltig, aber zugleich zart; sie ist glühend,aber zugleich ehrfurchtsvoll; großmütig aber furchtsam; kühn aber gehor-sam und ihre Furcht ist ganz vermengt mit holdem Vertrauen.

So ist gewiß die Furcht der Seele, welche die erhabene Liebe besitzt. Sieist der überaus großen Güte ihres Bräutigams so sicher, daß sie nicht fürch-tet, ihn zu verlieren. Wohl aber fürchtet sie, sich seiner göttlichen Gegen-wart nicht genug zu erfreuen, und daß ihn irgendetwas, sei es auch nur füreinen Augenblick, von ihr entfernen könne. Wohl hat sie das Vertrauen,ihm nie zu mißfallen, doch fürchtet sie, ihm nicht so zu gefallen, wie dieLiebe es verlangt. Ihre Liebe ist zu beherzt, um auch nur den bloßen Ver-dacht aufkommen zu lassen, je in Ungnade zu fallen, doch ist sie zugleichauch so aufmerksam, daß sie fürchtet, nicht genug mit ihm vereint zu sein.

Ja, die Seele gelangt zuweilen sogar zu so großer Vollkommenheit, daßsie nicht mehr fürchtet, nicht genug mit ihm vereint zu sein, – gibt ihreLiebe ihr doch die Gewißheit, daß sie es immer sein wird –, doch fürchtetsie, daß diese Vereinigung nicht so rein, so einfach und aufmerksam ist, wieihre Liebe es wünschte.

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Diese bewundernswerte Liebende ist es, die nicht die Empfindungen undFreuden, die Tugenden und geistlichen Tröstungen lieben will, aus Furcht,sie könnte auch nur ein wenig von der einen einzigen Liebe abgelenktwerden, die sie ihrem Vielgeliebten entgegenbringt. Darum bekennt sieauch, daß sie ihn selbst sucht und nicht seine Gaben, indem sie ausruft:Nun künde mir du, dem mein Herz gehört: wo steht deine Herde, wo läßtdu lagern am Mittag? Damit ich nicht abirre zu Freuden, die außer dirgelegen sind (Hld 1,7).

2. Von dieser heiligen Furcht der Bräute Gottes waren die großen Seeleneines hl. Paulus, eines hl. Franziskus, einer hl. Katharina von Genua undandere ergriffen, die keine Beimengung in ihrer Liebe duldeten, sonderntrachteten, sie so rein, so einfach, so vollkommen zu gestalten, daß wederdie Tröstungen, noch selbst die Tugenden sich zwischen ihr Herz und Gotteindrängen könnten. Deshalb konnten sie sagen: „Ich lebe, doch nichtmehr ich lebe, sondern Jesus Christus lebt in mir“ (Gal 2,20). „Mein Gottist mir alles“ (s. X,4). „Was nicht Gott ist, ist mir nichts.“ „Jesus Christusist mein Leben“ (Kol 3,4; Phil 1,21). „Meine Liebe ist gekreuzigt“ undandere ähnliche Worte ekstatischen Empfindens.

3. Die anfängliche Furcht oder die Furcht der Anfänger geht aus derwahren Liebe hervor, doch aus einer noch zarten, schwachen, erst be-ginnenden Liebe. Die kindliche Furcht geht aus einer festen, wider-standsfähigen, bereits nach Vollkommenheit strebenden Liebe hervor. Diebräutliche Furcht jedoch ist die Furcht einer bereits erlangten Höhe undVollendung der Liebe. Die knechtische und Mietlingsfurcht entspringt abergewiß nicht der Liebe, dient jedoch der Liebe gewöhnlich als Vorläufer,wie wir schon anderswo gesagt haben (II,18), und kann in ihrem Dienst oftsehr nützlich sein.

4. Du wirst vielleicht schon einmal Frauen zugesehen haben, die ihrBrot ebensowenig müßig essen wollen, wie jene starke Frau, die Salomo sosehr gepriesen hat (Spr 31,27). Sie tragen Seide in bunter Farbenpracht aufweißen Satin auf, um viele schöne Blumen darauf zu sticken, und fassendiese dann je nach dem Muster mit Silber und Gold reich ein, um sie guthervortreten zu lassen. Diese Arbeit wird mit Nadeln ausgeführt, die dieStickerin überall hindurchführt, wo sie Seide, Silber oder Gold auflegenwill. Die Nadel wird jedoch nicht in den Satin hineingestochen, um in ihmzu bleiben, sondern nur um Seide, Silber oder Gold aufzutragen und ih-nen den Weg zu bahnen. Sobald diese an dem Stoff haften, wird die Nadelherausgezogen.

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So bedient sich die göttliche Güte der knechtischen und Mietlingsfurcht,wenn sie die mannigfaltigsten Tugenden in die menschliche Seele legt, umdiese dann mit ihrer heiligen Liebe zu zieren. Die knechtische Furcht sta-chelt für gewöhnlich zuerst unser Herz an; doch wird sie nicht im Herzengelassen, sondern in dem Maße, als die Tugenden sich in der Seele niederlas-sen, scheidet die knechtische und Mietlingsfurcht aus. Der Lieblingsjüngersagt ja: „Vollkommene Liebe verdrängt die Furcht“ (1 Joh 4,18). Ja wahr-haftig, Theotimus, denn die Furcht, verdammt zu werden, des Himmelsverlustig zu gehen, ist etwas Schreckliches und Beängstigendes. Wie solltesie zusammenwohnen mit der heiligen Liebe, die ganz sanft und lieblichist?

17. KapitelDas dauernde VDas dauernde VDas dauernde VDas dauernde VDas dauernde Verbleiben knechtischer Ferbleiben knechtischer Ferbleiben knechtischer Ferbleiben knechtischer Ferbleiben knechtischer Furcht mit der Gottesliebe.urcht mit der Gottesliebe.urcht mit der Gottesliebe.urcht mit der Gottesliebe.urcht mit der Gottesliebe.

1. Die Frau, von der wir oben sprachen, hat nicht die Absicht, die Nadeldauernd in der Arbeit stecken zu lassen, sobald diese vollendet ist; mußsie aber irgendeiner anderen Beschäftigung nachgehen, solange sie an derStickerei zu arbeiten hat, dann läßt sie die Nadel in der Nelke, Rose oderdem Stiefmütterchen stecken, daran sie eben stickt, um sie leichter zufinden, wenn sie zu dieser Arbeit zurückkehrt.

Desgleichen, Theotimus, läßt die göttliche Vorsehung, welche die Zier-arbeit der Tugenden und das Werk ihrer heiligen Liebe in unseren Seelenvollbringt, die knechtische oder Mietlingsfurcht solange in ihnen, bis dieLiebe vollkommen ist. Dann erst entfernt sie diese spitze Nadel und stecktsie sozusagen in das Nadelkissen. In diesem Leben also, in dem unsereLiebe nie so vollkommen sein wird, daß sie außer jeglicher Gefahr ist,bedürfen wir immer der Furcht. Während wir aus Liebe vor Freude erbe-ben, müssen wir aus Furcht vor Bangigkeit zittern.

„Nun ihr Könige, seid denn klug!Laßt euch warnen, ihr Richter auf Erden!Beugt euch dem Herrn in Furcht!Ehrt ihn mit Zittern!“ (Ps 2,10 f).

2. Der große Patriarch Abraham sandte seinen Diener Elieser aus, sei-nem einzigen Sohn Isaak eine Frau zu suchen. Elieser machte sich auf denWeg und auf göttliche Eingebung wählte er die schöne, keusche Rebekka,die er mit sich nahm. Dieses kluge Mädchen trennte sich sogleich von

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Elieser, sobald sie Isaak begegnete. Und nachdem sie in das Zelt Saraseingeführt worden war, blieb sie seine Gemahlin für immer (Gen 24).Gott sendet einer Seele oft die knechtische Furcht gleich einem anderenElieser (Elieser heißt auch Gehilfe Gottes), um wegen des Ehebündnisseszwischen ihr und der heiligen Liebe zu unterhandeln. Ist es auch die Furcht,welche die Seele geleitet, so ist sie doch nicht gewillt, sich mit ihr zuvermählen, sondern sobald die Seele der Liebe begegnet, vereint sie sichmit ihr und entläßt die Furcht.

Wie jedoch Elieser nach der Heimkehr im Haus zu Diensten des Isaakund der Rebekka verblieb, so bleibt auch die Furcht, die uns zur heiligenLiebe geführt hat, bei uns, um bei Gelegenheit sowohl der Liebe als derliebenden Seele zu dienen. Denn oft wird die Seele, obgleich sie gerecht ist,von außerordentlich heftigen Versuchungen heimgesucht und die Liebe, somutig sie auch ist, hat vollauf zu tun, um sich zu behaupten. Sie befindetsich ja im menschlichen Herzen, das so wankelmütig und dem Aufruhrder Leidenschaften so sehr ausgesetzt ist. In diesem Kampf verwendet siedie Furcht und bedient sich ihrer, um den Feind zu vertreiben.

Als der tapfere Jonatan sich daranmachte, in der Finsternis der Nachtdie Philister anzugreifen, wollte er seinen Waffenträger bei sich haben; dieer selbst nicht tötete, tötete sein Waffenträger (1 Sam 14,12). Ebenso be-dient sich die Liebe, wenn sie Kühnes unternimmt, nicht nur ihrer eigenenBeweggründe, sondern auch derjenigen der knechtischen und Mietlings-furcht. Die Versuchungen, deren die Liebe nicht Herr wird, werden durchdie Furcht, verdammt zu werden, zunichte gemacht.

Fällt mich die Versuchung zum Stolz, zum Geiz oder zu irgendeinersinnlichen Lust an, so sage ich mir: Wie sollte mein Herz um so nichtigerDinge willen die Gnade des Vielgeliebten drangeben? – Genügt das abernicht, so wird die Liebe die Furcht aufrütteln und sagen: Ach, siehst dudenn nicht, du armseliges Herz, daß dich die furchtbaren Flammen derHölle erwarten, wenn du dieser Versuchung nachgibst, und daß du dasewige Erbe des Himmels verlierst? – In höchster Not wendet man alles an.Auch Jonatan bediente sich nicht nur seiner Füße, um die zackigen Felsenzu ersteigen, die ihn von den Philistern trennten, sondern er kletterte aufHänden und Füßen hinauf, so gut er nur konnte.

Wenn Schiffer auch bei günstigem Wind und in einer guten Jahreszeitabsegeln, vergessen sie doch nie die Taue, Anker und die anderen, beiungünstigen Zeiten und beim Sturm notwendigen Dinge mitzunehmen.So soll auch der Diener Gottes, wenn er sich der Ruhe und der Seligkeit

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heiliger Liebe erfreut, nie der Furcht vor den göttlichen Urteilssprüchenermangeln, um sich ihrer bei den Unwettern und Stürmen der Versuchun-gen zu bedienen.

3. So wie die Schale eines Apfels an sich wenig Wert hat, aber doch sehrdazu dient, den Apfel, den sie bedeckt, zu erhalten, so hat auch die knech-tische Furcht, für sich genommen, wenig Wert im Vergleich zur Liebe.Doch dient sie sehr zur Bewahrung der Liebe während der Gefahren die-ses sterblichen Lebens.

Wer einen Granatapfel schenkt, tut es sicherlich der Kerne und desSaftes wegen, die er enthält; doch unterläßt er es nicht, auch die Schale alsetwas Dazugehöriges zu geben. Und der Heilige Geist, der den Seinenunter seinen Gaben auch die liebevolle Furcht verleiht, damit sie Gottehrfürchtig als ihren Vater und Bräutigam fürchten, unterläßt es auch nicht,ihnen dazu die knechtische und Mietlingsfurcht als eine Beigabe zu deranderen, vortrefflicheren zu geben. Als Josef seinem Vater mehrere La-dungen mit allen Reichtümern Ägyptens sandte, gab er ihm nicht bloß dieSchätze als hauptsächlichste Geschenke, sondern auch die Esel, die mitihnen beladen waren.

4. Wenn aber auch die knechtische und Mietlingsfurcht für dieses sterb-liche Leben von großem Nutzen ist, so ist sie doch nicht würdig, einen Platzim ewigen Leben zu haben. Denn in diesem ist Sicherheit ohne Furcht,Friede ohne Mißtrauen, Ruhe ohne Sorge. Dennoch werden die Dienste,welche die knechtische und Mietlingsfurcht der Liebe erwiesen haben,dort vergolten werden. Geht auch die knechtische Furcht ebensowenigwie Mose und Aaron in das Land der Verheißung ein, so werden doch ihreNachkommen und ihre Werke dort einziehen.

Die kindliche und bräutliche Furcht aber wird auch dort ihren Rang undden ihr zukommenden Platz haben, nicht um der Seele irgendwie Mißtrau-en oder Verwirrung einzuflößen, sondern damit sie in Unterwürfigkeit dieunbegreifliche Majestät ihres allmächtigen Vaters und glorreichen Bräuti-gams bewundere und verehre. „Die dem Herrn erwiesene Ehrfurcht istheilig, von Lauterkeit erfüllt; die Furcht des Herrn hat Bestand zu allenZeiten, so wie Gottes Majestät höchst anbetungswürdig ist auf ewig“ (Ps19,10 f nach der Septuag.).

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18. KapitelWie die Liebe die knechtische und die MietlingsfurchtWie die Liebe die knechtische und die MietlingsfurchtWie die Liebe die knechtische und die MietlingsfurchtWie die Liebe die knechtische und die MietlingsfurchtWie die Liebe die knechtische und die Mietlingsfurcht

in ihren Dienst stellt.in ihren Dienst stellt.in ihren Dienst stellt.in ihren Dienst stellt.in ihren Dienst stellt.

1. Blitze, Donner, Unwetter, Überschwemmungen, Erdbeben und ande-re ähnliche unvorhergesehene Unglücksfälle treiben auch die am wenig-sten Frommen an, Gott zu fürchten. Die Natur, die bei solchen Gelegen-heiten dem Überlegen zuvorkommt, veranlaßt Herz und Augen, ja selbstdie Hände, sich zum Himmel zu erheben, um die Hilfe des über allesheiligen Gottes anzuflehen. Denn es entspricht, wie Titus Livius sagt, derallgemeinen Meinung des Menschengeschlechtes, daß es denjenigen wohl-ergeht, die der Gottheit dienen, während jene, die sie verachten, Trübsal zuleiden haben (Hist. 3,56).

Bei dem Sturm, der Jona in Gefahr brachte, fürchteten sich die Schiffersehr und jeder rief zu seinem Gott (Jona 1,3). „Sie kannten die Wahrheitnicht,“ sagt der hl. Hieronymus, aber sie erkannten die göttliche Vorse-hung an und hielten es für ein göttliches Strafurteil, daß sie sich in Gefahrbefanden. Ebenso hielten es die Bewohner von Malta für eine göttlicheRache, daß eine giftige Schlange dem hl. Paulus nachstellte in dem Augen-blick, als sie ihn aus dem Schiffbruch errettet sahen.

Donner, Sturm und Blitze werden darum vom Psalmisten Stimmen desHerrn genannt (Ps 29,3-8; 77,18.19) und er sagt auch, daß sie Vollstreckerseines Wortes sind (Ps 149,8), weil sie seine Furcht verkünden und Dienerseiner Gerechtigkeit sind. Und da er wünscht, daß die göttliche Majestätvon ihren Feinden gefürchtet werde, ruft er aus: „Schleudere den Blitz undzersprenge sie! Schnelle ab deine Pfeile und treibe sie in Wirrnis!“ (Ps144,6), wobei er die Blitze Pfeile des Herrn nennt. Und schon vor demPsalmisten hatte die Mutter Samuels gesungen, daß selbst die Feinde Got-tes ihn fürchten werden, „denn er wird am Himmel rollen lassen den Don-ner“ (1 Sam 2,10). In seinem Werk Georgias und auch an anderen Stellenbezeugt Platon ganz offenbar, daß die Heiden ein gewisses Gefühl derFurcht kannten nicht bloß vor den Strafen, welche die erhabene Gerech-tigkeit Gottes in dieser Welt verhängt, sondern auch vor den Strafen, wel-che sie die Seelen, die in unheilbaren Sünden verschieden sind, im jensei-tigen Leben leiden läßt. So tief ist der Trieb, die Gottheit zu fürchten, indie menschliche Natur eingegraben.

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2. Doch diese Furcht, die in uns plötzlich aufsteigt oder die wir na-türlicherweise fühlen, ist weder lobens- noch tadelnswert, da sie nicht vonunserer eigenen Wahl herrührt. Sie ist aber Wirkung einer sehr guten Ur-sache und Ursache einer sehr guten Wirkung. Sie entspringt ja der natürli-chen Erkenntnis, die Gott uns von seiner Vorsehung gegeben hat, und sieläßt uns erfassen, wie sehr wir von seiner alles beherrschenden Allmachtabhängig sind, was uns anregt, zu ihr zu beten.

Befindet sie sich in einer christlichen Seele, so ist sie ihr von großemNutzen. Die Christen rufen bei den Schrecknissen der Gewitter, Stürmeund anderer Naturgefahren die heiligen Namen Jesus und Maria an, be-zeichnen sich mit dem Zeichen des Kreuzes, werfen sich vor Gott niederund erwecken Akte des Glaubens, der Hoffnung und der Gottesvereh-rung. Der glorreiche hl. Thomas von Aquin (Razzi, Leben der Heiligendes Dominikanerordens, – s. auch Surius, zum 7. März) fürchtete sich vonNatur aus, wenn es donnerte; er pflegte deshalb als Stoßgebet die heiligenWorte auszusprechen, die die Kirche mit soviel Ehrfurcht umgibt: „DasWort ist Fleisch geworden“ (Joh 1,14). Ausgehend von dieser Furcht er-weckt die göttliche Liebe oft Akte des Wohlgefallens und des Wohlwol-lens: „Preisen will ich Dich, o Herr, denn auf schreckliche Weise bist Duverherrlicht worden“ (Ps 139,14). „Fürchten muß sich die ganze Erde vordem Herrn!“ (Ps 33,8). „Ihr Könige der Erde, seid denn klug! Dient demHerrn in Furcht! Ehrt ihn mit Zittern!“ (Ps 2,10f).

3. Es gibt aber noch eine andere Furcht, die aus dem Glauben entspringt.Der Glaube lehrt uns ja, daß es nach diesem sterblichen Leben Qualengibt, die furchtbar in ihrer Ewigkeit und ewig in ihrer Furchtbarkeit sindund über jene kommen, die in dieser Welt die göttliche Majestät beleidigthaben und aus diesem Leben geschieden sind, ohne sich mit ihr versöhntzu haben. Der Glaube lehrt, daß die Seelen in der Stunde des Todes ineinem besonderen Gericht gerichtet werden und daß beim Weltende alleauferstehen, um zum allgemeinen Gericht zu erscheinen und noch einmalgerichtet zu werden. Diese Wahrheiten des christlichen Glaubens jagendem Herzen, das sie erwägt, ein furchtbares Entsetzen ein. Wie könnteman sich auch diese ewigen Schrecknisse vorstellen, ohne vor Bangen zubeben und zu zittern?

Wenn nun solche Empfindungen der Furcht dermaßen Raum in unse-rem Herzen gewinnen, daß sie „die Neigung und den Willen zur Sündedaraus verbannen und verjagen“, wie das Konzil von Trient sagt (14. Sitz.

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can. 4), so sind sie ungemein heilsam. „Wir gingen schwanger von DeinerFurcht, o Gott, und gebaren den Geist des Heiles,“ heißt es bei Jesaja(26,18, nach der Septuag.). Das will heißen: Dein erzürntes Antlitz hat unsin Schrecken versetzt, dadurch empfingen und gebaren wir den Geist derBuße, der der Geist des Heiles ist. Ähnlich hat auch der Psalmist gesagt:„Kein Friede ist in meinem Gebein, sondern es erzittert vor dem Ange-sicht Deines Zornes“ (Ps 38,4).

Unser Heiland, der gekommen ist, uns das Gesetz der Liebe zu bringen,schärft uns doch diese Furcht ein: „Fürchtet,“ sagt er, „denjenigen, derSeele und Leib in die Hölle schleudern kann“ (Mt 10,28). Auf die Andro-hung ihrer Verwerfung und ihres Untergangs hin taten die Niniviten Bußeund ihre Buße war Gott wohlgefällig (Jona 3,10). Mit einem Wort, dieseFurcht ist in den Gaben des Heiligen Geistes eingeschlossen, wie es ver-schiedene Kirchenväter bemerkt haben (s. Hier., zu Jes 11,2; s. Aug.,Christl. Lehre 2,7; Gregor der Große zu Ezechiel, 2. Buch, 7. Hom).

4. Wenn die Furcht nicht den Willen zum Sündigen und die Anhänglichkeitan die Sünde ausschließt, dann ist sie wahrhaftig böse und der Furcht derTeufel gleich, die oft aus Furcht, durch einen Exorzismus gequält zu wer-den, aufhören, Schaden zu verursachen, ohne daß sie aber aufhören, dasBöse zu wünschen und zu wollen, auf das sie unaufhörlich sinnen. Siegleicht der Furcht des armseligen Galeerensklaven, der am liebsten dasHerz seines Aufsehers verschlingen möchte, es aber nicht wagt, das Ruderzu verlassen, aus Furcht, geschlagen zu werden. Sie gleicht der Furchtjenes Erzketzers des vergangenen Jahrhunderts, der bekennt, Gott gehaßtzu haben, weil er die Bösen bestraft (Luther, in der Vorrede seiner Werke).Gewiß, wer die Sünde liebt und bereit wäre, sie gegen den Willen Gotteszu begehen, hat, auch wenn er die Sünde nicht begehen will aus Furcht,verdammt zu werden, eine grauenhafte verabscheuungswürdige Furcht.Hat er auch nicht den Willen, die Sünde auszuführen, so führt er sie dochim Begehren aus, denn er würde sie ja gerne begehen, hielte ihn die Furchtnicht zurück. Es ist also eigentlich nur Zwang, der das Vollbringen verhin-dert.

Dieser Furcht kann man noch eine andere hinzufügen, die wohl wenigerböswillig, aber ebenso unfruchtbar ist. Solcher Art war die Furcht desRichters Felix, der ganz entsetzt war, als er vom göttlichen Gericht redenhörte, aber trotzdem seinen Geiz nicht aufgab (Apg 24,25-27). Ebensoerschrak Belschazzar sosehr, als er die geheimnisvolle Hand sah, die seine

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Verurteilung an die Wand schrieb, daß er erblaßte und daß seine Hüftge-lenke sich lösten und seine Knie schlotterten (Dan 5,5 f). Dennoch tat ernicht Buße. Was nützt es aber, das Böse zu fürchten, wenn man sich durchdie Furcht nicht entschließt, es zu vermeiden?

5. Die Furcht derjenigen, die wie Sklaven das Gesetz beobachten, umder Hölle zu entgehen, ist also sehr gut. Weit edler und wünschenswerteraber ist die Furcht der Christen, die wie Mietlinge und besoldete Dienertreu ihre Arbeit verrichten, gewiß nicht in erster Linie aus Liebe zu ihrenHerren, sondern damit ihnen die verheißene Belohnung zuteil werde. O,wenn ein Auge es sehen, ein Ohr es hören könnte, wenn es in ein Men-schenherz dringen würde, was Gott den bereitet hat, die ihm dienen (1Kor 2,9)! Wie sorgsam würde man darauf achten, die göttlichen Gebote janicht zu verletzen, aus Furcht, der ewigen Belohnungen verlustig zu ge-hen! Welche Tränen würde man vergießen, welche Seufzer würden sicheinem entringen, wenn man sie durch die Sünde verloren hätte!

Doch diese Furcht wäre tadelnswert, wenn sie die heilige Liebe aus-schließt. Wer da sagte: ich will Gott nicht aus irgendeiner Liebe dienen,die ich für ihn hege, sondern nur um der Belohnungen teilhaftig zu wer-den, die er verheißt, würde sich einer Gotteslästerung schuldig machendadurch, daß er den Lohn dem Herrn, die Wohltat dem Wohltäter, dasErbe dem Vater und seinen eigenen Vorteil dem allmächtigen Gott vorzö-ge. Wir haben das schon ausführlich im zweiten Buch (II,17) aufgezeigt.

6. Wenn wir aber fürchten, Gott zu beleidigen, nicht um der Hölle zuentgehen oder den Himmel zu verdienen, sondern weil wir Gott, unseremVater Ehre, Ehrfurcht und Gehorsam schuldig sind, dann ist unsere Furchteine kindliche Furcht. Ein gutgeartetes Kind gehorcht ja seinem Vater nichtdeshalb, weil dieser die Macht hat, seinen Ungehorsam zu bestrafen, auchnicht deshalb, weil er es enterben kann, sondern einfach deshalb, weil ersein Vater ist. Auch wenn der Vater alt, schwach und arm ist, würde es ihmmit dem gleichen Eifer dienen, ja gleich einem gutmütigen Storch würdees ihm sogar mit mehr Sorgfalt und Eifer beistehen. Auch Josef unterließes nicht, als er sah, daß sein Vater Jakob alt und notleidend geworden undüberdies ihm untergeben war, ihn zu ehren, ihm zu dienen und mit einermehr als kindlichen Zärtlichkeit Ehrfurcht zu erweisen. Ja so weit ging erdarin, daß seine Brüder, die das sahen, meinten, diese zärtliche Liebe wür-de nach dem Tod des Vaters weiterbestehen, und es benützten, um von ihm

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Verzeihung für sich zu erlangen, indem sie sagten: „Dein Vater hat unsbefohlen, dir von ihm aus zu sagen: Ach, vergib doch deinen Brüdern ihrVergehen und ihre Sünde, daß sie dir Böses zugefügt haben!“ Als Josefdies hörte, weinte er (Gen 50,15-17), so ergriffen war sein kindliches Herz,als ihm Wunsch und Wille seines verstorbenen Vaters mitgeteilt wurden. –Jene also fürchten Gott aus kindlicher Liebe, die ihm einfach und alleinnur deshalb zu mißfallen fürchten, weil er ihr höchst milder, gütiger undliebenswürdiger Vater ist.

7. Geschieht es aber, daß diese kindliche Furcht verbunden, vermengt unddurchtränkt ist mit der knechtischen Furcht vor der ewigen Verdammnisoder der Furcht des Mietlings, des Himmels verlustig zu gehen, so hört siedeswegen nicht auf, Gott sehr wohlgefällig zu sein. Man nennt sie dann dieanfängliche Furcht oder Furcht der Lehrlinge, die erst zu den Übungender Gottesliebe antreten. Denn ebenso wie die jungen Burschen, wenn siereiten lernen und spüren, wie das Pferd sich bäumt, nicht nur ihre Kniefest schließen, sondern sich auch mit den Händen am Sattel anklammern,später aber, wenn sie geübt sind, sich nur durch den Schenkeldruck halten,so ist es auch mit den Neulingen und Anfängern im Dienst Gottes. Wennsie durch die Anstürme der Feinde anfangs vor Schrecken außer sich gera-ten, bedienen sie sich nicht nur der kindlichen Furcht, sondern auch derknechtischen und Mietlingsfurcht und halten sich auf alle nur möglicheWeise fest, um nicht von ihrem Bestreben abzusinken.

19. KapitelDie heilige Liebe schließt die zwölf Früchte des Heiligen GeistesDie heilige Liebe schließt die zwölf Früchte des Heiligen GeistesDie heilige Liebe schließt die zwölf Früchte des Heiligen GeistesDie heilige Liebe schließt die zwölf Früchte des Heiligen GeistesDie heilige Liebe schließt die zwölf Früchte des Heiligen Geistes

und die acht Seligkeiten des Evangeliums in sich.und die acht Seligkeiten des Evangeliums in sich.und die acht Seligkeiten des Evangeliums in sich.und die acht Seligkeiten des Evangeliums in sich.und die acht Seligkeiten des Evangeliums in sich.

1. Der glorreiche hl. Paulus sagt: „Die Frucht des Geistes ist: Liebe, Freu-de, Friede, Geduld, Milde, Güte, Langmut, Sanftmut, Glaube, Be-scheidenheit, Enthaltsamkeit, Keuschheit“ (Gal 5,22 f). Sieh, Theotimus,wie der Apostel, während er zwölf Früchte des Heiligen Geistes aufzählt,von ihnen doch nur wie von einer Frucht spricht; denn er sagt nicht: dieFrüchte des Geistes sind Liebe, Freude usw., sondern er sagt nur: die Fruchtdes Geistes ist Liebe, Freude ... Das ist nun der geheime Sinn dieser Aus-drucksweise: „Die Liebe ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Hei-

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ligen Geist, der uns verliehen wurde“ (Röm 5,5). Gewiß ist die Liebe dieeinzige Frucht des Heiligen Geistes. Aber weil diese Frucht eine Unzahlherrlicher Eigenschaften besitzt, spricht der Apostel, der uns deren einigevor Augen stellen will, von dieser einen Frucht so, als ob es mehrere wä-ren, wegen der Menge der Eigenschaften, die sie in ihrer Einheit enthält.Er spricht aber andererseits von allen diesen Früchten wie von einer einzi-gen wegen der Einheit, in der all diese Verschiedenheit inbegriffen ist.Wenn jemand sagen würde: die Frucht des Weinstocks ist die Traube, derMost, der Wein, der Branntwein, der Trank, „der des Menschen Herz er-freut“ (Ri 9,13; Ps 104,15), das Getränk, das den Magen stärkt, so will erdamit nicht sagen, daß dies Früchte verschiedener Art sind, sondern daßeine Frucht eine Reihe verschiedener Eigenschaften besitzt, je nachdemsie verwendet wird.

Der Apostel will folglich nichts anderes sagen, als daß die Frucht desHeiligen Geistes die Liebe ist und daß diese Liebe freudig, friedfertig, gedul-dig, freundlich, gütig, langmütig, sanft, treu, bescheiden, enthaltsam undkeusch ist. Das will heißen, daß uns die Gottesliebe Freude und innerenTrost mit einem großen Frieden des Herzens gibt, der durch die Geduldstandhält inmitten der Widerwärtigkeiten; daß sie uns mit einer herzli-chen Güte gegen unseren Nächsten erfüllt und uns bereit macht, ihm willigund freundlich beizustehen, mit einer Güte, die nicht wankelmütig ist,sondern beharrlich und ausdauernd. Sie verleiht uns nämlich einen Mutvon großer Weite, der uns mild, freundlich und gefällig macht gegen jeder-mann und uns die Launen und Unvollkommenheiten der anderen ertra-gen läßt. In vollkommener Aufrichtigkeit ihnen gegenüber kommen wirihnen in Wort und Tat in einer mit Vertrauen gepaarten Einfachheit entge-gen. Uns selbst aber läßt sie ein bescheidenes, demütiges Leben führen,allen Überfluß und alles Ungeordnete in Speise, Trank, Kleidung, Schlaf,Spiel, Zeitvertreib und ähnlichen sinnlichen Vergnügungen durch eineheilige Enthaltsamkeit vermeiden, indem sie vor allem die Neigungenund Regungen des Fleisches durch eine sorgsame Keuschheit unterdrückt.Und das alles, damit unsere ganze Person von der göttlichen Liebe einge-nommen sei, – innerlich durch die Freude, den Frieden, die Geduld, dieLangmut, Güte und Aufrichtigkeit –, äußerlich durch die Freundlichkeit,Milde, Bescheidenheit und Keuschheit.

2. Die Liebe wird eine Frucht genannt, weil sie uns erquickt und wir uns anihrer erquickenden Süße erfreuen. Sie ist ein wahrer Paradiesapfel, vom

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„Baum des Lebens“ (Offb 22,2), vom Heiligen Geist gepflückt, der sozu-sagen auf unseren menschlichen Geist gepfropft, in uns durch seine un-endliche Barmherzigkeit wohnt. Wenn wir uns aber nicht nur an der gött-lichen Güte erfreuen und ihre erquickende Süße genießen, sondern unse-ren ganzen Ruhm in sie setzen und sie als unsere Ehrenkrone (Ps 8,6)betrachten, dann ist sie nicht nur eine unserem Gaumen süße Frucht (Hld2,3), sondern eine ganz ersehnenswerte Seligkeit und Freude. Und diesnicht nur deshalb, weil sie uns die Gewißheit ewiger Freude im jenseitigenLeben gibt, sondern weil sie uns auch in diesem Leben einen Frohsinn vonunschätzbarem Wert verleiht; Frohsinn, der so stark ist, daß die Wasser derTrübsal und die Ströme der Verfolgungen ihn nicht auszulöschen vermö-gen (Hld 8,6); Frohsinn, der inmitten der Armut nicht nur nicht zugrun-degeht, sondern sich bereichert, bei Mißachtung und Verdemütigung nochgrößer wird, frohlockt inmitten von Tränen, erstarkt, wenn er von der Ge-rechtigkeit im Stich gelassen, ihrer Hilfe beraubt bleibt und niemand sieihm zuteil werden läßt, wenn er sich darauf beruft. Er erneuert sich imMitleid und Erbarmen, wenn er von Armen und Leidtragenden umgebenist; er findet seine Wonne darin, auf alle sinnlichen und weltlichen Genüs-se zu verzichten, um die Herzensreinheit zu erlangen. Er kämpft tapfer,um Kriege, Zank und Zwistigkeiten beizulegen und irdische Größe undBerühmtheit zu verachten. Er gewinnt neue Lebenskraft durch Ertragenaller möglichen Arten von Leiden und glaubt, daß sein wahres Leben da-rin besteht, für den Vielgeliebten zu sterben (Mt 5,3-12; Lk 6,20-23).

3. Folglich, Theotimus, ist die heilige Liebe eine Tugend, eine Gabe,eine Frucht und eine Seligkeit. Als Tugend macht sie uns gehorsam gegen-über den äußeren Anweisungen, die Gott uns in seinen Geboten und Rä-ten gibt, in deren Ausübung die Übung aller Tugenden liegt.

Die Liebe ist also die Tugend aller Tugenden.Als Gabe macht uns die Liebe geschmeidig und gefügig für die inneren

Einsprechungen, die gleichsam heimliche Gebote und Ratschläge Gottessind und zu deren Ausübung die sieben Gaben des Heiligen Geistes ge-braucht werden.

Die Liebe ist folglich die Gabe aller Gaben.Als Frucht läßt sie uns Geschmack und größtes Wohlgefallen finden an

der Übung des Gott hingegebenen Lebens, das in den zwölf Früchten desHeiligen Geistes verkostet wird.

Folglich ist die Liebe die Frucht der Früchte.

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Als Seligkeit läßt sie uns die Beleidigungen, Verleumdungen, den Tadelund die Schmach, die die Welt uns zufügt, als größte Gunst und einzigar-tige Ehre ansehen und läßt uns allen Ruhm, der nicht von dem geliebtenGekreuzigten herrührt (Gal 6,14), von uns tun, auf ihn verzichten und ihnzurückweisen. Um des Gekreuzigten willen aber rühmen wir uns in derGeringschätzung, Verleugnung und Entäußerung unser selbst.

Wir verlangen nach keinem anderen Zeichen der Hoheit als nach derDornenkrone des Gekreuzigten, nach seinem Schilfrohrszepter, nach demSpottmantel, der ihm umgehängt wurde, und nach seinem Kreuzesthron.Darin finden die von der heiligen Liebe Berauschten mehr Befriedigung,Freude, Ruhm und Seligkeit, als Salomo je auf seinem elfenbeinernenThron fand.

Deshalb wird die Liebe oft unter dem Sinnbild des Granatapfels darge-stellt (s. VI,13). Da dieser alle seine Eigenschaften vom Granatapfelbaumerhält, kann man ihn gleichsam dessen Tugend nennen. Auch scheint erdie Gabe zu sein, die dieser aus Liebe dem Menschen darbietet. SeineFrucht aber wird er genannt, weil er genossen wird, um den Geschmackdes Menschen zu erquicken. Er ist auch sozusagen sein Ruhm und seineSeligkeit, da er eine Krone und ein Diadem trägt.

20. KapitelDie Liebe gebraucht alle Leidenschaften und Affekte der SeeleDie Liebe gebraucht alle Leidenschaften und Affekte der SeeleDie Liebe gebraucht alle Leidenschaften und Affekte der SeeleDie Liebe gebraucht alle Leidenschaften und Affekte der SeeleDie Liebe gebraucht alle Leidenschaften und Affekte der Seele

und unterund unterund unterund unterund unterwi rwi rwi rwi rwi rfffff t sie ihrem Gehorsam.t sie ihrem Gehorsam.t sie ihrem Gehorsam.t sie ihrem Gehorsam.t sie ihrem Gehorsam.

1. Die Liebe ist das Leben unseres Herzens. Wie das Gewicht der Uhralle ihre beweglichen Teile in Bewegung setzt, so gehen auch alle Regun-gen in der Seele von der Liebe aus.

Alle unsere Affekte folgen unserer Liebe und ihr entsprechend sehnenwir uns, hoffen wir, verzweifeln wir, fürchten wir, ermutigen wir uns, has-sen wir, fliehen wir, sind wir traurig, geraten wir in Zorn, triumphierenwir.

Sehen wir nicht an den Männern, deren Herz Beute einer niedrigen,verwerflichen Liebe zu Frauen geworden ist, wie all ihr Wünschen nurdieser Liebe gilt? Sie finden nur Vergnügen an dieser Liebe, ihr Hoffenund Verzweifeln bezieht sich nur auf diesen Gegenstand, sie fürchten undunternehmen nur, was sich darauf bezieht, sie verabscheuen und fliehen

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nur alles, was sie davon entfernt, sie kränken sich nur über das, was siedieser Liebe beraubt, in Zorn geraten sie nur aus Eifersucht, ihr Triumphist nur diese Schande.

Das gleiche gilt von den Geldgierigen und Ehrsüchtigen. Sie werden zuSklaven dessen, was sie lieben. Sie haben kein Herz in der Brust, keineSeele in ihrem Herzen, keine Liebe in ihrer Seele als nur dafür.

2. Wenn daher die Gottesliebe in unseren Herzen herrscht, unterwirft siesich königlich jede andere Liebe unseres Willens und folglich alle seineAffekte, die natürlicherweise der Liebe folgen. Dann bezwingt sie die sinn-liche Liebe und indem sie diese unter ihren Gehorsam stellt, unterwirft siesich alle sinnlichen Leidenschaften. Denn schließlich ist die heilige Liebejenes heilsame Wasser, von dem der Herr sagt: „Wer von diesem Wassertrinkt, wird nicht dürsten in Ewigkeit“ (Joh 4,13). Nein, wahrhaftig, Theoti-mus, wer einmal die Liebe zu Gott in etwas reichlicherem Maße besitzt,hat kein anderes Verlangen als nach Gott, keine Furcht außer vor Gott,keine Hoffnung außer auf Gott, keinen Mut außer durch Gott, keine Freu-de außer in Gott. Alle seine Regungen werden in dieser einzigen himmli-schen Liebe ihre Ruhe finden.

Die göttliche Liebe und die Eigenliebe sind in unserem Herzen wie Ja-kob und Esau im Schoß der Rebekka (Gen 25,22-25). Sie haben einestarke Abneigung, einen heftigen Widerwillen gegeneinander und stoßeneinander fortwährend in unserem Herzen. Deshalb ruft die bedrängte See-le aus: „Ich unglücklicher Mensch! Wer wird mich erlösen von diesemtodbringenden Leib“ (Röm 7,24), damit nur die einzige Liebe zu meinemGott friedlich in mir herrsche?

Trotzdem müssen wir mutig bleiben und auf das Wort des Herrn hoffen,der seiner Liebe zusammen mit seinem Befehl den Sieg verheißt und sei-nen Befehl mit der Siegesverheißung verbindet.

Es ist, als sagte er der Seele das gleiche, was Rebekka gesagt wurde:„Zwei Naturen sind in deinem Leib und zwei Völker sind in deinem Schoßentzweit. Ein Volk wird immer stärker sein als das andere und das älterewird dem jüngeren dienen“ (s. oben). Rebekka trug nur zwei Kinder inihrem Schoß; weil aber aus ihnen zwei Völker entstehen sollten, wurde ihrgesagt, daß sie zwei Völker in ihrem Schoß trage. So trägt auch die Seelezwei Arten der Liebe in sich und daher zwei große Völkerschaften anRegungen, Affekten und Leidenschaften. Wie die zwei Kinder der Rebek-ka durch die Gegensätzlichkeit ihrer Bewegungen ihr große Schmerzen

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und Krämpfe verursachten, so erweckt auch die zweifache Liebe großeDrangsale in unserem Herzen. Rebekka wurde gesagt, das größere ihrerKinder werde dem jüngeren dienen; desgleichen ist auch angeordnet, daßvon den beiden Arten der Liebe in unserem Herzen die sinnliche dergeistigen, das heißt, die Eigenliebe der Gottesliebe zu dienen habe.

Wann aber geschah es, daß das ältere der Völker, die im Schoß Rebek-kas waren, dem jüngeren diente? Erst dann, als David im Krieg die Edomi-ter unterwarf und Salomo sie im Frieden beherrschte. Wann wird doch dieZeit kommen, da die sinnliche Liebe der göttlichen Liebe dienen wird?Das wird dann geschehen, Theotimus, wenn die Liebe, bewaffnet, vomEifer erfaßt, alle unsere Leidenschaften durch die Abtötung unterjochenwird. Und vor allem, wenn dort oben im Himmel die glückselige Liebeunsere ganze Seele im Frieden besitzen wird (Lk 11,21; 21,19).

3. Die Weise aber, wie die göttliche Liebe sich das sinnenhafte Begehrenunterwerfen soll, gleicht derjenigen, die Jakob anwandte. Als Vorzeichenund Anfang dessen, was später geschehen sollte, hielt er Esau bei der Fersefest, als dieser den Schoß seiner Mutter verließ. Es war, als wollte er ihndamit überholen, ihn verdrängen, ihn sich untertänig machen oder ihngleichsam wie einen Raubvogel am Fuß festbinden, da Esau als Jäger undwilder Mann einem Raubvogel gleichen würde. Genau so soll die göttlicheLiebe, wenn sie eine Leidenschaft oder natürliche Zuneigung in uns entste-hen sieht, sie sogleich beim Fuß fassen und sich dienstbar machen. Washeißt das aber, sie beim Fuß fassen? Das heißt, sie binden und sie demDienst Gottes unterwerfen. Siehst du nicht, wie Mose die Schlange da-durch in einen Stab verwandelte, daß er sie beim Schwanz packte? (Ex4,4). So werden unsere Leidenschaften zu Tugenden, wenn wir ihnen eingutes Ziel setzen.

4. Wie muß man aber zu Werke gehen, um unsere Affekte und Lei-denschaften der göttlichen Liebe dienstbar zu machen? Die „methodischen“Ärzte führen immer den Grundsatz im Mund: „Gegensätzliches werdedurch Gegensätzliches geheilt.“ Die „Spagyriker“ hingegen behaupten ge-rade das Gegenteil und sagen: „Ähnliches werde durch Ähnliches geheilt.“Wie dem auch immer sei, wir wissen, daß das Licht der Sterne durchzweierlei Ursachen verschwindet: durch die Dunkelheit der Nachtnebelund durch das stärkere Licht der Sonne. Desgleichen können wir unsereLeidenschaften dadurch bekämpfen, daß wir ihnen die entgegengesetzteLeidenschaft oder gleichartige stärkere Affekte entgegenstellen.

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Überkommt mich z. B. eine eitle Hoffnung, so kann ich sie entkräften,indem ich zeige, wie die Sache vernünftig gesehen hoffnungslos ist, undmir sagen: O törichter Mensch, auf welche Grundlagen baust du dieseHoffnung? Siehst du nicht ein, daß dieser Mächtige, auf den du hoffst, demTod gerade so nahe ist wie du selbst? Kennst du denn nicht die Unbestän-digkeit, Schwäche und Armseligkeit des menschlichen Geistes? Heute istdas Herz, von dem du etwas hoffst, dein; morgen wird es ein anderer dirrauben. Worauf also setzt du deine Hoffnung?

Ich kann dieser Hoffnung auch dadurch Widerstand leisten, daß ich ihreine stärkere Hoffnung entgegenstelle: „Hoffe auf Gott, meine Seele, denner befreit aus dem Netz deinen Fuß“ (Ps 25,15; 42,6). „Wer rief ihn an undwäre von ihm übersehen worden?“ (Sir 2,11). Richte dein Streben aufewige und unwandelbare Dinge.

Ebenso kann ich den Wunsch nach Reichtümern und irdischen Ge-lüsten entweder durch die Verachtung, die sie verdienen, bekämpfen oderdurch den Wunsch nach unsterblichen Freuden. So wird die sinnliche,irdische Liebe durch die himmlische Liebe entweder so zerstört, wie Feu-er durch Wasser infolge seiner entgegengesetzten Eigenschaften gelöschtwird, oder wie es durch ein Feuer vom Himmel wegen dessen stärkererund überwältigender Kraft überwunden wird.

5. Der Herr bedient sich der einen und der anderen Methode, um Seelenzu heilen. Seine Jünger heilt er von der Menschenfurcht, indem er ihneneine höhere Furcht einflößt: „Fürchtet nicht diejenigen, die den Leib tö-ten, sondern fürchtet den, der Leib und Seele ins Verderben der Höllestürzen kann“ (Mt 10,28).

Ein andermal, da er sie von einer niedrigen Freude heilen wollte, wies ersie auf eine erhabenere hin: „Freut euch nicht darüber, daß euch die bösenGeister untertan sind, sondern daß eure Namen im Himmel eingeschrie-ben sind“ (Lk 10,20). Aber er wies auch einmal die Freude zurück, indemer ihr die Traurigkeit entgegenhielt: „Wehe euch, die ihr lacht, denn ihrwerdet weinen“ (Lk 6,25).

6. So überholt und unterwirft sich die göttliche Liebe die Gemütsregungenund Leidenschaften. Sie biegt sie vom Ziel ab, zu dem die Eigenliebe siehintragen will, und lenkt sie ihrem geistlichen Vorhaben zu. So wie der Re-genbogen einer Pflanze, die Aspalatus genannt wird, ihren Geruch nimmtund ihr einen ausgezeichneten Duft verleiht (s. XI,3), so nimmt die heiligeLiebe, wenn sie unsere Leidenschaften berührt, ihnen ihr irdisches Zielund verleiht ihnen ein himmlisches.

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Die Lust zu essen wird dadurch zu etwas ganz Geistlichem, wenn manvor dem Essen ihr die Liebe zum Beweggrund gibt und etwa so spricht:„Herr, nicht um meinen Magen zu befriedigen, noch um meine Eßlust zustillen, geh ich jetzt zu Tisch, sondern, wie Deine Vorsehung es angeordnethat, um den Leib zu erhalten, der in seiner Schwäche der Nahrung bedarf;ja, Herr, weil es Dir so gefallen hat“ (Mt 11,26).

Wenn ich mir die Hilfe eines Freundes erhoffe, kann ich doch sagen:„Du hast unser Leben so eingerichtet, o Herr, daß wir einer des anderenHilfe, Unterstützung und Trostes bedürfen; weil es Dir gefällt, will ichmich dieses Menschen, dessen Freundschaft Du mir geschenkt hast, indieser Absicht bedienen.“

Ist ein gerechter Grund zur Furcht vorhanden, so werde ich sprechen:„Herr, Du willst, daß ich mich fürchte, damit ich die entsprechenden Mit-tel gebrauche, um diese Schwierigkeit abzuwenden. Ich werde es tun, Herr,weil es Dir so wohlgefällig ist.“

Werde ich von einer außerordentlichen Angst bedrängt, so werde ichbeten: „O Gott, ewiger Vater, was haben Deine Kinder zu befürchten unddie Küchlein, die Du unter Deinen Flügeln hütest?“ (Ps 91,4; Mt 23,37).Gewiß, ich will alles Erforderliche tun, um das Übel, das ich befürchte, zuvermeiden. Dann aber sage ich: „Herr, ich bin Dein, rette mich, ich bitteDich, wenn es Dir gefällt“ (Ps 119,94). Ich will annehmen, was immer mirwiderfährt, denn es wird so geschehen, wie es Deinem göttlichen Willenentspricht.

O heilige, göttliche Alchemie, durch die alle Metalle unserer Leiden-schaften, Gemütsregungen und Taten in das lautere Gold der himmlischenLiebe verwandelt werden!

21. KapitelTTTTTraurigkraurigkraurigkraurigkraurigkeit ist fast immer nutzlos, ja sogar dem Diensteit ist fast immer nutzlos, ja sogar dem Diensteit ist fast immer nutzlos, ja sogar dem Diensteit ist fast immer nutzlos, ja sogar dem Diensteit ist fast immer nutzlos, ja sogar dem Dienst

der heiligen Liebe entgegengesetzt.der heiligen Liebe entgegengesetzt.der heiligen Liebe entgegengesetzt.der heiligen Liebe entgegengesetzt.der heiligen Liebe entgegengesetzt.

1. Ein Eichenreis kann man nicht auf einen Birnbaum pfropfen, dazusind die Säfte dieser beiden Bäume einander zu entgegengesetzt. Ebenso-wenig läßt sich Zorn oder Verzweiflung auf Liebe pfropfen; jedenfallswäre es eine sehr schwierige Aufgabe. Vom Zorn haben wir schon bei denÜberlegungen über den Eifer gesprochen. Welchen Dienst die Verzweif-lung der Liebe leisten könnte, sehe ich nicht ein, es sei denn, sie würde

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herabgemindert auf ein gerechtes Mißtrauen gegen uns selbst oder auf dasBewußtsein der Eitelkeit, Schwäche und Unbeständigkeit weltlicher Gunst-erweise, Unterstützungen und Versprechungen.

2. Und wie kann die Traurigkeit der Liebe von Nutzen sein, wenn dieFreude zu den Früchten des Heiligen Geistes gehört und darin gleich denersten Platz einnimmt (Gal 5,22)?

Nun sagt der glorreiche Apostel auch: „Die gottgefällige Betrübnis wirktheilsame Reue, die man nicht zu bereuen braucht; die weltliche Betrübnisdagegen wirkt den Tod“ (2 Kor 7,10). Es gibt also eine gottgefällige Traurig-keit und zwar die der Sünder, wenn sie Buße tun, die der guten Menschen,wenn sie Mitleid haben mit dem zeitlichen Elend des Nächsten, und dieder Vollkommenen, welche die geistlichen Nöte und Drangsale der Seelenbeklagen, mitempfinden und mittragen. So weinten David, Petrus und Mag-dalena über ihre Sünden; Hagar weinte, als sie ihren Sohn vor Durst fastverschmachten sah; Jeremia über die Zerstörung Jerusalems, unser Herrund Heiland über die Juden, und sein großer Apostel sprach traurig dieWorte: „Viele wandeln, wie ich euch schon oft gesagt habe und jetzt unterTränen wiederhole, als Feinde des Kreuzes Christi“ (Phil 3,18).

3. Es gibt andererseits auch eine Traurigkeit dieser Welt, die ebenfalls dreiUrsachen hat: Die erste: Manchmal flößt der böse Feind sie ein, indem erdurch tausenderlei traurige, schwermütige und ärgerliche Einflüsterungendas Erkenntnisvermögen verdunkelt, den Willen lähmt und die ganze See-le in Unruhe versetzt. Ein dichter Nebel erzeugt in Kopf und Brust einenKatarrh, erschwert das Atmen und macht den Wanderer unsicher. So nimmtauch der böse Geist dem menschlichen Gemüt durch die traurigen Ge-danken, mit denen er es erfüllt, die Leichtigkeit, zu Gott aufzuatmen, er-regt in ihm Überdruß und äußerste Mutlosigkeit, um ihn dadurch in Ver-zweiflung und ins Verderben zu stürzen.

Man sagt (Plin. H. n. 9,42), es gäbe einen Fisch, den man Seeteufelnennt, der durch Aufwühlen des Schlammes das Wasser rings um sichherum trübt, um sich darin wie in einem Hinterhalt zu verbergen. Von daaus lauert er auf die kleinen Fische; sobald er welche sieht, stürzt er sichauf sie, packt und verschlingt sie. Von da her mag der vielgebrauchte Aus-druck kommen: „im Trüben fischen.“ Der Höllenteufel macht es nichtanders als der Seeteufel. Sein Versteck und Hinterhalt ist die Traurigkeit.Hat er durch eine Menge verdrießlicher Gedanken, die er in das Erkennt-

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nisvermögen gestreut hat, die Seele verwirrt, so stürzt er sich auf ihreGemütsregungen, überfällt sie mit Mißtrauen, Eifersucht, Abneigung,Neid, überflüssiger Angst wegen früherer Sünden und legt ihr eine Mengeeitler, bitterer und trübseliger Spitzfindigkeiten vor, damit sie keinerleiVernunftgründen und tröstlichen Gedanken Gehör schenke.

4. Die zweite Ursache: Zuweilen geht die Traurigkeit auch aus unseremNaturell hervor, wenn die melancholische Stimmung in uns vorherrscht.Diese ist an und für sich nichts Schlechtes. Jedoch bedient sich ihrer unserFeind sehr gerne, um allerhand Versuchungen in unseren Seelen anzu-spinnen und sie damit zu umgarnen. Auch die Spinnen bereiten ihre Netzefast immer zu Zeiten trüber Witterung, wenn der Himmel mit Wolkenverhangen ist. Ebenso ist es auch für den bösen Feind nie so leicht, dieNetze seiner Einflüsterungen in sanfte, gutmütige, heitere Gemüter zulegen, wie in verdrossene, traurige, melancholische. Diese kann er leichtdurch Kummer, Argwohn, Haß, durch Murren, Kritisieren, Beneiden,durch Trägheit und geistige Erschlaffung in Verwirrung bringen.

5. Die dritte Ursache: Endlich gibt es eine Traurigkeit, welche durch dieVielfalt der irdischen Ereignisse hervorgerufen wird. „Welche Freude kannich noch haben,“ sagte Tobit, „da ich im Finstern sitze und das Himmels-licht nicht sehe?“ (Tob 10,5). So trauerte auch Jakob bei der Nachrichtvom Tod seines Sohnes Josef (Gen 37,34 f) und David über den seinesAbschalom (2 Sam 18,32). Diese Traurigkeit ist Guten und Bösen ge-meinsam. Bei den Guten ist sie jedoch gemäßigt durch das Eingehen unddie Ergebung in den Willen Gottes, wie man es an Tobit sah, der bei allenWiderwärtigkeiten, die ihm widerfuhren, der göttlichen Majestät Danksagte; an Ijob, der in seinen Drangsalen den Namen des Herrn pries (1,21),und an Daniel, der seine Leiden in Loblieder verwandelte (Kap. 9). Denweltlich Gesinnten hingegen ist die Traurigkeit etwas Gewöhnliches undverwandelt sich in Klagen, Verzweiflung und Verwirrung. Sie gleichenden Affen und Murmeltieren, die bei Neumond immer trübsinnig, traurigund schlechter Laune sind, sobald der Mond aber zunimmt, wieder hüp-fen, tanzen und allerlei Possen treiben. Der Weltmensch ist verärgert, übelgelaunt, verbittert und verdrossen, wenn es ihm an irdischem Wohlstandmangelt. Hat er aber daran Überfluß, so ist er fast immer prahlerisch,ausgelassen und anmaßend.

6. Die Traurigkeit einer echten Buße sollte eigentlich nicht Traurigkeitgenannt werden, sondern Mißfallen am Bösen oder dessen Verabscheuung.

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Es sollte eine Traurigkeit sein, die nicht niedergeschlagen und verdrießlichmacht, die den Geist nicht lähmt, sondern ihn tätig, rege und bereitwilligmacht; eine Traurigkeit, die das Herz nicht niederdrückt, sondern es veran-laßt, sich immer wieder in eifervoller Andacht zu Gott aufzuschwingen;eine Traurigkeit, die selbst mitten in den Bitternissen immer die Süßigkeiteines unvergleichlichen Trostes hervorbringt, nach dem Ausspruch des hl.Augustinus: „Der Büßer trauere immerzu, aber er erfreue sich immerseiner Traurigkeit“ (Zu Ps 50, § 5).

„Die Traurigkeit,“ sagt Cassian (Instit. 9,11), welche die echte Buße undjene liebenswürdige Reue bewirkt, die man nie bereut, „ist gehorsam, freund-lich, demütig, gütig, milde, geduldig, da sie der Liebe entspringt und vonihr ausgeht. Und wenn sie sich auch auf alle körperlichen Schmerzen undalle Zerknirschung des Geistes ausdehnt, ist sie in gewisser Beziehungdoch immer fröhlich und von der Hoffnung auf ihren Nutzen belebt undgekräftigt; sie bewahrt alle Milde der Freundlichkeit und Langmut, da siedie Früchte des Heiligen Geistes in sich birgt, die der Apostel aufzählt:„Die Frucht des Heiligen Geistes ist: Liebe, Freude, Friede, Geduld, Mil-de, Güte, Vertrauen, Sanftmut, Enthaltsamkeit“ (Gal 5,22).

Das ist die wahre Buße und die gute Traurigkeit, die gewiß nicht imeigentlichen Sinne traurig oder trübsinnig, sondern nur aufmerksam dar-auf bedacht ist, das Übel der Sünde zu verabscheuen, zu verwerfen und zuverhindern für die Vergangenheit wie für die Zukunft.

7. Manchmal sehen wir auch Äußerungen von Reue, die überstürzt, ver-stört, ungeduldig, verweint, verbittert, stöhnend, unruhig, abstoßend, hartund schwermütig sind, schließlich unfruchtbar bleiben und keine wahreBesserung nach sich ziehen, weil sie nicht aus den wahren Beweggründender Buße, sondern aus naturhafter Eigenliebe hervorgehen.

8. „Die Betrübnis der Welt bewirkt den Tod,“ sagt der Apostel (2 Kor7,10). Daher, Theotimus, muß man sich sehr vor ihr hüten und sie nachKräften zurückweisen. Hat sie natürliche Ursachen, so müssen wir sie da-durch zurückdrängen, daß wir ihren Regungen mit Übungen begegnen,die geeignet sind, sie zu verscheuchen. Wir müssen Heilmittel anwendenund uns eine Lebensweise aneignen, die die Ärzte für günstig erachten.Entspringt die Traurigkeit einer Versuchung, dann müssen wir unser Herzunserem geistlichen Vater enthüllen, der uns die Mittel vorschreiben wird,sie zu besiegen. Darüber haben wir in unserer „Anleitung zum frommenLeben“ gesprochen (IV,14). Befällt sie uns nur zufällig, so müssen wir uns

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an das halten, was im 8. Buch dieser Abhandlung (4. und 5. Kap.) gesagtist. Es wird uns daran erinnern, wie liebenswert die Trübsale für die Kin-der Gottes sind, und uns erkennen lassen, daß alle vorübergehenden Er-eignisse dieses zeitlichen Lebens beinahe keine Bedeutung haben im Ver-gleich zur Größe unserer Hoffnung auf das ewige Leben.

Im übrigen müssen wir inmitten aller trüben Stimmungen, die uns über-kommen können, von der Autorität des höheren Willens Gebrauch ma-chen, um alles, was wir nur können, zur Förderung der göttlichen Liebe zutun. Gewiß, es gibt Handlungen, die so sehr von unserer körperlichenBeschaffenheit und Verfassung abhängen, daß es nicht in unserer Machtsteht, sie nach unserem Belieben auszuführen. Wer deprimiert ist, kannweder seinen Augen, noch seinen Worten, noch seinen Mienen jene lie-benswürdige Anmut verleihen, die er zur Schau tragen würde, wäre er freivon dieser üblen Stimmung. Wohl aber kann er, wenn auch ohne Anmut,aus Vernunft liebenswürdige, gütige, höfliche Worte sagen und gegen sei-ne Neigung in Worten und Werken der Liebe, der Milde und Gefälligkeitdas Passende tun. Es ist zu entschuldigen, wenn man nicht immer heiterist, denn man ist nicht so weit Herr seiner Heiterkeit, daß man jederzeitdarüber verfügen könnte. Nicht zu entschuldigen ist es aber, wenn mannicht immer gütig, gefügig und gefällig ist, denn das liegt immer im Be-reich unseres Willens; man muß sich nur entschließen, die gegenteiligeLaune und Neigung zu überwinden.

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ZWÖLFTES BUCHZWÖLFTES BUCHZWÖLFTES BUCHZWÖLFTES BUCHZWÖLFTES BUCH

Einige Ratschläge für den Fortschritt der Seele

in der heiligen Liebe.

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1. KapitelDer ForDer ForDer ForDer ForDer Fortschritt in der heiligen Liebe hängt nicht vontschritt in der heiligen Liebe hängt nicht vontschritt in der heiligen Liebe hängt nicht vontschritt in der heiligen Liebe hängt nicht vontschritt in der heiligen Liebe hängt nicht von

der natürlichen Vder natürlichen Vder natürlichen Vder natürlichen Vder natürlichen Veranlagung ab.eranlagung ab.eranlagung ab.eranlagung ab.eranlagung ab.

1. Ein großer Ordensmann unserer Tage schrieb, die natürliche Veranla-gung sei ein großes Hilfsmittel für die beschauliche Liebe; Personen mitgemütvollem, liebreichem Naturell seien dazu geeigneter. Nun, ich glaubenicht, daß er damit sagen will, daß die heilige Liebe Menschen und Engelninfolge oder noch weniger nach Maßgabe ihrer natürlichen Veranlagungzugeteilt wird, noch daß die Zuteilung der göttlichen Liebe nach den na-türlichen Eigenschaften und Anlagen der Menschen erfolgt. Eine solcheBehauptung stünde im Widerspruch zur Heiligen Schrift und verletzte diekirchliche Glaubensregel, nach welcher die Pelagianer als Irrlehrer be-zeichnet wurden.

2. Ich spreche hier in dieser Abhandlung von der übernatürlichen Liebe,die Gott aus Güte in unsere Herzen ausgießt und deren Sitz die höchsteSpitze des Geistes ist, die über allen anderen Fähigkeiten unserer Seelesteht und unabhängig von jeglicher natürlichen Gemütsart ist.

Obwohl die zur Liebe geneigten Seelen einerseits eine gewisse Veran-lagung haben, die sie geeigneter macht, Gott lieben zu wollen, sind sie ande-rerseits doch auch sehr in Gefahr, sich an liebenswürdige Geschöpfe zuhängen. Daher bringt ihre Neigung sie ebensosehr in Gefahr, durch Bei-mischung anderer Liebe die Lauterkeit der heiligen Liebe zu verlieren,wie sie eine gewisse Leichtigkeit haben, Gott lieben zu wollen. Denn dieGefahr, auf unrechte Weise zu lieben, ist mit der Leichtigkeit zu liebenverbunden.

3. Es ist dennoch wahr, daß die so veranlagten Seelen Großes in derheiligen Liebe vollbringen, wenn sie einmal von der Liebe zu den Geschöpfengut geläutert sind; denn die Liebe findet eine große Leichtigkeit vor, sich inallen Fähigkeiten ihres Herzens auszubreiten. Daraus entspringt eine wohl-tuende Anmut die bei jenen nicht zutage tritt, die eine herbe, rauhe, schwer-mütige, störrische Gemütsart haben.

4. Gleichwohl werden zwei Personen, von denen die eine von Natur ausliebevoll und sanft, die andere trübsinnig und zu Bitterkeit geneigt ist,wenn sie die gleiche Liebe haben, Gott gleichviel lieben, wenn auch nichtauf ähnliche Art. Das von Natur aus sanfte Herz wird leichter, liebenswür-diger, sanfter, aber nicht wahrer und vollkommener lieben. Hingegen wird

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die Liebe, die inmitten der Dornen und des Widerstrebens eines herben,trockenen Naturells geboren wird, tapferer und ruhmvoller sein, so wiedie erste liebenswürdiger und anmutiger ist.

Es hat daher nicht viel zu sagen, ob man eine natürliche Veranlagung zurLiebe hat oder nicht, wenn es sich um die übernatürliche Liebe handelt,kraft welcher man nur auf übernatürliche Weise tätig ist. Das eine, Theo-timus, möchte ich allen Menschen zurufen: O ihr Sterblichen! Wenn euerHerz zur Liebe geneigt ist, warum strebt ihr dann nicht nach der himmli-schen, göttlichen Liebe? Seid ihr aber rauhen und bitteren Herzens, ach ihrarmen Menschen, warum verlangt ihr, die ihr der natürlichen Liebe be-raubt seid, nicht nach der übernatürlichen, die euch in liebevoller Weisevon jenem gegeben wird, der euch in so heiliger Weise aufruft, ihn zulieben?

2. KapitelDaß man ein beständiges VDaß man ein beständiges VDaß man ein beständiges VDaß man ein beständiges VDaß man ein beständiges Verlangen zu lieben haben soll.erlangen zu lieben haben soll.erlangen zu lieben haben soll.erlangen zu lieben haben soll.erlangen zu lieben haben soll.

1. „Sammelt euch Schätze im Himmel“ (Mt 6,20). Ein einziger Schatzgenügt nach dem Willen dieses göttlichen Liebhabers nicht. Er will, daßwir viele Schätze besitzen, daß unser Schatz aus vielen Schätzen bestehe.Das will heißen, Theotimus, daß wir ein unersättliches Verlangen habensollen, Gott zu lieben, um immerfort Liebe auf Liebe zu häufen.

Was treibt die Bienen mehr an, ihren Honig zu vermehren, als die Liebe,die sie zu ihm haben? Herz meiner Seele, das du geschaffen bist, um dasunendliche Gut zu lieben, welche Liebe könntest du dir wünschen, wennnicht diese, welche die wünschenswerteste von allen ist? Seele meinesHerzens, welchen Wunsch könntest du lieben, wenn nicht den liebenswer-testen von allen Wünschen? O Liebe zu den heiligen Wünschen, o Wün-sche nach der heiligen Liebe! Wie sehr hat mich danach verlangt, eureVollkommenheit zu ersehnen (Ps 119,20).

2. Der von Widerwillen erfüllte Kranke hat keinen Appetit, aber erwünscht es, ihn zu haben; er hat kein Verlangen nach Fleisch, aber ermöchte dieses Verlangen haben. Theotimus, es liegt nicht in unserer Machtzu wissen, ob wir Gott über alles lieben, wenn Gott es uns nicht selbstoffenbart. Wir können aber wohl wissen, ob wir danach verlangen, ihn zulieben. Fühlen wir in uns das Verlangen nach der heiligen Liebe, so wissenwir, daß wir zu lieben beginnen.

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Unserer sinnenhaften und animalischen Natur entstammt der Appetitzum Essen, aber der Wunsch, Appetit zu haben, kommt von unserer ver-nünftigen Natur. Da jedoch die sinnenhafte Natur nicht immer der ver-nünftigen gehorcht, geschieht es häufig, daß wir uns den Appetit wün-schen, ihn aber nicht haben können.

Die Sehnsucht aber zu lieben und die Liebe selbst hängen vom gleichenWillen ab. Sobald wir also den edlen Wunsch gefaßt haben zu lieben,beginnen wir die Liebe zu besitzen. Und in dem Maße, als dieser Wunschwächst, nimmt auch die Liebe zu. Wer glühend nach der Liebe verlangt,wird bald glühend lieben.

O Gott, Theotimus, wer wird uns die Gnade erweisen, daß wir von die-sem Verlangen brennen? Es ist ja das Verlangen der Armen und die Be-reitschaft ihres Herzens, die Gott so gern erhört (Ps 9,38)! Wer nichtsicher ist, daß er Gott liebt, ist arm; und wer danach verlangt, zu lieben, istein Bettler, aber ein Bettler jenes seligen Bettlertums, von dem unser Erlö-ser gesagt hat: „Selig sind die Bettler im Geiste, denn ihrer ist das Him-melreich“ (Mt 5,3 nach dem Griechischen).

3. Ein solcher war der hl. Augustinus, als er ausrief: „O lieben! O voran-schreiten! O sich selbst sterben! O zu Gott gelangen!“ (159. Pred. c. 7).Und ebenso der hl. Franziskus, als er sagte: „Laß mich sterben an DeinerLiebe“, o Freund meines Herzens, „der Du aus Liebe zu mir sterben woll-test!“ (Gebet um die Liebe Gottes). So waren die hl. Katharina von Genuaund die selige Mutter Theresia, die gleich lechzenden und vor Durst nachder göttlichen Liebe verschmachtenden Hindinnen (Ps 42,1) in die Worteausbrachen: „Ach Herr, gib mir von diesem Wasser!“ (Joh 4,15).

4. Der irdische Geiz, der gierig nach irdischen Schätzen verlangt, istWurzel allen Übels (1 Tim 6,10). Aber der geistliche Geiz, der unaufhör-lich nach dem feinen Gold der heiligen Liebe verlangt, ist die Wurzel allesGuten. Wer wahrhaft nach der Liebe verlangt, der sucht sie auch wahrhaft;wer sie wahrhaft sucht, der findet sie auch (Mt 7,8). Und wer sie gefundenhat, hat die Quelle des Lebens gefunden, aus der er das Heil schöpfen wirdvom Herrn (Spr 8,35). Rufen wir Tag und Nacht, Theotimus: „Komm,Heiliger Geist, erfülle die Herzen Deiner Gläubigen und entzünde in ih-nen das Feuer Deiner Liebe“ (Pfingstmesse). O himmlische Liebe, wannwirst du meine Seele randvoll erfüllen?

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3. KapitelUm das VUm das VUm das VUm das VUm das Verlangen nach der himmlischen Liebe zu haben, mußerlangen nach der himmlischen Liebe zu haben, mußerlangen nach der himmlischen Liebe zu haben, mußerlangen nach der himmlischen Liebe zu haben, mußerlangen nach der himmlischen Liebe zu haben, muß

man jedes andere Vman jedes andere Vman jedes andere Vman jedes andere Vman jedes andere Verlangen abstellen.erlangen abstellen.erlangen abstellen.erlangen abstellen.erlangen abstellen.

1. Warum glaubst du, Theotimus, verlieren die Hunde im Frühling öfterals zu anderen Zeiten die Spur und Fährte des Wildes? Die Jäger undPhilosophen sagen, es komme daher, weil zu dieser Zeit die Kräuter undBlumen in ihrer vollen Frische sind. Die mannigfaltigen Gerüche, die sieverbreiten, betäuben dermaßen den Geruchssinn der Hunde, daß sie ausden verschiedenen Gerüchen, die der Erde entströmen, den Geruch ihrerBeute weder zu unterscheiden, noch ihm zu folgen vermögen. Seelen, diesich ständig in Wünschen, Entwürfen und Plänen ergehen, verlangen gewißnie so, wie sie sollten, nach der heiligen, göttlichen Liebe. Sie haben keinrichtiges Empfinden für die liebreiche Spur und Fährte ihres göttlichenVielgeliebten, der mit einer Gazelle und einem jungen Hirsch verglichenwird (Hld 2,9).

2. Für die Lilie gibt es keine bestimmte Jahreszeit; sie blüht früher oderspäter, je nachdem man sie tiefer oder weniger tief in die Erde einsetzt.Setzt man sie nur etwa drei Finger tief in die Erde, so wird sie unverzüglichblühen; setzt man sie aber sechs oder neun Finger tief, so wird sie demge-mäß immer später blühen. Ist das Herz, das nach der göttlichen Liebestrebt, sehr in irdische und zeitliche Geschäfte vertieft, so wird es spät undschwer zur Blüte kommen. Ist es aber nur eben soweit in der Welt, als seinStand und Beruf es fordern, wirst du es bald in Liebe erblühen und denangenehmsten Geruch verbreiten sehen (Hld 2,13).

3. Deshalb zogen die Heiligen sich in die Einsamkeit zurück, damit siealler weltlichen Sorgen ledig, eifriger die himmlische Liebe pflegen konn-ten. Darum schließt die heilige Braut das eine ihrer Augen (Hld 4,9), umdesto stärker ihre ganze Sehkraft in dem einen Auge zu sammeln unddadurch umso sicherer mitten in das Herz ihres Vielgeliebten zu zielen,den sie mit ihrer Liebe verwunden will. Deshalb hat sie alle Haare ihresHauptes so sehr in ein Geflecht zusammengewunden, daß sie nur ein Haarzu haben scheint, dessen sie sich wie einer Kette bedient, um das Herzihres Bräutigams zu binden, es an sich zu reißen und dadurch zum Sklavenihrer Liebe zu machen.

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Seelen, die allen Ernstes Gott zu lieben verlangen, verschließen ihr Er-kenntnisvermögen vor den Überlegungen über weltliche Dinge, um sich de-sto eifriger der Betrachtung der göttlichen Dinge hinzugeben. All ihr Stre-ben verfolgt nur die eine Absicht, einzig und allein Gott zu lieben. Wernach etwas verlangt, nach dem er nicht Gottes wegen verlangt, verlangtdadurch weniger nach Gott.

Ein Ordensmann fragte einst den seligen Ägydius, was er tun solle, umGott am wohlgefälligsten zu sein (s. V,7). Er antwortete ihm, indem ersang: „Die Eine dem Einen, die Eine dem Einen!“ Das will heißen: dieeine Seele dem einen Gott. Wenn viele Wünsche und Zuneigungen ineinem Herzen sind, gleichen sie mehreren Kindern an einer Mutterbrust.Da sie nicht alle zugleich ihre Befriedigung finden können, wird sie ein-mal von dem einen, einmal von dem anderen begierig in Anspruch genom-men und so zum Versiegen und Vertrocknen gebracht. Wer nach der gött-lichen Liebe verlangt, muß sorgfältig seine Muße, seinen Geist und seineZuneigung für sie bewahren.

4. KapitelRechtmäßige Beschäftigungen sind kein Hindernis,Rechtmäßige Beschäftigungen sind kein Hindernis,Rechtmäßige Beschäftigungen sind kein Hindernis,Rechtmäßige Beschäftigungen sind kein Hindernis,Rechtmäßige Beschäftigungen sind kein Hindernis,

die göttliche Liebe zu üben.die göttliche Liebe zu üben.die göttliche Liebe zu üben.die göttliche Liebe zu üben.die göttliche Liebe zu üben.

1. Neugierde, Ehrgeiz, Unruhe, Unachtsamkeit und Geringschätzungunseres Lebenszieles sind Ursache, daß wir tausendmal mehr Hindernisseals ernste Arbeiten, mehr Wirrwarr als Werke, mehr Beschäftigungen alsAufgaben haben. Und diese Trödeleien, Theotimus, das heißt, diese nichts-sagenden, eitlen, überflüssigen Beschäftigungen, mit denen wir uns bela-sten, sind es, die uns von der Liebe zu Gott abziehen, nicht aber die eigent-lichen, rechtmäßigen Arbeiten unseres Berufes.

2. David, und nach ihm der hl. Ludwig, unterließen es nicht, mitten inden unvorhergesehenen Ereignissen, Arbeiten und Geschäften, die sie so-wohl in Friedenszeiten wie im Krieg hatten, aufrichtigen Herzens zu sin-gen:

Wen hab ich im Himmel, außer Dich?Bist Du mit mir,so freut mich die Erde nicht mehr (Ps 73,25).

Der hl. Bernhard verlor nichts von dem Fortschritt, den er in dieserheiligen Liebe zu machen wünschte, obwohl er an den Höfen und in denHeeren großer Fürsten war, wo er alles tat, um die staatlichen Geschäfte in

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den Dienst der Verherrlichung Gottes zu stellen. Er änderte oft seinenAufenthaltsort, nicht aber sein Herz, und sein Herz änderte sich nicht inseiner Liebe, noch seine Liebe in ihrem Gegenstand. Um mit seinen eige-nen Worten zu reden: diese Änderungen gingen in ihm vor, ohne ihn zuverändern. Denn obwohl seine Beschäftigungen sehr verschiedenartig wa-ren, blieb er ihnen gegenüber gleichmäßig und von ihnen losgeschält. Ernahm nicht wie ein Chamäleon, das die Farbe seines Aufenthaltsortes an-nimmt, die Farbe seiner Geschäfte und Gespräche an, sondern blieb im-mer ganz mit Gott verbunden, immer weiß an Reinheit, rot an Liebe undimmer voll von Demut.

3. Ich kenne wohl den Rat der Weisen, Theotimus, die sagen: „Werfromm leben will, fliehe den Hof und die Paläste; in den Armeen findetman selten fromme Menschen. Glaube und Heiligkeit sind Töchter desFriedens.“

Und die Israeliten hatten recht, es bei den Babyloniern abzulehnen, diesie drängten, ihnen die heiligen Gesänge Zions vorzusingen:

Die uns geschlagen, wollen ein fröhliches Lied.Wie könnten wir singen ein Lied des Herrnhier in der Fremde? (Ps 137,4).

Aber siehst du nicht, daß diese armen Menschen nicht nur mitten unterden Babyloniern lebten, sondern daß sie auch Gefangene der Babylonierwaren? Wer immer Sklave der Hofgunst, des Beifalls der Paläste, des Kriegs-ruhmes ist, o Gott, bei dem ist es sicher, daß er das Lied der göttlichenLiebe nicht zu singen vermag. – Wer aber am Hof, im Krieg, im Palast nurist, um seine Pflicht zu erfüllen, dem steht Gott hilfreich bei und diehimmlische Güte wird ihm zum Heilmittel für sein Herz, das ihn vor derdort herrschenden Pest bewahrt.

Als die Mailänder von der Pest heimgesucht waren, scheute sich der hl.Karl Borromäus nie, die Häuser der Pestkranken aufzusuchen und diePestkranken selbst zu berühren. Doch, Theotimus, suchte er sie nur inso-weit auf und berührte sie nur soviel, wie es der Dienst Gottes erforderte.Niemals hätte er sich ohne wahre Notwendigkeit in die Gefahr begeben,aus Furcht vor der Sünde, Gott zu versuchen. So wurde er vor allem Übelbewahrt; die göttliche Vorsehung nahm ihn unter ihren Schutz, da er einso reines, von aller Ängstlichkeit und Verwegenheit bares Vertrauen in siesetzte.

Gott sorgt in gleicher Weise für diejenigen, die nur aus pflichtgemäßerNotwendigkeit an den Hof, in die Paläste, in den Krieg gehen. Man darf

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darin weder so ängstlich sein, daß man durch Fernbleiben gute und ge-rechte Geschäfte versäumt, noch so vermessen und dünkelhaft, daß mandorthin geht und dort bleibt, ohne durch Pflichten oder Geschäfte dazugezwungen zu sein.

5. Kapitel

Ein anziehendes Beispiel hiefürEin anziehendes Beispiel hiefürEin anziehendes Beispiel hiefürEin anziehendes Beispiel hiefürEin anziehendes Beispiel hiefür.....

1. Gott ist „rein dem Reinen“ (Ps 18,26), gut dem Guten, herzlich demHerzlichen, zart mit dem Zarten; begegnet seine Liebe Seelen, die in lieb-reicher Unschuld und Einfalt sich gleich kleinen Kindern ihm gegenüberverhalten, so veranlaßt sie ihn zu Erweisen einer heiligen Zärtlichkeit.

Eines Tages betete die hl. Franziska die Tagzeiten Unserer lieben Frauund wie es ja oft geschieht, daß, selbst wenn es nur eine wichtige Sache amganzen Tag zu erledigen gibt, die dringende Notwendigkeit dazu geradewährend der Zeit des Gebetes eintritt, so wurde auch diese heilige Frau,als sie betete, von ihrem Mann zu einer häuslichen Verrichtung gerufen,und das geschah viermal. Immer wieder nahm sie den Faden des Offizi-ums auf, um gleich wieder weggerufen und genötigt zu werden, beim glei-chen Vers abzubrechen. Endlich war diese Angelegenheit beendigt, deret-wegen man es so eilig gehabt hatte, ihr Gebet zu unterbrechen. Als sie nunwieder zu ihrem Offizium zurückkehrte, siehe, da fand sie den Vers, densie so oft aus Gehorsam stehengelassen und ebensooft aus frommem Sinnwieder aufgenommen hatte, in goldenen Buchstaben geschrieben. EineDame namens Vannocia, die Gefährtin der hl. Franziska, schwor, sie habegesehen, wie der Schutzengel der Heiligen den Vers geschrieben habe, undspäter offenbarte es ihr auch der hl. Paulus (Valladierus: Lobrede auf diehl. Franc. Rom.).

2. Wie liebevoll, Theotimus, erweist sich dieser himmlische Bräutigamgegen seine sanfte, treue Liebende! Du siehst aber auch, daß die notwendi-gen Dinge, die jeder seinem Beruf gemäß zu tun hat, keineswegs die göttli-che Liebe vermindern, sondern im Gegenteil sie vermehren und sozusa-gen das Werk der Frömmigkeit vergolden. Die Nachtigall liebt ihre Melo-die nicht weniger, wenn sie in ihrem Gesang Pausen macht, als wenn siesingt; so lieben auch fromme Menschen die Liebe nicht minder, wenn siesich den äußeren Notwendigkeiten zuwenden, als wenn sie beten; ihr

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Schweigen und ihre Stimme, ihre Taten und ihre Beschauung, ihre Be-schäftigungen und ihre Ruhe singen in gleicher Weise in ihnen das Liedihrer Liebe.

6. KapitelAlle sich bietenden Gelegenheiten soll man zur ÜbungAlle sich bietenden Gelegenheiten soll man zur ÜbungAlle sich bietenden Gelegenheiten soll man zur ÜbungAlle sich bietenden Gelegenheiten soll man zur ÜbungAlle sich bietenden Gelegenheiten soll man zur Übung

der göttlichen Liebe benützen.der göttlichen Liebe benützen.der göttlichen Liebe benützen.der göttlichen Liebe benützen.der göttlichen Liebe benützen.

1. Es gibt Seelen, die große Pläne schmieden, wie sie dem Herrn aufausgezeichnete Weise durch hervorragende Werke und außerordentlicheLeiden dienen können; es sind aber Werke und Leiden, für die sie gegen-wärtig keine Gelegenheit haben, zu denen sich vielleicht auch nie dieGelegenheit bieten wird. Damit glauben sie, einen großen Liebesakt er-weckt zu haben, täuschen sich aber für gewöhnlich sehr. Das sieht mandaran, daß sie, so scheint es ihnen, dem Wunsch nach wohl große zukünf-tige Kreuze umfangen, aber sorgfältig bedacht sind, der Last gegenwärtiger,geringerer Kreuze aus dem Weg zu gehen. Ist das nicht eine sehr großeVersuchung, in der Einbildung so tapfer und in der Ausführung so weich-lich zu sein?

2. Gott bewahre uns vor solch eingebildetem Eifer, der sehr oft im Grun-de unseres Herzens eine eitle, heimliche Selbstgefälligkeit nährt. GroßeWerke liegen nicht immer auf unserem Weg; zu jeder Zeit aber könnenwir kleine in ausgezeichneter Weise, d. h. mit großer Liebe tun. Betrachtediesen Heiligen, der einem armen, durstigen Wanderer um Gottes Willenein Glas Wasser reicht. Scheinbar tut er etwas sehr Geringes, aber dieAbsicht, die Freundlichkeit, die Liebe, mit der er seine Tat beseelt, ist sogroß, daß sie dieses gewöhnliche Wasser in ein lebendiges Wasser, einWasser ewigen Lebens verwandelt (Mt 10,42).

3. Die Bienen suchen Nahrung in den Lilien, Schwertlilien und Rosen,aber sie erbeuten nicht weniger in den kleinen Blüten des Rosmarin unddes Thymian. Ja, sie sammeln daraus nicht nur mehr Honig, sondern bes-seren Honig, denn da der Honig in diesen kleinen Kelchen mehr zusam-mengedrängt ist, hält er sich auch besser. So übt man die Liebe bei denkleinen, unscheinbaren Übungen der Frömmigkeit nicht nur öfter, sonderngewöhnlich auch demütiger und folglich mit mehr Nutzen und Heiligkeit.

Dieses Nachgeben den Launen anderer gegenüber, dieses Ertragen rück-sichtsloser und lästiger Handlungen und Haltungen des Nächsten, diese

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Siege über unsere eigenen Launen und Leidenschaften, dieser Verzicht aufunsere kleinen Neigungen, dieses Kämpfen gegen unseren Widerwillenund unsere Abneigungen, dieses herzliche und schlichte Geständnis unse-rer Unvollkommenheiten, diese ständige Mühe, die wir uns geben, unsereSeele im Gleichgewicht zu erhalten, diese Liebe zu unserer Erniedrigung,diese gutmütige und freundliche Annahme der Mißachtung und der Kritikunseres Wesens, Lebens, Umgangs und unserer Handlungen: Theotimus,all das ist für unsere Seelen viel fruchtbarer, als wir meinen, vorausgesetzt,daß es aus heiliger Liebe geschieht. Doch das haben wir schon der Phi-lothea gesagt (III,3 und 35).

7. KapitelWWWWWelche Sorgfalt wir anwenden müssen, um unsere Handlungenelche Sorgfalt wir anwenden müssen, um unsere Handlungenelche Sorgfalt wir anwenden müssen, um unsere Handlungenelche Sorgfalt wir anwenden müssen, um unsere Handlungenelche Sorgfalt wir anwenden müssen, um unsere Handlungen

sehr vollkommen zu verrichten.sehr vollkommen zu verrichten.sehr vollkommen zu verrichten.sehr vollkommen zu verrichten.sehr vollkommen zu verrichten.

1. Nach Überlieferung der Alten sagte der Herr oft den Seinen: „Seidgute Wechsler“ (s. XI,13). Wenn die Münze nicht von echtem Gold ist,wenn sie ihr Gewicht nicht hat und nicht in der richtigen Weise geprägt ist,so weist man sie als nicht gangbare Münze zurück. Wenn ein Werk nichtvon guter Art ist, wenn die Liebe es nicht schmückt, wenn die Absichtnicht fromm ist, so wird es nicht unter die guten Werke aufgenommen.

Wenn ich faste, um zu sparen, ist mein Fasten nicht von guter Art. Wennich aus Mäßigkeit faste, aber eine Todsünde meine Seele belastet, so fehltmeinem Werk das Gewicht, denn die Liebe gibt dieses allem, was wir tun.Faste ich bloß aus gesellschaftlichen Gründen, um mich meiner Umge-bung anzupassen, so trägt dieses Werk nicht das Gepräge einer gültigenAbsicht. Faste ich aber aus Mäßigkeit, bin im Zustand der Gnade Gottesund habe die Absicht, durch diese Mäßigkeit der göttlichen Majestät zugefallen, so wird dieses Werk eine gute Münze sein, geeignet, in mir denSchatz der Liebe zu vermehren.

2. Man verrichtet kleine Dinge dann in ausgezeichneter Weise, wenn mansie in sehr reiner Absicht und mit dem festen Willen tut, Gott zu gefallen.Dann heiligen sie uns in sehr wirksamer Weise. Es gibt Menschen, die vielessen und immer mager, schlaff und kraftlos sind, weil sie nicht gut ver-dauen können. Es gibt andere, die wenig essen und immer in guter Verfas-sung und kräftig sind, weil sie einen guten Magen haben. So gibt es auch

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Seelen, die viele gute Werke verrichten und dabei sehr wenig in der Liebezunehmen, weil sie diese entweder kalt oder lässig oder mehr aus natürli-chem Antrieb oder aus natürlicher Neigung als auf Eingebung Gottes oderaus übernatürlichem Eifer tun. Im Gegensatz dazu gibt es andere, diewenig tun, aber mit so heiligem Willen und so heiliger Absicht, daß sieaußerordentlich große Fortschritte in der Liebe machen. Sie haben wenigTalente empfangen, aber sie verwenden diese so treu, daß der Herr sie inreichem Maße dafür belohnen wird (Mt 25,21-23).

8. KapitelAllgemeines Mittel, um unsere WAllgemeines Mittel, um unsere WAllgemeines Mittel, um unsere WAllgemeines Mittel, um unsere WAllgemeines Mittel, um unsere Werkerkerkerkerke zu eineme zu eineme zu eineme zu eineme zu einem

Dienst Gottes zu gestalten.Dienst Gottes zu gestalten.Dienst Gottes zu gestalten.Dienst Gottes zu gestalten.Dienst Gottes zu gestalten.

1. „Alles, was ihr tut, sei es in Worten oder Werken, tut alles im NamenJesu Christi. Ob ihr eßt oder trinkt oder was immer ihr tut, tut alles zurEhre Gottes“ (Kol 3,17; 1 Kor 10,31). Das sind die Worte des großenApostels. In seiner Erklärung dazu sagt der hl. Thomas (Ia, Iae qu 86, art1, ad 2), daß wir sie dann in genügender Weise zur Ausführung bringen,wenn wir im Zustand der heiligen Liebe sind. Haben wir dann auch nichtbei jedem Werk die ausdrückliche und bewußte Absicht, es für Gott zutun, so ist diese Absicht doch schon in unserer Einigung und Vereinigungmit Gott eingeschlossen. Dadurch ist alles Gute, das wir zu tun imstandesind, mit uns selbst der Güte Gottes geweiht. Es ist nicht notwendig, daßein Kind, das im Haus seines Vaters wohnt und unter dessen Obhut steht,eigens erklärt, daß alles, was es erwirbt, für seinen Vater erworben ist. Dadas Kind persönlich seinem Vater gehört, gehört ihm auch alles, was vonihm abhängt. So genügt es auch, daß wir durch die Liebe Kinder Gottessind, damit alles, was wir tun, gänzlich zu seiner Verherrlichung bestimmtist.

2. Es ist also wahr, Theotimus, wie wir schon anderswo gesagt haben(XI,3), daß der Ölbaum, der neben einen Weinstock gepflanzt ist, diesemseinen Geschmack verleiht. So teilt auch die Liebe den Tugenden, die sieantrifft, ihre Vollkommenheit mit. Pfropft man die Weinrebe aber aufeinen Ölbaum, so spendet dieser ihr nicht bloß vollkommener seinen Ge-schmack, sondern er läßt sie auch an seinem Saft Anteil haben. Daherbegnüge auch du dich nicht damit, die Liebe und mit ihr die Übung derTugend zu haben, sondern sorge dafür, daß du die Tugenden aus Liebe und

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um der Liebe selbst willen übst, damit sie ihr gerechterweise zugeschriebenwerden können.

Hält und führt ein Maler die Hand seines Schülers, so wird der Pin-selstrich, der ausgeführt wird, hauptsächlich dem Maler zugeschrieben.Hat auch der Schüler zur Handbewegung und Führung des Pinsels beige-tragen, so hat doch der Meister seine Bewegung derart in die des Schülershineingelegt, daß ihm die Ehre für das, was an diesem Pinselstrich gut ist,in besonderer Weise zukommt, wenngleich man den Schüler der Ge-schmeidigkeit wegen loben wird, mit der er sich der Bewegung und Füh-rung des Meisters angepaßt hat. O wie groß sind die Werke der Tugenden,wenn die göttliche Liebe ihnen ihre heilige Bewegung mitteilt und ein-prägt, d. h. wenn die Liebe ihr Beweggrund ist!

Das geschieht aber auf verschiedene Weise.3. Der Beweggrund der Liebe übt auf die Tugendwerke derjenigen, die

sich ausschließlich Gott und seinem Dienst geweiht haben, einen beson-ders vervollkommnenden Einfluß aus. Das sind die Bischöfe und Priester,die durch eine sakramentale Weihe und durch ein unauslöschliches geisti-ges Merkmal dem immerwährenden Dienst Gottes gleich gezeichnetenLeibeigenen geweiht sind. Das sind ferner die Ordensleute, die durch ihrefeierlichen oder einfachen Gelübde als „lebendige und vernunftbegabteOpfer“ (Röm 12,1) Gott dargebracht werden. Das sind auch alle diejeni-gen, die sich religiösen Genossenschaften angeschlossen haben und so aufimmer der Verherrlichung Gottes geweiht sind. Ferner alle jene, die beab-sichtigen, tiefe und kraftvolle Vorsätze zu fassen, den Willen Gottes zubefolgen, und sich zu diesem Zweck auf einige Tage zurückziehen, um ihreSeele durch verschiedene geistliche Übungen zu einer vollständigen Erneue-rung ihres Lebens anzuspornen: eine heilige Methode, die bei den erstenChristen gebräuchlich war, seither jedoch fast gänzlich in Vergessenheitgeraten ist, bis sie der große Diener Gottes Ignatius von Loyola zur Zeitunserer Väter wieder aufgegriffen hat.

4. Ich weiß, daß einige der Ansicht sind, eine so allgemeine Aufopferungseiner selbst erstrecke ihren Einfluß nicht auf die Handlungen, die wirnachher üben, außer in dem Maße, als wir bei ihrer Verrichtung im beson-deren den Beweggrund der Liebe haben und sie ausdrücklich der Verherr-lichung Gottes weihen. Alle bekennen jedoch mit dem hl. Bonaventura(der in dieser Hinsicht von jedermann gelobt wird, s. II Sent. dist. 41 art. 1,concl.): wenn ich in meinem Herzen beschlossen habe, um Gottes willenhundert Taler herzuschenken, und dann die Verteilung der Summe nach

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und nach zerstreut und unaufmerksam vornehme, dann geschieht die Ver-teilung doch aus Liebe, da sie dem ersten Entschluß entspringt, den dieGottesliebe mich fassen ließ, all das herzuschenken.

Nun frage ich dich aber, Theotimus, was ist denn für ein Unterschiedzwischen dem Menschen, der Gott hundert Goldstücke opfert, und einem,der ihm alle seine Werke opfert? Sicherlich kein anderer, als daß der eineeine Summe Geldes und der andere eine Summe von Werken opfert. Wa-rum aber kann man dann nicht annehmen, daß der eine wie der andere dieVerteilung der einzelnen Beträge dieser Summen kraft ihres ersten Vorha-bens und grundlegenden Entschlusses vornimmt? Wenn der eine, der sei-ne Münzen unaufmerksam austeilt, nicht aufhört, unter dem Einfluß sei-nes ersten Vorhabens zu stehen, warum sollte dann auch der andere, derseine Taten verteilt, sich nicht der Frucht seiner ersten Absicht erfreuendürfen? Wer sich vorbehaltlos zum liebenden Sklaven der Güte Gottesgemacht hat, hat ihr folglich alle seine Handlungen geweiht.

Wegen dieser Wahrheit sollte jeder einmal in seinem Leben gute Exerzi-tien machen, dabei seine Seele von jeder Sünde reinigen und dann in sei-nem Innern den festen Vorsatz fassen, ganz für Gott zu leben, wie ich es imersten Teil meiner „Anleitung zum frommen Leben“ angeregt habe. Dannsollte man wenigstens einmal im Jahr sein Gewissen überprüfen und eineErneuerung des ersten Vorsatzes vornehmen, wie wir im fünften Teil des-selben Buches gesagt haben, worauf ich dafür verweise.

Der hl. Bonaventura behauptet (ebd.), ein Mensch, der sich eine so star-ke Neigung und Gewohnheit, das Gute zu tun, erworben hat, daß er es oftohne besondere Aufmerksamkeit tut, erringt deswegen trotzdem durchsolche Handlungen viele Verdienste. Diese sind ja geadelt durch die Lie-be, aus der sie wie aus der Wurzel und Quelle dieser glücklichen Gewohn-heit, Leichtigkeit und Bereitschaft hervorgegangen sind.

9. KapitelEinige andere Mittel, um unsere WEinige andere Mittel, um unsere WEinige andere Mittel, um unsere WEinige andere Mittel, um unsere WEinige andere Mittel, um unsere Werkerkerkerkerke in besonderere in besonderere in besonderere in besonderere in besonderer

WWWWWeise der Gottesliebe zu weihen.eise der Gottesliebe zu weihen.eise der Gottesliebe zu weihen.eise der Gottesliebe zu weihen.eise der Gottesliebe zu weihen.

1. Wenn die Pfauenweibchen an einem sehr hellen Platz ihre Eier aus-brüten, sind ihre Jungen auch ganz weiß. Und wenn unsere Absichten zurZeit, da wir ein gutes Werk planen, oder einen Beruf ergreifen, in der Liebe

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Gottes begründet sind, so erhalten alle Handlungen, die daraus folgen, ih-ren Wert und ihren Adel von der Liebe, in der sie ihren Ursprung haben.Denn es ist doch klar, daß die Handlungen, die für meinen Beruf geeignetoder für meinen Plan erforderlich sind, von der ersten Wahl und demersten Entschluß abhängen, die ich getroffen habe.

Doch darf man dabei nicht stehen bleiben, Theotimus, sondern um gro-ße Fortschritte in der Frömmigkeit zu machen, müssen wir nicht nur amAnfang unserer Bekehrung und dann jedes Jahr unser Leben und alle un-sere Handlungen Gott weihen, wir müssen sie vielmehr alle Tage ihmopfern, wie ich es Philothea in der Morgenübung gelehrt habe. Denn durchdiese tägliche Erneuerung unserer Hingabe durchdringen wir unsere Hand-lungen mit der Kraft und der Tugend der Liebe, indem wir unser Herz vonneuem der Verherrlichung Gottes weihen, wodurch es immer mehr gehei-ligt wird.

2. Außerdem weihen wir doch unser Leben hundert- und aberhundert-mal am Tag der göttlichen Liebe durch häufige Stoßgebete, Erhebungenunseres Herzens und geistliche Einkehr. Denn diese heiligen Übungenreißen unseren Geist fortwährend zu Gott empor, werfen ihn in die Gott-heit hinein und führen ihm damit auch alle unsere Handlungen zu. Wiewäre es auch möglich, daß eine Seele, die sich jeden Augenblick zur gött-lichen Güte aufschwingt und ständig Worte der Liebe stammelt, um ihrHerz immer im Schoß dieses himmlischen Vaters zu bewahren, nicht alleihre guten Werke in Gott und für Gott verrichtete?

Sie, die spricht: „Ach Herr, ich bin Dein“ (Ps 119,94); „Mein Geliebterist mein und ich bin ganz sein’’ (Hld 2,16); „Mein Gott, Du bist meinalles“; „O Jesus, Du bist mein Leben“; „Wer gibt mir die Gnade, daß ichmir selbst sterbe, damit ich nur Dir lebe!“ „O lieben! O vorwärtsschreiten!O sich selbst sterben! O für Gott leben!“ „O in Gott sein! O Gott, wasnicht Du selbst bist, ist mir nichts!“ – Eine Seele, die so spricht, weiht sienicht fortwährend ihre Handlungen dem himmlischen Bräutigam?

Glücklich die Seele, die einmal allen Ernstes sich ihrer selbst entblößtund sich vollkommen den Händen Gottes überlassen hat, wie wir obengesagt haben (IX,16). Für sie genügt in der Folge ein kleiner Seufzer, einBlick auf Gott, um ihre Entblößung, ihre Hingabe, ihre Aufopferung mitdem Bekenntnis zu erneuern, daß sie nichts will als Gott und um Gottes

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willen und daß sie sich selbst und die Dinge dieser Welt nur in Gott undaus Liebe zu Gott liebt.

Diese Übung der fortwährenden Erhebungen zu Gott ist daher sehr ge-eignet, der Liebe alle unsere Werke zuzueignen. Sie genügt aber haupt-sächlich und in sehr reichlicher Weise für die unscheinbaren gewöhn-lichen Handlungen unseres Lebens.

3. Für die bedeutenderen, die schwere Folgen nach sich ziehen, ist es,wie ich schon früher angedeutet habe, ratsam, folgende Methode anzu-wenden, um großen Gewinn zu erzielen (VIII,14): Erheben wir bei sol-chen Gelegenheiten unser Herz und unseren Geist zu Gott, vertiefen wiruns in die Erwägung der hochheiligen, glorreichen Ewigkeit und lassenwir unsere Gedanken dort weilen. Betrachten wir, wie Gottes Güte unsvon Ewigkeit her zärtlich liebte, wie sie zu unserem Heil alle für unserenFortschritt geeigneten Mittel bestimmte, besonders aber diese Gelegen-heit, Gutes zu tun oder das Übel zu leiden, das uns gegenwärtig widerfährt.Wenn das geschehen ist, dann breiten wir sozusagen die Arme unsererZustimmung aus, erheben wir sie und umfangen wir zärtlich, eifrig undvoll Liebe sowohl das Gute, das zu tun sich darbietet, als auch das Übel,das wir zu erleiden haben, in Anbetracht dessen, daß Gott es so von Ewig-keit her gewollt hat, und um ihm wohlzugefallen und seiner Vorsehung zugehorchen.

4. Betrachte den großen hl. Karl (Carolus a Basilica Petri Bascape, Le-ben des hl. Karl, 4. Buch) in der Zeit, da die Pest in seiner Diözese wütete.Er richtete seinen Mut in Gott auf und erwog aufmerksam, daß diese Plagevon Ewigkeit her in der göttlichen Vorsehung vorbereitet und für seinVolk bestimmt worden war; daß ferner dieselbe Vorsehung verfügt habe,er solle sich inmitten dieser Plage sehr liebevoll um die Leidenden anneh-men, ihnen in herzlicher Liebe dienen, Erleichterung verschaffen und ih-nen beistehen, da er zu ebendieser Zeit der geistliche Vater, Hirte undBischof dieser Gegend war. Als er sich dann die Größe der Leiden, Mühenund Gefahren vorstellte, denen er sich deshalb unterziehen mußte, brach-te er sich im Geist dem Wohlgefallen Gottes zum Opfer, küßte zärtlichsein Kreuz und rief aus dem Grund seines Herzens aus, ähnlich wie der hl.Andreas: „Ich grüße dich, o kostbares Kreuz, ich grüße dich, o selige Trüb-sal! Wie liebenswürdig bist du, o heiliges Leid, denn du bist hervorgegan-gen aus dem Schoß dieses Vaters der ewigen Erbarmung. Er hat dich vonEwigkeit her gewollt und hat dich diesem mir teuren Volk und mir be-stimmt! O Kreuz, mein Herz will dich, weil das Herz meines Gottes dich

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gewollt hat! O Kreuz, meine Seele liebt und umarmt dich mit seiner gan-zen Liebe!“

5. Auf diese Weise sollen wir an die größten Aufgaben herangehen, diewir zu erfüllen haben, und uns bei den bittersten Leiden verhalten, die unsbegegnen. Sind sie aber von langer Dauer, so müssen wir von Zeit zu Zeit,und zwar sehr häufig, diese Übung wiederholen, um die Vereinigung unse-res Willens mit dem Wohlgefallen Gottes noch besser festzuhalten, indemwir diese kurze aber ganz göttliche Beteuerung seines Sohnes ausspre-chen: „Ja, o ewiger Vater, ich will es aus meinem ganzen Herzen, denn sohat es Dir wohlgefallen“ (Mt 11,26). O Gott, mein Theotimus, welcheSchätze liegen in dieser Übung!

10. KapitelAufforderung, Gott unsere Willensfreiheit zum Opfer zu bringen.Aufforderung, Gott unsere Willensfreiheit zum Opfer zu bringen.Aufforderung, Gott unsere Willensfreiheit zum Opfer zu bringen.Aufforderung, Gott unsere Willensfreiheit zum Opfer zu bringen.Aufforderung, Gott unsere Willensfreiheit zum Opfer zu bringen.

1. Dem Beispiel des hl. Karl füge ich noch das des großen PatriarchenAbraham hinzu als ein lebendiges Bild der stärksten und aufrichtigstenLiebe, die man sich in einem Geschöpf nur vorstellen kann.

Er opferte die stärksten natürlichen Zuneigungen, die er im Herzen tra-gen konnte, als er die Stimme Gottes hörte, die zu ihm sprach: „Zieh fortaus deinem Land, von deiner Verwandtschaft und vom Haus deines Vatersin das Land, das ich dir zeigen werde“ (Gen 12,1). Denn er zog alsogleichfort und machte sich auf den Weg, „ohne zu wissen, wohin er gehe“ (Hebr11,8). Die süße Liebe zum Vaterland, der traute Umgang mit seinen Ver-wandten, die Annehmlichkeiten des väterlichen Hauses konnten ihn nichtaufhalten. Beherzt und voll Eifer zieht er fort und geht dorthin, wohin esGott belieben wird, ihn zu führen. Welche Selbstverleugnung, Theotimus!Welche Entsagung! Man kann Gott nicht vollkommen lieben, wenn mandie Zuneigungen zu den vergänglichen Dingen nicht aufgibt.

2. Doch dies ist nichts im Vergleich zu dem, was er später tat (Gen 22),als Gott ihn zweimal rief, und, da er seine Bereitschaft zu antworten sah,zu ihm sagte: „Nimm Isaak, deinen Sohn, deinen einzigen, den du liebhast,und zieh in die Gegend von Moria und bring ihn dort zum Brandopfer darauf einem Berg, den ich dir nennen werde.“ Da sehen wir diesen wahrhaftgroßen Mann, der sich sofort mit dem so sehr geliebten und liebenswertenSohn auf den Weg macht, drei Tage unterwegs ist und dann am Fuß des

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Berges ankommt, dort seine Knechte und den Esel zurückläßt und daszum Brandopfer nötige Holz seinem Sohn Isaak auflädt, während er selbstFeuer und Schlachtmesser mitnimmt. – Da sie nun miteinander empor-steigen, fragt ihn sein liebes Kind: „Mein Vater!“ Und er antwortet: „Waswillst du, mein Sohn?“ Der Sohn fragt weiter: „Feuer und Holz sind wohlda, aber wo ist das Schaf zum Brandopfer?“ Der Vater antwortet: „Gottwird für das Schaf zum Brandopfer schon sorgen, mein Sohn.“ Wie sie nunauf dem dazu bestimmten Berg angekommen sind, errichtet Abrahamdort einen Altar und schichtet das Holz darauf, bindet seinen Sohn Isaakund legt ihn auf das Holz. Darauf streckt er seine rechte Hand aus, umfaßtdas Messer, erhebt seinen Arm, und da er im Begriff steht, den Stoß auszu-führen, um sein Kind zu opfern, ruft ihm der Engel von oben her zu:„Abraham, Abraham!“ Der antwortet: „Hier bin ich.“ Und der Engelspricht: „Lege nicht Hand an deinen Knaben! Genug! Jetzt weiß ich, daßdu gottesfürchtig bist und aus Liebe zu mir deinen Sohn mir nicht vorent-halten hast.“ Daraufhin wird Isaak von seinen Fesseln befreit, Abrahamnimmt einen Widder, der mit seinen Hörnern im Dickicht sich verfangenhat, und bringt ihn zum Brandopfer dar.

3. Theotimus, „jeder, der die Frau seines Nächsten lüstern ansieht, hat inseinem Herzen schon Ehebruch begangen“ (Mt 5,28). Und wer seinenSohn bindet, um ihn zu opfern, hat ihn in seinem Herzen schon geopfert.Ach bedenke doch, welches Opfer dieser heilige Mann in seinem Herzendargebracht hat! Ein unvergleichliches Opfer, ein Opfer, das man gar nichtgenug hochschätzen kann, ein Opfer, das man nicht genug loben kann! OGott, wer kann ermessen, welche Liebe größer war: die des Abraham, dersein überaus geliebtes Kind opfert, um Gott zu gefallen, – oder die desKindes, das, auch um Gott zu gefallen, bereit ist, sich opfern zu lassen, sichdafür binden, auf das Holz legen läßt und wie ein sanftes Lämmlein fried-lich den Todesstoß von der geliebten Hand seines guten Vaters erwartet?

Ich halte dafür, daß der Vater den Sohn an Langmut übertrifft, doch willich gern dem Sohn hinsichtlich der Großmut den Preis zuerkennen. Denneinerseits ist es gewiß wunderbar, daß Abraham, der schon alt und in derWissenschaft der Gottesliebe schon vollendet war und überdies durch diegöttliche Erscheinung, die er kurz vorher gehabt und durch das göttlicheWort gestärkt war, sich jetzt zu diesem letzten großen Erweis seiner Hin-gabe und Liebe zu Gott aufrafft, dessen Güte er schon so oft verkostet unddessen Vorsehung er schon oft erfahren hatte. Daß aber Isaak im Lenz

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seines Lebens, noch ein Neuling und unerfahrener Schüler in der Kunst,Gott zu lieben, sich auf das bloße Wort seines Vaters dem Messer und demFeuer darbot, um ein Opfer des Gehorsams gegen den göttlichen Willenzu sein, das ist etwas, was jede Bewunderung übersteigt.

Aber siehst du andererseits, Theotimus, wie Abraham während mehr alsdrei Tagen den bitteren Gedanken und Entschluß dieses schweren Opfersin seiner Seele herumwälzt und überdenkt? Hast du nicht Mitleid mitdiesem Vaterherzen in dem Augenblick, wo er allein mit seinem Sohn denBerg besteigt und dieser mit der Einfalt einer Taube sich mit der Frage anihn wendet: „Mein Vater, wo ist das Opfer?“ Und wie er ihm dann antwor-tet: „Gott wird dafür sorgen, mein Sohn.“ Glaubst du nicht, daß die Sanft-mut dieses Kindes, das das Holz auf seinen Schultern trägt und es dann aufden Altar ausbreitet, dieses Herz vor zärtlicher Liebe vergehen ließ? OHerz, das die Engel bewundern und Gott selbst lobpreist!

4. Ach, Herr Jesus, wann werden wir, nachdem wir Dir alles geopfert, waswir haben, auch alles opfern, was wir sind? Wann werden wir Dir unserenfreien Willen zum Brandopfer darbringen, dieses einzige Kind unseres Geis-tes? Wann werden wir diesen freien Willen binden und auf den Scheiter-haufen Deines Kreuzes, Deiner Dornen, Deiner Lanze legen, damit er wieein Schäflein ein Deinem Wohlgefallen angenehmes Opfer sei, um durchdas Feuer und das Schwert Deiner heiligen Liebe zu sterben und zu ver-brennen? O Freiheit meines Herzens, wie gut wird es für dich sein, an dasKreuz des göttlichen Erlösers gebunden und ausgespannt zu sein! Wiewünschenswert ist es für dich, dir selbst zu sterben, um auf immer alsBrandopfer des Herrn zu brennen!

5. Theotimus, unser freier Wille ist nie so frei, als wenn er ein Sklave desWillens Gottes ist, und er ist nie so sehr Sklave, als wenn er unserem Wollendient: Nie hat er soviel Leben als im Augenblick, wo er sich selbst stirbt,und nie ist er so tot, als wenn er für sich selbst lebt.

Wir haben die Freiheit, Gutes und Böses zu tun; das Böse wählen, istaber nicht seine Freiheit gebrauchen, sondern mißbrauchen. Verzichtenwir auf diese unglückselige Freiheit und unterwerfen wir unseren freienWillen auf ewig der himmlischen Liebe! Machen wir uns zu Sklaven derLiebe, deren Leibeigene glücklicher sind als Könige. Wenn unsere Seele jeihre Freiheit in Widerspruch zu unserem Entschluß, Gott ewig und vorbe-haltlos zu dienen, gebrauchen wollte, o dann, um Gottes willen, opfern wir

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diese Freiheit und lassen wir sie sich selbst absterben, damit sie für Gottlebe.

6. Wer sie für die Eigenliebe in dieser Welt bewahren wollte, wird sie fürdie ewige Liebe in der anderen Welt verlieren. Wer sie aber für die Gottes-liebe in dieser Welt verliert, wird sie für dieselbe Liebe in der anderenWelt bewahren (Mt 10,39; Joh 12,25). Wer dem Willen in dieser Welt dieFreiheit läßt, macht ihn zum Leibeigenen und Sklaven in der anderenWelt, und wer ihn in dieser Welt dem Kreuz unterwirft, bewahrt ihn freifür die andere Welt, wo er, verabgründet im beseligenden Besitz der gött-lichen Güte, seine Freiheit in Liebe verwandelt sehen wird und die Liebein Freiheit, aber eine Freiheit von unendlicher Seligkeit. Ohne Anstren-gung, ohne Mühe, ohne irgendeinen Widerwillen werden wir auf immerunwandelbar den Schöpfer und Erlöser unserer Seelen lieben.

11. KapitelBeweggründe der heiligen Liebe.Beweggründe der heiligen Liebe.Beweggründe der heiligen Liebe.Beweggründe der heiligen Liebe.Beweggründe der heiligen Liebe.

Der hl. Bonaventura (Amatorium), P. Ludwig von Granada, P. Ludwigde Ponte, Fr. Diego de Stella haben hinreichend über diesen Gegenstandgeschrieben. Ich begnüge mich damit, nur die Punkte anzugeben, die ichin dieser Abhandlung berührt habe.

Die göttliche Güte in sich selbst betrachtet, ist nicht nur der erste, son-dern der erhabenste, edelste und mächtigste aller Beweggründe. Er bildetdas Entzücken der Seligen des Himmels und ist der Gipfel ihrer Seligkeit.Wie kann man ein Herz haben und diese unendliche Güte nicht lieben?Das ist der Gegenstand des ersten und zweiten Kapitels im II. Buch, sowiedes III. Buches vom achten Kapitel bis zum Schluß, sowie des neuntenKapitels im X. Buch.

Der zweite Beweggrund ist die natürliche Vorsehung Gottes uns gegen-über, die Erschaffung und Erhaltung, wie wir im dritten Kapitel des II.Buches gesagt haben.

Der dritte Beweggrund ist die übernatürliche Vorsehung Gottes uns ge-genüber und die Erlösung, die Gott uns bereitet hat, so wie wir es in denKapiteln vier, fünf, sechs und sieben des II. Buches erklärt haben.

Der vierte Beweggrund liegt in der Erwägung, wie Gott diese Vorsehungund Erlösung ausübt, wie er jedem Einzelnen die zu seinem Heil erforder-

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lichen Gnaden und Hilfen zukommen läßt. Davon handelt das II. Buchvom achten Kapitel an und das III. Buch vom Anfang an bis zum sechstenKapitel.

Der fünfte Beweggrund ist die ewige Glorie, für die uns die göttlicheGüte bestimmt hat, die der Höhepunkt der uns von Gott erwiesenen Wohl-taten ist. Das ist behandelt im III. Buch vom neunten Kapitel bis zumSchluß.

12. KapitelSehr nützliche WSehr nützliche WSehr nützliche WSehr nützliche WSehr nützliche Weise, diese Beweggründeeise, diese Beweggründeeise, diese Beweggründeeise, diese Beweggründeeise, diese Beweggründe

in Anwendung zu bringen.in Anwendung zu bringen.in Anwendung zu bringen.in Anwendung zu bringen.in Anwendung zu bringen.

Um von diesen Beweggründen zu einer tiefen, mächtigen Liebe ent-flammt zu werden, muß man

1. nach einer allgemeinen Erwägung eines Motivs dieses im besonderenauf sich selbst anwenden. Zum Beispiel: O wie liebenswürdig ist diesergroße Gott, der in seiner unendlichen Güte seinen Sohn zur Erlösung fürdie ganze Welt hingegeben hat! Ach ja, für alle im allgemeinen, aber fürmich ganz besonders, den größten aller Sünder! (1 Tim 1,15). Ach, „er hatmich geliebt“; ich sage, mich hat er geliebt, mich selbst, so wie ich bin, und„hat sich für mich“ seinem bitteren Leiden „hingegeben“ (Gal 2,20)!

2. Man muß die göttlichen Wohltaten in ihrem ersten, ewigen Ursprungbetrachten. O Gott, mein Theotimus, wie könnten wir je eine der unendli-chen Güte unseres Schöpfers würdige Liebe haben, der von Ewigkeit herden Gedanken gefaßt hat, uns zu erschaffen, zu erhalten, zu leiten, zuerlösen, zu erretten, zu verherrlichen, uns alle zusammen und jeden imbesonderen? Ach, wer war ich damals, als ich noch nicht war? Ich, sageich, der ich jetzt, wo ich etwas bin, nichts anderes bin als ein armseligerErdenwurm. Und dennoch hat Gott im Abgrund seiner Ewigkeit Gedan-ken des Segens für mich gedacht (Jer 29,11). Er überdachte, bezeichnete,bestimmte die Stunde meiner Geburt, meiner Taufe, aller Einsprechun-gen, die er mir geben wollte, überhaupt aller Wohltaten, die er mir erwei-sen und anbieten wollte. Gibt es eine Güte, die dieser Güte gleichkommt?

3. Man muß die göttlichen Wohltaten in ihrer zweiten Quelle betrachten,durch die sie verdient worden sind. Denn, mein Theotimus, ist es dir nichtbekannt, daß der Hohepriester des Alten Bundes die Namen der KinderIsraels auf seinen Schultern und auf seiner Brust trug? D. h. er trug kostba-

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re Edelsteine, in welche die Namen der Stämme Israels eingegraben wa-ren (Ex 39,14). Und schau auf Jesus, unseren „großen Bischof“ (Hebr4,14). Betrachte ihn vom Augenblick seiner Empfängnis an; sieh, wie eruns auf seinen Schultern dadurch trug, daß er den Auftrag annahm, unsdurch seinen Tod, seinen Tod am Kreuz (Phil 2,8) zu erlösen. O Theoti-mus, Theotimus, die Seele unseres Erlösers kannte uns alle bei Namenund Zunamen. Aber besonders am Tag seines Leidens, als er seine Tränen,seine Gebete, sein Blut und sein Leben für alle darbrachte, trug er demVater besonders für dich dieses Liebesgedenken vor: Ewiger Vater, siehich nehme alle Sünden des armen Theotimus auf mich und will alle Qua-len und den Tod erdulden, damit er derselben ledig bleibe und nicht zu-grunde gehe, sondern lebe. Möge ich sterben, wenn nur er lebt (s. X,8).Möge ich gekreuzigt werden, wenn nur er verherrlicht wird! O Liebe überalle Liebe des Herzens Jesu, welches Herz wird Dich jemals hingebungs-voll genug preisen!

In seiner mütterlichen Fürsorge sah dieses göttliche Herz nicht nur alleWohltaten voraus, die wir erhalten, ordnete sie an, verdiente sie und erlang-te sie uns allen im allgemeinen, sondern auch für jeden Einzelnen im beson-deren. An seinem mütterlichen Herzen bereitete es uns die Gaben seinerAnregungen, Lockungen und Eingebungen, sowie der Reize, durch die esunsere Herzen zum ewigen Leben zieht, lenkt und dafür nährt. Die Wohl-taten erwärmen unsere Herzen nicht, wenn wir nicht auf den ewigen Wil-len hinblicken, der sie uns zuweist, und auf das Herz unseres Erlösers, dassie mit so viel Mühen und besonders durch seinen Tod und sein Leidenverdient hat.

13. KapitelDer Kalvarienberg ist die wahre Hochschule der Liebe.Der Kalvarienberg ist die wahre Hochschule der Liebe.Der Kalvarienberg ist die wahre Hochschule der Liebe.Der Kalvarienberg ist die wahre Hochschule der Liebe.Der Kalvarienberg ist die wahre Hochschule der Liebe.

1. Und nun zum Schluß: Der Tod und das bittere Leiden unseres Erlösersist der anziehendste und zugleich gewaltigste Beweggrund, der unsere Her-zen in diesem sterblichen Leben beseelen kann. Und es ist in Wahrheit so,daß die mystischen Seelen gleich Bienen ihren besten Honig aus den Wun-den dieses „Löwen aus dem Stamme Juda“ (Offb 5,5) bereiten, der aufdem Kalvarienberg gemordet, zerschlagen und zerrissen wurde. Die Kin-der des Kreuzes rühmen sich ihres wunderbaren Rätsels, das die Weltnicht versteht: „Aus dem Tod, der alles verschlingt, ist die Speise unseresTrostes hervorgegangen.“ Und dem Tod, der stärker ist als alles, ist die

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Süße des Honigs unserer Liebe entflossen (Ri 14,8.14). O Jesus, meinErlöser, wie liebenswert ist Dein Tod, weil er die erhabene Wirkung Dei-ner Liebe ist!

2. Darum wird auch dort oben in der himmlischen Glorie nach der inihrem Wesen erkannten und erwogenen göttlichen Güte der Tod des Erlö-sers der mächtigste Beweggrund sein, um die seligen Geister in die Gotteslie-be zu entrücken. Deshalb „sprachen Mose und Elija“ bei der Verklärung,die ein Strahl der Glorie war, mit dem Herrn „von dem Äußersten,“ das erin Jerusalem erfüllen sollte (Lk 9,31). Aber von welchem Äußersten, wennnicht von diesem Äußersten der Liebe, durch welches dem Liebenden dasLeben genommen wurde, um seiner Vielgeliebten gegeben zu werden.Darum stelle ich mir vor, daß man beim ewigen Lobgesang jeden Augen-blick den freudigen Ausruf wiederholen wird: „Es lebe Jesus, dessen Todgeoffenbart, wie stark die Liebe ist!“

3. Theotimus, der Kalvarienberg ist der Berg der Liebenden. Alle Liebe,die ihren Ursprung nicht in dem bitteren Leiden des Erlösers hat, ist leicht-fertig und gefährlich. Unglückselig ist der Tod ohne die Liebe des Erlö-sers; unglückselig die Liebe ohne den Tod des Erlösers. Liebe und Todsind im Leiden unseres Herrn dermaßen vermengt, daß man nicht einesohne das andere im Herzen tragen kann. Auf dem Kalvarienberg kannman das Leben nicht ohne die Liebe und nicht die Liebe ohne den Tod desErlösers haben. Im übrigen ist alles entweder ewiger Tod oder ewige Liebeund die ganze christliche Weisheit besteht darin, gut zwischen diesen bei-den zu wählen. Um es dir, mein Theotimus, zu erleichtern, habe ich dieseZeilen geschrieben.

In diesem Leben, o Sterblicher,mußt du wählen zwischen der ewigen Liebeund dem ewigen Tod.Gottes ewiger Ratschlußläßt dir keinen Mittelweg.

4. O ewige Liebe, meine Seele verlangt nach dir und erwählt dich aufewig! Ach, „komm Heiliger Geist und entzünde unsere Herzen mit Dei-ner Liebe!“ (Pfingstmesse). Entweder lieben oder sterben! Sterben undlieben! Jeder anderen Liebe sterben, um nur der Liebe Jesu zu leben, aufdaß wir nicht ewig sterben, sondern in Deiner ewigen Liebe lebend, oErlöser unserer Seelen, ewig singen mögen: Es lebe Jesus! Ich liebe Jesus!Es lebe Jesus, den ich liebe! Ich liebe Jesus, der lebt und herrscht vonEwigkeit zu Ewigkeit. Amen.

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Mögen diese Dinge, die durch die Gnade und Gunst der Liebe für deineLiebe, Theotimus, geschrieben wurden, sich dermaßen deinem Herzeneinprägen, daß diese Liebe in dir die Frucht guter Werke und nicht Blättereitlen Lobes vorfinde. Amen. Gott sei gebenedeit!

Ich beschließe somit diese ganze Abhandlung mit den Worten, mit de-nen der hl. Augustinus eine wunderbare Predigt über die Liebe schloß(Sermo 350), die er vor einer ansehnlichen Versammlung hielt.

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Anhang:Anhang:Anhang:Anhang:Anhang:HINWEISE ZUM VERSTÄNDNISHINWEISE ZUM VERSTÄNDNISHINWEISE ZUM VERSTÄNDNISHINWEISE ZUM VERSTÄNDNISHINWEISE ZUM VERSTÄNDNIS

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A.ENTSTEHEN, BESTIMMUNG, SINN UND ARCHITEKTUR

DER „ABHANDLUNG“.

1. Was mag Franz von Sales dazu bewogen haben, ein umfangreiches Werküber die „heilige Liebe“ zu schreiben?

Das Jahr 1602 bildet wohl den bedeutendsten Wendepunkt im Leben deshl. Franz von Sales, nicht nur durch seine Ernennung zum Koadjutor unddurch die Bischofsweihe, sondern vor allem durch seine Hinwendung zu dem, wasseine säkulare Bedeutung ausmachen sollte: zur Seelenführung.

Seine eigene seelische Entwicklung war von seiner frühesten Kindheit bis zuseiner Bischofsweihe geradlinig verlaufen. Eine innige Liebe zu Gott beseeltebereits seine Kindheit im Schoß seiner Familie. 1 Seine Studienjahre in Annecyund Paris brachten diese Gottesliebe zu immer höherer Entfaltung, die auchseine schwere Versuchung in Paris nicht aufhalten konnte, sondern im Gegenteilzu einem heroischen Liebesakt entfachte. 2 Sie bewährte sich im Kampf um seinenBeruf sowohl in Padua wie auch im schweren Ringen mit der Häresie im Chab-lais. Betätigte sie sich für gewöhnlich in der treuen Erfüllung göttlichen Wil-lens und in der Hingabe an diesen göttlichen Willen in allen Lebenslagen, sogab es doch auch Zeiten, wo diese Liebe zu Gott ihn überwältigte und –wennauch nur vorübergehend – in ihm Zustände auslöste, die heute als „mystische“bezeichnet werden. 3

Die ersten Kontakte mit der „mystischen“ Literatur mag Franz von Saleswohl in Padua eingegangen sein. Die großen Gestalten eines hl. Franz von Assisiund heiliger Jungfrauen, Angela von Foligno, Katharina von Siena und Ka-tharina von Genua, mögen ihn schon damals sehr beeindruckt haben. Noch größerenEinfluß übte auf ihn das Büchlein „Vom geistlichen Kampf“ des TheatinersScupoli aus.

Die entscheidende Wende in seinem Leben, das Bewußtwerden seiner eigent-lichen Berufung, mag ihm aber wohl erst sein zweiter Aufenthalt in Parisgebracht haben. Nicht etwa, daß er dorthin nur als Lernender kam. Dem zumBischof-Koadjutor ernannten berühmten Bekehrer des Chablais ging schon

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ein so großer Ruf voraus, daß sich sofort um seine Kanzel, die er täglichbetrat, große Scharen sammelten, daß viele Menschen guten Willens ihn umseinen Rat fragten und daß er im Salon der von Gott hochbegnadeten BarbeAcarie, in dem sich alles versammelte, was Paris an religiös hochstehendenMännern besaß, bald ein sehr geachteter Gast und Mitsprecher war.

Franz von Sales war gewiß nicht als weltfremder Mann nach Paris gekommen.Sein früherer Aufenthalt in Paris, seine Studienzeit in Padua, dann seine vierMissionsjahre hatten ihm für vieles die Augen geöffnet. Aber erst Paris gabihm vollen Einblick in die religiöse Lage Frankreichs (der die Lage in Deutsch-land, Savoyen und England ähnlich war): Er sah hier einerseits ein allgemeinim Formalismus erstarrtes, im Glauben verarmtes, im Religiösen nur aus einigenÜbungen und Traditionen notdürftig gespeistes, sehr stark politisch ausge-richtetes Christentum ohne Seele, Feuer und Leben,4 andererseits aber dochbei vielen Hunger und Sehnsucht nach Gott, nach einem tieferen Leben, nachechtem Christentum, zu dem sie aber keinen Weg wußten. Die religiösen Bücherwaren meist von Mönchen geschrieben, die Weltflucht predigten oder Forde-rungen stellten, die nur im Kloster verwirklicht werden konnten,5 – oder oftunverständliche Höhenwege lehrten, wie manche der zu einer wahren Flutangeschwollenen Übersetzungen niederländischer, rheinischer und spanischerMystiker. 6

Franz von Sales mag wohl damals schon die großen Linien seines künftigenWirkens gesteckt haben, denn seinen ersten geistlichen Briefen,7 die bereits1602 anheben, sind sie schon eingeprägt. Es ging darum, den Menschen gutenWillens wieder Herz und Seele des Christentums zu zeigen: die Liebe zu Gott(und damit auch zu den Mitmenschen) und die Äußerung dieser Gottesliebeim Gebet wie in der Erfüllung und Annahme des göttlichen Willens, und diesbis zu ihren letzten Konsequenzen.

Aus den geistlichen Briefen ist die „Anleitung zum frommen Leben“ (d. h.eigentlich zur Hingabe an Gott, denn das ist der Sinn von „devot“) hervorge-gangen und bereits vor deren Erscheinen (1608) der Plan zur „Abhandlungüber die Gottesliebe“ entstanden (Anfang 1607). – Beide Werke gehören zusam-men. Weist die „Anleitung“ Wege der Verwirklichung der Liebe zu Gott inallen Lebenslagen und ist sie daher zunächst für Anfänger in der Hingabe anGott bestimmt (aber doch auch für alle Christen, da wir nach Äußerungen der„Abhandlung“ immer Anfänger bleiben),8 so vertieft die „Abhandlung überdie Gottesliebe“ den Begriff der Liebe psychologisch und theologisch undhilft auch den „Fortgeschrittenen“ in der Gottesliebe die höchsten Gipfel erklim-men, ohne sich im Gestrüpp unverständlicher Theorien zu verlieren.

2. Das Werden der „Abhandlung über die Gottesliebe“.

An Hand der Briefe des hl. Franz von Sales können wir die verschiedenenPhasen des Werdens dieses Werkes verfolgen. – Die erste Erwähnung findenwir in einem Brief des Heiligen an die Baronin von Chantal vom 11. Februar1607: „Sie sollen wissen, was ich tue, wenn ich ein Viertelstündchen Ruhehabe. Ich schreibe dann ein wunderbares Leben einer Heiligen, von der Sienoch nicht sprechen hörten, – und ich bitte Sie, davon auch nichts weiterzusagen.Aber es ist eine langwierige Aufgabe, und ich hätte nicht gewagt, sie in Angriff

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zu nehmen, hätten mich nicht einige meiner Vertrautesten dazu gedrängt. Siewerden davon einige gute Stücke sehen, wenn Sie herkommen ... Das Werk wirdmindestens doppelt so groß sein als das Leben der Mutter Theresia. Aber,wie ich schon gesagt habe, ich wünsche, daß man davon nichts erfahre, bevores ganz fertig ist , – und ich bin doch erst daran, damit anzufangen. Ichtue das, um mich zu erholen und, so wie Sie es tun, auf meinem Spinnrockenzu spinnen.“9

Zwei Jahre später, im Februar 1609, schreibt er an den Erzbischof de Vil-lars: „Ich sinne über ein Büchlein nach, das die Gottesliebe behandeln soll.Es soll keine Theorie bringen, sondern die Übung der Gottesliebe in der Be-obachtung der Gebote der ersten Tafel zeigen. Eine andere Schrift soll dannnachfolgen, die die Übung der gleichen Liebe in der Beobachtung der Gebote derzweiten Tafel zeigen wird. Beide Bücher sollen in einem handlichen Werkzusammengefaßt sein.“10

Es scheint also, daß sich das Blickfeld des heiligen Bischofs verändert undverengt hat. Ob ihn nicht die Vielfalt seiner Aufgaben als Bischof, gesuchterPrediger und Seelenführer dazu drängte, seine ersten hochfliegenden Pläneeinzuschränken? Das scheint der Brief an die Baronin von Chantal vom 16.Januar 1610 anzudeuten, in dem er schreibt: „Ich habe noch nicht Hand andas Buch von der Gottesliebe legen können, da ich seit meiner Rückkehr in stän-digem Gedränge war.“11 Bald darauf schreibt er ihr aber: „Ich lege jetzt Handan das Buch der Gottesliebe und werde mich bemühen, sie ebensoviel in meinHerz zu schreiben, als ich es auf dem Papier machen werde“ (Brief vom 5.Februar 1610). 12

Einem Brief an die Baronin von Chantal entnehmen wir, daß er sich sogarseinem Verleger gegenüber verpflichtet hat (Brief vom 25. März 1610),13 derneun Monate darauf an Franz von Sales einen Boten um das Manuskript schickt.Der Bischof ist darüber bestürzt und antwortet: „Es ist mir jetzt unmöglich,in der nächsten Zeit die Abhandlung über die Gottesliebe fertigzustellen, beider geringen Muße, die mir meine ständigen Beschäftigungen lassen, obwohlich mich bemühe, keinen Augenblick zu verlieren“ (Brief vom 14. Dezember 1610an Pierre Rigaud, Verleger zu Lyon). 14

Die Briefe des Heiligen schweigen in der Zeit von 1610 bis 1612 über dasBuch. Es war aber auch in diesen Jahren und in den folgenden im Mittelpunktdes Denkens und Überlegens des Heiligen, zugleich mit der großen Aufgabe derGründung des Ordens der Heimsuchung und der religiösen Vertiefung der erstenSchwestern. Schwester Fichet, eine der ersten Heimsuchungs-Schwestern, berichtet,daß die Schwestern ihn öfter fragten, was er seit dem letzten Besuch in seinerAbhandlung geschrieben habe. Er sagte es ihnen dann und teilte ihnen bei dieserGelegenheit wohl auch den Inhalt einiger Kapitel mit. 15

Im Jahre 1612 schreibt er an P. Polliens S.J. : „Ich arbeite an dem Buch,das Sie wünschen, und werde Ihnen ein Exemplar widmen, wenn es, so Gottwill, einmal erscheinen wird“ (Brief vom 17 Juli 1612). 16 – Voll Freude schreibtMutter von Chantal dem Heiligen um diese Zeit: „Ich empfinde äußersteFreude, wenn ich weiß, daß Sie an diesem göttlichen Werk der Gottesliebearbeiten“ (Brief aus dem Jahre 1612). 17

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Im Jahr darauf verhandelt Franz von Sales schon mit seinem Verleger Ri-gaud (Brief vom 20. Mai 1613 an Antoine des Heyes) 18 und schreibt an Muttervon Chantal, daß er zwei Stunden an der „Gottesliebe“ arbeiten konnte (10.Januar 1613). 19 Die Arbeit geht rasch voran. So schreibt er einem Freund(P. Nicolas de Soulfour, Oratorianer): „Ich bin noch ein wenig an eine Arbeitvon der ‚Gottesliebe‘ gebunden; ich würde es als Schande empfinden, es jetztunvollendet zu lassen, da es, so scheint mir, nicht mehr viele Monate braucht,um sie in die Welt hinauszuschicken“ (Brief vom 10. Januar 1614). 20 Am Tagdarauf schreibt er an die Mutter von Chantal: „Rechnen Sie damit, daß ich mitdem heutigen Tag anfange, alle Augenblicke dafür zu verwenden, die ich ausdem Gedränge meiner anderen Pflichten dafür herausholen kann ...“ 21 – undum dieselbe Zeit einer Heimsuchungs-Schwester: „Möchte es doch Gott gefallen,daß es die Abhandlung über die Gottesliebe wäre, die mich alle Vormittage be-schäftigen könnte! Sie wäre bald fertig und ich wäre so glücklich, könnte ichmeinen Geist so anziehenden Erwägungen zuwenden. Aber so sind es tausen-derlei kleine Nichtigkeiten, mit denen man mich jeden Tag überhäuft, die mirMühe und Ärger bereiten und so viel Zeit wegnehmen. Trotzdem suche ichimmer wieder davon wegzuschlüpfen und schreibe dann wieder einige Zeilenzugunsten der göttlichen Liebe, die das Band unserer gegenseitigen Liebeist.“22 Er muß aber doch Möglichkeiten gefunden haben, in diesem Jahr 1614intensiv an seinem Werk zu arbeiten, denn er kann im November der hl. Jo-hanna Franziska von Chantal schreiben, daß er daran ist, das Buch zu been-den,23 am 6. November allerdings, daß Michel Favre mit dem Abschreiben nichtnachkommt,24 und am 7. November an Frau von Fléchère, daß das Buch fertigist, aber noch einigemale abgeschrieben werden muß, bevor man es absendenkann. 25

Aber es ist doch noch nicht fertig. – Er sieht es durch, verbessert es und hofftes in der Fastenzeit dem Verleger zu schicken (Brief vom November 1614). 26

Am 15. Februar 1615 schreibt er seinem Freund Antoine des Heyes: „Ich willnach Ostern keine Zeit verlieren, an das kleine Werk der Gottesliebe heranzu-gehen, das Sie lieben und wünschen.“27 Es gibt noch viel daran zu polieren,denn er schreibt am 5. März 1615 der Mutter von Chantal: „Ich tue, was ichkann, für das Buch. Glauben Sie mir, es ist mir eine wahre Marter, dafür nichtdie nötige Zeit zu finden. Aber ich glaube doch, daß ich meiner ganz liebenMutter Wort halten werde.“28 Und wieder, Ende März oder Anfang April: „Ichbin so sehr mit dem Buch beschäftigt, daß ich alle Zeit, die ich herausschlagenkann, dafür verwende.“29 Die heilige Chantal wieder bittet die Schwestern,Franz von Sales nicht bei dieser Arbeit zu stören. 30

Das Jahr 1616 bricht an und Franz von Sales arbeitet noch immer an der Kor-rektur und größeren Änderungen. So schreibt er das 6. Kapitel des 10. Buchesauf der leeren Seite eines ihm am 6. Januar zugesandten Briefes. 31 Aber schonam 20. Januar 1616 kann die heilige Chantal der Mutter Favre schreiben, daßdas langersehnte Buch bald erscheinen wird,32 und im Mai 1616 meldet sie dieAbreise des Herrn Michel Favre mit diesem „gesegneten Buch“. 33 Ende Junischreibt Franz von Sales die Vorrede und das Weihegebet 34 und endlich am31. Juli 1616 erscheint das Werk.

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3. Bestimmung der „Abhandlung“.Der seelsorgliche Zweck des Buches ist im Vorwort klar ausgesprochen:

„Diese Abhandlung soll Seelen, die bereits fromm sind, helfen, noch weitervoranzukommen“ (I,41); und noch einmal: „In dieser Schrift spreche ich zuSeelen, die auf dem Weg der Frömmigkeit fortgeschritten sind“ (I,46). Siesoll die Kinder des Lichtes erleuchten und entflammen (Widmung des Buches,S. 33).

Wandte sich Franz von Sales in der „Anleitung zum frommen (d. h. Gotthingegebenen) Leben“ an die „Anfänger“, zeigt er ihnen den Weg aus derGottferne und Lauheit heraus zu einem Leben frischer, lebendiger, sich in derTat bewährender Gottesliebe, so spricht er in der „Abhandlung“ zu solchen,die bereits „Gefährten“ sind (Vorwort S. 45) auf dem Weg ehrlichen Stre-bens nach einer immer größeren Verbundenheit mit Gott.

Er wiederholt kaum etwas von dem, was er in der „Anleitung“ sagt. Dasalles behält weiterhin seine Geltung auch für die „Gefährten“, auch für Or-densleute. 35 Sie haben ihre größten Hindernisse beseitigt, sie haben gelernt,sich mit Gott durch das Gebet und die heiligen Sakramente zu vereinigen, diechristlichen Tugenden in der richtigen Ordnung zu üben und die auftauchen-den Schwierigkeiten zu überwinden; sie erneuern ihren guten Willen in jährli-chen Exerzitien. Sie sind also auf dem Weg; sie müssen das alles weiter tun.

Aber jetzt eröffnen sich ihnen neue Horizonte. Neue Fragen tauchen auf.Franz von Sales weiß es, sein eigenes Innerstes stellt sie ihm, vorwärtsstürmen-de gottliebende Seelen wenden sich an ihn um Aufklärung, Hilfe, Ermunte-rung. Die Flut mystischer Bücher, die Frankreich und Savoyen überschwemmt,verwirrt manche gutmeinende Menschen und läßt sie nach Zuständen streben, diefür sie nicht bestimmt oder überhaupt nur Phantasiegebilde sind.

Diesen seinen „Gefährten“ widmet Franz von Sales dieses Werk; erleuchtenund entflammen will er sie. Sie sollen klar sehen und sich immer entschlossener derLiebe Gottes hingeben. Er gibt ihnen dafür weite Ausblicke und weise Rat-schläge.

4. Sinn und Architektur der „Abhandlung“.

Das will also die „Abhandlung“. Sie ist kein dogmatisches Werk, obwohlsie auf den Dogmen der Kirche aufbaut; sie ist kein Handbuch der Mystik,obwohl sie Fragen der sogenannten Mystik eingehend behandelt; – sie willvielmehr eine Handreichung sein für alle, die von der Liebe Gottes erfaßt,nach Klarheit im Denken und nach einer immer innigeren Vereinigung mitGott hinstreben. Also ist sie, wie Bischof Veuillot in seinem noch nicht ge-druckten Werk über die „salesianische Spiritualität des hochheiligen Gleich-muts“36 hervorhebt, ein pastoral-theologisches Werk.

Franz von Sales schickt seinem Werk im I. Buch eine psychologisch-theolo-gische Untersuchung über die Stellung der Liebe im Seelenleben des Men-schen und über die natürlichen Grundlagen der Gottesliebe voraus.

Die Bücher II bis IV behandeln die Geschichte der göttlichen Liebe im mensch-lichen Herzen, ihren Ursprung, ihr Wachsen, ihren Verfall und Untergang.

Das V. Buch schildert die Liebe in ihren wichtigsten Tätigkeiten, dem „Wohl-

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gefallen“, d. h. der Freude an Gott, der Sehnsucht nach Gott; und dem „Wohl-wollen“, dem Wunsch, für Gott etwas zu tun, Gott zu lobpreisen und alle zumLob Gottes aufzurufen. Wohlgefallen an Gott und Wohlwollen für Gott äu-ßern sich in der Affektliebe und in der Tatliebe.

Der Affektliebe, dem Gebet, sind das VI. und VII. Buch, der Erfüllung undder Annahme des göttlichen Willens das VIII. und IX. Buch gewidmet. Diesevier Bücher bilden den Kern des Werkes.

Das X. und XI. Buch sind ein Lobgesang auf das königliche Gebot derGottesliebe über alles, Erläuterung des echten Eifers, der Frucht der Liebe(X) und Schilderung der obersten Herrschaft der Liebe über alle Tugenden, Hand-lungen und Vollkommenheiten (XI).

Das XII. Buch beschließt das ganze Werk mit praktischen Ratschlägen fürden Fortschritt der Seele in der heiligen Liebe.

B.ANALYSE DER,,ABHANDLUNG“.

Steht so vor unseren Augen die gewaltige Architektur der „Abhandlung“, sozeigt eine eingehende Analyse die vielen Schönheiten und Kostbarkeiten, diedas Werk aufweist. Hier sollen wieder nur die großen Linien aufgezeigt werden,da ja eine ausführliche Analyse in der Inhaltsangabe der einzelnen Kapitelenthalten ist.

I. DAS I. BUCH hat bei Franz von Sales den Titel: „Vorbereitung auf dieganze Abhandlung.“ Es ist tatsächlich eine großangelegte Untersuchung vielerfür das Verständnis der Abhandlung wichtiger Fragen.

1. Die Rolle der Liebe im Gefüge der seelischen Kräfte. 1 Der für alles Schö-ne und Gute im menschlichen Leben begeisterte Humanist beginnt mit einerDarlegung des Begriffs der Schönheit. Sie umfaßt: Ordnung in der Mannigfal-tigkeit, Glanz, Klarheit und Anmut. Gott ist das Urbild der Schönheit; diesefindet sich in der großen Welt, aber auch in der Kleinwelt des Menschen. In ihrherrscht die Harmonie der Ordnung, denn Gott hat dem Willen die Herrschaftüber alle Fähigkeiten der Seele gegeben (1. Kap.). Der Wille regiert über sieauf verschiedene Weise (2. Kap.); er kann auch das sinnliche Begehren, dieLeidenschaften beherrschen (3. Kap.), ist aber seinerseits der Liebe untertan,die Herrin aller Affekte und Leidenschaften ist und sogar den Willen lenkt,obwohl dieser auch wieder Gewalt über sie hat, da er in der Wahl der Liebe freiist. Die Entscheidung liegt im Kampf zwischen der Eigenliebe und der Gotteslie-be (4. Kap.). In diesen Kampf werden auch die Affekte, d. h. die Regungen desWillens hineingezogen, die mehr oder minder edel sind. Franz von Sales un-terscheidet natürliche, verstandesmäßige, christliche und übernatürliche Af-fekte (5. Kap.). Über jede andere Liebe, ja sogar über Verstand und Willenführt aber die Liebe zu Gott das Zepter; sie kann nur Königin sein oder sie istnicht. Sie hat ihren Herrschersitz in der höchsten Zone des Geistes (6. Kap.). 2

2. Was ist Liebe?3 Gefallen an etwas ist Beginn der Liebe, eigentliche Liebeaber ist Bewegung zu dem hin, was man liebt, Drang zur Vereinigung mit ihm(7. Kap.). Die Wurzel der Liebe liegt in einer inneren Beziehung zu dem, was

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man liebt; diese muß nicht Ähnlichkeit, sondern kann auch gegenseitige Ergän-zung sein; tritt Ähnlichkeit hinzu, dann ist der Liebesdrang noch mächtiger(8. Kap.). Liebe strebt nach Vereinigung (9. Kap.), die bei Menschen geistigeVereinigung sein muß. Die himmlische Liebe wächst um so mehr, je mehr mansich der sinnlichen Liebe enthält (10. Kap.).

3. Die verschiedenen seelischen Bereiche (11. u. 12. Kap.). Diese zwei Kapi-tel sind von größter Wichtigkeit für das Verständnis menschlicher Vorgän-ge: 4 Die Seele ist lebend, empfindend, verstehend, hat also drei Bereiche. Imersten, den wir Unterbewußtsein nennen würden, gibt es triebhafte, unmoti-vierte Zuneigungen und Abneigungen; im zweiten liegt das sinnenhafte Be-gehren, dessen Quelle die sinnenhafte Kenntnis, dessen Frucht die sinnlicheLiebe ist; im dritten der Wille, dessen Quelle die Vernunft ist.

In diesem geistigen Bereich gibt es wieder eine Unterteilung: a) den nie-deren Seelenteil, dessen Gedankengänge sich auf die Erfahrungen der Sinnestützen, und b) den höheren Seelenteil, der auf geistiger Erkenntnis beruht,usw. auf natürlicher Erkenntnis (Philosophie) oder auf übernatürlicher Of-fenbarung bzw. auf besonderen Erleuchtungen (11. Kap.).

Franz von Sales vergleicht die vier Stufen der Vernunft mit dem TempelSalomos, in dem es drei Vorhöfe und das Allerheiligste gab. Die drei Vorhöfeentsprechen den drei Stufen der Vernunft, die ihre Überlegungen entwederauf die Erfahrung der Sinne oder auf die Grundsätze menschlicher Wissenschaf-ten oder auf den Glauben stützt. Das Allerheiligste ist Sinnbild der höch-sten Spitze der Seele, auf der sich diese einfach dem Glauben, der Hoffnung undder Liebe hingibt, die der Sitz des von Gott uns eingegossenen übernatürli-chen Lebens ist (12. Kap.).

4. Liebe und Liebe zu Gott. Franz von Sales unterscheidet verschiedene Artenvon Liebe, von denen die Liebe zu Gott über alles den Namen „caritas“ führt(13. Kap.), aber auch mit dem Worte „Liebe“ (amor) bezeichnet werden kann(14. Kap.). Sie fußt auf der inneren Beziehung zwischen Gott und Mensch,der Gottes Ebenbild und zugleich Gottes bedürftig ist (15. Kap.), weshalb erauch die natürliche Neigung hat, Gott über alles zu lieben. Diese Neigungbleibt in uns, wenn sie auch zuweilen wie mit Asche bedeckt ist (16. Kap.). Siemacht uns zwar nicht fähig, natürlicherweise Gott über alles zu lieben (17.Kap.), ist aber auch nicht zwecklos in uns, da Gott unsere Herzen gleichsamam zarten Band dieser Neigung hält, durch die er uns anziehen kann. Uns aber istdiese Neigung Zeichen und Erinnerung an unseren Schöpfer und macht unsaufmerksam, daß wir seiner göttlichen Güte angehören. 5

II. DAS II. BUCH schildert die Geschichte des Ursprungs und der himmli-schen Geburt der göttlichen Liebe.

1. Franz von Sales holt weit aus. Von den Erwägungen über die unendlicheVollkommenheit Gottes (1. u. 2. Kap.) geht er zu allgemeinen Überlegungenüber die göttliche Vorsehung über, die keines vielfachen Wirkens bedarf, wäh-rend wir unserer Fassungskraft entsprechend von verschiedenen Werken Got-tes sprechen (3. Kap.), und dann

2. zur Menschwerdung der zweiten göttlichen Person und zur Erlösung durchChristus mit all ihren Wirkungen. 6 Von Ewigkeit her beschließt Gott, die innigste

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Vereinigung mit einem Menschen einzugehen. Diese Mitteilung seiner Gütewollte er um seines vielgeliebten Sohnes willen auf viele Geschöpfe ausströmenlassen, weswegen er die Menschen und Engel erschuf. Gott sah voraus, daß einTeil der Engel und der erste Mensch ihre Freiheit mißbrauchen würden, beschloßaber die Rettung der Menschen durch eine Erlösung (4. Kap.), die ein überreichesWerk der Barmherzigkeit Gottes sein sollte. O felix culpa! (5. Kap.). In derErlösung läßt Gott die Schätze seiner Güte erscheinen an Maria,7 die derStrom der Sünde nicht berühren sollte, und an manchen besonders begnadetenHeiligen (6. Kap.); außerdem ergoß aber die göttliche Güte eine Fülle vonSegnungen über Menschen und Engel, uzw. in größter Mannigfaltigkeit, so daßjeder Mensch seine eigenen Gnaden empfängt, verschieden von denen der an-deren (7. Kap.).

3. Gottes Gnade bewirkt in uns das Entstehen der Liebe. 8 Gott verlangt danach,daß wir ihn lieben; er verkündet seine leidenschaftliche Liebe zu uns, klopftan die Tür unseres Herzens, ruft dauernd zur Bekehrung auf (8. Kap.), kommtuns mit seiner Eingebung zuvor, ergreift unsere Seelen mit dem Wehen seinerGnade ohne unser Zutun (9. Kap.); wir können uns zu Gott erheben, wir könnenaber auch Gottes Eingebungen zurückweisen und ihm unsere Liebe verweigern(10. Kap.). Die Gnaden Gottes ergießen sich überreich auf uns, Gott willaber, daß sie nur mit der freiwilligen Zustimmung unseres Willens einströmen.Es liegt nicht an Gottes Güte, sondern an uns, wenn wir nicht einen hohenGrad der Liebe besitzen (11. Kap.), denn die göttlichen Lockungen lassen unsvolle Freiheit, ihnen zu folgen oder sie abzulehnen (12. Kap.).

4. Der Weg zum Empfang der Liebe. 9 Die ersten Empfindungen der Liebekommen durch Gottes zuvorkommende Gnade „in uns, aber ohne uns“. Willigenwir ein, so wird uns die Gnade von Stufe zu Stufe der Liebe hinaufhelfen.Mächtig sind Gottes Lockungen, sie zwingen aber nicht (13. Kap.). Die erste Stufeist der beginnende Glaube, ein Gnadengeschenk Gottes, das auch schon einenBeginn der Liebe einschließt (14. Kap.). Der Glaube weckt in der Seele dieSehnsucht, das Verlangen nach Vereinigung mit Gott und löscht so den Durstnach Glück, da die Seele das höchste Gut gefunden hat (15. Kap.). Die Sehn-sucht nach Gott wird durch die Sicherheit gestärkt, die Gott uns gegeben,daß wir sie in ihm stil len können. Das ist die Wurzel der Hoffnung , dievom Streben nach dem höchsten Gut begleitet wird. Das alles ist aber bereitsLiebe (16. Kap.), wertvolle Liebe, aber doch unvollkommene Liebe, da wir inder Hoffnung Gott nicht lieben, weil er in sich selbst gut ist, sondern weil ergut gegen uns ist (17. Kap.). Sind wir uns der Sündhaftigkeit bewußt, so trittnun zum Glauben und zur Hoffnung die Reue hinzu, daß wir Gott beleidigthaben. Der Glaube zeigt uns die Häßlichkeit der Sünde und die Schönheit derTugend, die furchtbaren Folgen der Sünde, die uns den Himmel verschließt (18.Kap.), alles wertvolle Beweggründe zur Reue, wenngleich noch unvollkommen,weil der Reue noch das Motiv der Gottesliebe fehlt (19. Kap.). Tritt diese zurReue hinzu, dann ist die Reue vollkommen (20. Kap.).

Gottes liebevolle Lockungen begleiten uns so vom ersten Erwachen desGlaubens bis zur Liebe. Wenn wir die Gnade der göttlichen Liebe nicht zurück-weisen, so breitet sie sich immer mehr in der Seele aus, bis diese ganz umge-wandelt ist (21. Kap.). Die Gottesliebe, die dann in der Seele herrscht, ist echte,

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auserlesene Freundschaft mit Gott, die allein der Heilige Geist verleiht, indemer sich in unsere Herzen ergießt. Sie thront im Verein mit Glaube und Hoff-nung auf der höchsten Spitze unseres Geistes, von wo sie Zartheit und Wärmeihrer Innigkeit über die ganze Seele verbreitet (22. Kap.).10

III. DAS III. BUCH handelt vom Fortschritt und von der Vollendung derLiebe .

1. Hier auf Erden kann und soll die heilige Liebe in jedem stets wachsen, sonstverfällt sie (1. Kap.). Gott hat das Wachsen der Liebe leicht gemacht. Auchdie geringsten Werke haben Wert vor ihm. 11 Freilich soll der Eifer der Liebeuns zu großen Werken anspornen. – Gott ist es, der das Wachsen der Liebebewirkt nach dem Gebrauch, den wir von seiner Gnade machen (2. Kap.). DieGnade Gottes wirkt andauernd in uns, er schenkt uns die Liebe, spornt uns an,hilft uns gegen schlechte Neigungen und Versuchungen, stützt uns in schwie-rigen Lagen und bei großen Werken. Daher die Notwendigkeit des Gebetes (3.Kap.). 12 In diesem steten Wirken der Gnade Gottes besteht die Gabe der Beharr-lichkeit. Daher müssen wir unsere ganze Hoffnung auf Gott setzen (4. Kap.).Er wird uns dann die Gnade schenken, in seiner Liebe zu sterben, die letztenEndes von der Erlösung abhängt. Auf Christus gepfropft, sollen wir also ihmangehören und er wird „unser sein“ (5. Kap.). Hier auf Erden können wirnicht zur vollkommenen Liebesvereinigung gelangen, sie wird erst im Himmelstattfinden (6. Kap.). Allerdings kann die Liebe eines Heiligen hier auf Er-den ebenso groß, ja größer sein als jene der Seligen im Himmel (7. Kap.); unver-gleichlich groß war besonders die Liebe der Mutter Gottes, sie bewahrte stetsdie göttliche Liebe, ja steigerte sie unaufhörlich in unerhörtem Ausmaß (8.Kap.).

2. Im Himmel. Unsere Freude ist, die Wahrheit zu erkennen, und umso größerdie Freude, je erhabener die Wahrheit ist. Daher haben wir auch schon hiergroße Freude am Glauben. Wie beglückend wird es erst sein, wenn wir diegöttliche Wahrheit im Licht der Glorie schauen (9. Kap.). Je größer die Sehnsuchtnach Gott auf Erden, desto größer die Freude des Besitzes Gottes im Himmel(10. Kap.), in dem wir Gott von Angesicht zu Angesicht schauen (11. Kap.),die Freude haben, die ewige Geburt des Sohnes zu schauen (12. Kap.), dieunendliche gegenseitige Liebe des Vaters und des Sohnes, den gemeinsamenHauch des Vaters und des Sohnes, der der Heilige Geist ist (13. Kap.), durchdas Licht der Glorie (14. Kap.), das Gottes ganze Wesenheit schauen läßt,aber nicht in ihrer ganzen Unermeßlichkeit, so daß es die höchste Freude derSeligen ist, zu sehen, daß die von ihnen geliebte Schönheit so groß ist, daß sienur durch sich selbst ganz erkannt werden kann (15. Kap.).

IV. DAS IV. BUCH hält uns, nachdem wir den beglückenden Aufstieg zurLiebe geschaut, das erschreckende Bild ihres möglichen Verfalls und Untergangsvor Augen.

Wir können die Gottesliebe verlieren dadurch, daß uns Scheingüter täu-schen (1. Kap.). Die Liebe erkaltet, erschlafft, wenn sie untätig und unfrucht-bar ist, wenn Anhänglichkeit an läßliche Sünden sie gefangen hält (2. Kap.). Mangibt die Liebe zu Gott aus Liebe zu Geschöpfen auf, wenn man von ihr keinenGebrauch macht und sie so verkümmert. Die Reize des Schlechten wirken auf das

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Herz ein, wenn der Glaube nicht Schildwache steht (3. Kap.). 13 Die heiligeLiebe geht in einem Augenblick verloren, wenn die Eigenliebe zur VerachtungGottes führt, worin das Wesen der Todsünde liegt (4. Kap.). Einzige Ursache desVersagens und Erkaltens der Liebe ist der freie geschöpfliche Wille, weil mander Gnade nicht folgen will (5. Kap.). Gott hat uns alle Liebe gegeben. Wirkönnen Gottes Wirken verhindern, aber nicht verursachen (6. Kap.). Daher dür-fen wir uns nicht müßiger Neugierde hingeben, wenn diese oder jene versagthaben. Es genügt zu wissen, daß Gott niemand rettet, es sei denn aus Barm-herzigkeit (7. Kap.); deshalb müssen wir uns liebend der göttlichen Vorsehungunterwerfen (8. Kap.).

Franz von Sales macht noch darauf aufmerksam, daß zuweilen in einer derTodsünde verfallenen Seele eine gewisse Scheinliebe zurückbleibt (9. Kap.),die wohl aus der Liebe stammt, aber doch gefährlich ist, weil man sie für wahreLiebe hält (10. Kap.). Sie ist aber erkennbar. Wenn die Absicht besteht, schwereSünden zu begehen, ist die heilige Liebe nicht im Herzen (11. Kap.).

V. MIT DEM V. BUCH beginnt die Beschreibung der Wirkungen der Liebe,uzw. zunächst ihrer beiden Haupttätigkeiten: Wohlgefallen und Wohlwollen,die allen einzelnen Übungen der Liebe zugrundeliegen. 14

1. Wohlgefallen an Gott. Es hat seinen Ursprung in der Betrachtung derHerrlichkeiten Gottes; im Himmel wird es vollkommen sein, bewirkt aberjetzt schon, daß wir Gott wohlgefällig werden (1. Kap.) und gleich Kindern ander Brust des Herrn sind (2. Kap.). Durch das Wohlgefallen ist Gott unser undwir sind sein, haben aber Sehnsucht, Gott noch mehr zu lieben (3. Kap.). Esgibt auch ein schmerzliches Wohlgefallen, ein Mitleiden aus Liebe, besondersin der Betrachtung des Leidens Christi (4. u. 5. Kap.).

2. Wohlwollen gegen Gott. Wir können Gott gar kein Gut wünschen, da erunendlich vollkommener ist, als wir es zu denken vermögen. Wir können nurbedingte Wünsche hegen, danach ver langen, ihm in uns Wachstum zugeben (6. Kap.) und unser Wohlgefallen an ihm zu vermehren. Die Seele beraubtsich dann aller anderen Vergnügungen, um desto kraftvoller an Gott Gefallenzu finden (7. Kap.). Gott hat sicher durch Lobpreisungen keinen Vorteil, aber esentspricht unserer Natur, ihn zu preisen. Daher nimmt Gott unsere Lobsprü-che nicht nur an, sondern er beansprucht sie. Die Seele, die ihr Unvermögensieht, Gott würdig zu preisen, wünscht wenigstens, daß sein Name mehr undmehr gepriesen werde. Sie beginnt bei sich selbst (8. Kap.) und ruft alle Geschöpfezum Lobpreis Gottes auf (9. Kap.). Weil die Seele weiß, daß sie auf ErdenGott nicht nach ihrem Verlangen loben kann, deswegen schaut sie nach demHimmel, wo die Lobgesänge viel lieblicher klingen (10. Kap.), und vor allem dieder heiligsten Jungfrau, die auf unvergleichliche Weise die Gottheit lobt undbenedeit. – Lauscht man aber dann der Stimme des Erlösers, so findet man in ihreine Unendlichkeit an Wert und Wohlklang, die alles Erwarten übersteigt (11.Kap.). Da jedoch die Gottheit noch unendlich lobenswerter ist, als selbst dieMenschheit des Erlösers sie zu loben vermag, so erkennen wir schließlich, daßGott nur durch sich selbst so gelobt werden kann, wie er es verdient, undrufen aus: „Ehre sei dem Vater ... wie im Anfang, so auch jetzt und alle Zeitund in Ewigkeit!“ (12. Kap.).

Das VI. und VII. Buch sind den Tätigkeiten der Affektliebe, der Herzensliebe,

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d. h. dem Gebet, das VIII. und IX. Buch den Tätigkeiten der Werkliebe, derGleichförmigkeit mit dem göttlichen Willen gewidmet.

VI. DAS VI. BUCH beginnt mit der „Beschreibung der mystischen Theologie,die nichts anderes ist als das Gebet.“ Nachdem Franz von Sales als die zweiHauptübungen der Liebe die Affektliebe und die Werkliebe und das Wesenbeider erklärt hat, beschreibt er das Gebet, worin hauptsächlich die Affektliebebesteht, als ein Gespräch mit Gott über Gott, weshalb Gebet und mystische Theologieein und dasselbe s ind. 15 Myst ische Theologie , wei l das Gespräch ganzim geheimen vor sich geht (1. Kap.).

Die erste Stufe des innerlichen Gebetes ist die Betrachtung , die ein auf-merksames, wiederholtes Nachdenken über Gott und Göttliches ist, um in unsgute Affekte zu wecken und Gott mehr zu lieben (2. Kap.). Die zweite Stufeist die Beschauung,19 d. h. ein liebevolles, einfaches, ständiges Aufmerken desGeistes auf göttliche Dinge. Sie unterscheidet sich von der Betrachtung da-durch,

1. daß wir die Betrachtung pflegen, um die Gottesliebe zu gewinnen, dieaber uns beschauen läßt. Liebe drängt dazu, die geliebte Schönheit immernoch aufmerksamer zu beschauen, und das Schauen zwingt das Herz, sie bren-nender zu lieben (3. Kap.). Die Liebe entspringt wohl dem Wissen von Gott,dieses bestimmt aber nicht den Grad ihrer Vollkommenheit, wenn sie auchdurch das Erkennen dessen, was man liebt, noch stärker dazu angetrieben wird(4. Kap.).

2. daß wir in der Betrachtung gleichsam Stück für Stück alles erwägen, wasgeeignet ist, uns zur Liebe zu bewegen, in der Beschauung aber in einem einfachenzusammengerafften Blick all das umfassen, was wir lieben (5. Kap.), und

3. daß die Betrachtung immer Mühe, Anstrengung und Überlegen erfordert,während die Beschauung ohne Mühe vor sich geht, mit Freuden geschieht unddaher ein heiliges Trunkensein genannt werden kann (6. Kap.).

In der Beschauung kann sich verschiedenes ereignen: Neben der Sammlung,die wir selbst verursachen, gibt es eine, die nur Gott bewirkt. 17 Sie ist nicht inunserer Macht, sondern kommt über die Seele, wenn es Gott gefällt. Er ver-breitet Seligkeit im Grund des Herzens, worauf sich Fähigkeiten und Sinne demSitz Gottes zuwenden und bei ihm, dem Ziel ihrer Sehnsucht, verbleiben (7.Kap.).

Das Gebet der Ruhe18 wird zuweilen durch diese „Sammlung“ verursacht.Die Seele merkt dann still und ruhig auf die Güte ihres Vielgeliebten; alleihre Kräfte sind gleichsam in Schlaf versunken. Sie denkt nicht an sich, sondernnur an den, dessen Gegenwart ihr diese Freude schenkt. Wenn man ihr diesesGlück nehmen will, bricht die Seele in Klagen aus (8. Kap.) und gleicht danneinem Kind, das an der Brust der Mutter schläft und jammert, wenn man esdavon entfernen will. Sie ist in Ruhe und in Schweigen vor Gott, ohne etwaszu denken oder zu tun, außer mit der Spitze des Willens, die sie sanft und fastunwahrnehmbar bewegt. Sie bedarf in dieser Ruhe weder des Gedächtnisses nochder Einbildungskraft. Der Wille allein zieht die beglückende Gegenwart Gottesan sich, während alles übrige in der Seele durch das holde Glück, das sie genießt,in Ruhe verbleibt (9. Kap.). Diese Ruhe wird gestört, wenn man über sie nach-

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grübelt, aber nicht durch Tätigkeiten des Körpers oder des Geistes, es seidenn, sie geschehen aus Leichtsinn oder Zerfahrenheit, auch nicht durch unfrei-willige Zerstreuungen (10. Kap.).

Es gibt verschiedene Grade der heiligen Ruhe: 1. über alle Kräfte der Seele,oder nur über den Willen; 2. im Willen zuweilen fühlbar, zuweilen unwahrnehm-bar; 3. gefühlte Freude oder unbewußte; 4. zuweilen hört die Seele Gott redenoder spricht mit ihm, oder vermag nicht mit ihm zu sprechen; 5. zuweilen hörtdie Seele weder Gott, noch spricht sie, sondern weiß nur, daß sie in Gottes Ge-genwart ist; 6. zuweilen wartet die Seele nur, ob es Gott gefällt, sie anzuschau-en, oder bleibt einfach dort, wo es Gott gefällt , daß sie sei , – wie eineStatue – bereit, so zu sein wie Gott es will und zuläßt. Das Höchste an Lie-besentrückungen ist nicht, die eigene Freude zu wollen, sondern daß Gott sicherfreue (11. Kap.).

Eine weitere Stufe: Das Zerfließen der Seele in Gott. 19 Das geschieht in derWeise, daß ein starkes Wohlgefallen die Seele in geistige Ohnmacht fallenläßt, so daß sie nicht mehr in sich zu verbleiben vermag, sondern sachte in daseinströmt, was sie liebt, also hier in die Gottheit. Diese in Gott eingeströmteSeele stirbt nicht, sie lebt, ohne in sich zu leben, sondern Gott lebt in ihr.

Die Liebeswunde. 20 Die Liebe dringt ins Tiefste der Seele ein, verwundetalso das Herz und bereitet damit Schmerz. 1. Wer liebt, gibt sich hin, trenntsich also von sich selbst; 2. Sehnsucht, wenn der Geliebte abwesend ist;3. Zwiespalt von Sehnsucht und Unvermögen, Mißerfolg (13. Kap.); 4. Schmerzam Leiden des Heilands; 5. Liebe, ohne Gegenliebe Gottes zu fühlen; 6. dasBewußtsein mangelnden Eifers und vieler Fehler, obwohl man Gott liebenwill; 7. die Erinnerung, einst Gott nicht geliebt zu haben, und der Gedanke andie vielen, die Gottes Liebe verachten (14. Kap.). Wenn nun die Liebe tiefeWunden schlägt, versetzen diese die Seele in einen Zustand des Siechtums, derseligen Krankheit der Liebe, wie wir es an Heiligen sehen (15. Kap.).

VII. DAS VII. BUCH bespricht die Vereinigung der Seele mit Gott durchbestimmte Gebetsakte und Gebetsregungen,21 die eine tiefere Verbindung mitGott verursachen, gleich der zwischen Mutter und Kind. Wie dort die Mutter,so hat bei der Verbindung mit Gott dieser den Hauptanteil. Die Seele wirktmit, sei es durch einzelne Gebete, sei es durch ein ständiges Drängen desHerzens in die göttliche Liebe hinein (1. Kap.). Diese Vereinigung geschieht inverschiedener Weise: 1. Gott weckt und wir folgen; 2. wir scheinen zu begin-nen, er aber kommt uns doch immer zuvor; 3. er hilft uns unspürbar oderwir spüren seine Hilfe; 4. durch den Willen allein oder durch alle Fähigkeiten;5. manchmal hat Gott offenbar die Initiative, manchmal scheinen Heilige sie zuhaben (2. Kap.).

Nun beschreibt Franz von Sales den höchsten Grad der Vereinigung, dieEntrückung. 22 Sie ist dann gegeben, wenn die Seele ganz fest an Gott haftet,von ihm gefesselt ist (3. Kap.). Es gibt drei verschiedene Arten der Entrük-kung: die des Verstandes, die des Gemütes und die der Tat.

Die Entrückung des Verstandes hat ihre Ursache in der Bewunderung, hervor-gerufen durch die Begegnung mit einer beglückenden, unerwarteten Wahrheit(4. Kap.).

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Die Liebesentrückung geschieht dadurch, daß Gott den Willen mit seinenbeglückenden Lockungen berührt und der Wille sich dadurch ihm zuwendet undsich ganz in Gott hineinbewegt. – Verstand und Wille teilen sich ihre Ent-rückungen gegenseitig mit, die des Verstandes ohne die des Willens ist ver-dächtig. Die Ekstase des Willens kann aber nur von Gott sein (5. Kap.).

Die Ekstase des Lebens ist mit der des Willens ein sicheres Kennzeichender echten Ekstase. Diese Ekstase der Tat drückt sich in einem übermenschlichenLeben, in einem Leben der Liebe aus (6. Kap.). Wo kein wirklich christlichesLeben ist, sind Entrückungen immer zweifelhafter Natur, dagegen ist ein ek-statisches Leben ohne Gebetsentrückungen möglich und häufig. Die Ekstasen desLebens setzen den Tod des „alten Menschen“ voraus, damit der neue Mensch,der nach Christus geschaffen ist, in uns lebe (7. Kap.). Dazu „drängt uns die LiebeChristi“ (8. Kap.).

Die höchste Wirkung der Affektliebe ist das Sterben der Liebenden. 23 DieLiebe ist zuweilen so heftig, daß sie Leib und Seele trennt. 1. In der Liebesterben alle Gerechten, auch wenn sie eines plötzlichen Todes sterben; mancheHeilige starben auch in der Ausübung der Liebe (9. Kap.). – 2. Um der Liebewillen starben alle Märtyrer, manche Heilige aber außerdem ausdrücklich um derLiebe willen oder durch die Liebe verzehrt, durch Ekstasen, Sehnsucht und Lei-den (10. Kap.). – 3. An der Liebe starben manche Heil ige; die Liebe hatihr Herz durchbohrt und so die Seele aus dem Leib gestoßen, nachdem sie sichaller Anhänglichkeit entblößt hatten (1. u. 12. Kap.). Vor allem starb die MutterGottes an der Liebe zu ihrem Sohn (13. Kap.) eines sanften friedlichen Todes(14. Kap.).

VIII. Über die Werkliebe oder Tatliebe handeln das VIII. und IX. Buch;DAS VIII. BUCH über die Liebe der Gleichförmigkeit, durch die wir unserenWillen mit dem geoffenbarten Willen Gottes vereinigen. 24

Zu dieser Liebe der Gleichförmigkei t drängt uns das hei l ige Wohlgefal-len an Gott, denn Wohlgefallen gestaltet uns zu dem um, was wir lieben, imGuten wie im Schlechten. Je größer die Liebe des Wohlgefallens, desto größerdie Umwandlung. Die Liebe braucht keine Polizisten (1. Kap.). Aber auch dieLiebe des Wohlwollens verursacht Gleichförmigkeit mit dem Willen Gottes,sie wirft unsere Herzen in Gott hinein und damit auch alle Handlungen undEmpfindungen. Liebe treibt uns an, den Gehorsam frei und gerne zu leisten(2. Kap.). Wir bezeichnen den göttlichen Willen mit verschiedenen Namennach der Verschiedenheit der Mittel, durch die wir ihn erkennen: Gott hat unsmitgeteilt, was wir glauben, fürchten, tun sollen; das ist der „ausgesproche-ne“, der „geoffenbarte Wille Gottes“. Gott verlangt es von uns, zwingt uns abernicht. Die Liebe führt uns dazu, das zu wollen, was Gott verlangt (3. Kap.).

Die Gleichförmigkeit unseres Willens soll bestehen:1. mit dem Willen Gottes, uns zu retten, den er uns oft geoffenbart hat.

Er will uns aber unserer Natur gemäß retten, d. h. in aller Freiheit. Dahermüssen wir unser Heil wollen und entschlossen sein, die geeigneten Mittel zuergreifen, auch wenn sie uns im einzelnen erschrecken (4. Kap.).

2. mit dem in den Geboten ausgesprochenen Willen Gottes. Die Liebe desWohlgefallens und des Wohlwollens treibt uns dazu an, sie zu lieben und zu

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halten, zu sehen, wie schön sie sind, sie nicht aus Furcht zu beobachten, sondernaus Liebe, aus Liebe auch die Leiden anzunehmen, die damit verbunden sind(5. Kap.).

3. mit dem in den Räten ausgesprochenen Willen Gottes. Die Räte sind einWunsch Gottes, daher führt die Liebe zu ihrer Befolgung, so wie sie Gottbefolgt haben will, d. h. wie sie zu Beruf und Leben passen. Die Liebe be-fiehlt, wie die Räte zu befolgen sind (6. Kap.); sie führt dazu, die Räte zulieben, um die Gebote treu erfüllen zu können (7. Kap.). Verachtung derRäte ist Sünde (8. Kap.). Jeder muß alle evangelischen Räte lieben, wenn auchnicht alle üben. Jeder muß aber befolgen, was er kann (9. Kap.).

4. mit dem Wil len Gottes , der s ich in den Eingebungen offenbart . Gotterleuchtet und erwärmt uns durch seine Eingebungen, ohne die wir lau undträge werden. Gott spendet seine Eingebungen auf zahllose Weisen (10. Kap.).Es ist aber Vorsicht geboten bei Eingebungen zu außergewöhnlichen Tugend-übungen :

a) Es ist wichtig, nicht mehreres zugleich betreiben zu wollen; nicht vielesanzufangen, ohne etwas zu Ende zu führen; nicht angeblich Besseres zu wollenund damit das Gute nicht durchzuführen. Beharrlichkeit ist das erste Kennzeichender Eingebung (11. Kap.).

b) Eingebungen, die den gewöhnlichen Gesetzen entgegen sind, kann es wohlauch geben; ein Zeichen ihrer Echtheit ist Friede und Ruhe des Herzens ,während der böse Geist ungestüm, hart und unruhig ist (12. Kap.).

c) Das dritte Kennzeichen echter Eingebung ist Demut und Gehorsam. Dahersind Eingebungen Illusionen, wenn sie von der Kirche nicht anerkannt sind(13. Kap.).

Zum Schluß eine kurze Methode, den Willen Gottes zu erkennen. Wo GottesWille klar ist, gibt es nichts zu überlegen. Für alles übrige herrscht Frei-heit. Bei Kleinigkeiten hat es keinen Sinn, viel zu überlegen, was der WilleGottes ist, wohl aber bei wichtigen Dingen. Auch da ist Herumgrübeln nicht amPlatz, sondern Gebet, Überlegung und Rat des Seelenführers und einigerkluger Personen (14. Kap.).

IX. DAS IX. BUCH behandelt die Liebe der Unterwerfung, durch die sich unserWille mit dem Wohlgefallen Gottes vereinigt.

1. Im allgemeinen. Nichts, die Sünde ausgenommen, geschieht ohne den WillenGottes,25 in dem sich immer seine Macht, Weisheit, Gerechtigkeit und Güte offen-bart, die Gerechtigkeit gemildert durch seine Barmherzigkeit. Daher müssenwir immer aus Liebe unseren Willen vereinigen mit dem göttlichen Wohlgefallen(1. Kap.), besonders aber im Leiden, das man für sich betrachtet nicht liebenkann, wohl aber in seinem Ursprung, dem göttlichen Willen (2. Kap.).

2. Durch Ergebung in seelischen Leiden. Leiden geduldig annehmen, istwertvoll. Noch wertvoller ist Einwilligung in geistliche Leiden, die oft alleKräfte so niederdrücken, daß nur die Spitze des Geistes „Dein Wille gesche-he“ sagen kann, sich aber dessen fast nicht bewußt ist.

Diese Vereinigung mit dem göttlichen Willen kann durch Ergebung oderGleichmut geschehen. In der Ergebung unterwirft man sich mühevoll (3. Kap.).

3. Durch Gleichmut . 26 Während die Ergebung außer dem Willen Gottesnoch vieles liebt, liebt der Gleichmut nichts außer der Liebe zum Willen

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Gottes, uzw. liebt er Leiden wie Trost, jenes sogar mehr, weil in ihm nichtsLiebenswertes ist als der Wille Gottes. Das gleichmütige Herz liebt nicht dieDinge, die Gott will, sondern den Willen Gottes, der sie will, und das, was ermehr will (4. Kap.).

Dieser heilige Gleichmut erstreckt sich auf alle Dinge des natürlichen, bürger-lichen und geistlichen Lebens, wie besonders der göttliche Heiland es uns gezeigthat, der in vielerlei Peinen wie begraben war, während nur die Spitze desGeistes hell leuchtend war vor Herrlichkeit (5. Kap.). Im einzelnen wird derGleichmut geübt:

a) in allem, was den Dienst Gottes betrifft . Solange das göttliche Wohl-gefallen unbekannt ist, müssen wir den geoffenbarten Willen Gottes erfüllen,uns aber liebevoll fügen, sobald Gottes Wohlgefallen offenbar wird. Ist die-ser schon vor den Ereignissen kundgetan, so muß man sich dann schon mit demWillen Gottes vereinigen. – Flößt uns Gott Pläne ein, läßt sie aber nichtgelingen, so müssen wir mutig anfangen, aber ruhig in den Ausgang der Ereig-nisse einwilligen, auch wenn das Unternehmen durch eigene Schuld scheitert;denn es ist dann Gottes Wille, daß das Mißlingen Strafe für den Fehler sei.

b) in allem, was unseren Fortschritt in den Tugenden betrifft . Gleichmutfordert, daß wir alles tun, um die Tugenden zu erwerben, die Sorge um denErfolg aber dem Herrn überlassen. Wir sollen uns über mangelhafte Erfolgenicht beunruhigen, wohl die Fehler bereuen, uns aber nicht der Traurigkeithingeben. Wir dürfen uns auch nicht über die ersten Regungen der Leiden-schaften beunruhigen; es ist nicht Sünde, sie zu fühlen, wohl aber, in sieeinzuwilligen (7. Kap.).

c) bei der Zulassung der Sünden. Da Gott die Sünde haßt, sie aber zuläßt,müssen wir die Zulassung preisen, die Sünde aber verabscheuen und alles tun,um sie zu tilgen, bei uns und bei anderen. Lassen sich die Sünder aber nichthelfen, dann sollen wir uns anderen zuwenden und die richtende GerechtigkeitGottes ebenso anbeten wie seine gütige Barmherzigkeit (8. Kap.).

d) in Werken der heiligen Liebe. Es kann unmerklich so kommen, daß manGott liebt, nicht um ihm zu gefallen, sondern um der Freude willen, die manin der Liebe empfindet, d. h. man sucht nicht Gott, sondern sich selbst (9.Kap.). Diese Veränderung können wir erkennen, wenn die Seele nicht das Liedsingt, das Gott mehr gefällt, sondern das ihr am meisten zusagt (ein Bischofist nicht bei seiner Herde, sondern am Hof etc.), oder wenn man das Gebet beiseelischer Trockenheit aufgibt. – Es ist zwar schwer, Gott zu lieben, ohnezugleich die Freude zu lieben, die man an seiner Liebe findet, man muß abertrachten, nur Gott zu suchen und nicht die Freude, die in der Liebe liegt (10.Kap.). Die Freude, Gott zu gefallen, ist eine Frucht der Gottesliebe, kannaber von ihr getrennt werden, so daß die Seele nicht wahrnimmt, daß Gott anihrer Liebe Gefallen hat. Sie empfindet dann nicht nur keine Freude, sondernÄngste und Versuchungen. Sogar die höchste Spitze des Geistes kann danngeängstigt sein, von Versuchungen belagert, ohne Hoffnung auf Erleichterung.Die Seele leidet dann wohl schwer, hat aber nun eine große Möglichkeit, demHeiland Treue zu erweisen (11. Kap.). In einem solchen Zustand kann dieSeele nicht unterscheiden, ob sie glaubt, hofft und liebt. Sie findet die Liebe

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nicht in den Sinnen, nicht im höchsten Bereich des Geistes, überhaupt nir-gends, weil die Finsternis sie hindert, die Liebe zu erkennen. Sie kann dannnur mehr ihren Willen in den Armen des göttlichen Willens sterben lassen(12. Kap.).

e) im Sterben unseres Willens. Der Wille kann eigentlich nie sterben, abermanchmal überschreitet er die Schranken seines gewöhnlichen Lebens, umganz im göttlichen Willen zu leben. Er ist dann versunken im Willen Gottes,so daß er kein von ihm getrenntes Wollen mehr hat (13. Kap.). Man kann mitGott gehen mit Schritten eigenen Wollens, wenn man seinen geoffenbarten Willenerfüllt. Man kann mit Gott gehen, auch ohne ein eigenes Wollen zu haben,wenn man will, daß die Ereignisse dem göttlichen Wohlgefallen gemäß geschehen.Man kann auch durch eine einfache Stille unseres Willens alles entgegenneh-men, was Gott fügt. Wie das Jesuskind Maria gegenüber, so sollen auch wirfür das göttliche Wohlgefallen ganz geschmeidig und lenksam sein, Gott für unswollen und tun lassen und ihn für alles, was er tut, preisen (14. Kap.). Abernoch erhabener wäre es, Gottes Willen nicht in seinen Wirkungen, sondern inseiner eigenen Vollkommenheit zu preisen, auf Gott zu blicken, ihn machenzu lassen und in Ruhe die Wirkung des göttlichen Wohlgefallens abzuwarten.Der Wille ist dann in einer einfachen Erwartung, im einfachen Bereitsein. Sobeschaffen war der Wille des Erlösers (15. Kap.).

f) in der vollkommenen Entäußerung. Die Liebe entblößt die Seele vonallen menschlichen Wünschen und von den edelsten Anhänglichkeiten, da-mit sie mit umso mehr Ruhe, Reinheit und Einfalt nichts anderes liebe als dasWohlgefallen an seiner göttlichen Majestät. – Wir können aber nicht lange indieser Blöße bleiben; wir müssen uns wieder mit verschiedenen Neigungen be-kleiden, vielleicht sogar mit denselben, denen wir entsagt haben, – aber nicht,weil sie uns, sondern weil sie Gott angenehm sind, und wie er es wünscht (16.Kap.).

Wenn die Bücher VI bis IX wohl Kern und Höhepunkt des Werkes sind, sobieten die Bücher X bis XI doch noch wertvolle Ergänzungen. 27

X. DAS X. BUCH erörtert das Gebot, Gott über alles zu lieben,28 uzw.:1. die Schönheit des Gebotes der Gottesliebe. Alles im Weltall ist darauf

hingeordnet. Gott erlaubt nicht nur, ihn zu lieben, sondern er befiehlt es.Das vor allem wird die Qual der Verdammten sein, Gott nicht lieben zu können (1.Kap.) . Im Himmel ist Gottesl iebe nicht Gebot, sondern f l ießt aus demBesitz Gottes und wird frei von allen Hemmnissen sein (2. Kap.). Wir könnenund sollen hier auch anderes als Gott lieben; wir lieben Gott auf verschiedeneWeise; der Wert der Liebe hängt von der Erhabenheit der Beweggründe ab (3.Kap.).

2. Die Stufen der Gottesliebe sind: a) Die Neulinge lieben Gott, danebenaber viele eitle und gefährliche Dinge; ihre Liebe ist echt, aber gebrechlich. –b) Eine höhere Stufe ist die jener, die gefährliche Anhänglichkeiten entsagthaben, aber Dinge, die Gott geliebt wissen will, übertreiben und zu leiden-schaftlich lieben. Sie lieben Gott wohl über alles, aber nicht in allem, sondernsie lieben Menschen ohne ihn und außerhalb seiner (4. Kap.). – c) Die dritteStufe umfaßt die Seelen, die nur lieben, was Gott will und so wie Gott es will.– d) Über ihnen stehen die Seelen, die nur Gott in allem lieben, d. h. nur

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Gott lieben, auf dem Kalvarienberg wie auf dem Tabor. Von diesen gibt es nurwenige, Maria und einige Heilige. – Im allgemeinen gehen die meisten voneiner Stufe zur anderen über (5. Kap.).

3. Die Liebe Gottes über alles. Diese Eigenschaft ist allen Gottliebendengemeinsam und soll die herzlichste, innigste, allgemeinste, erhabenste undstandhafteste Liebe sein. Allen Arten der Liebe (väterliche, kindliche usw.) mußdie Liebe Gottes über alles vorgezogen werden; seine ganze Seele und alle Kräftemuß man Gott weihen (6. Kap.). Ein sicheres Kennzeichen echter Gottesliebe ist,wenn irgendeine große Liebe zu Geschöpfen sich der göttlichen Liebe wider-setzt und durch sie überwunden wird, – mag auch die Liebe zu Geschöpfensich öfter, heftiger und zärtlicher äußern (7. Kap.). Echte Gottesliebe mußjede Schwierigkeit überwinden (8. Kap.). Es ist eine Häresie, eine Auswahl unterden Geboten Gottes zu treffen. Dann ist eben die Liebe zu Gott nicht eineLiebe über alles (9. Kap.). Diese Liebe über alles verlangt, daß wir Gottmehr als uns selbst lieben. Im Himmel sind die Seligen durch die Schau Gottesgenötigt, Gott zu lieben; hier auf Erden aber nicht, weil wir Gott nur ah-nen; aber auch dieses Ahnen Gottes weist auf unsere angeborene Neigunghin, Gott zu lieben. Ohne sie können wir keine rechten Menschen sein (10.Kap.).

4 . Die he i l i ge Got te s l i ebe i s t Ursprung de r Nächs ten l i ebe und Que l l edes Eifers. Ursprung der Nächstenliebe, weil der Mensch nach dem Bild Gottesgeschaffen ist, so daß wir Gott im Menschen lieben und den Menschen in Gott(1. Kap.). – Quelle des Eifers, der Glut der Liebe. Er ist gut oder schlecht,wie die Liebe gut oder schlecht ist. Daher der Unterschied von Eifer, Eifersuchtund Neid (12. Kap.). Gott ei fert mit uns ; seine Eifersucht ist aber nichteine des Begehrens, sondern der höchsten Freundschaft. Er will, daß in unserHerz nichts eindringe, was sich mit seiner Liebe nicht verträgt. Die Furchtkeuscher Bräute muß die gottliebende Seele erfüllen. Ihr Eifer muß klug undweise sein (13. Kap.). Eifersucht ist verkehrter Eifer. Der echte Eifer be-kämpft alles, was Gott entgegen ist; er macht uns brennend für die Reinheitder Seele und läßt uns fürchten, nicht ganz von Gott in Besitz genommen zu sein(14. Kap.). Der Eifer bedarf weiser Lenkung und darf nicht in Zorn ausarten(15. Kap.). Dem widersprechen nicht Beispiele einiger Heiliger, da diese unterEinsprechung Gottes standen. Man kann den Eifer betätigen durch Aktionen,Tugendwerke und Leiden (dies besonders). Kennzeichen des wahren und fal-schen Eifers (16. Kap.).

Im Schlußkapitel dieses Buches (17. Kap.) zeigt Franz von Sales, wie derHerr alle erhabensten Liebesakte geübt hat.

XI. DAS XI. BUCH29 zeichnet die oberste Herrschaft der heiligen Liebeüber alle Tugenden, Handlungen und Vollkommenheiten der Seele.

1. Über alle Tugenden: a) Durch ihre Gegenwart. Wenn auch alle TugendenGott wohlgefällig sind, auch die der Heiden, und der Mensch mit seinen na-türlichen Kräften doch manches vollbringen, freilich nicht alle Gebote haltenund die schweren Versuchungen überwinden kann (1. Kap.), so macht doch dieheilige Liebe die Tugenden Gott weit wohlgefälliger, als sie es ihrer Natur nachsind; sie werden durch die Verbundenheit mit Christus zur Würde heiligerWerke erhoben, so werden auch die kleinsten Werke geadelt und fruchtbar (2.

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Kap.). Durch die Gegenwart der heiligen Liebe empfangen alle Tugenden ei-nen neuen Glanz und eine höhere Würde; aber die Tugenden des Glaubens,der Hoffnung, Gottesfurcht, Frömmigkeit, Buße und andere, die sich besondersauf Gott beziehen, empfangen nicht nur durch die Liebe einen höheren Wert,sondern folgen ihr und dienen ihr auch bei allen Gelegenheiten, weshalb wirsie besonders pflegen müssen (3. Kap.).

b) Durch ihre Wirksamkeit. Wenn aber Tugenden auf Befehl der Liebe geübtwerden, dann heiligt die heilige Liebe diese Tugenden noch erheblicher, ob sienun Werke der affektiven oder effektiven Liebe oder andere Tugenden sind (4.Kap.). Die einzelnen Tugenden haben dann das Aroma der Heiligkeit von derLiebe, der sie aufgepfropft sind. Bei gleicher Liebe behalten die Tugendenihren Rang, bei größerer Liebe werden die kleinsten Tugenden wertvoller (5.Kap.). So verleiht die Liebe hohen Wert den aus ihr und anderen Tugendenhervorgegangenen Handlungen, weil sie gefärbt sind mit dem Blut des Gottes-sohnes. Wenn auch aus sich schwach, werden sie fruchtbar, weil die Liebe desHeiligen Geistes sie durchtränkt (6. Kap.). Liebe ist das Leben der Seele. Deshalbbeginnt Tugendleben mit der Liebe und stirbt ab, wenn die Liebe stirbt. Dievollkommenen Tugenden sind nie von einander getrennt. Deswegen ist es auchnicht echte Tugend, wenn eine Tugend angestrebt, eine andere aber abgelehntwird. Gelegenheiten zu Tugenden können fehlen, aber die Liebe zu allen mußda sein (7. Kap.). Die Liebe aber begreift alle Tugenden in sich. Gott läßt unsauf der höchsten Spitze des Geistes den übernatürlichen Quell der Liebe entsprin-gen, der sich über alle Fähigkeiten und Handlungen ergießt, um ihnen die vierKardinaltugenden, Klugheit, Gerechtigkeit, Mäßigkeit und Starkmut zu verlei-hen. Treffen diese vier Ströme auf natürliche Tugenden, so vervollkommnen siediese; finden sie aber keine, so übernimmt die Liebe deren Aufgabe (8. Kap.).Diese Tugenden gewinnen ihre Vollkommenheit aus der heiligen Liebe . Siebelebt alle, vervollkommnet alle, kann aber selbst durch nichts vervollkommnetwerden (9. Kap.). Deshalb waren auch die von den alten Heiden geübten Tugendenunvollkommen (10. Kap.).

2. Über die Handlungen. Die ohne göttliche Liebe vollbrachten Handlun-gen sind wertlos, wenn sie durch schlechte Beweggründe verdorben sind. Istdie Liebe in der Seele erstorben, dann sind die früheren Tugenden „ertötet“, undsolche, die im Zustand der Sünde vollbracht werden, kommen tot zur Welt (11.Kap.). Durch die Wiederkehr der heiligen Liebe leben die „ertöteten“ Werke aberwieder auf (12. Kap.). Der Mensch verrichtet jede Handlung eines Zieles wegen; erkann dem natürlichen Zweck einen anderen hinzufügen oder ihn ändern; die-ser kann gleich gut oder besser sein. Das höchste Motiv ist das der Gottesliebe(13. Kap.). Reinigen wir daher unsere Absichten, indem wir ihnen als Beweg-grund die heilige Liebe geben und gute Motive mit der heiligen Liebe würzenund durchtränken und so alle Tugenden unter den Gehorsam der Liebe stellen(14. Kap.).

3. Über alle Vollkommenheiten der Seele, uzw.a) Die Liebe schließt die Gaben des Heiligen Geistes in sich, die unsere Seele

geschmeidig und gehorsam gegen göttliche Eingebungen machen (15. Kap.). Un-ter ihnen setzt die bräutliche Furcht die größte Liebe voraus; die knechtischeFurcht führt die Tugenden in die Seele ein, schwindet aber in dem Maße, als die

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Tugenden einziehen (16. Kap.). Da aber die Liebe immer in Gefahr ist, besondersbei schweren Versuchungen, so scheidet die knechtische Furcht erst dann ganzaus, wenn wir ins ewige Leben eingehen (17. Kap.). Die knechtische Furchtvor Gottes Strafgerichten kann heilsam sein. Edler ist die Furcht, den Him-mel zu verlieren. Kindliche Furcht nennt man die, Gott zu beleidigen. Ist siemit der knechtischen Furcht verbunden, so bleibt sie doch Gott wohlgefälligund nützlich (18. Kap.).

b) Die heilige Liebe schließt die zwölf Früchte des Heiligen Geistes und dieacht Seligkeiten des Evangeliums in sich. Der hl. Paulus sagt: „Die Fruchtdes Geistes ist Liebe, Freude ...“, weil die Liebe die einzige Frucht des Geistesist, aber eine Unzahl herrlicher Eigenschaften besitzt, die sie alle beseelt. Sie istauch eine Seligkeit, nicht nur, weil sie die Gewißheit des ewigen Lebens gibt,sondern auch irdischen Frohsinn in hohem Maße verleiht (19. Kap.).

c) Die Liebe gebraucht al le Leidenschaften und Affekte und unterwirf tsie ihrem Gehorsam. Alle Regungen der Seele gehen von der Liebe aus. Herrschtdie Gottesliebe, dann unterwirft sie sich königlich jede andere Liebe, diesinnliche, wie die Eigenliebe, die immer im Kampf mit der Gottesl iebesteht; sie unterwirft sie entweder durch Entfachung einer entgegengesetztenLeidenschaft oder einer stärkeren Leidenschaft gleicher Art (20. Kap.). Trau-rigkeit al lerdings ist fast immer nutzlos, ja sogar dem Dienst der heiligenLiebe entgegengesetzt. Traurigkeit dieser Welt hat als Ursache den Teufel, dergerne im Trüben fischt. – Die Traurigkeit echter Buße soll nicht niedergeschlagen,sondern tätig für Gott machen, sie ist gemäßigt durch die Hoffnung. VerstörteReue kommt nicht von Gott, sondern von der Eigenliebe (21. Kap.).

XII. DAS XII. BUCH 30 schließt das Werk ab durch einige Ratschläge fürden Fortschritt der Seele in der heiligen Liebe.

1. Der Fortschritt in der heiligen Liebe hängt nicht von der natürlichenVeranlagung ab. Sowohl die liebevoll, wie die herb Veranlagten können Gottlieben, wenn auch nicht in gleicher Weise (1. Kap.).

2. Das Verlangen nach Gottes l iebe sol l beständig sein . Fühlen wir die-ses Verlangen, so wissen wir, daß wir zu lieben beginnen. Es soll aber unersätt-lich sein (2. Kap.). Um darin zu wachsen, muß man jedes andere Verlangenabstellen. Wer sich ständig in Entwürfen und Wünschen ergeht, verlangt nichtnach der heiligen Liebe, wie er soll. Wer sich in irdische Geschäfte vertieft,wird schwer und spät zur Blüte der Liebe kommen (3. Kap.). Freilich ziehen Berufund Pflicht nicht von Gott ab, sondern nur sinnlose Trödeleien und Verskla-vung an das Irdische (4. Kap.). Erfüllung äußerer Pflichten stört nicht dieLiebe (5. Kap.).

3. Übung der Liebe . Es bedarf nicht großer Pläne, um sich in der Liebezu üben; diese dienen oft nur der Selbstgefälligkeit. All die kleinen Über-windungen, Kämpfe usw. sind fruchtbar, wenn sie aus Liebe geschehen (6.Kap.). Deshalb muß man große Sorgfalt darauf verwenden, alles so gut alsmöglich und aus Liebe zu verrichten (7. Kap.). Gewiß geschieht alles zur EhreGottes, wenn wir im Zustand der Liebe sind; wir sollen aber doch dafürsorgen, daß sie aus Liebe geübt werden. Das geschieht bei denen, die sichGott geweiht haben oder sich zu einem Gott hingegebenen Leben entschlos-sen haben. Eine besondere Aufopferung bei jedem Werk ist dann nicht not-

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wendig (8. Kap.). Allerdings ist es wertvoll, diese Hingabe täglich im Morgen-gebet zu erneuern. Bei wichtigen Handlungen sind tiefere Erwägungen am Platz(9. Kap.). Wenn wir unsere Willensfreiheit durch die heilige Liebe Gott zumOpfer bringen, werden wir wirklich frei, während die Eigenliebe uns versklavtund wir durch sie die Freiheit für das ewige Leben erst recht verlieren (10.Kap.).

4. Beweggründe der Liebe. Es sind: Gottes Güte, seine Vorsehung, die Gna-den und die Glorie (11. Kap.). Um sich von diesen Beweggründen zu einermächtigen Liebe entflammen zu lassen, muß man sie auf sich anwenden, inihrem ewigen Ursprung und im Erlöser betrachten, der sie uns verdient undzuwendet (12. Kap.). Der gewaltigste Beweggrund der Liebe ist das Leiden undSterben Jesu. Der Kalvarienberg ist die wahre Hochschule der Liebe (13. Kap.).

C.QUELLEN DER,,ABHANDLUNG ÜBER DIE GOTTESLIEBE“.

Franz von Sales hat in jüngeren Jahren und zum Teil auch noch späterviel gelesen. Er beherrscht nicht nur die katholische und protestantische Kontro-vers-Literatur, wie es die vielen Zitate in seinen Streitschriften zeigen, son-dern auch die dogmatische, aszetische und mystische Literatur seiner Zeit.Die vielen Hinweise in der „Anleitung zum frommen Leben“, in der „Abhand-lung über die Gottesliebe“ und in seinen Briefen bezeugen dies. Natürlich hat ervon seinen gründlichen theologischen Studien her eine große Kenntnis der Heili-gen Schrift, der Väter und der Theologen des Mittelalters und seiner Zeit, dieja eine Blütezeit theologischen Schrifttums war. 1

I. ES IST NUN NICHT LEICHT FESTZUSTELLEN, welche geistliche Schrift-steller, welche Theologen, welche Richtungen Franz von Sales entscheidend beein-flußt haben. In den letzten Jahren sind wichtige Arbeiten über diese Frageerschienen, die aber noch lange nicht alles geklärt haben.

Die theresianischen (und im allgemeinen die spanischen) Einflüsse auf Franzvon Sales hat in mustergültiger, streng wissenschaftlicher Weise Pierre Serou-et untersucht. 2 Den ignatianischen Einflüssen auf Franz von Sales ist AntonasLiuima nachgegangen. 3 Die franziskanischen Einflüsse auf Franz von Saleshat Claude Quinard4 untersucht, aber auch Serouet (S. 51-58). Antoine-J. Dani-els,5 Huyben6 und Quinard haben Einflüsse der flämischen Mystiker auf Franzvon Sales festgestellt.

Mgr. Pierre Veuillot7 hat im besonderen die Quellen der salesianischen Lehrevom heiligen Gleichmut untersucht, – und im allgemeinen die Quellen dersalesianischen Mystik P. Hubert Pauels OSFS in seiner Doktordissertation. 8

Mit Recht sagt Serouet,9 daß hier noch viele Einzeluntersuchungen nötig wären,um klar zu sehen, welche Beiträge die einzelnen Schriftsteller geleistet haben.Nun ist das nicht so leicht festzustellen. Bei manchen Einzelfragen, wo Schriftstellertheresianische Einflüsse behauptet haben, zeigt Serouet, daß Theresia undFranz von Sales aus der traditionellen christlichen Lehre der Frömmigkeitgeschöpft haben oder einfach aus den Worten Jesu und der Apostel. Das

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gleiche gilt von anderen Theologen, denen Einflüsse auf Franz von Sales zuge-sprochen werden.

Außerdem darf man sich nicht vorstellen, daß Franz von Sales von demeinen Schriftsteller diesen Gedanken, von einem anderen wieder einen anderenGedanken genommen, also eine Art Mosaikbild aus verschiedenen Steinchenzusammengesetzt habe. Dazu hatte er wohl als vielbeschäftigter Bischof keineZeit. Sicher hat die Lektüre ihm viel gegeben, sie hat in Verbindung mit seinenErfahrungen in ihm die große Synthese aufgebaut; aber er war sich, außer ineinzelnen bestimmten Fragen, wohl kaum mehr bewußt, wem er diesen oderjenen Gedanken verdanke, und in vielen Fragen mag er auch selbständig zu ähnli-chen Resultaten gekommen sein wie andere Schriftsteller.

II. DENNOCH GIBT ES MÖGLICHKEITEN, zu erkennen, woher Franzvon Sales sowohl die große Struktur seines Werkes, wie auch manche Einzel-heiten desselben empfangen hat. Wir ersehen dies aus der Zahl der Zitate, ausausdrücklichen Äußerungen des Heiligen, aus der Gleichheit der Bilder undBeispiele (dies ist aber mit Vorsicht zu beurteilen). Allerdings hat Franz vonSales alles in seiner Weise verarbeitet. Er ist ein tiefer, selbständiger Theolo-ge, er ist ein hervorragender Psychologe, ein geistlicher Lehrer, ein erfahrenerSeelsorger und vor allem ein Heiliger.

1. Als Theologe hat Franz von Sales sorgfältig aus den klassischen Quelleneiner jeden echten Theologie geschöpft.

a) Die Lehre Jesu und der Urkirche ist das sichere Fundament, auf demFranz von Sales sein Lehrgebäude errichtet. Auf 200 Stellen aus den Evange-lien, auf etwa ebensovielen Stellen aus den Briefen des hl. Paulus und ca. 50Stellen aus den anderen Schriften des Neuen Testamentes baut Franz vonSales in der „Abhandlung“ seine Ausführungen über Wesen, Bedeutung, Ur-sprung und Abstieg der Gottesliebe, über ihre Übungen, Verwirklichungenund Tätigkeiten auf. – Er zieht auch das Alte Testament reichlich heran. Diegeschichtlichen Bücher (etwa 160 Zitate) geben ihm vor allem Vergleiche undBeispiele, Weisheitsbücher und Propheten (ca. 130 Stellen) Mahnungen undAufrufe, die Psalmen (fast 200 Zitate) glühende Gebetsrufe, das Hohelied(ca. 150 Zitate) glückliche Ausdrucksformen für das Erleben der Gottesliebe.

b) Von den griechischen Vätern haben wir in der „Abhandlung“ 22 Zitate(besonders von Gregor von Nazianz und Chrysostomus), von den lateinischen Väternetwa 90 Zitate, davon ca. 70 aus den Werken des hl. Augustinus. Der imMittelalter und in der Renaissancezeit so hochgeschätzte Pseudo-Dionysiusscheint nur mit 17 Zitaten auf. – Wir ersehen daraus, daß von allen Vätern derhl. Augustinus aufs tiefste die „Abhandlung“ beeinflußt hat.

c) Das Konzil von Trient zitiert Franz von Sales zwölfmal als maßgebendeAutorität in Fragen des Gnadenlebens. Auch andere Konzilien werden vonihm, allerdings seltener, angeführt.

d) Von den großen Theologen des Mittelalters und der Neuzeit ist Thomasvon Aquin der am meisten (dreizehnmal) zitierte und verehrte. Neben ihmkommt eigentlich nur Bonaventura zur Geltung (9 Zitate). Andere Theologenwerden nur vereinzelt angeführt.

2. Der Psychologe kommt vor allem im I. Buch zu Wort. Augustinus, Tho-

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mas von Aquin und Pseudo-Dionysius sind hier seine Gewährsmänner. Franzvon Sales spricht aber selbst ein gewichtiges Wort mit und scheut sich nicht,diesen großen Autoritäten zu widersprechen, wenn ihre Angaben mit seinen Er-fahrungen und Denkergebnissen nicht im Einklang stehen.

3. Der erfahrene Seelsorger und Zeuge mystischen Erlebens ista) sorgfältig den mystischen Erfahrungen der Vergangenheit und seiner Zeit

nachgegangen und hat sie mit seinen eigenen Erfahrungen und mit den Ergeb-nissen seiner theologischen Forschung verglichen.

Wohl schon in Padua mag der Heilige sich in die Berichte mystischer Erleb-nisse vertieft haben. Seine oftmaligen Hinweise auf italienische Mystiker wieFranz von Assisi (15 mal angeführt), Katharina von Genua (6 mal), Katha-rina von Siena (9 mal), Angela von Foligno (4 mal), weisen auf intensiveBeschäftigung mit dem Leben dieser Heiligen hin. Auch hat sich Franz vonSales mit einer Reihe von italienischen geistlichen Schriftstellern und spani-schen, ins Italienische übersetzten Autoren vertraut gemacht, vor allem mit demTheatiner Scupoli, mit dem Dominikaner Ludwig von Granada, Diego Stellaund anderen, von denen wir noch hören werden. Übersetzungen deutscher undflämischer Schriftsteller scheint er damals noch nicht gelesen zu haben.

Der große Reichtum flämischer und deutscher Mystik dürfte ihm in Parisbekannt geworden sein. Frankreich war ja damals von einer Menge von Über-setzungen dieser Meister überschwemmt. Franz von Sales scheint ihnen unddem Kapuziner Benoit de Canfeld, der ähnlichen Geistes war, zunächst abwartendgegenüberzustehen. 10

Die spanische Mystik trat mit der Übersetzung des Lebens und der Werkeder großen hl. Theresia in sein Blickfeld. Er naht sich ihr zunächst nur zö-gernd und wird immer prüfend und sichtend auch ihr gegenüberstehen, mitder Zeit aber ihre Erfahrung als echte Mystik bejahen und sie in seine großeSynthese einbauen. 11

b) Er selbst hat schon in früheren Zeiten echte mystische Erlebnisse ge-habt, sein Gebetsleben vereinfacht sich immer mehr und nach Jahren wird diediskursive Betrachtung zur ganz sich in Gott versenkenden Beschauung,12

wie auch sein Wille der Fesseln der Eigenliebe und irdischen Anhänglichkeitenentledigt, durch den „hochheiligen Gleichmut“ mit dem göttlichen Willen immermehr eins wird. 13

So kann er Zeuge und kundiger Berater tief mystischer Seelen werden, einerhl. Johanna Franziska von Chantal,14 einer Schwester Rosset und manch andererSchwester im Klösterchen von der „Galerie“, der Wiege des Ordens der Heim-suchung Mariä, und auch deren mystische Erlebnisse in sein großes Werkhineinarbeiten. 15

III. SUCHEN WIR NUN KURZ ZU SKIZZIEREN, welche geistlichen Strömun-gen Franz von Sales in sich aufgenommen, die seine großen Schriften ent-scheidend beeinflußt haben, so konstatieren wir:

1. In seiner Jugend vor allem franziskanische Einflüsse. 16 In Paris verkehrteer als Student viel bei den Kapuzinern. Der Laienbruder Ange de Joyeuse, ausherzoglichem Geschlecht, hatte es ihm besonders angetan. 17 Als Jura-Studentin Padua dürfte er sich in die Lebensgeschichte der großen italienischen Heiligen

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vertieft haben. Der liebeglühende hl. Franziskus wird immer wieder mit gro-ßer Liebe und ausführlich als der große Liebende in der „Abhandlung“ gezeichnet.

Weitgehend hat auch franziskanische Theologie seine theologischen Schriftenbeeinflußt. Duns Scotus ist, wenn auch nicht ausdrücklich zitiert, Pate gestandenbei den Auffassungen des Heiligen vom Zweck der Menschwerdung, vom Wesender Gnade, von den moralischen Tugenden und den sieben Gaben des HeiligenGeistes. 18 Der hl. Bonaventura ist nach St. Thomas der in der „Abhandlung“am häufigsten zitierte Theologe (9 mal), allerdings mehr als Heiliger denn alsTheologe. Der „Geistliche Kampf“ Scupolis ist nach neueren Forschungensehr stark franziskanisch orientiert. 19 Wir wissen, welche Bedeutung diesesBuch für Franz von Sales hatte. – Calvet bemerkt (S. 62), daß nach neuerenArbeiten bei Franz von Sales der Akzent nicht auf der Askese, sondern auf derLiebe liege und Franz von Sales mehr mit der franziskanischen Überlieferungverbunden sei.

2. Seine Studien im Kolleg der Jesuiten zu Paris, seine Beziehungen zumberühmten P. Possevino S.J. in Padua, sowie seine warme Freundschaft miteiner Anzahl von Jesuiten (besonders P. Fourrier, P. Polliens) ergeben wichti-ge ignatianische Einflüsse, wohl mehr erkennbar in der „Anleitung“ als in der„Abhandlung“ und im Konkreten noch nicht genügend ergründet. – Großen Ein-fluß hat auf Franz von Sales der gelehrte Kardinal, der hl. Bellarmin SJ. aus-geübt, durch den er sehr wahrscheinlich Zugang zu den Theorien Duns Scotus’gefunden hat. 20

3. Trotz mancher Abweichungen von den Auffassungen des hl. Thomas vonAquin ist doch der Doctor angelicus der große Lehrer des hl. Franz von Sa-les.21 Nach P. Chenu und P. Lavaud ist die Struktur der „Abhandlung“ durch-aus thomistisch. 22 Vom Dominikaner Ludwig von Granada, einem der Schrift-steller, die Franz von Sales am meisten empfiehlt, strahlen auch starke thomi-stische Einflüsse auf ihn aus; vielleicht durch Ludwig von Granada auch Gei-stesgut der deutschen Mystiker aus dem Predigerorden.

4. Daß die hl. Theresia von 1604 ab einen steigenden Einfluß auf die Auf-fassungen des hl. Franz von Sales nahm, ist aus seinen Briefen an die hl.Johanna Franziska von Chantal und an Frau Brulard ersichtlich. 23

5. Obwohl der große Mystiker Johannes vom Kreuz seine klassischen Gedichteund Erklärungen bereits in den Jahren 1578-1584 niedergeschrieben hatteund es an sich theoretisch möglich war, daß Franz von Sales Abschriften da-von zu Gesicht bekam (gedruckt wurden sie erst 1618 und ins Französischeübersetzt im Jahre 1622), so deutet doch nichts darauf hin, daß Franz vonSales von ihnen Kenntnis genommen hätte.

6. Es sind auch keine Einflüsse der sogenannten „französischen Schule“Berulles auf Franz von Sales oder umgekehrt erkenntlich, obwohl beide großenMänner miteinander befreundet waren. Vielleicht ist dies damit zu erklären,daß ihre Stoßrichtung verschieden war. Berulle war ganz auf die Reform desKlerus ausgerichtet, während Franz von Sales das wesentliche christliche Lebenin Welt, Kloster und Klerus im Auge hatte.

7. Was Serouet von den Beziehungen des hl. Franz von Sales zu den Werkender hl. Theresia sagt24, darf wohl ausgedehnt werden auf die Einflüsse, die auf

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Franz von Sales von den verschiedensten Seiten eingewirkt haben: „Hätten wirdiese Arbeit zum Ruhm der hl. Theresia unternommen, um Franz von Sales alsSchüler der hl. Theresia zu charakterisieren, so wären wir jetzt verlegen, da wirdaran sind, diese Arbeit zu beschließen. Die dauernde Beschäftigung mit denWerken des hl. Franz von Sales hat uns vor allem von seiner tiefen Originalitätüberzeugt ... Der Einfluß der hl. Theresia auf Franz von Sales ist wohl unbe-zweifelt, aber nicht notwendig, wohl begrenzt, aber doch sehr fruchtbar“ (D.th.).25 Franz von Sales ist ganz Franz von Sales, seine Schriften geistlichenLebens sind ganz sein Werk. Vielen Einflüssen gegenüber war er wohl aufge-schlossen, hat aber alles gesichtet und nur das aufgenommen, was seiner Ge-samtauffassung geistlichen Lebens (die wesentlich auf den Evangelien unddem hl. Paulus gegründet war) entsprochen hat, in der die heilige GottesliebeZiel, Mittelpunkt und Weg ist.

D.NACHWIRKUNGEN DER „ABHANDLUNG“.

I. BIS ZUM JAHRE 1660, also 40 Jahre lang, steht das katholische Frank-reich im Bann des hl. Franz von Sales (Calvet 66 u. 91). Er hat zusammen mitder hl. Theresia und den Oratorianern in Frankreich, in dem es bis dahin(wenn man den hl. Bernhard ausnimmt) keine Mystiker gegeben hat, die ver-schiedenen mystischen Strömungen, die um diese Zeit (durch die vielen Über-setzungen spanischer, italienischer und besonders niederländischer und deutscherMystiker) Frankreich überschwemmten, geklärt, Überschäumendes ausgeschie-den, ihre mächtigen Kräfte aber gefaßt und in einen das christliche Lebenweithin befruchtenden und wertvolle Frucht tragenden Strom vereint. Darü-ber sind sich wohl alle Historiker des religiösen Lebens jener Zeit wie Bre-mond,1 Calvet,2 Cognet,3 Daniel Rops4 usw. einig.

Wenn auch die „Abhandlung“ nicht so viele Auflagen erlebte wie die „An-leitung“, so doch einige noch zu Lebzeiten des Heiligen. 5 Franz von Sales erwähntselbst eine italienische Übersetzung. 6 Dom Mackey zählt noch englische, spanische,deutsche, polnische und lateinische Übersetzungen auf. 7

Es ist auch selbstverständlich, daß dieses Werk nicht so volkstümlich wer-den konnte wie die „Anleitung“. Während diese im 17. Jahrhundert in Hän-den aller religiös Gesinnten war, setzt die „Abhandlung“ doch ein tieferes inner-liches Leben und tieferes Wissen voraus, wie schon der berühmte Vaugelasbemerkt hat. 8 Umso tiefer aber wirkte die „Abhandlung“ in den Kreisen der„Stillen im Lande“.

Die schnelle Verbreitung der Klöster von der Heimsuchung Mariä im 17.Jahrhundert und der Eifer, der in ihnen herrschte, ist sicher auch dem Ein-fluß dieses Werkes zuzuschreiben. Wie viele Schriftsteller und Prediger indie Schule des „Theotimus“ gegangen sind, ist nicht leicht festzustellen. Bremondnennt den Jesuiten Binet, den Bischof Camus, den Pater Hercule, den DominikanerPiny, den Oratorianer J. B. Noullon usw. Nach Daniel Rops hat der hl. Vin-zenz von Paul die definitive Linie seines Lebens durch Franz von Sales gefun-den. 9 Daniel Rops nennt noch den Franziskaner Bona, den Kapuziner Yves von

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Paris, den Dominikaner Charon und die große Ursuline Maria von der Mensch-werdung. 10 Schließlich muß auch Fénelon als großer Anhänger des hl. Franz vonSales genannt werden, wenn er auch in einigen Punkten seinen Meister mißver-standen hat.

II. VOM „ZUSAMMENBRUCH DER MYSTIK“ spricht Bremond anläßlichder Verurte i lung Fénelons , 11 und Cognet benennt se in Werk über denQuietistenstreit „Abenddämmerung der Mystiker“. 12 Tatsächlich ist mit derVerurteilung des Quietismus die Mystik anscheinend zum Stillstand gekommen.Verschiedene Ursachen haben dazu beigetragen:

1. der Quietistenstreit im innerkirchlichen Raum;13

2. die Irrlehre des Jansenismus 14 und der Gallikanismus, in Österreich derstark jansenistisch infizierte Josephinismus;

3. der steigende Einfluß der Freigeister in Frankreich,15 die „Aufklärung“im deutschen Raum, meistens begünstigt durch das Staatskirchentum.

So nimmt es auch nicht wunder, wenn der Einfluß eines diesen Zeiterscheinun-gen total entgegengesetzten Werkes zeitweise zurückgeht. Er lebt gewiß weiterin dem Orden, den der hl. Franz von Sales gegründet hat; er beeinflußt ein-zelne große Persönlichkeiten wie Joh. Bapt. de la Salle,16 den Gründer der Schul-brüder, den hl. Paul vom Kreuz,17 den Gründer der Passionisten, die JesuitenCrasset, die Chinamissionäre SJ. Louis de Gad und Roy,18 und andere.

Aber es sind Einflüsse auf einzelne; die Ströme mystischen Lebens, die vonFranz von Sales ausgingen, scheinen versiegt zu sein.

III. SIE SCHEINEN VERSIEGT ZU SEIN, in Wirklichkeit fließen sie weiter undseit dem Ende des 19. Jahrhunderts brechen sie wieder kraftvoll aus ihrerVerborgenheit hervor. Seit einigen Jahrzehnten können wir mit Freude einstetes Wachsen des salesianischen Einflusses auf das Geistesleben der Christen-heit feststellen.

Gewiß hat dazu wesentlich die Erhebung des Heiligen zum Kirchenlehrer durchPius IX. beigetragen, die wohl die letzten Zweifel an der Rechtgläubigkeitdes hl. Franz von Sales verscheucht hat.

Einen großen Beitrag leistete auch die trotz der Aufnahme einiger Fäl-schungen19 mustergültige Ausgabe der Werke des Heiligen durch die Heimsu-chung von Annecy, die jetzt erst ein gründliches Studium der Werke undbesonders der Briefe des Heiligen ermöglichte.

Dazu kam das Entstehen von Ordensgemeinschaften, die sich unter denSchutz des Heiligen stellten, wie die Missionare des hl. Franz von Sales vonAnnecy, die Salesianer Don Boscos, die Oblaten und Oblatinnen des hl. Franzvon Sales und verschiedene weibliche Kongregationen, wie z. B. die Schwesternvom Guten Hirten, außerdem ein Säkularinstitut des hl. Franz von Sales.

Seit der Jahrhundertwende ist eine Anzahl von Studien über Franz von Salesund im besonderen über die „Abhandlung“ erschienen. Gute Übersetzungenins Englische,20 Deutsche,21 Italienische22 und Spanische23 machen Franz von Salesauch außerhalb des französischen Sprachraumes bekannt.

So stehen wir inmitten eines neuen salesianischen Frühlings. Es ist zu wün-

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schen und zu hoffen, daß er noch viele schöne Blüten und reiche Früchtevertieften innerlichen Lebens zeitigen wird.

E.DIE THEOLOGIE DER „ABHANDLUNG“.

Im Rahmen dieser Hinweise kann nur eine kurze Skizze der Theologie der„Abhandlung“ gegeben werden. Hoffentlich wird daraus ersichtlich sein, daßFranz von Sales nicht nur ein genialer Psychologe, sondern auch ein vollen-deter Theologe war; daß er nicht nur eine volkstümliche Erklärung der theo-logischen Lehren gegeben hat, wie Leclerq behauptet,1 sondern eine großeselbständige Zusammenschau der wichtigen theologischen Fragen.

I. GRUNDLAGE EINES JEDEN THEOLOGISCHEN SYSTEMS muß ein richtigerGottesbegriff sein. Franz von Sales hat nun die Unendlichkeit Gottes mit kräf-tigen Strichen gezeichnet (Abh. 2,1 u. 2), hat die Gerechtigkeit Gottes unterstri-chen, die durch seine Barmherzigkeit gemildert ist (9,1; 10,1; 2,4). Das Hauptan-liegen des Heiligen, sein Zentralgedanke aber ist die Liebe Gottes. Die Liebedrängt Gott, sich uns zu schenken (1,15). Aus Liebe hat Gott in uns dieNeigung gelegt, ihn zu lieben (1,18), aus Liebe hat Gott die Menschwerdungseines Sohnes und die Mitteilung seiner Güte auf Engel und Menschen be-schlossen. Liebe verursachte die Erlösung (2,5). Eine Fülle von Gnaden ergoßGott aus Liebe über die Menschen (2,7). Gott verkündet seine leidenschaftli-che Liebe zu uns. Dauernd ruft er zur Bekehrung auf, so unendlich ist seineLiebe (2,8). Seine Liebe kommt uns zuvor, daß wir ihn lieben (2,9). Es liegtnicht an Gottes Güte, wenn wir nicht einen hohen Grad der Liebe besitzen,denn seine Gnaden ergießen sich überreich auf uns (2,11). Gott zieht uns mitden Banden der Liebe an (2,12) .. . Ich halte inne. Man könnte das ganzeWerk zit ieren, so oft und so eindringlich spricht Franz von Sales immerwieder vom Gott der Liebe.

II. VON EWIGKEIT HER waltet geheimnisvolles Leben in Gott: Zeugung desgöttlichen Wortes vom Vater, die Liebe des Vaters zum Sohn, des Sohnes zumVater, Frucht dieser gegenseitigen Liebe der Heilige Geist. Wenn SchönheitOrdnung in der Mannigfaltigkeit, verbunden mit Glanz, Klarheit und Anmutist, so ist Gott das Urbild der Schönheit, da in ihm „Einheit der Natur in derVerschiedenheit der Personen , dazu eine unendliche Liebesfülle, verbundenmit einem unfaßbaren Ebenmaß aller Vollkommenheiten in Handlungen undBewegungen“ (Abh. 1,4) ist. Diese Herrlichkeit zu schauen, wird einmal unse-re Seligkeit im Himmel sein (3,12 u. 13 – S. I,191-196), die Vollendungunserer Liebe.

III. GOTTES LIEBE ist die Vollendung unserer Liebe zu ihm; sie ist auchder Beginn der Heilsordnung des Menschengeschlechtes. Aus Liebe beschloßGott von Ewigkeit her, die innigste Vereinigung mit einem Geschöpf einzu-gehen, uzw. mit der menschlichen Natur, die dann auch mit der Person desGottessohnes vereinigt wurde. Gott beschloß, die Mitteilung seiner Güte um sei-nes vielgeliebten Sohnes willen auf viele andere Geschöpfe ausströmen zu

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lassen, auf die Engel und Menschen und alle Dinge unseres Herrn wegen,damit Engel und Menschen ihm dienen und dadurch Teilhaber seiner Herrlich-keit werden können (Abh. 2,4 – S. I,108f).

So wäre also nach Franz von Sales und der franziskanischen Schule diezweite göttliche Person Mensch geworden, auch wenn Adam nicht gesündigthätte, d. h. nicht die Sünde Adams und das Erbarmen Gottes, sondern aus-schließlich die Liebe Gottes wäre Ursache der Menschwerdung gewesen. 2

Gott sah aber voraus, daß der mit Willensfreiheit ausgerüstete Mensch sün-digen werde. Und nun setzt das Erbarmen Gottes ein und beschließt, dieVerzeihung zu gewähren. Der Gottmensch Jesus, das Haupt der Schöpfung,sollte zugleich ihr Erlöser werden „durch ein Leben von Liebe und Leid biszum Tod, ja bis zum Tod am Kreuz“ (Abh. 2,4 – S. I,109f).

So wurde alles für diesen himmlischen Menschen geschaffen. Die Sünde Adamskonnte die Planung der Güte Gottes nicht zerstören. „Gottes Barmherzigkeitwurde durch die Sünde Adams nicht besiegt,“ sondern „im Gegenteil, sie wurde nurumso mehr herausgefordert und in die Schranken gerufen ... Besprengt mit demBlut des göttlichen Erlösers, werden wir unvergleichlich leuchtender weiß alsdurch den Schnee der Unschuld“ (Abh. 2,5 – S. I,111-113).

IV. SCHON IN DER EWIGEN PLANUNG der göttlichen Vorsehung stehtneben dem Haupt der Schöpfung, dem Gottmenschen Jesus, seine Mutter Maria.Der Sohn Gottes sollte „auf dem Weg einer außergewöhnlichen Zeugung durcheine Frau ohne Mann Mensch werden“. Dazu erkor er aus allen Frauen Unsereliebe Frau (2,4). So sollte Maria Jungfrau und Mutter Gottes werden.

Zugleich bedachte er Maria mit einem Gnadenvorzug, wie er der Liebe ihresSohnes entsprach. Der Strom der Sünde, der seine Wogen von Geschlecht zuGeschlecht wälzt, sollte sie nicht erreichen. Die unbefleckt Empfangene wur-de auf diese Weise beschenkt mit der Glückseligkeit zweier Zustände dermenschlichen Natur: sie besaß die vom ersten Adam verlorene Unschuld underfreute sich in erhabenster Weise der Erlösung. Außerdem wurde sie durchihren Sohn geschmückt mit Blüten aller Vollkommenheiten und nicht nur vonder Sünde, sondern von jeder Gefahr zu sündigen erlöst (Abh. 2,6).

So feiert denn auch Franz von Sales die „unvergleichliche Liebe der MutterGottes“, die an Vollkommenheit die Liebe aller Himmelsbewohner übertrifft.Weil sie „nie die geringste Sünde beging, gab es bei ihr nur einen ständigenFortschritt in der Liebe“. Auch ihr Schlaf war „ein Schlaf der Liebe“. Sokonnten auch „die Liebesflammen der allerseligsten Jungfrau weder erlöschen,noch abnehmen und gleichbleiben“, sondern nur „sich immer mehr in uner-hörtem Maßstab steigern“. Sie ist die „liebenswerteste, liebendste wie die ge-liebteste Mutter des Sohnes“ (Abh. 9,14 – II,156-159).

Da sie ein Herz und eine Seele mit Jesus war, als einzige Mutter des einzigenSohnes, die kein anderes Leben als das ihres Sohnes hatte, konnte sie auchkeines anderen Todes als des Liebestodes sterben, uzw. eines sanften und fried-lichen Todes, da die himmlische Liebe ihre Herrschaft in ihr ohne Hemmnisseund Widerstände ganz friedlich ausüben konnte (Abh. 7,13 u. 14 – II,68-75),um nun im Himmel auf unvergleichliche Weise die Gottheit zu preisen, kraft-voller, heiliger und schöner als alle Geschöpfe miteinander es je vermögen(Abh. 5,11). 3

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V. WENDEN WIR UNS NUN dem sündigen Menschen zu, so sehen wirwieder die Liebe Gottes am Werk, zunächst, um uns zur heiligen Liebe zuführen .

1. Hier sind drei Kräfte am Werk:a) Unsere Anlage auf Gott, unser natürliches Streben auf Gott hin. Gegen-

über den pessimistischen Anschauungen Calvins, Luthers, später der Jansenisten,ja sogar Bossuets4 und Berulles5 wird Franz von Sales nicht müde, das Wei-terbestehen dieser Anlage auf Gott hin zu betonen und sie als Handhabe zubezeichnen, die Gott benützt, um den Menschen zu wecken.

Franz von Sales kommt immer wieder auf diese innere Beziehung zu Gottzurück. Er hat festgestellt, daß eine innere Beziehung (convenance) zwischenLiebenden sein muß. Diese innere Beziehung kann Ähnlichkeit sein, aberauch gegenseitige Ergänzung, z. B. von Bedürftigkeit und Reichtum (gegenAristoteles und Thomas von Aquin); noch stärker wird die gegenseitige Anzie-hungskraft, wenn beides vorhanden ist (Abh. 1,8).

Nun findet er im Menschen diese innere Beziehung (convenance) zu Gott.Zeugnis dafür geben sowohl die Freude an Gott, die der Mensch fühlt, wenn eran Gott denkt, wie das Vertrauen auf Gott, das sich offenbart, sobald der Menschin einer Gefahr ist. Die Wurzel dieser Freude und dieses Vertrauens ist aberdie innere Beziehung zu Gott, die sowohl auf unserer Ebenbildlichkeit mitGott, wie auf unserer Bedürftigkeit und Gottes unendlichem Überfluß anKraft und Güte beruht (Abh. 1,15). Deshalb neigen wir natürlicherweise dazu,Gott über alles zu lieben. Diese Neigung ging auch nicht durch die Erbsündeverloren, durch die der Mensch wohl schwerstens verwundet, aber nicht totalverdorben wurde. Sie glimmt wie Feuer unter der Asche und wird zur Flamme,wenn sie bloßgelegt wird, und treibt den Willen an, sich zur Liebe Gottesemporzuschwingen (Abh. 1,16). Natürlicherweise sind wir zwar ohnmächtig,Gott über alles zu lieben (Abh. 1,17), aber die natürliche Neigung, Gott zulieben, ist nicht zwecklos in uns; Gott bedient sich ihrer, um sich unser liebe-voll zu bemächtigen. Uns aber ist diese Neigung ein Zeichen unseres erstenUrsprungs (Abh. 1,18; 2,8). 6

b) Gottes Gnadenwirken. Franz von Sales feiert zunächst mit liebeglühen-den Worten die Fülle und Mannigfaltigkeit der Gnade, die Gott über dasganze Menschengeschlecht ergießt, so daß sich niemand vor seinem Erlöser entschul-digen kann, wenn er diese überreiche Erlösung nicht zu seinem Heil verwendet.Jeder Mensch hat seine eigene Gnade, so daß alle Gnaden unter sich verschiedensind. Die Kirche ist einem Garten vergleichbar, geschmückt mit der Lieblich-keit unzähliger Blumen, alle untereinander verschieden an Duft und Schön-heit, zugleich aber vollendeter Harmonie und Pracht (Abh. 2,7). Jesus ver-langt sehnsüchtig danach, daß wir ihn lieben, er verschwendet seine leidenschaft-liche Liebe an uns und befiehlt, daß wir ihn lieben, ermutigt uns dazu, klopftan der Tür, ja verweilt dort, um zu klopfen, bietet die Reichtümer seinerGüte auf, uns zu helfen (Abh. 2,8).

Er kommt uns mit seiner Gnade zuvor. Den ersten Antrieb zur Bekehrungschenkt uns Gott (Abh. 2,9). Willigen wir ein, so kommt Eingebung auf Ein-gebung, Gnade auf Gnade, uns immer mehr zu Gott zu erheben, zur heiligen

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Liebe und zu einem hohen Grad der Liebe zu führen (Abh. 2,10 u. 11). Die LiebeGottes begnadet die Seelen gewöhnlich in milder Weise, zuweilen aber er-gießt sich ein ungestümer Strom von Gnade über die Seelen, aber immer beglük-kend, lockend, mit Banden der Liebe anziehend. Niemals zwingt Gott unserenWillen; seine Macht schenkt uns milde das Können, seine Milde hält macht-voll die Freiheit unseres Willens aufrecht (Abh. 2,12).

c) Unsere Zustimmung zum Gnadenwirken. Gott bietet seine Liebe an, erhört nicht auf, an der Tür unseres Herzens zu klopfen (Abh. 2,8), er kommtuns mit seiner Liebe zuvor durch Eingebungen, die uns zu ihm anlocken (2,9);wir können aber die Einsprechung zurückweisen und Gott unsere Liebe verwei-gern (2,10). Und so ist es auch bei den folgenden Lockungen der Gnade. Es liegtnicht an Gottes Güte, wenn wir nicht einen hohen Grad der Liebe besitzen,sondern nur an uns, wenn wir nicht oder nicht vollständig einwilligen (2,11),denn die göttlichen Lockungen lassen uns volle Freiheit, ihnen zu folgen odersie abzulehnen und seiner verschwenderischen Liebe Widerstand entgegen-zusetzen. Gott weckt uns ohne unser Zutun, er will uns aber nicht ohne unsaufrichten.

2. Der Weg zur heiligen Liebe wird von Franz von Sales entsprechend denDekreten des Konzils von Trient7 dargestellt, die mit seinen Erfahrungen (undes haben doch viele Menschen durch sein Wort zu Gott zurückgefunden!), wie imallgemeinen mit den Erfahrungen der Seelsorger übereinstimmen, die Zeugenund Werkzeuge Gottes bei Bekehrungen sein dürfen.

a) Den Anfang bildet immer eine Einwirkung Gottes auf die Seele, ohne ihrZutun. Der Anstoß kann, wie bei allen Eingebungen Gottes, verschiedenessein: ein Wort der Heiligen Schrift, das Beispiel eines echten Christen, eineErinnerung usw. (s. Abh. 2,9; 8,11).

b) Die zweite Etappe ist aufkeimender Glaube mit ersten Empfindungender Liebe, hervorgerufen durch Gott, der die Seele in seinen Eingebungen dieSchönheit des Glaubens ahnen läßt und dadurch ihr Wohlgefallen daran aus-löst, was bereits ein Beginn der Liebe ist. Da wir eine natürliche Neigung fürdas höchste Gut haben, regt sich in uns die Liebe, sobald der Glaube es unszeigt (2,14 u. 15).

c) Die dritte Etappe ist die Hoffnung. Durch den aufkeimenden Glaubenund die ersten Empfindungen der Liebe wird die Sehnsucht nach dem höch-sten Gut und die Hoffnung wach, da Gott uns die Sicherheit gegeben, daß wirdiese Sehnsucht stillen können. Hoffnung und Sehnsucht haben ihre Wurzelin der Liebe, die zwar wertvoll, aber noch unvollkommen ist (2,15-17).

d) Die vierte Etappe ist Buße und Reue; diese ohne Liebe hatten auch dieHeiden. Eine solche Reue ist jedoch unvollkommen. Wenn aber Liebesmotive dazu-kommen, so wandelt sich die Reue in Liebe um oder ist vielmehr Pforte derLiebe. Das Ende der Reue bringt den Anfang der Liebe (2,18-20).

e) Die fünfte Etappe ist die heilige Liebe , die nur Gott verleihen kann(2,21 u. 22).

VI. WESEN, REICHTUM UND WIRKSAMKEIT DER HEILIGEN LIEBEwerden von Franz von Sales in seinem Buch anschaulich geschildert.

1. Wesen der heiligen Liebe . Dem neuen Zustand, der durch Gottes un-

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mittelbares Wirken im Menschen geschaffen wird, nennt Franz von SalesLiebe, göttliche Liebe, heilige Liebe oder Gottesliebe, die eine auserleseneFreundschaft mit Gott ist (Abh. 2,22). Für ihn ist Gnade und heilige Liebedasselbe. Schon in der „Anleitung“ sagt er: „Die Gottesliebe heißt Gnade, inso-fern sie unserer Seele Schönheit verleiht und uns der göttlichen Majestät wohl-gefällig macht; sie heißt Liebe, insofern sie uns Kraft zum guten Handeln gibt;wenn sie aber jene Stufe der Vollkommenheit erreicht, daß wir das Gute sorg-fältig, häufig und rasch tun, dann heißt sie Frömmigkeit“ (Anl. 1,1).

Für Franz von Sales gibt es also keinen wesentlichen Unterschied zwischenGnade und Liebe. Wie schon oben bemerkt, folgt er hier der franziskanischenSchule, während die thomistische Schule an der wirklichen Verschiedenheitvon Gnade und Liebe festhält. 8 Für ihn bedarf es keiner von der Liebe ver-schiedenen Gnade, sondern die Liebe, die verbunden mit Glaube und Hoffnungdem dazu bereiten Menschen geschenkt wird, wirkt alles, was die Gnade nachSt. Thomas wirkt, und darüber hinaus ist sie nach Franz von Sales noch Ur-grund der göttlichen Tugenden und der Gaben des Heiligen Geistes.

2. Reichtum der heiligen Liebe.

a) Sie umfaßt alles, was die thomistische Theologie der Gnade und der Liebezuschreibt :

1) der Gnade: die Lebensverbundenheit mit Christus. Wir sind durch dieLiebe mit unserem Erlöser verbunden, wie die Glieder mit dem Haupt. Darausverdienen unsere guten Werke das ewige Leben, weil sie aus ihm ihren Wertschöpfen (Abh. 11,6) . Unsere Werke s ind ger ing, s ind aber Gott ihrerGüte nach angemessen durch den Heiligen Geist, der durch die Liebe in unserenHerzen wohnt und sie in uns, durch uns und für uns wirkt. Der Heilige Geistwohnt aber in uns, wenn wir lebendige Glieder Jesu Christi sind (ebda II,240).– So ist das menschliche Herz durch die himmlische Liebe von der Welt „inGott hineinverpflanzt“ (7,1). Voraussetzung für ein stetes Sichweiten in derGottheit, was durch das Gebetsleben geschieht (ebda). – Durch die Liebewiedergeboren, sind wir Kinder Gottes eben auch durch die Liebe. Haben wirgesündigt, so sind wir durch die Rückkehr der Liebe wieder in den Stand derKinder Gottes zurückversetzt und folglich der ewigen Glorie fähig. 9

2) Was Thomas der Liebe zuschreibt, wirkt die Liebe natürlich auch in derLehre des hl. Franz von Sales. Sie ist Freundschaft mit Gott (Abh. 2,22 – I,158-160). Sie vervollkommnet die Liebe zu übernatürlicher Tätigkeit, sieist ja wesentlich eine tätige Eigenschaft und kann nicht lange ohne Tätigkeitsein, ohne zu sterben (4,2). – Den Tätigkeiten der Liebe sind ja schließlich fünfBücher der „Abhandlung“ (V-IX) gewidmet und Großteile der anderen Bücher. 10

b) Sie is t der Urquel l der vier s i t t l ichen Tugenden . Sie s ind nach Franzvon Sales der Seele durch die Liebe geschenkt und nicht der Seele in besonde-rer Weise eingegossen, wie St. Thomas lehrt. Auch hier folgt Franz von Saleswieder Scotus und Bellarmin. – Da aber diese vier Tugenden alle anderen umfas-sen, wurzelt das gesamte Tugendleben nach Franz von Sales in der Liebe.11

c) Sie is t auch Urgrund der s ieben Gaben und der Früchte des Heil igenGeistes. Nicht nur das gewöhnliche christliche Leben, auch die höchste Heiligkeit,

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das heroische Tugendstreben fußt auf der Liebe; Franz von Sales hält es nichtfür nötig – wie Thomas von Aquin –, noch besondere, von Gott eingegosseneGaben des Heiligen Geistes anzunehmen. Sie wirken gewiß nach Franz vonSales (wie auch Thomas lehrt) dahin, den Christen zur gefügigen Annahmeder Führung des Heiligen Geistes zu bereiten und damit ihn zu immer höhererVollkommenheit zu führen. Aber sie sind für ihn nicht eigene, von der Liebegetrennte Gaben, sondern einfach Eigenschaften der Liebe, die uns ja durch denHeiligen Geist geschenkt ist. 12 – Dasselbe ist nach Franz von Sales von denFrüchten des Heiligen Geistes und den acht Seligkeiten zu sagen. 13

d) das ganze geistliche Leben besteht aus Tätigkeiten der Liebe. Glaube undHoffnung sind überaus wichtige Voraussetzungen, die Liebe aber ist die großeKraft, die alles beseelt und zu immer tieferer Vereinigung mit Gott im Betenund Wirken antreibt.

3. Wirksamkeit der Liebe.

a) Die ersten Auswirkungen der Liebe sind das „Wohlgefallen“ an Gott, dieFreude an Gott, und das „Wohlwollen“. Die unendliche Schönheit und GüteGottes lassen uns Gefallen an ihm finden. Freude an Gott treibt dann an,Gott zu loben und alle zum Gotteslob aufzurufen (V. Buch). Wohlgefallen anGott drängt zu immer stärkerer Vereinigung mit ihm, zur Vereinigung desHerzens durch ein intensives Gebetsleben und Vereinigung des Willens mitdem Willen Gottes. Wohlwollen äußert sich im Lob Gottes und im Wirken fürGott durch Erfüllung seines Willens, durch Eifer für Gott, durch ein Leben,ganz von der Liebe getragen (V. Buch; ferner 8,1 u. 2).

b) Die Tätigkeiten der Liebe im Gebet vom einfachen Herzensgebet überBetrachtung und Beschauung, über die verschiedenen Stufen der Vereinigung mitGott im Gebet bis zur Ekstase behandeln das VI. und VII. Buch der „Abhand-lung“. – Ich verweise auf die Analyse (S. 329ff) und die Anmerkungen dazu(S. 364ff).

c) Die Tätigkeiten der Liebe in der Erfüllung des geoffenbarten göttlichenWillens. Auch hier öffnet sich ein weites Feld für die Betätigung der Liebedem Willen Gottes gegenüber, der sich in seinen Geboten, Räten und Eingebun-gen offenbart (VIII. Buch; s. auch Analyse S. 331f und Anmerkungen S. 366f).In der Erfüllung des göttlichen Willens gibt es verschiedene Stufen (Abh.8,4 u. 5), aber gemeinsam muß allen sein, daß Gott über alles geliebt werdeund in der Erfüllung des geoffenbarten göttlichen Willens keine Ausnahmegemacht werde (8,6-9).

Die Liebe zu Gott schließt auch die Nächstenliebe ein, weil ja die Menschennach dem Bild Gottes geschaffen sind (8,11 – II,198-200), und treibt zumEifer an, der die Glut der Liebe ist und für Gott arbeiten, leiden und allesbekämpfen läßt, was Gott entgegen ist, allerdings in aller Ruhe und Sanftmut,maßvoll und beharrlich (8,12-16 – II,200-219).

d) Die Tätigkeiten der Liebe in Ergebung und heiligem Gleichmut gegenüberdem, was Gott verfügt oder zuläßt; uzw. durch Ergebung in Freud und Leid,auch in den schwersten seelischen Leiden (9,1-3), und durch den heiligenGleichmut in allen Dingen, auch in dem, was den Dienst Gottes und unserenFortschritt in den Tugenden betrifft;14 in der Zulassung der Sünden (die man

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als Beleidigung Gottes verabscheut und bereut, als Demütigung aber willigannimmt, wenn wirklich die Liebe Gottes sie uns bereuen läßt, nicht Eitelkeitoder Ehrsucht). So stirbt zwar der Eigenwille, aber unser Wille geht ein inden Willen Gottes, will nur mehr den Willen Gottes, was er will und wie erwill, was die höchste Entfaltung der Liebe, die edelste Betätigung unseresWillens ist (9,14-16).

e) Die Tätigkeit der Liebe in allen Handlungen unseres Lebens. Die Gottes-liebe heiligt und adelt alles, was wir tun, unsere natürlichen Tugenden, derenWert sie erhöht, besonders wenn sie auf ihren Befehl geübt werden. Bei größererLiebe werden die kleinsten Tugendakte wertvoller als selbst die höchsten Tu-gendakte mit weniger Liebe. Wenn auch die Gegenwart der Liebe allein schonalle Handlungen wertvoll und verdienstlich macht, so werden sie doch umsowertvoller, je mehr die heilige Liebe sie verursacht oder deren Beweggrund ist. –Herrscht in dieser Weise die Gottesliebe im Herzen, so unterwirft sie sichköniglich jede andere Liebe und besonders die Eigenliebe, die immer im Kampfmit der Gottesliebe steht, und macht sich alle Leidenschaften dienstbar; sieist eine heilige Alchemie, die alles in Gold verwandelt (XI. Buch, bes. 2-6 ; 13 -14 ; 20).

VII. WACHSEN UND VERFALL DER LIEBE.1. Wie bei der Geburt der himmlischen Liebe haben wir auch hier das Zusam-

menspiel von drei Gegebenheiten: a) die heilige Liebe (wohl auch in der Ver-bundenheit mit der Anlage auf Gott) – b) die ständige Gnadenhilfen Gottes –c) unser Jasagen zu Gottes Einwirkungen auf uns.

a) Die heilige Liebe, das große Geschenk Gottes, die alles heiligt, was wir tun,auch wenn wir es nicht bewußt aus Liebe tun, aber umso mehr, je stärker dieheilige Liebe Beweggrund unseres Tuns ist, – die als tätige Kraft uns antreibtzu einem immer tieferen Leben mit Gott, zu einer immer tieferen Gebets- undLiebesverbundenheit mit ihm, zu einer immer treueren Erfüllung des göttlichenWillens und zu einer immer innigeren Hingabe an Gott, zum heiligen Gleichmut,zum seligen Ersterben unseres Eigenwillens im heiligen Willen Gottes (s. obenVI).

b) Gottes Gnadenhilfen, die uns bis zum Empfang der heiligen Liebe begleiten,stehen uns weiterhin bei im Streben nach Vollkommenheit der Liebe. – GottesGnaden ergießen sich überreich auf uns. Es liegt nicht an Gottes Güte, wennwir nicht einen hohen Grad der Liebe besitzen, wenn wir nicht (sagt die hl.Theresia, und Franz von Sales stimmt ihr zu) über das Gebet der Ruhe (dasbereits eine hohe Stufe der von Gott eingegossenen Beschauung ist) hinausge-langen (Abh. 2,11).

Diese Gnadenhilfen sind zunächst Gottes Eingebungen, auf die Franz vonSales großes Gewicht legt (schon in der Anl. 2,18; ferner Abh. II. Buch, Kap.9, 10, 11, 12, 21; VIII . Buch, Kap. 10, 11-13) . „Die Eingebung is t e inhimmlischer Strahl, der ein warmes Licht im Herzen leuchten läßt, durchden wir das Gute sehen und zu eifrigem Streben danach erwärmt werden.Ohne Eingebung würde unsere Seele träge und lau. Gottes Atem erwärmt underleuchtet uns“ (Abh. 8,10).

Außerdem stärkt uns Gott, stützt uns, festigt uns, hilft uns in Versuchungen,

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stärkt uns, wenn er uns zu besonders erhabenen Taten anspornt, hält uns an derHand oder trägt uns, bewirkt in uns das Wollen und Vollbringen. In dieserFührung Gottes (um die wir beten, der wir großes Vertrauen entgegenbringensollen) liegt die große Gabe der Beharrlichkeit (Abh. 2,3 u. 4). Hat Gott dieSeele so bis zum Lebensende geführt, dann steht er auch noch in seligemSterben bei (Abh. 3,3-5).

c) Unser Jasagen zu Gottes Gnadenwirken. Wir empfangen Gottes Gnadenvergeblich, wenn wir sie nicht ins Herz einlassen. Willigen wir zwar ein, abernicht vollständig, so wird der Nutzen der Gnade dem Maß der Einwilligungentsprechen. Warum sind wir nicht Heilige? Weil wir unsere Freiheit mißbrau-chen (Abh. 2,11). – Wir können Gottes Eingebungen zurückweisen und soGott unsere Liebe verweigern (Abh. 2,0). Selig sind wir, wenn unser Herz fürGottes Eingebungen aufgeschlossen ist (Abh. 8,10) und wenn es sich nichtvom bösen Feind durch angeblich Besseres ablenken läßt, sondern mutig dasdurchführt, wozu Gott es angelockt hat (8,11).

Auch den Gnadenhilfen Gottes gegenüber, durch die er uns stärkt, könnenwir unser Herz verschließen, wenn wir nicht beten und nicht „die Mittel ge-brauchen, durch die wir sie nach Gottes Weisungen erlangen, nämlich Gebet,Fasten, Almosen, Sakramentenempfang, Verkehr mit guten Menschen, Anhörenund Lesen der Heiligen Schrift.“ So liegt es in unserer Macht, auszuharren,denn die himmlischen Gnaden fehlen nie unserem Wollen, solange unserem Kön-nen nicht unser Wollen fehlt (3,4).

2. Das Wachsen der Liebe.

a) Sie kann wachsen und muß wachsen, soll sie nicht unterliegen. Daschristliche Leben ist Nachfolge Christi; damit ist gesagt, daß wir hier aufErden stets in der Liebe vorwärtsschreiten müssen, da Jesus immer unendlichhöher sein wird, als wir es je werden können. Wahre Tugend kennt keineGrenzen, ganz besonders aber die heilige Liebe, „die die Tugend der Tugendenist“ (3,1).

b) Der Herr hat das Wachsen der Liebe leicht gemacht. Auch die geringstenguten Werke sind, selbst wenn sie etwas lässig und nicht mit voller Liebes-kraft verrichtet werden, Gott angenehm und werden auch in dieser Welt so-gleich15 durch Vermehrung der Liebe und in der anderen durch größere Herr-lichkeit belohnt. So soll auch ein liebendes Herz mit großem Eifer kostbareWerke vollbringen, damit durch sie seine Liebe kräftig werde; bringt es jedochnur geringere Werke hervor, so werden auch diese nicht ohne Belohnung sein,und Gott wird dieses Herz noch ein wenig mehr lieben, und Gott liebt eineSeele, die die heilige Liebe besitzt, nicht noch mehr, ohne ihr auch wiedermehr Liebe zu schenken, da ja unsere Liebe zu ihm die Wirkung seiner Liebezu uns ist (Abh. 3,2).

c) So wirkt also alles, worin die Liebe tätig ist, Fortschritte in der Liebe:Gebet, Erfüllung göttlichen Willens, Hingabe an den göttlichen Willen, jedeTugend, jede Handlung, im Zustand der Liebe getan, und besonders nur ausLiebe getan (s. oben), natürlich und in erster Linie das heilige Meßopfer, dieheiligen Sakramente, wenn auch Franz von Sales in der „Abhandlung“ davon

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wenig spricht, weil er darüber ausführlich in der „Anleitung“ geschrieben hat. 16

3. Der Verfall der Liebe und ihr Untergang.a) Daß wir sie verlieren können, steht fest. Traurige Beispiele davon zeigen

uns die heiligen Schriften, aber auch das tägliche Leben. – Ist die Liebe untätigund unfruchtbar, dann erkaltet sie, wird immer schwächer, so daß sie baldkaum noch einer Tätigkeit fähig ist; sie verkümmert und läßt sich zu Gewohn-heitssünden, wenn auch läßlicher Natur, gehen. Der Glaube steht nicht mehrSchildwache; wird sie dann durch sinnenhafte Reize verführt, von Versu-chungen überrumpelt, durch Scheingüter angelockt, so erliegt sie schließlichund begeht schwere Sünden, die immer in irgendeiner Form Eigenliebe sind,die bis zur Verachtung Gottes führt. Und dann ist die Liebe in einem Augen-blick dahin.

Das ist die traurige Geschichte des Verfalls und Untergangs der Liebe,die Franz von Sales in den Kapiteln 1-4 des IV. Buches der „Abhandlung“beschreibt. – Die Schuld an diesem tragischen Geschehen trägt einzig undallein der freie Wille des Menschen (4,5-8).

VIII. DIE VOLLENDUNG.1. In diesem Leben können wir nicht zur vollkommenen Liebesvereinigung mit

Gott gelangen; diese findet erst im Himmel statt, wo die Seelen, die glück-lich in den Hafen der Ewigkeit gelangen, die höchste Stufe der Liebe erreichen,die sie erklimmen können, die immer höher ist, als sie es verdient haben. JedeSeele wird im Himmel mehr Liebe haben, als sie je auf Erden besaß (Abh.3,6 u. 7).

2. Diese Liebe ist stark, beständig, unverletzbar, kann weder aufhören nochnachlassen. Ihre Absicht ist immer rein und lauter (Abh. 3,7; 10,2). So istmehr Seligkeit der Liebe bei den Himmelsbewohnern als unter den Erdenpil-gern, wenngleich es Menschen gegeben hat, deren Liebe während ihres irdischenLebens die Liebe mancher Heiliger im Himmel übertraf; vor allem war dies derFall bei der Mutter Gottes (Abh. 3,7 u. 8).

3. Die Freude und Seligkeit des Himmels wird umso größer sein, je drängenderund mächtiger die Sehnsucht danach im irdischen Leben war (Abh. 3,10), jestärker das Verlangen auf Erden war, Gott zu loben und gelobt zu sehen,und je mehr die Seele alles Ungenügen menschlichen Gotteslobs empfundenund daher Ausschau gehalten nach dem Gotteslob im Himmel durch die Heiligen,besonders durch die Mutter Gottes, durch den Gottmenschen und schließlichdurch den Dreieinigen Gott selbst (Abh. 5,10-12).

4. Im Himmel schauen die Seligen die Gottheit selbst ohne das Mittel einesAbbildes oder einer Vorstellung. Ist schon der Glaube beglückend, um wievielmehr wird es das Schauen der Unendlichkeit Gottes sein (Abh. 3,11), dasSchauen der ewigen Vorgänge in der heiligsten Dreifaltigkeit, der ewigenZeugung des Wortes, des ewigen Hervorgehens des Heiligen Geistes (Abh.3,12 u. 13). Wir werden diese Quelle der Seligkeit nicht aus der Ferne, wiejetzt im Glauben ahnen, sondern wir werden in sie hineingetaucht und siekraft des Lichtes der Glorie schauen.

5. Dieses Glorienlicht hat verschiedene Grade, die dem Maß unserer Liebeauf Erden entsprechen. Alle schauen im Himmel Gottes ganze Wesenheit,aber keiner in ihrer ganzen Unermeßlichkeit, und es wird ewig unsere Freude

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sein, zu sehen, wie die Höhen Gottes so unendlich hoch und die Ozeane derWeite Gottes so unendlich weit sind, daß wir sie nie in ihrer ganzen Unend-lichkeit genießen können. So werden die Seligen durch zwei Wirklichkeitenzur Bewunderung hingerissen: Die erste ist die unendliche Schönheit, die sieschauen, die andere ist der Abgrund von Unendlichkeit, den es noch in derselbenSchönheit zu schauen gäbe (Abh. 3,15).

6. Aber nicht alle gehen ein in die Herrlichkeit Gottes; so ist es schmerzlichePflicht, einen Blick auch auf die zu werfen, die Gottes Liebe verachten und inihrer Halsstarrigkeit zugrundegehen. Auch sie hat die Liebe Gottes verfolgt,hat nicht aufgehört, an ihren Herzen zu pochen (Abh. 2,8); sie aber habenihn abgewiesen und taten nicht Buße; alle Schuld ist ihnen zuzuschreiben(Abh. 2,10; 4,5; 4,7 u. 8).

Gott wird ihnen am Tag des Gerichtes einprägen, was sie Großes verlorenhaben. Und das wird ihre furchtbare Qual sein, in alle Ewigkeit den nicht liebenzu können, dessen Herrlichkeit sie blitzartig gesehen (Abh. 10,1), wenngleichauch noch in ihrem unseligen Zustand Gottes Barmherzigkeit seine Gerechtigkeitmildert. Wären die Verdammten nicht durch ihre Halsstarrigkeit und ihrenHaß gegen Gott geblendet, würden sie in ihren Peinen Trost f inden, zusehen, daß auch ihre Strafe wunderbar mit göttlicher Barmherzigkeit ver-mengt ist, da ihre Peinen viel geringer sind als die Schuld, für die sie verhängtwurden (Abh. 9,1).

IX. ZUSAMMENFASSEND LÄSST SICH FOLGENDES FESTSTELLEN:

1. Die Theologie der „Abhandlung“ ist eine festgefügte, einheitlich durch-dachte Zusammenschau der großen theologischen Wahrheiten, alles konzentriertum die Liebe Gottes zu uns und die von ihm geschenkte übernatürliche Liebe.

Überzeugt von der Macht der natürlichen Liebe über den ganzen Menschen,hat Franz von Sales mit Recht dieselbe allgemeine, alles umfassende Machtder übernatürlichen Liebe zuerkannt, die aus Gottes unendlicher Liebe fließend,Quelle des gesamten übernatürlichen Lebens, aller Tugenden, ja auch des Hero-ismus im christlichen Leben ist. Er konnte sich dabei auch auf ausdrücklicheAussprüche des Herrn wie des hl. Paulus stützen und hat dies auch ausgiebiggetan.

Diese gewaltige Synthese ist allmählich geworden . P. Leidenmühler zeigtin seiner oft zitierten Dissertation, wie Franz von Sales zunächst den wirk-lichen Unterschied von Gnade und Liebe annahm, aber bereits nicht mehr beiAbfassung der „Anleitung“; wie er dann bei der ersten Niederschrift der „Ab-handlung“ noch annahm, die übernatürlichen sittlichen Tugenden seien eigenevon Gott eingegossene Tugenden, zwei Jahre später sie aber nur mehr als in derLiebe enthalten (Impulse der Liebe) betrachtete. Er zeigt, wie Franz von Salessich sorgfältig mit den von ihm hochverehrten heiligen Kirchenlehrern Augusti-nus, Thomas und Bellarmin auseinandersetzt und seine eigenen Wege geht, aberstets seine Ansichten auch beweist, vor allem aus der Heiligen Schrift.

2. Obwohl die „Abhandlung“ zum Thema die Gottesliebe hat, berücksich-tigt sie doch sehr bewußt die geistigen Strömungen ihrer Zeit; vor allem diezwei damals vorherrschenden: den Humanismus und den calvinistisch-luthera-

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nischen Pessimismus. Den Humanismus sowohl in seiner positiven wie negati-ven Seite. Franz von Sales bejaht die menschliche Natur; ein gesunder Opti-mismus, eine frohe Stimmung beherrscht das ganze Werk.

Für Franz von Sales ist aber Humanismus nicht Pelagianismus. Die Fähig-keiten des Menschen sind beschränkt; er benötigt Gottes wiederholtes Eingreifen,um zur Liebe zu gelangen; diese selbst ist Gottes Gnadengeschenk, d. h. GottesKraft wirkt durch sie. Außerdem benötigt der Mensch Gottes Eingebungenund vielfach auch Gottes Gnadenhilfen. – Er ist wohl Gottes Ebenbild undhat eine wertvolle Anlage auf Gott hin, ist aber zugleich durch die Erbsündeverwundet und damit dem Mißbrauch seiner Freiheit ausgesetzt.

Die zu seiner Zeit vorherrschende Überschätzung des griechischen Heidentumsdämpft Franz von Sales durch kritische Beobachtung von dessen Schwächen, ob-wohl er auch das Gute anerkennt und den großen Männern der Antike, Sokrates,Platon, Aristoteles, Epiktet, seine Bewunderung nicht versagt.

Der Pessimismus Calvins und Luthers ist für ihn entschieden der Feind.Die ganze Haltung seines Werkes bezeugt es. Damit baut Franz von Salesauch ein Bollwerk gegen den Jansenismus, die kommende eisige Häresie.

Die Freigeisterei (Libertinismus) ist erst ein Produkt der späteren Zeit, konntealso vom Heiligen nicht ausdrücklich berücksichtigt werden. Ist aber seinWerk nicht schon indirekt eine Apologie durch seine leuchtende Darstellung derLiebe Gottes zu uns und ihrer Wirkung in uns, der göttlichen Liebe? WennLeclerq dem Heiligen ankreidet, daß er in der damals so bewegten Zeit langeSeelenführungsbriefe schreibt, sieht er denn nicht, daß Franz von Sales ebendadurch, wie Calvet hervorhebt, ganz Wesentliches und damals wie heute Not-wendiges für das Christentum getan, nämlich es in das Leben hineingestellt,das Leben also sozusagen entlaizisiert hat?

3. Franz von Sales hat einem befreundeten Theologen, dem reformiertenZisterzienser (Feuillant) Dom Eustache de Saint-Paul Asseline, einige guteRatschläge für die Abfassung eines Werkes der Theologie gegeben, unter ande-rem, er solle sein Werk in einem herzlichen Stil schreiben (un stil affectif),17 d.h. wohl, er solle sein Herz, seine Frömmigkeit in seinem Buch zu Wort kom-men l a s s en . Das t u t n u n Fr a n z v o n S a l e s i n m e i s t e r h a f t e r We i s e . E rg i b t keine trockene Darlegung theologischer Anschauungen; alles vibriertförmlich von Gebetsgeist und Liebe zu Gott und den Seelen. Wo auch immerman das Buch aufschlägt, immer wieder findet man diese dem Heiligen charakte-ristische Eigenschaft. Man lese z. B., was Franz von Sales aus den vom Konzilvon Trient knapp und trocken angeführten Etappen des Menschen bis zurRechtfertigung gemacht hat. – Diesen Stil „salbungsvoll“ nennen, wie es zu-weilen geschieht, ist eine Ungerechtigkeit gegen den Heiligen. Sein Stil istbarock, gewiß, manchmal überladen im Geschmack der Zeit, aber immer männ-lich, kraftvoll, freilich auch gemütvoll und echt fromm, was aber nichts mitSalbung zu tun hat.

4. Eine weitere wertvolle Eigenschaft der Theologie des hl. Franz von Sales istihre Bildhaftigkeit. Die abstraktesten Begriffe der Schultheologie bekommenFarbe und Plastik durch die vielen Bilder, mit denen er sie greifbar und sicht-bar macht, worin ihm übrigens die Heilige Schrift das große Vorbild ist, be-sonders die Worte Jesu, aber auch die Schriften des hl. Paulus, Johannes und

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das ganze Alte Testament, die von Bildern übersät sind. – Freilich, auch dagibt es kleine Schönheitsfehler: manchmal eine zu große Fülle von Bildern,manche Bilder, die unserem Geschmack nicht entsprechen; das soll aber nichthindern, die bildhafte Sprache des hl. Franz von Sales als einen großen Vorzugseines Werkes zu sehen.

Daß es heute wohl nicht mehr notwendig ist, die absolute Rechtgläubigkeitder salesianischen Theologie zu verteidigen, wird wohl einleuchten, nachdemdie Kirche den Heiligen zum Kirchenlehrer erhoben hat. – Da es aber doch nocheinige Unklarheiten in der Frage des Quietismus zu beseitigen gibt, muß hiernoch einiges über den Quietismus selbst und das Verhältnis des Heiligen zumQuietismus gesagt werden.

F.DER QUIETISMUS UND FRANZ VON SALES.

Immer noch wird in verschiedenen Werken Franz von Sales als Quietistbezeichnet. 1 Da dies jedenfalls von ungenügender Kenntnis des Quietismusherrührt, muß zunächst der Begriff des Quietismus selbst geklärt werden.

I. WAS IST QUIETISMUS?2 Die Bezeichnung kommt von quies (= Ruhe)und besagt im allgemeinen, daß die Ruhe sowohl im Gebet wie im Leben derbeherrschende Zustand sei, jede geistige Aktivität also ausgeschlossen ist. DerQuietismus ist an sich eine uralte Irrlehre, deren Wurzeln bis in den indischenBrahmanismus und Buddhismus hinunterreichen, die dann durch die Stoa unddurch Plotin in die hellenistische Welt eindrang und in verschiedenen Periodender christlichen Zeit in eigenartigen Sekten aufscheint: den Euchiten oderMessalianern (4. Jahrhundert), den Hesychasten (11. Jhdt.), den Brüdern desfreien Geistes (13. Jhdt.), bei einer Anzahl von Begarden und Beginen (13. /14. Jhdt.), bei Luther, bei den spanischen Alumbrados (16. Jhdt.). Allen diesenSekten sind pantheistische und sexuelle Tendenzen gemeinsam, dazu meistensdie Mahnung zur vol ls tändigen Ruhe des Geistes , zur Entblößung vonallen Vorstellungen, Akten, Widerständen gegen Versuchungen, besonders se-xueller Art, denen nachzugeben, Gottes Wille sei. 3

II. DIE „VORLÄUFER DES QUIETISMUS“. 4 Es sind durchwegs frommeMenschen, deren Bücher lange Zeit viel Anklang fanden, aber nach der Verurtei-lung des Molinos zum Teil auf den Index kamen. Zu diesen „Vorläufern desQuietismus“ werden gezählt: In Spanien der ehrwürdige Johann Falconi (†1638);in Italien eine Dame aus Mailand (1552-1624), die das weitverbreitete „Brevecompendio intorno alla perfezione cristiano“ (wahrscheinlich in Zusammen-hang mit P. Gagliardi SJ.) herausgab,5 der Kardinal Petrucci, dessen Werkenach der Verurteilung Molinos’ indiziert wurden; in Frankreich Benoit de CanfeldO. Cap., ferner der heiligmäßige blinde Laientheologe von Marseille Malavalund der französische Schatzmeister von Caen, Jean de Bernière. – Die Ehren-rettung einer Anzahl von ihnen ist im Gang, so von Benoit de Canfeld,6 Mala-val7 und Bernière. 8

Man warf ihnen vor, daß sie dem extremen Quietismus die Wege bereitethätten durch eine Überbetonung der Beschauung, die nach ihnen für alle

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bestimmt sei; durch eine Unterschätzung der Aktivität, durch eine zu passiveHaltung auch bei Tugenden und gegenüber Versuchungen; daß sie Ratschläge, dieHeilige für bestimmte von Gott veranlaßte Zustände gegeben, unterschiedslosallen weitergegeben und durch eine Überbetonung der reinen Gottesliebe zueiner Entwertung der Hoffnung führen mußten. Das alles seien zwar nichtdirekte Irrtümer, wohl aber Tendenzen, die zu Irrtümern führen konnten undauch geführt hätten.

III. DER SPANIER MICHAEL MOLINOS (1628-1696)9 gilt als Exponent desextremen Quietismus. Er stand zunächst in höchstem Ansehen in Spanien undspäter in Rom, wurde aber von 1676 an heftig angegriffen, 1687 verurteilt undeingekerkert; er starb 1696 im Gefängnis. Sein Hauptwerk „Guia espiritual“(=Geistlicher Führer) enthält wohl Übertreibungen, aber eigentlich keine Häre-sien. Diese wurden aber durch Zeugenaussagen und in seinen Briefen fest-gestellt. Zeugen sagten vor Gericht aus, daß er sie auch in einem ausschweifen-dem Leben verwirklicht habe, und Molinos gestand ein, daß er 20 Jahre hindurchein ausschweifendes Leben geführt und während dieser Zeit nie gebeichtethabe. 10

Die Irrlehren, die Molinos in Gesprächen und Briefen verbreitet hat, wurdenin 68 Sätzen zusammengefaßt und von Innozenz XI., der ihn früher geschätzthatte, feierlich verurteilt. Es ist schwer, sie in wenigen Sätzen wiederzugeben.Der Grundirrtum ist seine Auffassung von der Beschauung. Diese sei allenzugänglich, sie sei eine total passive Hingabe an Gott, die alle Gebete, Tu-gendakte, Beichten, Widerstände gegen Versuchungen ausschließe. Die Sün-den wären Werke Satans, denen gegenüber man passiv bleibt, d. h. sie in sichgeschehen läßt, auch die ärgsten geschlechtlichen Verirrungen. – Aktivität seiminderes Christentum, ebenso das Streben nach dem Himmel, weshalb dieTugend der Hoffnung gegenstandslos würde. Nur die „reine Liebe“, die keinenBeweggrund außer Gott kenne, läßt Molinos gelten.

IV. DER BARNABIT LA COMBE (1634-1699) scheint wie Molinos nichtso sehr in Büchern als in Briefen ähnliche Lehren wie Molinos zu haben, auchwas die Sünden betrifft. Diese scheint er aber nicht für Teufelswerk, sondernfür eine Zulassung Gottes angesehen zu haben, der man zur eigenen Demüti-gung nachgeben müsse, als Folgerung aus der totalen Hingabe an Gott. 11

V. FRAU JEANNE MARIE BOUVIER DE LA MOTTE GUYON (1648-1717),12 von ihren Eltern schon 1664 mit einem ungeliebten Mann verheiratet, wurdenoch zu Lebzeiten ihres Mannes, kaum 20 Jahre alt, in Paris in eine reinabstrakte Form der Beschauung eingeweiht, schließlich durch ihren Bruder, derBarnabit war, mit dem oben genannten P. La Combe bekannt gemacht. 1674begann eine Zeit großer Prüfungen, körperlicher Schwäche und innerlicher Ver-lassenheit, in die auch der Tod ihres Mannes (1676) fällt. 1680 ist sie von ihrerinneren Prüfung befreit und beginnt nach einem kurzen Zwischenspiel in Gexdie Zeit ihres „mystischen Apostolates“, im Verein mit P. La Combe zuerst,mit Fénelon später.

Hier können nur die wichtigsten Etappen ihres Lebens und Wirkens ge-nannt werden. 13 1682 hält sie Exerzitien bei P. La Combe in Thonon. Sie

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schreibt „Les Torrents“ (= Die Wildbäche; Bild für die Seelen, die sich durchdie Beschauung in Gott hineinstürzen), Beschreibung des passiven Seelenzu-standes. 14 Erneut schwere Krankheit. Sie fühlt sich als kleines Kind in Abhän-gigkeit vom Jesuskind; entdeckt ihre „geistliche Mutterschaft“; ihre Mission sei,viele Seelen für das mystische Leben zu gebären.

1683 glaubt sie, in einer Vision sich als das von der Sonne bekleidete Weibder Geheimen Offenbarung zu sehen; entdeckt auch in dieser Zeit angeblich„stillschweigende Verbindungen“, die „Sprache der Engel“, durch die sie auchmit fernen Personen in Verbindung zu stehen glaubt. Sie gewinnt in ThononAnhängerinnen ihrer Ideen und muß die Stadt verlassen.

Im Herbst 1683 kommt sie mit P. La Combe nach Turin, aber auch dortkann sie nicht bleiben. Im Frühjahr 1684 siedelt sie nach Grenoble über, wosich bald viele Laien, Priester und Ordensleute um sie sammeln. In Grenobleschreibt sie auch unablässig, in sechs Monaten eine Erklärung des ganzen Al-ten Testamentes, davon in eineinhalb Tagen die Erklärung des Hoheliedes,dann ihre berühmteste Schrift: „Moyen court et très facile pour l’oraison“ (=Kurzes und ganz leichtes Mittel für das innerliche Gebet), das auch in Grenoble1685 gedruckt wurde.

1686 mußte sie auch von Grenoble wegziehen und kam nach Paris. IhreFeinde erreichten, daß zuerst P. La Combe (1687) in der Bastille eingekerkert undschließlich sie selbst (Ende Januar 1688) im Kloster der Heimsuchung inter-niert wurde. Ergebnislos mehrmals verhört, erbaute sie in dem Kloster durchFrömmigkeit und freundliches Wesen, wurde Ende August wieder freigelassenund traf bald mit Fénelon zusammen.

Fénelon war zunächst etwas mißtrauisch; aber nach einigen Tagen war erfür ihre Ideen gewonnen und verehrte sie immer als hochbegabte, begnadeteSeele. Was ihn an ihr anzog, waren nicht ihre Schriften, sondern ihre Erfah-rung im Innenleben. Ihre Beziehungen zueinander blieben immer ganz rein,aber allmählich wird er ihr Schüler, wenn er auch zugleich ihr hilft, einige Unebenhei-ten in ihren Anschauungen abzustreifen.

Zur selben Zeit wurde Fénelon in den Kreis der geheimen Gattin LudwigsXIV., Mde de Maintenon, eingeführt, gewann ihr Vertrauen und mit ihm auchFrau Guyon, die nun ihre Ideen hemmungslos verbreitete, besonders im KlosterSaint-Cyr von 1689-1693. Um 1693 wurde Frau von Maintenon mißtrauischund suchte Frau Guyon und ihre Ideen von Saint-Cyr fernzuhalten. Dergroße Bischof Bossuet sollte ihr dabei helfen.

Bossuet, Feind Fénelons und Vertrauensmann der Frau von Maintenon,wurde also beauftragt, Frau Guyons Leben und Lehre zu untersuchen. – Damitbeginnt eine tragische Wendung im Leben Fénelons und der Frau Guyon.

Es ist hier nicht am Platz, die einzelnen Phasen dieser leidigen Affäre zuuntersuchen. Cognet hat dies in seinen „Crépuscule des mystiques“ getan, aufdas ich hier verweise. 15 Hier nur kurz das Wichtigste: Nach langen Verhörenund Gesprächen offenbart Bossuet immer deutlicher seine ablehnende Hal-tung gegenüber Frau Guyon. Dazu kamen diffamierende Gerüchte über das sitt-liche Leben der Frau Guyon und häßliche Intrigen der Frau von Maintenon, so daßFrau Guyon schließlich bat, daß ein kirchlicher Prozeß über ihr Leben und

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ihre Lehre eingeleitet werde. Der Prozeß über ihr Leben wurde ihr verweigert,der über ihre Lehre aber schnellstens mit Zustimmung des Königs vorbereitetund durchgeführt, ohne daß sie sich hätte verteidigen können. Es wurde ihrnur gestattet, mit jedem der drei Richter einzeln zu sprechen.

Dagegen schickte Fénelon den drei Richtern, die in Issy zusammenkamen,um über Frau Guyon zu urteilen, lange Abhandlungen, die Bossuet auch wie-der in einer langen Widerlegung zu entkräften suchte. Das Resultat waren schließ-lich 30 Artikel von Issy, die nach einem längeren Briefwechsel zwischen Féne-lon (der während dieser Zeit zum Erzbischof von Cambrai ernannt worden war)und Bossuet auf 34 Artikel erweitert und von Fénelon und den drei Richternunterzeichnet wurden (1695). Frau Guyon wurde darin nicht erwähnt, ver-schiedene ihrer Ansichten, denen auch Fénelon nie begeistert zugestimmt hat-te, wurden aber in diesen Artikeln verworfen. – In Wirklichkeit waren dieGegensätze zwischen Bossuet und Fénelon nur überkleistert, nicht ausgeglichen.Die 34 Artikel von Issy waren ein Kompromiß, mit dem weder Bossuet nochFénelon zufrieden waren. 16

Was auf die Konferenz von Issy folgte an Intrigen der Frau von Maintenon,die trotz ihrer angeblichen Frömmigkeit Frau Guyon und bald auch Fénelonmit ungewöhnlichem Haß verfolgte, – und leider auch an unqualifizierbarenVersuchen Bossuets, Frau Guyon der Häresie zu überführen, – das gehört zuden traurigsten Kapiteln der Kirchengeschichte Frankreichs. Schließlich wirdFrau Guyon polizeilich verfolgt und eingekerkert und erst nach fast einemJahr wieder entlassen.

Drei Bischöfe, vor allem Bossuet, verurteilten in Hirtenbriefen zwei Werkeder Frau von Guyon. Frau von Maintenon wollte auch Fénelon dazu veran-lassen, was dieser empört ablehnte; dagegen schrieb er eine Erklärung derArtikel von Issy, die er auch Bossuet zuschickte, die vieles klärte, abernicht genügend in den Augen Bossuets.17

VI. FÉNELON IM KAMPF MIT BOSSUET. Bossuet wollte seinen Standpunkt,den er für die Lehre der Kirche hielt, in einem größeren Werk darlegen: „In-struction sur les états d’oraison“ (Belehrung über die Gebetszustände). Währenddessen arbeitet auch Fénelon an einem ähnlichen Werk, „Grundsätze der Hei-ligen“ (Maximes des Saints). 18 Als Bossuet von Fénelon die Gutheißung seinesWerkes verlangte, verweigerte sie dieser, weil in diesem Werk Frau Guyondirekt oder indirekt angegriffen wurde. 19

Das war für Bossuet eine Kriegserklärung. Als dann schließlich Fénelonseine Schrift noch früher herausgab, als Bossuets Schrift erscheinen konnte, fühltesich Bossuet hintergangen und nun entbrannte zwischen den zwei gleich genialenbischöflichen Gegnern ein literarischer Zweikampf, der nicht seinesgleichen in derKirchengeschichte hat: zunächst in Frankreich und, als Fénelon an den Papstappellierte, auch in Rom,20 wo von Seiten Bossuets in schmählicher Weiseintrigiert und von Ludwig XIV. und seiner Frau ein schwerer Druck ausgeübtwurde. Persönliche Angriffe Bossuets auf Fénelon, wobei er sich schwerer Indis-kretionen schuldig machte, beendeten schließlich den Zweikampf mit einemallerdings nur halben Sieg Bossuets. Die „Maximes“ wurden zwar verurteilt, aber

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nicht als häretisch, wie Bossuet und Frau von Maintenon es gewünscht hatten,sondern als „vermessen, falsch, schädlich, verführerisch zu von der Kircheverurteilten Irrtümern“. Fénelon unterwarf sich hochherzig.

Der Kampf zwischen den beiden Bischöfen war aber mehr als eine persönlicheGegnerschaft. Es ging um große Grundfragen: Für Bossuet stand auf demSpiel die traditionelle Lehre der Kirche vom mündlichen und betrachtendenGebet, von der Übung der Tugenden, von der christlichen Hoffnung usw. –Fénelon wieder glaubte, vor allem die „reine Liebe“ verteidigen zu müssen, d.h. die Liebe, die nichts sucht, die Liebe, die auch nichts tut, um den Himmelzu verdienen. Er stützt sich auf die „Heiligen“, um die Rechte der Beschauungzur Geltung zu bringen, während Bossuet kaum die Mystiker kennt, auchFranz von Sales nur wenig, und gegen sie mißtrauisch ist.

In Bossuet hat der robuste Glaube der Durchschnittschristen seine Rechte ver-teidigt gegenüber mystischen Überfeinerungen, die aber in abscheulichen Lasternenden konnten (wie bei Molinos).

Fénelon sieht wieder auf die vielen Christen, die höher steigen wollen, diesich der Liebe Gottes ganz hingeben, die das Christentum in seiner ganzenTiefe leben wollen. Die Verteidigung der „reinen Liebe“ war ihm eine Herzens-angelegenheit. Die Tugend der Hoffnung wollte er nicht auslöschen; es mußaber gesagt werden, daß er sie in seine Auffassung von der „reinen Liebe“kaum einbauen konnte.

VII. IST FRANZ VON SALES EIN QUIETIST?21

Sicher steht Fénelon dem hl. Franz von Sales näher als Bossuet, und dochhat Fénelon sich zu sehr an einige aus dem Zusammenhang gerissene Wortedes Heiligen gehalten, ohne seine ganze Lehre richtig zu sehen. In der heftigenDebatte mit Bossuet zitiert Fénelon immer wieder Worte des hl. Franz vonSales, bis Bossuet in der Hitze des Kampfes schließlich die Autorität des Heiligenselbst in Frage stellt und Fénelon einige angebliche Irrtümer des Heiligenvorhält.

1. Pourrat hat in seinen „Spiritualite chretienne“22 die quietistischen Irrtü-mer auf vier Hauptgedanken zusammengefaßt: a) Die Vollkommenheit ist eindas ganze Leben fortdauernder Akt der Beschauung, ohne daß er erneuertwerden muß. – b) Dieser einzige und dauernde Akt der Beschauung enthält alleanderen Akte der Religion und der Tugenden. Die Vollkommenen brauchenalso diese Akte nicht zu üben und auch nicht über sich selbst nachzudenken,auch nicht beten. Die Vollkommenen halten sich nur an Gott, schließen alsodie Menschheit Christi und seine Geheimnisse aus. – c) Die Vollkommenenhaben auch keinen Wunsch nach dem ewigen Ziel und beten nicht darum. Derheilige Gleichmut fordert, daß man gleich bereit sei, verdammt wie gerettet zuwerden, wenn Gott es so bestimmt. – d) Bei Versuchungen ist es in Ordnung,keinen Widerstand zu leisten; das ist auch zuweilen vollkommener als derKampf.

Zu a): Franz von Sales behandelt wohl die Beschauung, wie alle Lehrender Mystik, aber nirgends behauptet er, daß die Vollkommenheit darin besteheund daß sie das ganze Leben hindurch andauere, ohne erneuert werden zumüssen.

Zu b): Franz von Sales beteuert im Gegenteil die Notwendigkeit und Wich-

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tigkeit des Gebetes in der „Abhandlung“ wie in der „Anleitung“, wo er auch diemündlichen Gebete empfiehlt, obwohl seine Vorliebe dem innerlichen Ge-bet gehört, dem Herzensgebet (Betrachtung, Gebetsrufe usw.). Er empfiehlt auch inder „Anleitung“ (deren Neuauflage erschien, während er die „Abhandlung“schrieb und herausgab) die Gewissenserforschung, Beichte usw. In der „An-leitung“ betont er auch sehr stark, wie wichtig es ist, in der Betrachtungimmer wieder auf die Menschheit Jesu zu schauen. In der „Abhandlung“ kommter oft auf das Erlösungswerk Jesu zurück und auf die Verbundenheit mit ihm.

Zu c): Eingehend spricht Franz von Sales von der Sehnsucht nach dem Himmel(z. B. 3,10). Daß der heilige Gleichmut die Tätigkeit der Seele nicht aus-schließt, sondern die tätige Erfüllung des geoffenbarten göttlichen Willens erfor-dert, sagt Franz von Sales ausdrücklich in Abh. 9,6 u. 7; es ist übrigens durchalles bekräftigt, was er andauernd über die Tätigkeit der Liebe sagt. Vor demIX. Buch, das vom Gleichmut handelt, steht das VIII. Buch, das die tätigeErfüllung des göttlichen Willens bis ins Letzte fordert. – Gleichmut heißt nicht,alles abwarten, sondern tun, was Gott will, und das abwarten, was Gott verfügt anAufgaben, an Prüfungen usw.

Zu d): Über die Versuchungen spricht Franz von Sales genau das Gegenteilder Quietisten im vierten Teil der „Anleitung“.

(Die Zusammenfassung der Irrtümer der Frau Guyon ist fast identisch mitden Irrtümern des allgemeinen Quietismus, braucht also nicht eigens behandeltzu werden.)23

2. Fénelons große Sorge war die „reine Liebe“, d. h. die Liebe, die keineSelbstsucht enthält, daher auch keinen Wunsch nach dem Himmel. Daß ganzselbstlose Akte der Liebe anzustreben sind, ist ja allgemeine katholische Lehre,die aber daneben auch die Hoffnung kennt, die Sehnsucht nach dem Himmel,die Furcht vor der Hölle usw. – Das alles schließt auch Franz von Sales nicht aus,auch bei denen nicht, die in der Liebe schon Fortgeschrittene sind. Man lese,was er im XI. Buch, Kapitel 17 und 18 von der knechtischen Furcht sagt, undim oben erwähnten Kapitel 10 des II. Buches von der Sehnsucht nach demHimmel.

Wenn heute noch von einer quietistisch gefärbten Mystik des hl. Franz vonSales gesprochen, oder wenn gar Franz von Sales als Vertreter des Quietismusgenannt wird, so kann man nur mit Bedauern feststellen, daß es bei diesenSchriftstellern einfach an Kenntnis der Werke des hl. Franz von Sales undbesonders der „Abhandlung über die Gottesliebe“ fehlt.

P. Dr. Franz Reisinger OSFS.

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Anmerkungen zum AnhangAnmerkungen zum AnhangAnmerkungen zum AnhangAnmerkungen zum AnhangAnmerkungen zum Anhang

Abkürzung der hier öfter angeführten Werke.Abh. = Abhandlung über die Gottesliebe (Traitté de l’amour de Dieu).Brémond Henri: Histoire littéraire de sentiment religieux en France (1924-1928),

Bloud, Paris.1 = Tome: I: L’humanisme dévot. 1924.2 = II: L’invasion mystique. 1925.7 = VII: La métaphysique des Saints I. 1928.8 = VIII: La métaphysique des Saints II. 1928.

Brémond Henri: Autour de l’humanisme, 1936 Grasset, Paris.Calvet J.: La littérature réligieuse de François de Sales a Fénelon. 1956, del

Duca, Paris.D. ap. = Dictionaire Apologétique de la Foi Catholique. 1925-1928, Beauchesne,

Paris.D. th. = Dictionaire de Théologie Catholique. 1902-1950, Lethouzey, Paris.Groppi Luigi OSFS: Formazione theologica di San Francesco di Sales. 1951,

Roma.Hämel-Stier, FS = Hämel-Stier Angela: Franz von Sales. 19562,, Franz-Sales-

Verlag, Eichstätt u. Wien.Hämel-Stier, JFr = Hämel-Stier Angela: Johanna Franziska von Chantal.

19501, Franz-Sales-Verlag, Eichstätt u. Wien.Königbauer Ludwig: Das Menschenbild bei Franz von Sales. 1955, Pustet, Re-

gensburg.Leidenmühler Josef OSFS: Die Stellung der theologischen Tugend der Liebe im

übernatürlichen Organismus der Seele nach der Lehre des hl. Franz vonSales. 1951. Franz-Sales-Verlag, Eichstätt u. Wien.

Liuima Antanas SJ: Aux Sources du Traitté de l’amour de Dieu. Première Partie.1959, Librairie editrice de l’Universite Gregorienne, Rome.

Müller Michael: Frohe Gottesliebe. 19483 Herder, FreiburgOeuvres = Oeuvres de Saint François de Sales, publiées par les soins des

Religieuses de la Visitation du Ier Monastère d’Annecy.1892-1963, 27 Bde., Annecy; zitiert wie folgt: Oeuvres 4,15 = Band IV,Seite 15.

Poinesenet M. D.: France réligieuse du XVIIe siècle. 1958, P. Castermann, Paris.Rotter Friedrich: Das Seelenleben in der Gottesliebe. 1935, Herder, Freiburg.Serouet Pierre: De la vie dévote a la vie mystique, Ste Thérèse d’Avilla, Saint

François de Sales. Les études carmélitaines. 1958, Desclée de Brouwer, Paris.Strowski Fortunat: Saint François de Sales. 19282, Plon, Paris.Trochu Francis: St François de Sales, 1946, Emmanuel Vitte, Lyon – Paris.Veuillot Pierre, Mgr. Bischof von Angers: La spiritualité salesienne de Très Saint

Indifférence. Thèse de doctorat (Bibliothek des Institut cath. von Paris).1947 .

Vincent Francis: Saint François de Sales, Directeur d’âmes. 192615, Beau-chesne, Paris.Waach FS = Waach Hildegard: Franz von Sales, 1955, Franz-Sales-Verlag,

Eichstätt u. Wien.Waach JF = Waach Hildegard: Johanna Franziska von Chantal. 1957, Franz-

Sales-Verlag, Eichstätt u. Wien.

Anhang /Anm.

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362 Anhang /Anm.

A. Entstehung, Bestimmung,Sinn und Architektur

der „Abhandlung“

1. s. Waach FS 50-57; Trochu I, 39-60, Liuima 1, 57-73.

2. s. Oeuvres 22, 19-21; Liuima I, 22;Waach FS 97-98 und besonders die sorg-fältige, den Stand der Frage erneuerndeUntersuchung von Groppi, 35-49.

3. s. bes. Serouet, der die verschiede-nen Phasen des geistlichen Lebens unse-res Heiligen genauestens untersucht undmit manchen landläufigen Ansichten auf-räumt, bes. 117-134; 183-197.

4. s. Strowski 1-35; Ponsenet 9-24;Calvet 9-20.

5. s. Strowski 35-436. vgl. Dagens Jean, Bibliographie chro-

nologique de la littérature de spiritualité1501-1610. 1952, Desclée de Br., Paris.

7. Oeuvres 12, 136-152.8. Abh. 9, 7 u. „Geistliche Gespräche“,

15, III/1.9. Oeuvres 13, 265-266 (1607).10. Oeuvres 14, 126 (1609).11. Oeuvres 21, 94 (1610).12. Oeuvres 14, 247 (1610).13. Oeuvres 14, 323 (1610).14. Oeuvres 14, 323 (1610).15. Nach Oeuvres 6,X.16. Oeuvres 14, 246 (1612).17. Sainte Jeanne de Chantal, Sa vie et

ses oeuvres IV, 8 (1612).18. Oeuvres 16, 10 (1613).19. Oeuvres 15, 335 (1613).20. Oeuvres 16, 136 (1614).21. Oeuvres 16, 140 (1614).22. Oeuvres 16, 129-130 (1614).23. Oeuvres 16, 249 (1614).24. Oeuvres 16, 250 (1614).25. Oeuvres 16, 261 (1614).26. Oeuvres 16, 266 (1614).27. Oeuvres 16, 307 (1615).28. Oeuvres 16, 315 (1615).29. Oeuvres 16, 330 (1615).30. Ste. Jeanne de Chantal, Vie et oeu-

vres IV, 43.

31. Dom Mackey in Oeuvres 4, XIV(1616).

32. Ste. Jeanne de Chantal, Vie et oeu-vres IV, 85 (1616).

33. ebda IV, 102 (1616).34. s. Oeuvres 17, 228.35. s. „Geistliche Gespräche“ 15,III/1;

Abh. 9,7.36. derzeit nur in der Bibliothek des

Institut catholique von Paris als Manu-skript vorhanden.

B. Analyse der „Abhandlung“

1. Die ersten 5 Kapitel legen die psy-chologische, natürliche Grundlage derAbhandlung bloß. Die Liebe ist dieSeelenkraft, die dem ganzen Lebendie Richtung gibt. Es geht vor allemum die Entscheidung zwischen Eigenlie-be und Gottesliebe, die unser Leben langimmer wieder getroffen werden muß. Allesinnenhaften Leidenschaften und alleWillensaffekte gehen ja auf die Liebezurück, daher ist die Kernfrage, welcheLiebe die Oberhand gewinnt.So verstehen wir die ausschlaggebende Be-deutung der Liebe in der Lehre des hl.Franz von Sales. Es geht eben um dasGanze. Äußere Korrekturen an Men-schen, Überwindung dieser oder jenerFehler, Bußwerke usw. sind gewiß wert-voll, und Franz von Sales ordnet sie insein Lebensprogramm ein, aber das Ent-scheidende, schon vom rein natürlichenStandpunkt, ist die Überwindung der Ei-genliebe durch die Gottesliebe, die Be-sitznahme des ganzen Menschen durchdie Liebe zu Gott. – s. Königbauer 162f;Müller 139-157; Vincent 150-177.

2. Die Kapitel 1-5 haben den Weg be-reitet zum triumphalen Hymnus auf dieGottesliebe, deren Vorherrschaft überjede andere Liebe Franz von Sales in be-geisterten Worten feiert. Die Gotteslie-be kann nur Königin sein oder nichts.Das Heil ist dem Glauben gezeigt, derHoffnung bereitet, aber nur der Liebegeschenkt. Gott, der den Menschen nach

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seinem Bild und Gleichnis geschaffen hat,will, daß im Menschen alles durch die Lie-be und auf die Liebe hin geordnet sei.

3. Nachdem Franz von Sales seiner Be-geisterung für die Gottesliebe Ausdruckverliehen, blendet er wieder zurück aufdie natürlichen Gegebenheiten. Zunächstanalysiert er das Wesen der Liebe, umhier vor allem deren Dynamik hervorzu-heben. Liebe beginnt gewiß beim Wohl-gefallen an der Schönheit und Güte des-sen, was man liebt, sie bleibt aber nichtdabei (wie Thomas von Aquin meint, vondem er sich hier bewußt absetzt), son-dern muß Bewegung zu dem hin sein, wasman liebt. Deshalb ist auch nicht nur Ähn-lichkeit Ursache der Liebe, sondern ge-genseitiges Ergänzungsbedürfnis (auchabweichend von Thomas, der nur dieÄhnlichkeit als Wurzel der Liebe geltenläßt). Gerade dieses Bedürfnis nach ge-genseitiger Ergänzung läßt die Liebe we-sentlich als Willensbewegung erscheinen,die beim geistig orientierten Menschenvor allem eine nach geistiger Verbunden-heit strebende Bewegung sein muß, diedurch die sinnliche Liebe nur geschwächtwird.

4. Über diese besonders für die See-lenführung wichtige Frage: Rotter 41-44;mehr bei Königbauer 67-88.In der Unterscheidung dieser seelischenZonen folgt Franz von Sales überliefer-ten Auffassungen der philosophia peren-nis, nuanciert sie aber und macht sie durchVergleiche und Bilder anschaulich.Franz von Sales eigen ist der Nachdruck,den er auf die „fine pointe“, die feineSpitze, die höchste Seelenspitze legt. Hierist für ihn der eigentliche Sitz der göttli-chen Liebe und der mit ihr verbundenenzwei anderen göttlichen Tugenden Glau-be und Hoffnung, hier auch Sitz derBeschauung und des heiligen Gleichmuts.– Daß es eine solche höchste Spitze imSeelenleben gibt, war auch vor Franz vonSales den Mystikern bekannt, die sie „dasHöchste der Seele“, „des Geistes Innig-stes“, „Seelengärtlein“, „tiefster See-

lengrund“ usw. nennen (s. Bremond 7,S. 49 Anm.) Es ist aber das große Ver-dienst des hl. Franz von Sales, daß er die-sen höchsten Bezirk des Seelenlebens beiallen Menschen gesehen, nicht nur beieinigen besonders Begnadeten, und daßer durch diese Erkenntnis Klarheit in dieoft furchtbaren seelischen Kämpfe, Fin-sternisse und Leiden heiliger Seelen ge-bracht hat (s. Abh. 9,3; 9,11 u. 12). Überdie „Seelenspitze“ s. auch Königbauer 81-88 (dort auch interessantes Zitat Kretz-schmers S. 86); Rotter 68-80; Bremond7, 48-58.

5. Der Nachdruck, mit dem hier Franzvon Sales von der Anlage auf Gott hinspricht, auf die er immer wieder zurück-kommt, wenn er den Weg zur Gottesliebeaufzeigt, offenbart vor allem seinen so-genannten Optimismus, jedenfalls mehrals seine molinistischen Tendenzen, diein der „Abhandlung“ nur periphere Er-wähnung finden. – Diese Anlage auf Gotthin kommt noch bei der Skizzierung derTheologie der „Abhandlung“ zur Spra-che.

6. Franz von Sales nimmt hier Stellungzur berühmten Frage vom Zweck derMenschwerdung der zweiten göttlichenPerson. Er weicht darin von Thomas abund folgt der skotistischen Auffassung,die eigentlich franziskanisch genannt wer-den kann. Ihr wesentlicher Inhalt ist: Diezweite göttliche Person wäre Mensch ge-worden, auch wenn Adam nicht gesün-digt hätte. – Zu dieser Frage s. D. th.Artikel „in-carnation“ von Michel, VII,2. p. 1482-1506.

7. Dieses 6. Kapitel enthält schöne ma-rianische Texte; auch das 4. Kapitel, au-ßerdem Abh. 3,8; 5,11; 7,13 u. 14; 9, 14u. a.; s. die 1965/1963 veröffentlichtenDissertationen über die salesianischeMariologie des niederländischen P. Lan-gelaan OSFS (Teile veröffentlicht in „An-nales Salesiennes“) und des AmerikanersP. Carney OSFS.

8. Gegenüber Irrtümern der Vergan-genheit (Pelagius) und der Reformations-

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zeit (Calvin) betont Franz von Sales so-wohl die Notwendigkeit der Gnade wieauch die Freiheit des Menschen, ihr zufolgen oder sie abzulehnen.

9. Die einzelnen Etappen auf dem Wegzum Empfang der Liebe beschreibt Franzvon Sales, wie sie die immer wieder fest-zustellende Erfahrung bei Bekehrungenbestätigt und das Konzil von Trient (SessVII, cap. 6) beschreibt. Der erste Anfangder Bekehrung stammt von Gott: Glau-be, Hoffnung, unvollkommene Reue,Liebesreue sind die Etappen bis zumEmpfang der Liebe, die ganz Gottes Werkist. Der Weg ist ein Zusammenspielen derAnlage auf Gott hin, des GnadenwirkensGottes und des Mitwirkens des Menschen.Anfang und Ende sind ganz Gottes Werk:das erste Pochen der göttlichen Liebe undschließlich das Gnadengeschenk der Lie-be, verbunden mit Glauben und Hoff-nung.

10. Aus dieser Formulierung wie ausvielen anderen Stellen der „Abhandlung“und der „Anleitung“ geht klar hervor, daßFranz von Sales abweichend von Thomasvon Aquin die „Gnade“ gleichsetzt mitder übernatürlichen Liebe. Gnade ist ihmalso nicht ein von der Liebe verschiede-nes Geschenk Gottes, Grundlage desGlaubens, der Hoffnung und der Liebe.Er kennt vielmehr mit Duns Scotus undBellarmin keinen wirklichen Unterschiedvon Gnade und Liebe – s. Leidenmühler11-44; P. Lavaud OP., Amour et perfec-tion chrétienne selon St. Thomas et St.François de Sales (141, Université du Fri-bourg) S. 193-203

11. Auch hier weicht Franz von Salesvon Thomas ab, der erklärt, daß die Lie-be wie die anderen Tugenden durch ge-ringe Werke nur dann vermehrt wird,wenn höhere Akte gesetzt werden. Franzvon Sales dagegen lehrt, daß die klein-sten Werke der Liebe diese sofort ver-mehren. – s. Leidenmühler 32-34

12. Beim Wachsen der Liebe sehen wirein ähnliches Zusammenspiel wie beimwerden der Liebe: dort von Anlage, Gna-

denwirken Gottes und freiem Mitwirken,hier statt Anlage oder mit Anlage, dieübernatürlich geschenkte Liebe, fortge-setztes Gnadenwirken Gottes und freiesMitwirken des Menschen.

13. Auch bei der tragischen Geschich-te des Untergangs der Liebe sehen wir,daß für Franz von Sales zum Wesen derLiebe Dynamik gehört. Sie muß tätig sein,sonst erliegt sie. Untätigkeit einerseits,äußere Versuchungen andererseits, ver-schlafener Glaube, der nicht mehr Schild-wache steht, verursachen Blutleere derLiebe, die zur Katastrophe führt.

14. Wohlgefallen an Gott und Wohl-wollen gegen Gott sind weniger Fähig-keiten als Haltungen, aber aktive Hal-tungen. Dieses V. Buch (wie übrigens dieganze „Abhandlung“) zeigt, wie verfehltdie Ansicht von Francis Vincent ist, dasGebet sei bei Franz von Sales wesentlicheine aszetische Übung zur „Selbstbil-dung“ (100-149). Aus der „Abhandlung“geht klar hervor, daß das Gebet eineselbstverständliche Wirkung der Liebe ist.Sicher wird das Lob Gottes und jedesGebet unsere Liebe stärken und dadurchzur Vervollkommnung beitragen, aber we-sentlich ist das Gebet selbstverständli-che Äußerung der Liebe, ist Lob, Anbe-tung Gottes, Hingabe an Gott. – s. dazuBremond 7,26-47; Serouet 400; gegenVincent auch Liuima II,83-86.

15. Für Franz von Sales ist also Mystikeinfach das Gebet, wohl das innerlicheGebet, einschließlich die Betrachtung. Erunterscheidet sorgfältig die mystischeTheologie von der spekulativen: diesespricht von Gott, um Gott zu erkennen,jene spricht zu Gott, der die Liebe ist,von Gott, um ihn mehr zu lieben. Ernennt das Gebet Mystik, weil es im ge-heimen vor sich geht; daher ist ihm jedesinnerliche Gebet Mystik. Franz von Sa-les nimmt hier eine ihm eigene Stellungein, verschieden von dem landläufigenBegriff der Mystik, unter der manchenur die „eingegossene Beschauung“ ver-stehen, andere wiederum Ekstasen oder

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365Anhang/Anm.

auch den heiligen Gleichmut. Der Be-griff „Mystik“ ist jedenfalls nicht festumrissen, wie auch der Begriff „Aszese“,der übrigens erst im 17. Jahrhundert auf-kam. – Manche ziehen heute diesen Be-zeichnungen die allgemeinere Fassung„Geistliches Leben“ vor, die auch richti-ger ist. – Zum Begriff der Mystik s. D.th. Artikel Mystique von A. Fonck X/2col 2599 -2674; ferner unter den vielenWerken über Mystik bes. Garigou-Laran-ge OP.: Perfection chrétienne et Contem-plation. 1923, Paris (ins Deutsche über-setzt: Mystik und christliche Vollendung,1927, Augsburg); Aug. Poulain SJ: Desgrâces d’oraison. 192210, Beauchesne,Paris; Mager, Alois OSB: Mystik als see-lische Wirklichkeit. 1945, Pustet, Salz-burg.

16. Die Kapitel 3-6 handeln von derBeschauung und erläutern die Unterschie-de zwischen Betrachtung und Be-schauung. Es scheint wohl, daß Franz vonSales in diesen Kapiteln von einer Be-schauung spricht, die man (natürlich un-ter dem Einfluß der Gnade) durch inten-sives Betrachten selbst erreichen kann.Diese „erworbene“ Beschauung, wie siedie karmelitische Schule nennt, heißt auch(besonders seit Bossouet) das Gebet derEinfachheit. Franz von Sales weist jaauch auf diese Eigenschaft der Beschau-ung hin (5. Kap.). Serouet behauptet(273-280), daß Franz von Sales das Pro-blem der „erworbenen“ Beschauung nichtkenne, weil es erst später aufgeworfenwerde. Dies ist wohl wahr, wenn man denAkzent auf den Namen der „erworbenen“Beschauung legt. Sachlich gesehen scheintaber Franz von Sales bei diesen vier Ka-piteln von einem Schauen der Gottheitzu sprechen, das einfach Folge der Be-trachtung ist, in der die Seele aktiv ist,nicht passiv wie bei der eingegossenen Be-schauung, auf die allerdings noch so man-ches zutrifft, was Franz von Sales hierallgemein von der Beschauung sagt.

17. Im 7. Kapitel beginnt die Schilde-rung der Seelenzustände, die direkt von

Gott bewirkt werden, die also der Menschpassiv aufnimmt, wenngleich er mit Got-tes Hilfe die Voraussetzungen dafürschaffen muß. Als erstes nennt Franz vonSales die von Gott gewirkte Sammlungder Seelenkräfte um Gott als deren Zen-trum. Diese Sammlung liegt nicht in un-serer Macht und hängt nicht von unserenBemühungen ab, sondern kommt überdie Seele, wenn es Gott gefällt. In diesemKapitel wie in den folgenden (8-11) folgtFranz von Sales vielfach den Ausführun-gen der hl. Theresia (bes. in der „Seelen-burg“ IV; s. Serouet 281-302), ergänztsie aber durch Wahrnehmungen an sichselbst, an der hl. Johanna Franziska undan den ersten Schwestern der Heimsu-chung.

18. Das „Gebet der Ruhe“ beschäftigtFranz von Sales in den Kapiteln 8-11. Ernennt es auch „Gebet der einfachen Hin-gabe an Gott“. Er beschreibt es so klarund eingehend in seinem Wesen und inseinen verschiedenen Weisen, daß weite-re Erklärungen sich erübrigen. Den Ver-gleich mit den Erfahrungen der hl. The-resia s. bei Serouet 289-298.

19. Dieses „Verströmen oder Zerflie-ßen der Seele in Gott“ dürfte ein vomHeiligen selbständig geformtes Bild zurSchilderung eines von ihm vielleicht ansich selbst oder an anderen erlebten my-stischen Seelenvorgangs sein. Wir findenes weder bei Theresia noch bei anderennamhaften Mystikern (ausgenommenvielleicht bei Ruysbroek, zitiert vonRenaudin: Mystiques et Saints chez nous,S. 173 nach Serouet S. 8) Auch in denmodernen Werken (außer als Zitat deshl. Franz von Sales bei Farges: LesPhénomènes mystiques I, 204. 1923,Lethielleux, Paris) ist es unauffindbar.Das biblische Fundament bildet die Stel-le im Hld 8,6; Gal 20,20 u. Kol 3,3, dieFranz von Sales auch anführt. Die Be-schreibung dieses Zustandes wird aberwohl auf eigener Erfahrung beruhen.

20. Warum diese drei Kapitel (13-15)über die Liebeswunde? Wahrscheinlich,

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366 Anhang /Anm.

um zu zeigen, daß Liebesvereinigung nichtnur Seligkeit in sich birgt, sondern auchviel Leid, das allerdings dann auch ge-liebt wird. Franz von Sales spricht hierallgemein von den Wunden, die die Liebe(auch die natürliche) schlagen kann. Na-türlich hat er vor allem die schmerzli-chen, aber doch geliebten Wirkungen derGottesliebe vor Augen. Je stärker dieHerzensliebe, die sich ja vor allem imGebetsleben äußert, desto mehr brennendie Wunden. Daher bilden diese Kapitel,in denen auch starke Einflüsse der hl.Theresia sichtbar sind (s. Serouet 299-302), auch einen guten Abschluß des VI.Buches von den Tätigkeiten der heiligenLiebe im Gebet.

21. In höchst anziehender Weise be-schreibt Franz von Sales in den zwei ers-ten Kapiteln des VII. Buches, wie die Lie-be die Vereinigung der Seele mit Gott imGebet bewirkt. Er schildert das Zusam-menwirken Gottes und der Seele im Bildder Liebesvereinigung der Mutter mit ih-rem Kindlein. Der menschliche Beitragist vor allem das Gebet, das häufige, tiefeindringende Herzensgebet. Im 2. Kapi-tel beschreibt er die verschiedenen Stu-fen dieser Vereinigung. – Serouet stelltfest (303-309), daß er hier oft die Be-schreibungen der hl. Theresia vor Augenhat, wenngleich er sie hier nur selten zi-tiert.

22. Franz von Sales beschreibt in denKapiteln 3-8 Wesen und Erkennungs-zeichen der echten Liebesekstasen, diedie höchsten Stufen der Liebesvereini-gung bilden. Er weiß wohl, daß Ekstasenleicht Phantasieprodukte sein können, ja,daß es auch Ekstasen hinunter bis tiefins Tierische gibt; trotzdem widmet ersechs Kapitel der Ekstase oder Entrük-kung, weil diese einerseits die höchsteBlüte der Liebe ist, andererseits aber im-mer auf ihre Echtheit überprüft werdenmuß. – Von den drei Arten der Ekstasesind die des Verstandes und die des Ge-fühls verdächtig, wenn sie nicht von derdes Willens begleitet sind. Entscheidend

ist die Ekstase des Lebens. – Serouetzeigt, wie Franz von Sales hier einig mitder hl. Theresia ist (309-314).

23. Das Sterben an der Liebe ist wohldie höchste Wirkung der „Affektliebe“.Als Vorbereitung zur Beschreibung die-ses Sterbens an der Liebe dienen die Ka-pitel 9 u. 10: von denen, die in der Liebeund um der Liebe willen sterben. DieKapitel 11-14 beschreiben das Sterbenan der Liebe verschiedener Heiliger, be-sonders der Mutter Gottes.

24. Das VIII. Buch bietet keine beson-deren Schwierigkeiten. Zu beachten ist:1. wie sehr Franz von Sales darauf drängt,daß der geoffenbarte Wille Gottes ausLiebe erfüllt werde (Kap. 1, 2, 5) –2. die ausführliche Behandlung der Räte,von denen man sonst außer im Ordensle-ben nicht viel hört; die Mahnung sie zulieben und zu beobachten, entsprechendseinem Beruf und Stand (Kap. 6-9); –3. die sorgfältige Erörterung der Einge-bungen, deren Befolgung sehr wichtig, beidenen aber Vorsicht geboten ist und be-stimmte Kennzeichen echter Eingebungzu beachten sind.

25. Wie die Lehre des hl. Franz vonSales von den Eingebungen auf dem Dog-ma von der aktuellen Gnade fußt, so dieLehre von der Liebe, die sich dem Wohl-gefallen Gottes unterwirft, auf dem Dog-ma der Vorsehung, der sich die liebendeSeele hingibt, auch wenn sie Schweresverfügt oder zuläßt (8,1-3).

26. Der hochheilige Gleichmut (la trèssainte indifférence), der Gipfel salesiani-scher Geistigkeit, war auch die tragendeTugend des hl. Franz von Sales. NachBischof Veuillot ist der Gleichmut fürFranz von Sales die ganze christliche Voll-kommenheit. – Das Werk Veuillots „Laspiritualité salesienne de Très Sainte In-difference“ ist ein erschöpfender Kom-mentar zu der tiefen und doch ganz kla-ren Einstellung des Heiligen. BischofVeuillot untersucht die Ursprünge dieserecht salesianischen Lehre im Leben desHeiligen wie in seinen Quellen (Ignatius,

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bei dem aber die „Indifferenz“ nicht ganzdie gleiche Bedeutung hat, und Scupoli),ihren tiefen Inhalt, ihre Karikatur imQuietismus und ihr Wesen: die reine,selbstlose Gottesliebe.Über den Mißbrauch dieser Lehre durchdie Quietisten und Semiquietisten wirdim letzten Kapitel dieses Anhangs gespro-chen. – Serouet zeigt (324-338) den vol-len Einklang mit der Lehre des hl. Franzvon Sales mit den Aufzeichnungen derhl. Theresia, wenn sie auch nie die Be-zeichnung „Gleichmut“ gebraucht.

27. Es ist schon fast ein Gemeinplatzunter den Schriftstellern, die sich mit der„Abhandlung“ befassen, daß die drei letz-ten Bücher eigentlich nicht viel bedeu-ten, sozusagen eine Sammlung von Noti-zen seien, die sich im Lauf der Jahre an-gehäuft hätten (z. B. Trochu II, 502;Calvet 59), in denen Franz von Sales sichmit dem Thema der Gottesliebe beschäf-tigt hatte, die der Heilige dann irgendwieanbringen wollte. Diese drei Bücher wer-den zu Unrecht so verächtlich abgetan.Wenn auch die Bücher VI-IX den Kerndes Werkes bilden und das IX. Buch be-stimmt der Höhepunkt ist, so haben dochauch die Bücher X-XII ihre große Be-deutung und vermitteln viele und schöneEinsichten; sie sind auch durchaus logischaufgebaut.

28. Das X. Buch faßt jetzt, da wir dieGottesliebe in ihrem Entstehen, Wach-sen und Vergehen wie in ihren Haupt-tätigkeiten gesehen haben, in einem gro-ßen Rückblick die Herrlichkeiten derGottesliebe zusammen (Kap. 1-3), schil-dert die Stufen vom ersten Beginnen derNeulinge bis zur Liebe Gottes in allem,auf dem Kalvarienberg wie auf dem Ta-bor (Kap. 4 u. 5), geht dann auf ihre we-sentliche Eigenschaft über, die nur eineLiebe über alles sein kann (Kap. 7 u. 8),die nichts ausnimmt, die Eigenliebe über-windet (Kap. 9 u. 10), die Quelle derNächstenliebe wie des echten Eifers ist(Kap. 14-16) und daher vom Herrn injeder Hinsicht geübt wurde (17. Kap.).

29. Das XI. Buch ist in theologischerund praktischer Hinsicht sehr wertvoll.Es wird sich kaum ein Werk über dieGottesliebe finden, das so konsequentden Primat der Liebe aufzeigt und be-weist. – Primat, d. h. Vorherrschaft derLiebe über alle Tugenden (Kap. 1-10),über die Handlungen die, ohne Gegen-wart, der Liebe wertlos sind, wenn sieaber früher im Zustand der Liebe getanwurden, zwar tot sind, aber wieder aufle-ben, wenn die Liebe wiederkehrt und nunwertvoller sind, je mehr Liebe sie durch-dringt (Kap. 11-14). Ja, die Liebe schließtdie Gaben des Heiligen Geistes in sichund die zwölf Früchte des Heiligen Geis-tes; sie unterwirft alle Leidenschaften undAffekte ihrem Gehorsam.

30. Franz von Sales wäre nicht der er-probte Seelsorger und Seelenführer, wenner nicht die Gelegenheit benützt hätte,aus dem Schatz seiner Erfahrungen demTraktat praktische Ratschläge hinzuzu-fügen, was im XII. Buch geschieht: zumTrost seiner Leser, die bei jeder Veranla-gung Gott lieben können (1. Kap.), zurAufmunterung, daß man unersättlich lie-be und dafür jedes andere Verlangen zu-rückstelle, seine Berufspflichten aller-dings treu erfülle (Kap 2-5), alles aus Lie-be tue (wenngleich alles zur Ehre Gottesgeschieht, wenn es im Zustand der Liebegetan wird; dies gegen die Ansicht des hl.Thomas von Aquin) und die Hingabe beimMorgengebet und wichtigeren Handlun-gen erneuere. So wird man die FreiheitGottes empfangen und nicht der Eigen-liebe versklavt sein (Kap. 6-10). Deshalbwird es gut sein, sich oft in die Beweg-gründe der Liebe zu vertiefen. (Kap 11-13).

C. Quellen der „Abhandlung“

1. s. Groppi 50-522. Die spanischen Einflüsse s. bei Se-

rouet 18-61; 382-395. Über die there-sianischen: seine Begegnung mit der hl.Theresia: 137-260; Beeinflußung der

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368 Anhang /Anm.

„Abhandlung“ durch die hl. Theresia 261-346.

3. P. Liuima SJ hat im ersten Teil sei-nes Werkes (bes. 86-170) die Rolle derJesuiten in der aszetischen Bildung deshl. Franz von Sales untersucht. Sehr starkhat Vincent in seinem Werk den Einflußder Jesuiten betont. – Serouet (43-48;327-330) und Bischof Veuillot (248-267)besprechen auch die ignatianischen Ein-flüsse auf Franz von Sales.

4. Claude Quinard: Une doctrine dupur amour. 1954, Paris, und: Essai surles sources du Traitté de l’amour de Dieu.1954, Paris; hat nach Calvet (439) beiFranz von Sales starke Einflüsse der fran-ziskanischen Überlieferung und der flä-mischen Mystiker festgestellt.

5. Daniels: Des Rapports entre St. Fran-çois de Sales et les Pays Bas. 1932, Ni-mégue.

6. P. Huyben OSB.: Aux Sources de laspiritualité française au XVIIe siècle inVie spirituelle, Supplément XIV, XXVIu. XXVII.

7. s. 207-314 des Manuskripts.8. P. Hubert Pauels OSFS: Die Mystik

des hl. Franz von Sales in ihrer Grund-haltung und Zielsetzung. Eine quellen-historische Studie. Eichstätt 1963.

9. S. 42, 7-12 und öfter.10. s. Liuima 237-247. Ich habe aller-

dings den Eindruck, daß bei Liuima dieFrage zu summarisch und zu apodiktischbehandelt wird. Es scheint, daß die Be-ziehung des hl. Franz von Sales zur flä-mischen und deutschen Mystik noch ei-ner viel genaueren Prüfung bedürfen. Zuvergleichen wäre das in Anm. 4 zitierteWerk von Claude Quinard, das mir leidernicht zugänglich war.

11. Darüber jetzt die meisterhafte Un-tersuchung von Serouet, die alle früherenBehauptungen einer genauen Kritik un-terzieht und in der Frage der Abhängig-keit des Heiligen von der hl. Theresia wohldas letzte Wort gesprochen hat.

12. Serouet prüft in dem oft zitiertenWerk sorgfältig die verschiedenen Pe-

rioden im Innenleben des hl. Franz vonSales auf ihren „mystischen“ Gehalt, kor-rigiert manche landläufige Ansicht überdessen mystische Erlebnisse und zeigt,wie das Gebet des Heiligen sich immermehr vereinfacht und vertieft hat.

13. Darüber eine eingehende Untersu-chung im Werk Bischof Veuillots.

14. Die Seelenführung der hl. JohannaFranziska von Chantal durch Franz vonSales wird eingehend in Band 5 dieserdeutschen Ausgabe der Werke des Heili-gen untersucht. Sie wird in allen Lebens-beschreibungen beider Heiligen behan-delt und besonders bei Hämel-Stier: DasSeelenleben der hl. Joh. Franziska vonChantal. 1937, Becker, Würzburg; Mül-ler, Michael: Die Freundschaft des hl.Franz von Sales mit der hl. Johanna Fran-ziska von Chantal. 1923, Regensburg.

15. Über Schwester Rosset s. M. v.Chaugy bei Dom Mackey, III, 4 Anm.

16. s. bes. Serouet 42; 51-58; Quinard;Calvet 90.

17. Über seine Beziehungen zu Angede Joyeuse s. A. Dufournet: La jeunessede St François de Sales (114-117). 1942,Grasset, Paris; Waach FS 101.

18. s. Leidenmühler 116-121.19. s. Revue ascétique et mystique

(1954) 117-139.20. s. Leidenmühler 7, 11, 20, 25, 26

usw.21 s. P. Lavaud OP: Amour et per-

fection chrétienne selon St. Thomasd’Aquin et St François de sales 1941,Université de Fribourg; Leidenmühler 7,11, 15, 16, 17 usw.

22. s. Chenu: Rev de sciences phi-losophiques et theologiques vom 20. 4.1923. S. 253; Rueland Idesbald in Revueliturgique et monastique. 1923, Assomp-tion, beide zitiert bei Leclerq 40f.

23. s. Serouet 137-147 und die wert-vollen Untersuchungen dieser ganzenSchrift.

24. s. Serouet 382-402.25. s. Serouet 403, 408.

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369Anhang/Anm.

D. Nachwirkungender „Abhandlung“

1. Bremond 2, 576-584.2. Calvet 65f.3. Cognet Louis: La spiritualité fran-

çaise en XVIIe siècle 1949, La Colombe,Paris, S. 52.

4. Daniel Rops: La reforme catholique1955, Fayard, Paris S. 465-476.

5. Oeuvres 4, XVI.6. ebd.7. ebd.8. Oeuvres 4, XXXVI Anm.9. Daniel Rops: L’Eglise des temps clas-

siques, 18-20.10 ebda. 73.11. zitiert bei Cognet: Crépuscule des

mystiques. 1957, Desclée, Tournai, S. 6.12. Übersetzung des Buchtitels vom

soeben zitierten Werk Cognets.13. Darüber ausführlicher im letzten

Kapitel des Anhangs.14. Über den Jansenismus ausführli-

che Literaturangaben bei Calvet u. beiD. Rops: L’Ere des grands craquements.1958, Fayard, Paris S. 451-454.

15. dazu Daniel Rops ebda. 7-95.16. s. Revue asc. et myst. 1954, S. 47-

7 617. s. P. Viller SJ.: Le volonté de Dieu

dans les Lettres de St. Paul de la Croix,in Revue asc. et myst. 1954, S. 132-174.

18. P. Viller SJ. In: Mélanges offerts auP. Cavalléra (1948) S. 449-469, zitiertin Revue asc. et myst. 1949, S. 80-85;s. auch ebda 1954 S. 232-267; 324-347.

19. s. Chanoine Secret Bernh: La que-stion des faux autographes de St. Fran-çois de Sales, herausgegeben von der So-cieté des Prêtres de St. François de Sales.1959, Paris.

20. von Rev. Benedict Mackey. Lon-don, Burns Cates u. Eashbourne.

21. Von deutschen Übersetzungen der„Abhandlung“ im 17. und 18. Jahrhun-dert sind mir bekannt geworden: eine in

Cölln 1666 herausgegebene, ferner wie-der Cölln 1704 von Lammermann, da-von neue Auflage 1731, eine in Augsburg1755. – Aus dem 19. Jahrhundert inMünchen 1822 von Silbers, eine inSchaffhausen von Sintzel, eine in Regens-burg bei Manz 1876-1883 und die Über-setzung von P. Brucker SJ., Innsbruck1887. – Aus dem 20. Jahrhundert: Hel-ler (Regensburg 1931) und eine gekürzteAusgabe bei Pfeiffer, München 1925-1928.

22. Übersetzung von Ceria (Salesianer-Verlag, Turin).

23. In Bibliotheca de Autores Chri-stianos.

E. Die Theologieder „Abhandlung“

1. Leclerq Jacques: Saint François deSales, Docteur de le Perfection.

2. s. Anmerkungen B/6.3. s. Anmerkungen B/7.4. s. Brémond Henri, Auteur de l’ hu-

manisme 132-152.5. s. Calvet 80; Müller 58.6. Über diese von Franz von Sales in

allen seinen Werken, Predigten und Brie-fen bekundete optimistische Beurteilungdes Menschen (bei aller Anerkennung derverheerenden Folgen der Sünde) s. auchBrémond, Autour; Müller 38-101; Vin-cent 25-98 (bei Vincent steht aber der„Molinismus“ des Heiligen zu sehr imVordergrund).

7. Konzil von Trient, Sess VII, cap. 6(Denzinger 798).

8. Darüber ausführlich Leidenmühler11-44.

9. Mehr darüber bei Leidenmühler 16-19.

10. s. Leidenmühler 15f.11. Darüber ausführlich bei Leiden-

mühler 45-97. In der „Abhandlung“ sinddieser Frage die Kapitel 1-10 des X. Bu-ches gewidmet (II, 224-257).

12. s. Leidenmühler 98-113.

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370 Anhang /Anm.

13. Thomas Aqu. u. Scotus haben an-dere Auffassungen; s. Leidenmühler 114f.

14. Darüber ausführlich im letzten Ab-schnitt dieses Anhangs.

15. Abweichend von Thomas Aqu.,nach dem ein sofortiges Wachstum nurdiejenigen Akte bewirken, die eine höhe-re Intensität besitzen als der schon vor-handene Liebeshabitus; s. Leidenmühler32.

16. Im II. Teil der „Anleitung“, bes.Kap. 14 (die heilige Messe), Kap 19 (dieheilige Beichte), Kap 20 u. 21 (die heili-ge Kommunion). In der „Abhandlung“nur kurze Erwähnungen, weil Franz vonSales annimmt, daß die Leser der „Ab-handlung“ die „Anleitung“ in Händenhaben: Erwähnung des Sakramentenemp-fangs Abh. 3, 4; der heiligen Kommuni-on 6,7; 7,2; 11,3. – In der „Anleitung“schreibt er „Dein großes Anliegen bei derheiligen Kommunion sei, dich in derGottesliebe weiter zu vertiefen, zu be-stärken und durch sie froher zu werden.Denn die Liebe soll dein Ziel sein, wenndu Den empfängst, der sich einzig ausLiebe hingibt“ (2,21). – Das heilige Meß-opfer nennt Franz von Sales in der „An-leitung“ die „Sonne der geistlichen Übun-gen, den Mittelpunkt der christlichenReligion, das Herz der Frömmigkeit, dieSeele der Andacht, ein unfaßbares Ge-heimnis, das den Abgrund der göttlichenLiebe umfaßt, durch das sich Gott wirk-lich mit uns vereinigt und uns seine Gna-den und Gaben in herrlicher Fülle spen-det“ (2,14).

17. Oeuvres 15, 116-120

F. Der Quietismusund Franz von Sales

1. z. B. Konservationslexikon vonKnaur (Aufl. 1936), Taschenlexikon Uni-versum (Wien 1947). Im PhilosophischenWörterbuch von Schmidt-Schischkoff(Kröner, Stuttgart 1957) unter dem Stich-wort „Quietismus“ heißt es: „Weltabge-

wandte Lebenshaltung, vertritt denStandpunkt der völligen Gemütsruhe, desruhigen, affektlosen, passiven Verhaltens,des willenlosen und widerstandslosenSichergebens in den Willen Gottes. Franzvon Sales faßt das Wesen des Quietismusin den Worten zusammen: ni demander,ni réfuser.“ – In einem Artikel von Dr.Maria Faßbender über den „Theotimus“(in der Zeitschrift „Geist und Leben“,23. Jahrgang, S. 361-365) lesen wir Sei-te 365: „Seit 1611 geht Franz von Salesin seiner quietistisch gefärbten Mystik soweit, daß er Verzicht der Seele auf jegli-che religiöse Tätigkeit, auch auf dasTugendstreben fordert.“ (Der Artikelstrotzt auch sonst von Schiefheiten undirrigen Ansichten.)

2. Aus der reichen Literatur über denQuietismus: D. th. Artikel „Quietisme“(P. Pourrat), XIII/2, 1537-1581; D. ap.Art „Quietisme“ (Paul Dudon SJ.), IV,527-542; Poulain Aug. SJ.: Des grâcesd’oraison. 192210, S. 516-548; Zehn Jo-sef: Einführung in die christliche Mystik.1922, Paderborn, S. 348-374; Pourrat:La spiritualité chrétienne IV (1928, Le-coffre, Paris), 132-296. – Die Literaturzu den einzelnen Fragen folgt bei denbetreffenden Abschnitten.

3. s. Pourrat D. th. XIII/2, 1537-1554.4. ebda. 1554-1561; s. auch ders. In

Spiritualité chrét. IV, 132-205.5. dazu Henri Brémond: Berulle, quié-

tiste ou Gagliardi, im Supplément autome XXVI de „Vie spirituelle“, S. 65-74; 129-162.

6. Henri Brémond 2, 152-168.7. J. Brémond SJ. in: Revue d’asc et

myst. 1955. S. 399-4188. Revue d’histoire écclesiastique.

1940, Louvain, XXVI, 19-130.9. dazu s. bes. Artikel „Molinos“ in D.

th. X/2, 2187-2192 von J. Paquier; Pour-rat (s. oben) D. th. XIII/2, 1561-1573(dort auch die von Papst Innozenz XI.verurteilten Thesen Molinos); Pourrat:Spir. chrét. 205-220; P. Dudon in D. ap.(s. oben) 532-535; Paquier, Artikel „In-

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nocent XI.“: in D. th, VII/2, 2006-2013.10 s. Dudon in D. ap. IV, 543. – Paul

Dudon SJ. hat über Molinos eine aus-führliche Studie veröffentlicht: Le quié-tiste espagnol Michael Molinos. 1921.Beauchesne, Paris.

11. Es ist allerdings fraglich, ob dieSelbstbezichtigungen La Combes nichtganz oder doch teilweise Wahnvor-stellungen waren; Tatsache ist, daß er ei-nige Monate darauf geistesgestört gestor-ben ist.

12. Über Frau Guyon s. Artikel „Guy-on“ von Largent in D. th. VI/2 1997-2006; Pourrat in D. th. XIII/2, 1574-1576; in Spirit. chrét. 231-252; CognetL.: Crépuscule des Mystiques. 1958,Tournai; derselbe: La spiritualité de Ma-dame Guyon, in der Zeitschrift „XVIIesiècle“ 1951/52, S. 269-276; Joppin: Fé-nelon et la mystique du pur amour (1938,Paris) 47-88.

13. Darüber mehr bei Cognet; kürzerin „XVIIe siècle“, ganz ausführlich in„Crépuscule“.

14. zuerst als Manuskript im Guyon-

Kreis herumgereicht, 1704 gedruckt.15. Cognet, Crépuscule 159-220; Jop-

pin 68-71.16. zu Issy s. Cognet, Crépuscule 221-

302; Pourrat, Spirit. chrét. 257-266; Jop-pin 72-80.

17. Cognet 303-378; Joppin 81-88.18. Über die „Maximes des Saints“ s.

Joppin 95-191; Pourrat, Spirit. chrét.266-295.

19. Cognet 303-378; Joppin 81-8820. zum Prozeß in Rom s. Orcibal: Les

procès des Maximes des Saints, in der Zeit-schrift „XVIIe siècle“ 1951/52, 226-253.

21. s. Dom Mackey in Oeuvres 4, S.LVI-LXXIII; Migne hat in seinen Oeu-vres complètes de St. François de Sales(tome 9, 1864) eine lange „Dissertationsur la controverse entre Bossuet et Féne-lon, Spalte 493-782 von Baudry, worindieser alles behandelt, was in diesen Streit-schriften über Franz von Sales gesagtwurde.

22. Pourrat, Spirit. chrét. IV, 193-197.23. Artikel „Guyon“ in D. th. VI/2,

1998.