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THEODORE ZIOLKOWSKI
Princeton University
Ich und die Vögel:
Subjekt und Raum in vier Gedichten
Goethes “Ein gleiches” (zu “Wandrers Nachtlied”), Hölderlins “Hälfte des
Lebens” und Eichendorffs “Mondnacht” gehören zu den am häufigsten anthologi-
sierten, vertonten, kommentierten und parodierten Gedichten der deutschen Lite-
ratur. Goethes Gedicht gilt als “lyrisches Juwel,”1 Norbert von Hellingrath nennt
Hölderlins Werk “eines der schönsten Gedichte der Weltliteratur,”2 während
“Mondnacht” als eines der “zehn vollendeten Wunder deutscher Sprache” gefeiert
wird (Seidlin 234). Rilkes “Es winkt zu Fühlung fast aus allen Dingen” hat wegen
eines dort geprägten Worts—“Weltinnenraum”—eine eigene Bekanntheit er-
worben, denn das Wort ist nicht nur zu einem zentralen Begriff in Rilke-Studien
geworden,3 sondern es spielt auch in der Pop-Kultur eine Rolle: etwa im Internet als
“Portal für Spiritualität und Persönlichkeitsentwicklung”4 oder als Titel ein Buches
vom Populärphilosophen Peter Sloterdijk: Im Weltinnenraum des Kapitals (2005).
Die vier bedeutenden Gedichte werden allerdings selten im selben Atemzug
erwähnt, aber eine vergleichende Betrachtung enthüllt ein gemeinsames Motiv, das
durch seine Behandlung im Bild und Gedanken aufschlussreiche Epochenunter-
schiede exemplifiziert.
“Ein gleiches”
Über allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch. (1: 142)
Goethes kurzes Gedicht zeigt einen auffallend präzisen Aufbau. Die Sequenz
Gipfel-Wipfel-Vögel-du zeigt, wie häufig hervorgehoben wird (siehe v.a. Wilkin-
son), keine zufällige Gruppierung, sondern eine logische Reihenfolge, die—ohne
Gleichnisse, ohne Metaphern, ohne Symbole—den evolutionären Fortschritt der
The German Quarterly 87.1 (Winter 2014) 33
©2014, American Association of Teachers of German
Natur widerspiegelt: vom Unbelebten zum Belebten, vom Mineralreich über Pflan-
zenreich und Tierreich zum Menschen hin. Die Haltung des Beobachters im Ge-
dicht entspricht genau dem Wunsch des Naturwissenschaftlers Goethe, die Natur
mit einem völlig objektiven, unvoreingenommenen Blick zu betrachten. “Sobald
der Mensch die Gegenstände um sich her gewahr wird,” lesen wir in seinem Aufsatz
von 1792 “Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt” (13: 10–20), “be-
trachtet er sie in Bezug auf sich selbst, und mit Recht” (10). Aber, so geht es gleich
weiter, “so soll den echten Botaniker weder die Schönheit noch die Nutzbarkeit
einer Pflanze führen; er soll ihre Bildung, ihre Verwandtschaft mit dem übrigen
Pflanzenreiche untersuchen.” Und einige Seiten später heißt es: “In der lebendigen
Natur geschieht nichts, was nicht in einer Verbindung mit dem Ganzen stehe” (17)
—eine Behauptung, die mit der Darstellung des Gedichts völlig übereinstimmt.
Diese “zart empirische Nüchternheit” (Reed 192), die die im Sommer 1780
unternommenen naturwissenschaftlichen und vor allem geologischen Studien des
jungen Beauftragten für Bergwerksangelegenheiten im Herzogtum von Sachsen-
Weimar zu erkennen geben, lässt zugleich die “anthropozentrische Landschafts-
auffassung” der Gemälde des seit 1772 von Goethe verehrten Claude Lorrain
erkennen (Petz 18–20). Lorrain benutzte bekanntlich in seinen Kompositionen fast
immer dasselbe zugrunde liegende Schema von drei Flächen: im Hintergrund eine
leuchtende Ferne mit Bergen oder See, einen Mittelgrund mit Gebäuden oder
Wald, und einen Vordergrund mit Bäumen, vor dem die jeweiligen Gestalten sich
befinden, wie im Gemälde Landschaft mit Tobias und dem Engel (Abb. 1), das
Goethe vermutlich schon 1779 in der Kasseler Gemäldegalerie im Original
betrachtet hat.5 Dies ist ein Schema, das der Dichter 1787/88 fast schülerhaft in
seiner Bleistiftskizze Ideallandschaft mit Tempelruine und vulkanischem Bergkegel
nachahmte und das auch in seinem Gedicht ohne weiteres erkennbar ist.6
34 THE GERMAN QUARTERLY Winter 2014
Abb. 1. Claude Lorrain, Landschaft mit Tobias und dem Engel.
“Ein gleiches” wurde am 6. September 1780 bei GoethesÜbernachtung auf dem
Gickelhahn bei Ilmenau verfasst und dort an die Bretterwand der Jägerhütte
geschrieben. Das Gedicht beschreibt genau den Blick, den er dort hätte genießen
können—allerdings nicht von der Hütte aus, die mitten auf dem Weg zum Gipfel
unter Bäumen steht, sondern vom offenen Gipfel, wie er vier Jahre früher am 22. Juli
1776 die Aussicht auf den Finsterberg und das Taubachtal in einer Bleistift/
Pinselskizze festgehalten hat: Dampfende Täler bei Ilmenau. (Abb. 2)7 Am selben
Tag berichtete er Charlotte von Stein: “Hoch auf einem weit rings sehenden Berge.
Im Regen sizz ich hinter einem Schirm von Tannenreisen [...]. Die Thäler dampfen
alle an den Fichtenwänden herauf” (44–45). Dort sehen wir schon also die Gipfel
und Wipfel des Gedichts. Es fehlen nur die Vögelein.
Das Gedicht beschreibt keine romantisch oder subjektiv empfundene Land-
schaft, sondern einen genau beobachteten Raum, der nach den von Lorrain her
bekannten Kunstprinzipien aufgebaut ist—einen Raum, der ausschließlich mit
dem objektivierenden Sinn des Gesichts rezipiert wird. (Das Gehör wird nur
negativ impliziert: In der völligen Ruhe der Gegend gibt es keine Laute.) Am Tage
der Komposition hat er wieder an Frau von Stein geschrieben, wobei er die Aussicht
als “gros aber einfach” bezeichnet und die Gegend als “rein und ruhig, und so
uninteressant als eine große schöne Seele wenn sie sich am wohlsten befindet”
(249). Das “du” der letzten Zeile—es ist übrigens typisch für die objektivierende
Haltung des Gedichts, dass das dichterische Ich als “du” angeredet wird—steht
betrachtend abseits von dem Raum, der hier als “uninteressant” bezeichnet wird und
nur durch die dichterisch-melodische Komposition bedeutsam wird. Die schwei-
genden Vögelein im Walde gehören zu diesem objektiv betrachteten Naturraum.
Ich und Vögel sind hier völlig getrennt. Der Dichter wird zwar bald auch die eigene
ZIOLKOWSKI: Eichendorff, Goethe, Hölderlin, Rilke 35
Abb. 2. Goethe, Dampfende Täler bei Ilmenau.
Ruhe genießen—aber wie der Vogel, nicht als Vogel. Er bleibt in seiner Hütte, von
der aus er den Raum betrachtet.
“Hälfte des Lebens”
Ein Vierteljahrhundert später zeigt Hölderlins Gedicht einen ganz anderen
Standpunkt und -ort.
Mit gelben Birnen hänget
Und voll von wilden Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.
Weh mir, wo nehm ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen. (2:121)
Die Darstellung der Landschaft ist genau so lebendig wie bei Goethe, aber anstatt
eines Aufbaus nach dem Schema Hintergrund–Mittelgrund–Vordergrund verrät
die Szene eine bewusst antithetische Organisation. Wir bemerken zwar in der sanft
abfallenden Szene wieder dieselben Elemente—Mineralreich (Land), Pflanzen-
reich (Birnen und Rosen), Tierreich (Schwäne)—aber es wird auf keine evolu-
tionäre Entwicklung hingewiesen, sondern, wie in der fast unübersichtlichen
Sekundärliteratur regelmässig bemerkt wird, die Landschaft der ersten Strophe
steht in “dialektischer” oder “antithetischer” Gegensätzlichkeit zum menschlichen
Gebiet der zweiten Strophe (Adorno 362).8 Die saftige, “hängende” Landschaft
steht in schärfstem Gegensatz zu den steil vertikalen und harten Vorsprüngen der
zweiten Strophe (Mauern und Wetterfahnen) und trägt wie andere Gegensätze—
spätsommerlich/winterlich, farbig/kahl, warm/kalt, flüssig/starr, küssen/sprachlos
—zum Kontrast harmonisch/disharmonisch bei.
Wie steht es nun mit den Schwänen? In der Sekundärliteratur ist über die
Bedeutung der Schwäne viel spekuliert worden. Sie werden oft als Zeichen des
Dichters aufgefasst: als Symbol für Adonis in einer “Reformulierung der antiken
Schönheitsmythe,” als Verkörperung des narzissistischen Dichters, der sein Spie-
gelbild im Wasser betrachtet (Menninghaus 39–62), oder etwa als Sinnbild der
36 THE GERMAN QUARTERLY Winter 2014
sobria ebrietas im antiken Sinn (Schmidt 182–90). Hier wollen wir uns aber nicht
mit der Symbolik der Schwäne befassen, sondern mit deren struktureller Bedeutung
im Rahmen des Gedichts. Denn wie Michael Jakob betont, durchstreicht die
Pluralform “Schwäne” jede direkte Identifikation mit dem emblematischen Dich-
ter-Symbol (Jakob 243). Im Gegensatz zu Goethes Vögeln, die unpersönlich in
dritter Person als Element einer objektiv beschriebenen Landschaft vorkommen—
eigentlich werden sie weder gesehen noch gehört, sondern ihre Präsenz wird nur
vermutet—werden Hölderlins Schwäne in einer Apostrophe direkt angeredet.
In Hölderlins Gedichten kommt die Anrede “du” oder “ihr” auffallend häufig
vor—“Wo bist du? Trunken dämmert die Seele mir / Von aller deiner Wonne”
(“Sonnenuntergang” 1: 256); “Ihr wandelt droben im Licht, / Auf weichem Boden”
(“Hyperions Schicksalslied” 1: 260)—als Bezeichung für den Götterjüngling, die
seligen Genien, und andere gesegneten Geister. Sie sind vom Ich des Dichters, der
jeweils vor den kalten Mauern steht, der schwindet und fällt oder zurückbleibt,
wenn der Sonnenjüngling “zu frommen Völkern” wandert, völlig getrennt.
So spielen hier die sich küssenden Schwäne eine völlig andere Rolle als Goethes
schweigende Vögelein. Sie bilden ein Teil einer lieblichen Landschaft, die dem
Betrachter der zweiten Strophe gegenüberliegt, die er in der zweiten Person direkt
anredet und die eine bessere, erwünschte oder verlorene Existenzform exempli-
fiziert: “als das Bild vollendeter Harmonie” (Eibl 227). Michael Jakob charak-
terisiert die Schwäne in diesem Sinn überzeugend “als das Andere des Ich, als
Nicht-Ich, so daß von einer simplen, frontalen Identifikation des Dichters mit
ihnen sicherlich keine Rede sein kann” (248).
Man darf diese Idee leicht weiterführen, denn der Ausdruck “Nicht-Ich”
erinnert selbstverständlich an die Philosophie des Denkers, den Hölderlin im No-
vember 1794 in einem begeisterten Brief an Neuffer “die Seele von Jena” nannte und
dessen Philosophie ihn “ganz beschäftigt.”9 In den Vorlesungen über die Wissen-
schaftslehre, die Fichte gerade vortrug, hätte Hölderlin Sätze hören können wie: “Ich
setze im Ich dem teilbaren Ich ein teilbares Nicht-Ich entgegen” (31); oder “das Ich
setzt sich, als bestimmt durch das Nicht-Ich” (48).
Im Kontext von “Hälfte des Lebens” bedeutet das: Das Ich der zweiten Strophe
setzt sich dem Nicht-Ich der Schwäne entgegen, ist aberwiederum in seiner eigenen
Existenz bedingt durch das Nicht-Ich der gegenüberliegenden Landschaft.
Deswegen kommt der Schrei der Verzweiflung in der zweiten Strophe, wenn das
Nicht-Ich der spätsommerlichen Landschaft in Gefahr steht zu verschwinden. Die
Schwäne, die das Haupt ins “heilignüchterne” Wasser tunken, repräsentieren das
Nicht-Ich, das einen Aspekt von der eigenen Vergangenheit des Dichters bildet.
Wie es bei Fichte im letzten Satz seiner Vorlesungen lautet: “Auch unsre sinnliche
Wirksamkeit in der Sinnenwelt, die wir glauben, kommt uns nicht anders zu, als
mittelbar durch die Vorstellung” (242). In Hölderlins Gedicht erinnern die
ZIOLKOWSKI: Eichendorff, Goethe, Hölderlin, Rilke 37
Schwäne den Dichter daran, “Kein-Schwan-mehr-[zu]-sein” und “nicht mehr im
Zentrum zu sein, nicht mehr mit der Natur in Verbund und aus der Harmonie
gefallen zu sein” (Jakob 264).
Als visuelle Darstellung dieser “einstigen Identifikation und Harmonie” zu-
sammen mit “dem jetzigen Blick aus der Ferne” verweist Jakob auf Caspar David
Friedrichs Gemälde Schwäne im Schilf von 1820 (Jakob 249). Aber man könnte hier
im Gegensatz zu Lorrains Landschaften eher an viele andere typische Gemälde
Friedrichs denken—etwa Der Mönch am
Meer (1809/10) oder Wanderer über dem Ne-
belmeer (1818, Abb. 3)—wo eine Rücken-
gestalt völlig getrennt vor einer schönen
oder gewaltigen Landschaft steht und sie
melancholisch betrachtet.
In Hölderlins Gedicht hat die vom Ich
konstruierte Szene einen völlig anderen
Aufbau als die objektiv-evolutionäre Land-
schaft von Goethes Gedicht. Bei Goethe
wird die Landschaft von einem vor ihr
stehenden Betrachter in ihrer objektiven
Wirklichkeit beschrieben, wie etwa auch in
der Schlusszeile von Schillers “Der Spa-
ziergang” die Sonne Homers: “Siehe, sie
scheinet auch uns” (1: 234). Bei Hölderlin
steht die Landschaft beziehungsweise
stehen die Schwäne als “ihr” dem Dichter
gegenüber und bilden das Nicht-Ich, das er
sich als Symbol einer verlorenen Einheit
und Harmonie entgegensetzt.
“Mondnacht”
Bei Eichendorff begegnen wir völlig verschiedenen Verhältnissen.
Es war, als hätt’ der Himmel
Die Erde still geküßt,
Daß sie im Blütenschimmer
Von ihm nun träumen müßt’.
Die Luft ging durch die Felder
Die Ähren wogten sacht,
Es rauschten leis die Wälder,
So sternklar war die Nacht.
38 THE GERMAN QUARTERLY Winter 2014
Abb. 3. Caspar David Friedrich,
Wanderer über dem Nebelmeer.
Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus. (1: 300)
Hier handelt es sich wieder wie bei Goethe um eine Landschaft bei Nacht, aber die
Unterschiede sind auffallend. Zunächst einmal wird die Szene nicht unmittelbar in
der Gegenwart betrachtet, wie von Goethe an einem bestimmten Herbstabend
1780 auf dem Gickelhahn oder von Hölderlin an einem Sommertag im Jahr 1803
oder 1804, sondern nachträglich in der Erinnerung vorgestellt. Als Eichendorff um
1831 das Gedicht schrieb, saß er bereits als Beamter in der Großstadt Berlin und
gedachte im Imperfektum der Vergangenheit: vermutlich, wie so oft, der bekannten
Vergangenheit seiner Kindheit auf Schloss Lubowitz in Schlesien (Koopmann
421). So finden wir hier keinen deutlich artikulierten und klar vorstellbaren Raum,
sondern eine Gruppe von vereinzelten Frühlingsmotiven: nämlich Blüten, Getrei-
defeldern und Wäldern—eine Landschaft, die wie üblich bei Eichendorff vom
Rand beobachtet wird (oft wie in vielen Gemälden der Romantik vom Fenster aus
[Rewald 3]). Merkwürdigerweise fehlt in dieser “Mondnacht” ausgerechnet der
Mond, der allein durch den “Glanz seines Lichts” vertreten ist.10
Anstatt eines nach den klassischen Prinzipien von Lorrain organisierten Raums
haben wir es mit einer Landschaft
zu tun, die an die romantische
Malerei erinnert: etwa die Fern-
sichten Caspar David Friedrichs
mit einer oder zwei Rückenfiguren,
die ein Naturschauspiel betrachten,
das “Gegenstand religiöser Ver-
ehrung” ist, wie etwa Frau in der
Morgensonne (1818/20) oder die
beiden Männer in Abend (1821);11
oder die symbolischen Landschaf-
ten Philipp Otto Runges (e.g.,
Tageszeiten [1803], Abb. 4) oder
Friedrich Johann Overbecks (e.g.,
Italien und Germanien [1828]). Die
Gegenstände von Friedrichs Land-
schaften, deren Aufbau sich nicht
wie bei Goethe nach einer evolutio-
nären Ordnung orientiert, sondern
an geometrischen Figuren wie Krei-
sen und Dreieckskonstellationen
ZIOLKOWSKI: Eichendorff, Goethe, Hölderlin, Rilke 39
Abb. 4. Philipp Otto Runge,
Tageszeiten, Morgen
(Schwering 133), finden ihre Parallele in den “Versatzstücken” (Iehl 131),die in den
Gedichten und Erzählwerken Eichendorffs die Landschaften charakterisieren:
Landschaften, die von Klang und Schein beherrscht und als Bewegung aufgefasst
werden (Alewyn 32). Mit anderen Worten: Eichendorff “erlebt Natur und
Landschaft als Objekte, eindeutiges Gegenüber dem Organ, das sie aufnimmt”
(Seidlin 232).
Was den Zusammenhang der Motive betrifft: der Mangel an einer über-
sichtlichen Struktur, den bereits Ramdohr in dem berühmten Streit um den
Tetschener Altar (Kreuz im Gebirge [1808]) kritisierte,12 wird von einem modernen
Kunstkritiker als ein kreatives “Kunstchaos” bezeichnet, wo die Struktur nach den
üblichen klassischen Kunstregeln durch eine eher zufällige Zusammenstellung von
Versatzstücken ersetzt wird (Koerner 102–03).13 Bei Eichendorff wird dieser Raum
nicht, wie bei Goethe, ausschließlich durch den objektivierenden Blick erlebt,
sondern auch durch andere Sinne: Geruch (der Blüten), Gefühl (der Luft), Gehör
(der rauschenden Ähren und Bäume). Schon dieses Gefühl einer innigeren Be-
ziehung bildet den Übergang zum überraschenden Bild der letzten Strophe.
Was in diesem Gedicht anscheinend fehlt, sind die Vögel, die sonst in Eichen-
dorffs Landschaftsgedichten fast regelmässig vorkommen: vor allem Lerchen,
Nachtigallen und Adler, aber auch Kuckucke, Eulen, Tauben, Sperlinge, Spatzen,
Seefalken, Schwäne und so fort.14 Aber nur anscheinend: denn in der dritten Stro-
phe wird des Dichters Seele metaphorisch zum Vogel, der seine Flügel ausspannt
und durch den eben so synästhetisch angedeuteten Raum fliegt. Es ist die Verwirk-
lichung der “Synthese der sinnlichen und unsinnlichen Welt,” die schon vor vielen
JahrenalsMerkmal vonEichendorffs Werken bemerktworden ist (Rehder194).
In den Kommentaren wird oft die Konditionalwendung beziehungsweise der
“optative” Charakter der beiden letzten Zeilen betont (Rademacher 283), die dem
Konditionalsatz der ersten Strophe entsprechen. Eichendorff wünscht sich in
seinen Gedichten oft Flügel: “O hätt’ ich, hätt’ ich Flügel” (“Abendlandschaft”),
oder “Ach, wie oft wünscht’ ich mir Flügel” (“Der Kranke”). Dafür haben seine
Gefühle oft “Flügel”: Die Sehnsucht senkt ihre Flügel (“Entschluss”), das Gebet
nimmt Flügel (“Der Liedsprecher”). Hier braucht man aber nicht unbedingt an eine
“Sakralisierung des Landschaftsbildes” zu denken (Schwering 137) oder den Kuss
am Anfang als Bild eines hieros gamos, einer mystischen Ehe zwischen Himmel und
Erde, aufzufassen (Schulz777–78undGössmann46), wobei der Dichter am Schluss
zum Himmel und Gott hinauffliegt. Die Seele fliegt doch durch die stillen Lande;
und “nach Haus” kann ebensowohl die verlorene Heimat der Kindheit als den
Himmel bezeichnen. (Man denkt fast unwillkürlich an die Flötentöne, die Richard
Strauss am Ende des Lieds “Im Abendrot” [Vier letzte Lieder] erklingen lässt, die ja
die Lerchen sein könnten, die Eichendorff “Nachträumend in den Duft” steigen
läßt.) Es ist übrigens nicht nur Eichendorffs Seele, die in diesen Jahren in die Welt
40 THE GERMAN QUARTERLY Winter 2014
hinaus fliegt. Auch in der “flaumenleichte[n] Zeit der dunkeln Frühe” von Mörikes
fast gleichzeitigem Gedicht “An einem Wintermorgen, vor Sonnenaufgang”
(1825) heißt es, indem der Dichter “der Hirtenflöten Klänge” hört und sein “Sinn
sich frisch zur Ferne lenkt”: “Die Seele fliegt, soweit der Himmel reicht, / Der Ge-
nius jauchzt in mir!” (9–10).
Die Szene kann ganz anders aufgefasst werden: Wenn der Dichter seine “Seele”
vogelartig in den Raum projiziert, wird in einem anderen Kontext die Identität oder
Dualität vonGeistund Natur,wie sie in Schellings Identitätsphilosophievorgestellt
wird, im Gedicht verkörpert. Wie laut dem bekanntem Wort in Schellings Ideen zu
einer Philosophie der Natur die Natur “der sichtbare Geist” sein soll (380), so soll des
Dichters Geist oder Seele “die unsichtbare Natur” sein, die in Vogelgestalt wieder
eine natürliche Gestalt annimmt und sichtbar wird.15 Von Goethes Objektivierung
des Raums sind wir weit entfernt. Allerdings sind die Versatzstücke der Landschaft,
wie Alewyn bemerkt, alle auf den Standpunkt des Betrachters visiert (Alewyn 38).
Aber der romantische Mensch bleibt nicht mehr in seiner Hütte oder auf dem
gegenüberliegenden Ufer melancholisch-betrachtend stehen; er wirft sich in seiner
Verwandlung als Vogel, als Natur gewordener Geist, ekstatisch in die Landschaft
und fliegt in die heimatliche Vergangenheit, die bei Hölderlin als verloren betrauert
wird, hinein. Bei Goethe und Hölderlin ist alles Ruhe, Stille und Betrachtung, bei
Eichendorff hingegen Geräusch, Bewegung, Handlung.
“Weltinnenraum”
Das bekannte Wort findet sich erst in der vierten Strophe von Rilkes titellosem
Gedicht aus dem Frühherbst (August/September) 1914.
Es winkt zu Fühlung fast aus allen Dingen,
aus jeder Wendung weht es her: Gedenk!
Ein Tag, an dem wir fremd vorübergingen,
entschließt im künftigen sich zum Geschenk.
Wer rechnet unseren Ertrag? Wer trennt
uns von den alten, den vergangnen Jahren?
Was haben wir seit Anbeginn erfahren,
als daß sich ein im anderen erkennt?
Als daß an uns Gleichgültiges erwarmt?
O Haus, o Wiesenhang, o Abendlicht,
auf einmal bringst du’s beinah zum Gesicht
und stehst an uns, umarmend und umarmt.
ZIOLKOWSKI: Eichendorff, Goethe, Hölderlin, Rilke 41
Durch alle Wesen reicht der eine Raum:
Weltinnenraum. Die Vögel fliegen still
Durch uns hindurch. O, der ich wachsen will,
ich seh hinaus, und in mir wächst der Baum.
Ich sorge mich, und in mir steht das Haus.
Ich hüte mich, und in mir ist die Hut.
Geliebter, der ich wurde: an mir ruht
Der schönen Schöpfung Bild und weint sich aus.
(2: 92–93)
Hier haben wir es nicht wie bei Goethe, Hölderlin und Eichendorff mit der
Evozierung einer Landschaft zu tun, sondern mit einem Versuch, das Bild der
Anfangszeile zu erklären: “Es winkt zu Fühlung fast aus allen Dingen”—das heißt,
mit dem Gedanken, dass wir mit allem verwandt sind, an dem wir täglich fremd
vorübergehen: “O Haus, o Wiesenhang, o Abendlicht.” Die drei ersten Strophen
bieten eine Abrechnung mit der Vergangenheit, “den alten,den vergangnen Jahren”
mit ihrer klassischen Auffassung des Raums und des kapitalistischen Materialismus
(“Wer rechnet unseren Ertrag?”), die jetzt aber durch die moderne Physik mit
Einsteins neuem Begriff von Raum-Zeit und Ernst Machs Theorie eines
“erweiterten Ichs” ersetzt wird.16 Erst in den beiden letzten Strophen gelangen wir
zum Bild, das uns hier angeht.
Das Wort “Weltinnenraum” hat es nicht nur den Literaturwissenschaftlern,
sondern auch den Philosophen angetan, die vor allem bestrebt waren, das Bild nach
Husserl phänomenologisch-transzendental zu erklären.17 Klar ist ohne weiteres,
dass dieser Weltinnenraum einen neuen verinnerlichten Raum darstellt, der den
klassizistischen Raum mit seinen klar artikulierten Grenzen durch ein
Raum-Zeit-Kontinuum nach Einsteins Begriff ersetzt und der als “absolutes
Bewußtsein,” wo Geist und Natur im Sinne von Ernst Machs Theorie eines
“erweiterten Ichs” zusammentreffen, interpretiert werden kann. Selbstverständlich
wird der Raum mittels der Sprache dargestellt, aber die Gleichsetzung des Begriffs
“Weltinnenraum” mit “Sprach-Raum” verringert meines Erachtens ein Erlebnis,
das für Rilke existentiell war (Rademacher 412). Man vergleiche etwa den “ausge-
sparten Raum” im Geist des gläubigen Volks, in dem das Einhorn zu Wirklichkeit
wird (Sonette an Orpheus 1: 753).18
Hier interessiert uns aber die Beziehung des Dichters zu den erwähnten
Requisiten der Landschaft: Vogel und Baum. Anders als Goethe und Hölderlin, bei
denen auch Vögel und Bäume vorkommen, steht der Dichter nicht distanziert
betrachtend davor; und anders als Eichendorff, der sich als Vogel in die Landschaft
mit ihren rauschenden Wäldern hineinprojiziert, empfindet der Dichter sich selber
als Teil des Raums, durch den die Vögel fliegen und in dem der Baum wächst.19
Man dürfte eventuell auch an Heisenbergsunbestimmbare Welt denken, in welcher
42 THE GERMAN QUARTERLY Winter 2014
der Beobachter und das Beobachtete im selben Feld existieren, wo sie aufeinander
bezogen sind. Im Gegensatz zu dem Raum bei Goethe und Hölderlin, der visuell
erlebt wird, und bei Eichendorff, der synästhetisch empfunden wird, wird dieser
Raum taktil wahrgenommen. Die Dinge dieser Welt, in denen die Vögel “still”
fliegen, bringen es allerdings “beinah zum Gesicht,” aber sonst winken sie nur “zu
Fühlung,” indem sie an uns “erwarmen” und “ruhen” und uns “umarmen.” Es ist für
das verallgemeinernde Wesen des Weltinnenraums—im Gegensatz zu dem indi-
viduellen Subjekt der drei vorhergehenden Gedichte—kennzeichnend, dass die
Vögel durch “uns” und nicht “durch mich” fliegen.
Dasselbe ornithologische Bild kommt übrigens in Gedichten aus diesen Jahren
mehrmals vor, um Rilkes Auffassung des Weltinnenraums zu exemplifizieren, so
etwa in dem Entwurf “Vor Weihnachten 1914” (1915), wo er bittet: “Doch laß
durch mich wie durch die Luft den Flug / Der Vögel gehen” (2: 96). In “Wendung”
(1914) heißt es: “Vögel durchflogen ihn grad, / Den gemütigen” (2: 82). In einem
anderen Gedicht aus demselben Jahr kreist demjenigen, der “Ausgesetzt auf den
Bergen des Herzens” (das heißt, im Weltinnenraum) ist, “der große geborgene
Vogel [...] um der Gipfel reine Verweigerung” (2: 95). In seinen verschiedenen
Formulierungen geht das Bild vermutlich auf Rilkes Erlebnis auf Capri im Winter
1906/07 und dann wieder ein Jahr später zurück, wo er nachts unter den Ölbäumen
im Garten stand “und der Ruf eines Vogels, über dem ich die Augen schließen
mußte, [...] gleichzeitig in mir und draußen wie in einem einzigen ununterschie-
denen Raum von vollkommener Ausdehnung und Klarheit [war].”20 (Es sind übri-
gens nicht nur Vögel, die durch Rilke ihren Weg machen; in den Aufzeichnungen des
Malte Laurids Brigge [1910] lesen wir: “Elektrische Bahnen rasen läutend durch
meine Stube. Automobile gehen über mich hin” [6: 710].)
Wie bei Goethe, Hölderlin und Eichendorff finden wir erwartungsgemäß auch
hier in der Kunst zeitgemäße Parallelen zum dichterischen Bild des Menschen,
dessen Innenraum durch Elemente der Außenwelt durchdrungen wird: bei Paul
Klee und Marc Chagall, bei Picasso und den Kubisten und vor allem bei den
Expressionisten. In seinem Gemälde Ich und die Stadt (1913, Abb. 5) kombiniert
Ludwig Meidner Stadtansichten mit dem eigenen Selbstporträt. Im Titelblatt des
Aufrufs “An die Künstler” von 1919 (um eine künstlerische Gemeinschaft in einer
sozialistischen Republik zu schaffen) zeigte Max Pechstein die Gestalt eines
Revolutionärs mit einem flammenden Herzen, dessen Flammen die ganze Stadt
hinter ihm entzünden. In frühen Filmen, wie in Karl Grunes Die Strasse (1923) oder
Jean Cocteaus Le sang d’un poète (1930), werden manchmal Montagetechniken
betätigt, wodurch menschliche Gestalten mit Dingen oder Szenen aus der äußeren
Welt durchdrungen werden.21
ZIOLKOWSKI: Eichendorff, Goethe, Hölderlin, Rilke 43
In dieser kurzen vergleichen-
den Analyse habe ich nicht ver-
sucht, ausführliche Interpreta-
tionen der vier Gedichte zu bieten,
sondern einige charakteristische
Merkmale bei der Verwendung
desselben Motifs —Vogel und Ich
—als zeittypisch in der Behand-
lung von Raum zu identifizieren.
In Goethes Zeilen hat der Raum
einen deutlichen und evolutionär
artikulierten Aufbau; in Hölder-
lins Gedicht werden dieselben
Landschaftselemente in bewuß-
tem Gegensatz zur kahlen Verti-
kalität der Mauern beschrieben; in
“Mondnacht” besteht die Szene
aus lockeren Versatzstücken; in
Rilkes Gedicht ist der klassisch
organisierte Raum zu einem Weltinnenraum nach Vorbild der Relativitätstheorie
geworden. Goethes Raum ist völlig still und ruhig, Hölderlins (im Gegensatz zur
Sprachlosigkeit der Mauern) implizit geräuschvoll, Eichendorffs klangvoll und
bewegt, und Rilkes still und bewegt (wie der Kosmos). Bei Goethe und Hölderlin
wird die Zeit der Darstellung als gegenwärtig vorgestellt, bei Eichendorff als
vergangen und bei Rilke unbestimmbar in einer zu Raum gewordenen Zeit.
Goethes dichterisches Ich bleibt ruhig in seiner Hütte, Hölderlins steht dem
Nicht-Ich der Schwäne gegenüber, Eichendorffs fliegt in die Landschaft hinaus
und Rilkes wird zu einem absoluten Bewusstsein, in dem “der Schöpfung
Bild”—die stillen Vögel, der wachsende Baum—zur Ruhe kommen kann. Es ist
charakterisch für die jeweilige Haltung der Gedichte, dass das dichterische Subjekt
bei Hölderlin nur im Gegensatz zum “ihr” der Schwäne als “ich” bezeichnet wird;
bei Goethe wird es als “du” angeredet, bei Eichendorff als “meine Seele” und bei
Rilke als “uns.” (Allerdings wird Rilkes “uns,” durch die die Vögel fliegen, zum
“mir,” in dem der Baum wächst und an dem Bild der Schöpfung ruht.) In ihren
individuellen Merkmalen sind jedenfalls alle vier Gedichte nicht nur für ihre
Schöpfer typisch, sondern auch repräsentativ: für die zeitgemässe Kunst und für das
philosophische Denken der jeweiligen intellektuell-kulturellen Epoche.
44 THE GERMAN QUARTERLY Winter 2014
Abb. 5. Ludwig Meidner, Ich und die Stadt.
Notes
ZIOLKOWSKI: Eichendorff, Goethe, Hölderlin, Rilke 45
1 Reed 194. Reed bietet auch eine Übersicht der Sekundärstudien.2 Hölderlin (ed. Hellingrath) 4:302.3 Vor allem seit Günther.4 Siehe www.weltinnenraum.de.5 Petz 18. Zum Aufbau von Lorrains Landschaften siehe vor allem Clark 63–65.6 Reproduziert in Schulze, Goethe und die Kunst 135.7 Reproduziert in Schulze, Goethe und die Kunst 119.8 Allerdings erblickt Eibl im Verhältnis der beiden Strophen keine Antithese, sondern
“Bild und Reflexion” (224).9 Hölderlin (ed. Beissner) 152. Zu Hölderlin und Fichte, wenn auch nicht zu den
Gedichten, vgl. vor allem Henrich 40–48.10Frühwald 403. Frühwald zitiert auch die Entwürfe, in denen der Mond noch vorhanden
war, aber verworfen wurde.11 Siehe Holsten 41.12 Zur Kontroverse siehe Koerner 47–63.13 Den Begriff “Kunstchaos” übernimmt Koerner aus Friedrich Schlegels Athenäum-
Fragmenten (Nr. 389). Der Begriff kommt sonst häufig bei Schlegel in diesem positiven Sinn
vor. Zum Beispiel: “Interessant ist aesthet[isches] Cha[os] und Classisch ist syst[ematische]
Bildung” (Literary Notebooks, Nr. 1239)—eine Differenzierung, die genau auf den Unter-
schied zwischen Lorrain und Friedrich, bzw. Goethe und Eichendorff trifft.14 Ich halte es für eine Übervereinfachung, wenn Alewyn behauptet, die Vögel seien in
Eichendorffs Werk “immer nur hörbar, nicht sichtbar” (31).15 Hier bin ich anderer Meinung als Seidlin, wenn er meint, dass Eichendorff “Natur und
Landschaft als Objekte, eindeutiges Gegenüber dem Organ, das sie aufnimmt,” erlebt und
“den enthusiastischen Anspruch auf Identität von Mensch und Natur ablehnt” (232).
Seidlins Verallgemeinerung bezieht sich vor allem auf die Landschaften in den Prosawerken
mit ihren realistischen Handlungen, aber im Gedicht “Mondnacht” trifft sie kaum zu.16 Die kühnste Interpretation des Gedichts und des Begriffs “Weltinnenraum” im Lichte
der Theorien von Einstein und Mach bietet Adler 110 und 122–25.17 Eine Übersicht bei Perlwitz. In seinem Kapitel über “Die Dialektik von Außen und
Innen” bezieht sich Bachelard 205–06 auf Rilke, allerdings nicht auf die Gedichte, sondern
auf eine Stelle aus den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, die er gründlich missversteht.
Denn bei Rilke heißt es: “Und in dir ist beinah kein Raum” (6: 777); aber in der französischen
Übersetzung, die Bachelard benutzt, wird die Stelle so übertragen: “Et il n’y a presque pas
d’espace ici”—eine Übertragung, die esBachelard im Zusammenhang mit dem Thema seines
Werkes ermöglicht, Rilkes “Weltinnenraum” einfach als sein Zimmer im Gegensatz zur
Welt draußen aufzufassen.18 Siehe Ziolkowski 16.19 Ich halte es für eine Verkehrung, wenn behauptet wird, Rilkes Text besinge “in fast
Eichendorffscher Manier den Einklang von Ich und Welt” (Sprengel 630). Denn Eichen-
dorff fliegt in die Welt hinaus, während bei Rilke die Welt in den Dichter hineinfliegt. Dem
Bild Eichendorffs liegt viel näher etwa Rilkes frühes Gedicht “Fortschritt” (1900), wo: “Mit
meinen Sinnen, wie mit Vögeln, / reiche ich in die windigen Himmel aus der Eichen” (1:
402). Auch Adler zitiert Eichendorffs Gedicht “Wünschelrute” (116), meint aber, dass “sich
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diese äußere Welt für den Romantiker Eichendorff noch in der äußeren Natur retten” ließ
(123), ohne das Zusammentreffen von Natur und Geist im Gedicht “Mondnacht” zu
erwähnen.20 Brief vom 14. Januar 1919 an Adelheid von der Marwitz (Rilke, Briefe 571). Den
Hinweis auf diese Quelle entnehme ich Ruffini 199.21Die meisten der erwähnten Beispiele in: Gesamtkunstwerk Expressionismus 206, 34, 285.
Engel schreibt: “Was hier in sehr R.schen Chiffren formuliert ist, meint literatur-
geschichtlich nichts anderes als ein klassisch-modernes Parallelprojekt zum zeitgenössischen
Expressionismus”—allerdings ohne irgendwelche Beispiele zu erwähnen (180).
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