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THEODORE ZIOLKOWSKI Princeton University Ich und die Vögel: Subjekt und Raum in vier Gedichten Goethes “Ein gleiches” (zu “Wandrers Nachtlied”), Hölderlins “Hälfte des Lebens” und Eichendorffs “Mondnacht” gehören zu den am häufigsten anthologi- sierten, vertonten, kommentierten und parodierten Gedichten der deutschen Lite- ratur. Goethes Gedicht gilt als “lyrisches Juwel,” 1 Norbert von Hellingrath nennt Hölderlins Werk “eines der schönsten Gedichte der Weltliteratur,” 2 während “Mondnacht” als eines der “zehn vollendeten Wunder deutscher Sprache” gefeiert wird (Seidlin 234). Rilkes “Es winkt zu Fühlung fast aus allen Dingen” hat wegen eines dort geprägten Worts—“Weltinnenraum”—eine eigene Bekanntheit er- worben, denn das Wort ist nicht nur zu einem zentralen Begriff in Rilke-Studien geworden, 3 sondern es spielt auch in der Pop-Kultur eine Rolle: etwa im Internet als “Portal für Spiritualität und Persönlichkeitsentwicklung” 4 oder als Titel ein Buches vom Populärphilosophen Peter Sloterdijk: Im Weltinnenraum des Kapitals (2005). Die vier bedeutenden Gedichte werden allerdings selten im selben Atemzug erwähnt, aber eine vergleichende Betrachtung enthüllt ein gemeinsames Motiv, das durch seine Behandlung im Bild und Gedanken aufschlussreiche Epochenunter- schiede exemplifiziert. Ein gleichesÜber allen Gipfeln Ist Ruh, In allen Wipfeln Spürest du Kaum einen Hauch; Die Vögelein schweigen im Walde. Warte nur, balde Ruhest du auch. (1: 142) Goethes kurzes Gedicht zeigt einen auffallend präzisen Aufbau. Die Sequenz Gipfel-Wipfel-Vögel-du zeigt, wie häufig hervorgehoben wird (siehe v.a. Wilkin- son), keine zufällige Gruppierung, sondern eine logische Reihenfolge, die—ohne Gleichnisse, ohne Metaphern, ohne Symbole—den evolutionären Fortschritt der The German Quarterly 87.1 (Winter 2014) 33 ©2014, American Association of Teachers of German

Ich und die Vögel: Subjekt und Raum in vier Gedichten

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THEODORE ZIOLKOWSKI

Princeton University

Ich und die Vögel:

Subjekt und Raum in vier Gedichten

Goethes “Ein gleiches” (zu “Wandrers Nachtlied”), Hölderlins “Hälfte des

Lebens” und Eichendorffs “Mondnacht” gehören zu den am häufigsten anthologi-

sierten, vertonten, kommentierten und parodierten Gedichten der deutschen Lite-

ratur. Goethes Gedicht gilt als “lyrisches Juwel,”1 Norbert von Hellingrath nennt

Hölderlins Werk “eines der schönsten Gedichte der Weltliteratur,”2 während

“Mondnacht” als eines der “zehn vollendeten Wunder deutscher Sprache” gefeiert

wird (Seidlin 234). Rilkes “Es winkt zu Fühlung fast aus allen Dingen” hat wegen

eines dort geprägten Worts—“Weltinnenraum”—eine eigene Bekanntheit er-

worben, denn das Wort ist nicht nur zu einem zentralen Begriff in Rilke-Studien

geworden,3 sondern es spielt auch in der Pop-Kultur eine Rolle: etwa im Internet als

“Portal für Spiritualität und Persönlichkeitsentwicklung”4 oder als Titel ein Buches

vom Populärphilosophen Peter Sloterdijk: Im Weltinnenraum des Kapitals (2005).

Die vier bedeutenden Gedichte werden allerdings selten im selben Atemzug

erwähnt, aber eine vergleichende Betrachtung enthüllt ein gemeinsames Motiv, das

durch seine Behandlung im Bild und Gedanken aufschlussreiche Epochenunter-

schiede exemplifiziert.

“Ein gleiches”

Über allen Gipfeln

Ist Ruh,

In allen Wipfeln

Spürest du

Kaum einen Hauch;

Die Vögelein schweigen im Walde.

Warte nur, balde

Ruhest du auch. (1: 142)

Goethes kurzes Gedicht zeigt einen auffallend präzisen Aufbau. Die Sequenz

Gipfel-Wipfel-Vögel-du zeigt, wie häufig hervorgehoben wird (siehe v.a. Wilkin-

son), keine zufällige Gruppierung, sondern eine logische Reihenfolge, die—ohne

Gleichnisse, ohne Metaphern, ohne Symbole—den evolutionären Fortschritt der

The German Quarterly 87.1 (Winter 2014) 33

©2014, American Association of Teachers of German

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Natur widerspiegelt: vom Unbelebten zum Belebten, vom Mineralreich über Pflan-

zenreich und Tierreich zum Menschen hin. Die Haltung des Beobachters im Ge-

dicht entspricht genau dem Wunsch des Naturwissenschaftlers Goethe, die Natur

mit einem völlig objektiven, unvoreingenommenen Blick zu betrachten. “Sobald

der Mensch die Gegenstände um sich her gewahr wird,” lesen wir in seinem Aufsatz

von 1792 “Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt” (13: 10–20), “be-

trachtet er sie in Bezug auf sich selbst, und mit Recht” (10). Aber, so geht es gleich

weiter, “so soll den echten Botaniker weder die Schönheit noch die Nutzbarkeit

einer Pflanze führen; er soll ihre Bildung, ihre Verwandtschaft mit dem übrigen

Pflanzenreiche untersuchen.” Und einige Seiten später heißt es: “In der lebendigen

Natur geschieht nichts, was nicht in einer Verbindung mit dem Ganzen stehe” (17)

—eine Behauptung, die mit der Darstellung des Gedichts völlig übereinstimmt.

Diese “zart empirische Nüchternheit” (Reed 192), die die im Sommer 1780

unternommenen naturwissenschaftlichen und vor allem geologischen Studien des

jungen Beauftragten für Bergwerksangelegenheiten im Herzogtum von Sachsen-

Weimar zu erkennen geben, lässt zugleich die “anthropozentrische Landschafts-

auffassung” der Gemälde des seit 1772 von Goethe verehrten Claude Lorrain

erkennen (Petz 18–20). Lorrain benutzte bekanntlich in seinen Kompositionen fast

immer dasselbe zugrunde liegende Schema von drei Flächen: im Hintergrund eine

leuchtende Ferne mit Bergen oder See, einen Mittelgrund mit Gebäuden oder

Wald, und einen Vordergrund mit Bäumen, vor dem die jeweiligen Gestalten sich

befinden, wie im Gemälde Landschaft mit Tobias und dem Engel (Abb. 1), das

Goethe vermutlich schon 1779 in der Kasseler Gemäldegalerie im Original

betrachtet hat.5 Dies ist ein Schema, das der Dichter 1787/88 fast schülerhaft in

seiner Bleistiftskizze Ideallandschaft mit Tempelruine und vulkanischem Bergkegel

nachahmte und das auch in seinem Gedicht ohne weiteres erkennbar ist.6

34 THE GERMAN QUARTERLY Winter 2014

Abb. 1. Claude Lorrain, Landschaft mit Tobias und dem Engel.

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“Ein gleiches” wurde am 6. September 1780 bei GoethesÜbernachtung auf dem

Gickelhahn bei Ilmenau verfasst und dort an die Bretterwand der Jägerhütte

geschrieben. Das Gedicht beschreibt genau den Blick, den er dort hätte genießen

können—allerdings nicht von der Hütte aus, die mitten auf dem Weg zum Gipfel

unter Bäumen steht, sondern vom offenen Gipfel, wie er vier Jahre früher am 22. Juli

1776 die Aussicht auf den Finsterberg und das Taubachtal in einer Bleistift/

Pinselskizze festgehalten hat: Dampfende Täler bei Ilmenau. (Abb. 2)7 Am selben

Tag berichtete er Charlotte von Stein: “Hoch auf einem weit rings sehenden Berge.

Im Regen sizz ich hinter einem Schirm von Tannenreisen [...]. Die Thäler dampfen

alle an den Fichtenwänden herauf” (44–45). Dort sehen wir schon also die Gipfel

und Wipfel des Gedichts. Es fehlen nur die Vögelein.

Das Gedicht beschreibt keine romantisch oder subjektiv empfundene Land-

schaft, sondern einen genau beobachteten Raum, der nach den von Lorrain her

bekannten Kunstprinzipien aufgebaut ist—einen Raum, der ausschließlich mit

dem objektivierenden Sinn des Gesichts rezipiert wird. (Das Gehör wird nur

negativ impliziert: In der völligen Ruhe der Gegend gibt es keine Laute.) Am Tage

der Komposition hat er wieder an Frau von Stein geschrieben, wobei er die Aussicht

als “gros aber einfach” bezeichnet und die Gegend als “rein und ruhig, und so

uninteressant als eine große schöne Seele wenn sie sich am wohlsten befindet”

(249). Das “du” der letzten Zeile—es ist übrigens typisch für die objektivierende

Haltung des Gedichts, dass das dichterische Ich als “du” angeredet wird—steht

betrachtend abseits von dem Raum, der hier als “uninteressant” bezeichnet wird und

nur durch die dichterisch-melodische Komposition bedeutsam wird. Die schwei-

genden Vögelein im Walde gehören zu diesem objektiv betrachteten Naturraum.

Ich und Vögel sind hier völlig getrennt. Der Dichter wird zwar bald auch die eigene

ZIOLKOWSKI: Eichendorff, Goethe, Hölderlin, Rilke 35

Abb. 2. Goethe, Dampfende Täler bei Ilmenau.

Page 4: Ich und die Vögel: Subjekt und Raum in vier Gedichten

Ruhe genießen—aber wie der Vogel, nicht als Vogel. Er bleibt in seiner Hütte, von

der aus er den Raum betrachtet.

“Hälfte des Lebens”

Ein Vierteljahrhundert später zeigt Hölderlins Gedicht einen ganz anderen

Standpunkt und -ort.

Mit gelben Birnen hänget

Und voll von wilden Rosen

Das Land in den See,

Ihr holden Schwäne,

Und trunken von Küssen

Tunkt ihr das Haupt

Ins heilignüchterne Wasser.

Weh mir, wo nehm ich, wenn

Es Winter ist, die Blumen, und wo

Den Sonnenschein,

Und Schatten der Erde?

Die Mauern stehn

Sprachlos und kalt, im Winde

Klirren die Fahnen. (2:121)

Die Darstellung der Landschaft ist genau so lebendig wie bei Goethe, aber anstatt

eines Aufbaus nach dem Schema Hintergrund–Mittelgrund–Vordergrund verrät

die Szene eine bewusst antithetische Organisation. Wir bemerken zwar in der sanft

abfallenden Szene wieder dieselben Elemente—Mineralreich (Land), Pflanzen-

reich (Birnen und Rosen), Tierreich (Schwäne)—aber es wird auf keine evolu-

tionäre Entwicklung hingewiesen, sondern, wie in der fast unübersichtlichen

Sekundärliteratur regelmässig bemerkt wird, die Landschaft der ersten Strophe

steht in “dialektischer” oder “antithetischer” Gegensätzlichkeit zum menschlichen

Gebiet der zweiten Strophe (Adorno 362).8 Die saftige, “hängende” Landschaft

steht in schärfstem Gegensatz zu den steil vertikalen und harten Vorsprüngen der

zweiten Strophe (Mauern und Wetterfahnen) und trägt wie andere Gegensätze—

spätsommerlich/winterlich, farbig/kahl, warm/kalt, flüssig/starr, küssen/sprachlos

—zum Kontrast harmonisch/disharmonisch bei.

Wie steht es nun mit den Schwänen? In der Sekundärliteratur ist über die

Bedeutung der Schwäne viel spekuliert worden. Sie werden oft als Zeichen des

Dichters aufgefasst: als Symbol für Adonis in einer “Reformulierung der antiken

Schönheitsmythe,” als Verkörperung des narzissistischen Dichters, der sein Spie-

gelbild im Wasser betrachtet (Menninghaus 39–62), oder etwa als Sinnbild der

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Page 5: Ich und die Vögel: Subjekt und Raum in vier Gedichten

sobria ebrietas im antiken Sinn (Schmidt 182–90). Hier wollen wir uns aber nicht

mit der Symbolik der Schwäne befassen, sondern mit deren struktureller Bedeutung

im Rahmen des Gedichts. Denn wie Michael Jakob betont, durchstreicht die

Pluralform “Schwäne” jede direkte Identifikation mit dem emblematischen Dich-

ter-Symbol (Jakob 243). Im Gegensatz zu Goethes Vögeln, die unpersönlich in

dritter Person als Element einer objektiv beschriebenen Landschaft vorkommen—

eigentlich werden sie weder gesehen noch gehört, sondern ihre Präsenz wird nur

vermutet—werden Hölderlins Schwäne in einer Apostrophe direkt angeredet.

In Hölderlins Gedichten kommt die Anrede “du” oder “ihr” auffallend häufig

vor—“Wo bist du? Trunken dämmert die Seele mir / Von aller deiner Wonne”

(“Sonnenuntergang” 1: 256); “Ihr wandelt droben im Licht, / Auf weichem Boden”

(“Hyperions Schicksalslied” 1: 260)—als Bezeichung für den Götterjüngling, die

seligen Genien, und andere gesegneten Geister. Sie sind vom Ich des Dichters, der

jeweils vor den kalten Mauern steht, der schwindet und fällt oder zurückbleibt,

wenn der Sonnenjüngling “zu frommen Völkern” wandert, völlig getrennt.

So spielen hier die sich küssenden Schwäne eine völlig andere Rolle als Goethes

schweigende Vögelein. Sie bilden ein Teil einer lieblichen Landschaft, die dem

Betrachter der zweiten Strophe gegenüberliegt, die er in der zweiten Person direkt

anredet und die eine bessere, erwünschte oder verlorene Existenzform exempli-

fiziert: “als das Bild vollendeter Harmonie” (Eibl 227). Michael Jakob charak-

terisiert die Schwäne in diesem Sinn überzeugend “als das Andere des Ich, als

Nicht-Ich, so daß von einer simplen, frontalen Identifikation des Dichters mit

ihnen sicherlich keine Rede sein kann” (248).

Man darf diese Idee leicht weiterführen, denn der Ausdruck “Nicht-Ich”

erinnert selbstverständlich an die Philosophie des Denkers, den Hölderlin im No-

vember 1794 in einem begeisterten Brief an Neuffer “die Seele von Jena” nannte und

dessen Philosophie ihn “ganz beschäftigt.”9 In den Vorlesungen über die Wissen-

schaftslehre, die Fichte gerade vortrug, hätte Hölderlin Sätze hören können wie: “Ich

setze im Ich dem teilbaren Ich ein teilbares Nicht-Ich entgegen” (31); oder “das Ich

setzt sich, als bestimmt durch das Nicht-Ich” (48).

Im Kontext von “Hälfte des Lebens” bedeutet das: Das Ich der zweiten Strophe

setzt sich dem Nicht-Ich der Schwäne entgegen, ist aberwiederum in seiner eigenen

Existenz bedingt durch das Nicht-Ich der gegenüberliegenden Landschaft.

Deswegen kommt der Schrei der Verzweiflung in der zweiten Strophe, wenn das

Nicht-Ich der spätsommerlichen Landschaft in Gefahr steht zu verschwinden. Die

Schwäne, die das Haupt ins “heilignüchterne” Wasser tunken, repräsentieren das

Nicht-Ich, das einen Aspekt von der eigenen Vergangenheit des Dichters bildet.

Wie es bei Fichte im letzten Satz seiner Vorlesungen lautet: “Auch unsre sinnliche

Wirksamkeit in der Sinnenwelt, die wir glauben, kommt uns nicht anders zu, als

mittelbar durch die Vorstellung” (242). In Hölderlins Gedicht erinnern die

ZIOLKOWSKI: Eichendorff, Goethe, Hölderlin, Rilke 37

Page 6: Ich und die Vögel: Subjekt und Raum in vier Gedichten

Schwäne den Dichter daran, “Kein-Schwan-mehr-[zu]-sein” und “nicht mehr im

Zentrum zu sein, nicht mehr mit der Natur in Verbund und aus der Harmonie

gefallen zu sein” (Jakob 264).

Als visuelle Darstellung dieser “einstigen Identifikation und Harmonie” zu-

sammen mit “dem jetzigen Blick aus der Ferne” verweist Jakob auf Caspar David

Friedrichs Gemälde Schwäne im Schilf von 1820 (Jakob 249). Aber man könnte hier

im Gegensatz zu Lorrains Landschaften eher an viele andere typische Gemälde

Friedrichs denken—etwa Der Mönch am

Meer (1809/10) oder Wanderer über dem Ne-

belmeer (1818, Abb. 3)—wo eine Rücken-

gestalt völlig getrennt vor einer schönen

oder gewaltigen Landschaft steht und sie

melancholisch betrachtet.

In Hölderlins Gedicht hat die vom Ich

konstruierte Szene einen völlig anderen

Aufbau als die objektiv-evolutionäre Land-

schaft von Goethes Gedicht. Bei Goethe

wird die Landschaft von einem vor ihr

stehenden Betrachter in ihrer objektiven

Wirklichkeit beschrieben, wie etwa auch in

der Schlusszeile von Schillers “Der Spa-

ziergang” die Sonne Homers: “Siehe, sie

scheinet auch uns” (1: 234). Bei Hölderlin

steht die Landschaft beziehungsweise

stehen die Schwäne als “ihr” dem Dichter

gegenüber und bilden das Nicht-Ich, das er

sich als Symbol einer verlorenen Einheit

und Harmonie entgegensetzt.

“Mondnacht”

Bei Eichendorff begegnen wir völlig verschiedenen Verhältnissen.

Es war, als hätt’ der Himmel

Die Erde still geküßt,

Daß sie im Blütenschimmer

Von ihm nun träumen müßt’.

Die Luft ging durch die Felder

Die Ähren wogten sacht,

Es rauschten leis die Wälder,

So sternklar war die Nacht.

38 THE GERMAN QUARTERLY Winter 2014

Abb. 3. Caspar David Friedrich,

Wanderer über dem Nebelmeer.

Page 7: Ich und die Vögel: Subjekt und Raum in vier Gedichten

Und meine Seele spannte

Weit ihre Flügel aus,

Flog durch die stillen Lande,

Als flöge sie nach Haus. (1: 300)

Hier handelt es sich wieder wie bei Goethe um eine Landschaft bei Nacht, aber die

Unterschiede sind auffallend. Zunächst einmal wird die Szene nicht unmittelbar in

der Gegenwart betrachtet, wie von Goethe an einem bestimmten Herbstabend

1780 auf dem Gickelhahn oder von Hölderlin an einem Sommertag im Jahr 1803

oder 1804, sondern nachträglich in der Erinnerung vorgestellt. Als Eichendorff um

1831 das Gedicht schrieb, saß er bereits als Beamter in der Großstadt Berlin und

gedachte im Imperfektum der Vergangenheit: vermutlich, wie so oft, der bekannten

Vergangenheit seiner Kindheit auf Schloss Lubowitz in Schlesien (Koopmann

421). So finden wir hier keinen deutlich artikulierten und klar vorstellbaren Raum,

sondern eine Gruppe von vereinzelten Frühlingsmotiven: nämlich Blüten, Getrei-

defeldern und Wäldern—eine Landschaft, die wie üblich bei Eichendorff vom

Rand beobachtet wird (oft wie in vielen Gemälden der Romantik vom Fenster aus

[Rewald 3]). Merkwürdigerweise fehlt in dieser “Mondnacht” ausgerechnet der

Mond, der allein durch den “Glanz seines Lichts” vertreten ist.10

Anstatt eines nach den klassischen Prinzipien von Lorrain organisierten Raums

haben wir es mit einer Landschaft

zu tun, die an die romantische

Malerei erinnert: etwa die Fern-

sichten Caspar David Friedrichs

mit einer oder zwei Rückenfiguren,

die ein Naturschauspiel betrachten,

das “Gegenstand religiöser Ver-

ehrung” ist, wie etwa Frau in der

Morgensonne (1818/20) oder die

beiden Männer in Abend (1821);11

oder die symbolischen Landschaf-

ten Philipp Otto Runges (e.g.,

Tageszeiten [1803], Abb. 4) oder

Friedrich Johann Overbecks (e.g.,

Italien und Germanien [1828]). Die

Gegenstände von Friedrichs Land-

schaften, deren Aufbau sich nicht

wie bei Goethe nach einer evolutio-

nären Ordnung orientiert, sondern

an geometrischen Figuren wie Krei-

sen und Dreieckskonstellationen

ZIOLKOWSKI: Eichendorff, Goethe, Hölderlin, Rilke 39

Abb. 4. Philipp Otto Runge,

Tageszeiten, Morgen

Page 8: Ich und die Vögel: Subjekt und Raum in vier Gedichten

(Schwering 133), finden ihre Parallele in den “Versatzstücken” (Iehl 131),die in den

Gedichten und Erzählwerken Eichendorffs die Landschaften charakterisieren:

Landschaften, die von Klang und Schein beherrscht und als Bewegung aufgefasst

werden (Alewyn 32). Mit anderen Worten: Eichendorff “erlebt Natur und

Landschaft als Objekte, eindeutiges Gegenüber dem Organ, das sie aufnimmt”

(Seidlin 232).

Was den Zusammenhang der Motive betrifft: der Mangel an einer über-

sichtlichen Struktur, den bereits Ramdohr in dem berühmten Streit um den

Tetschener Altar (Kreuz im Gebirge [1808]) kritisierte,12 wird von einem modernen

Kunstkritiker als ein kreatives “Kunstchaos” bezeichnet, wo die Struktur nach den

üblichen klassischen Kunstregeln durch eine eher zufällige Zusammenstellung von

Versatzstücken ersetzt wird (Koerner 102–03).13 Bei Eichendorff wird dieser Raum

nicht, wie bei Goethe, ausschließlich durch den objektivierenden Blick erlebt,

sondern auch durch andere Sinne: Geruch (der Blüten), Gefühl (der Luft), Gehör

(der rauschenden Ähren und Bäume). Schon dieses Gefühl einer innigeren Be-

ziehung bildet den Übergang zum überraschenden Bild der letzten Strophe.

Was in diesem Gedicht anscheinend fehlt, sind die Vögel, die sonst in Eichen-

dorffs Landschaftsgedichten fast regelmässig vorkommen: vor allem Lerchen,

Nachtigallen und Adler, aber auch Kuckucke, Eulen, Tauben, Sperlinge, Spatzen,

Seefalken, Schwäne und so fort.14 Aber nur anscheinend: denn in der dritten Stro-

phe wird des Dichters Seele metaphorisch zum Vogel, der seine Flügel ausspannt

und durch den eben so synästhetisch angedeuteten Raum fliegt. Es ist die Verwirk-

lichung der “Synthese der sinnlichen und unsinnlichen Welt,” die schon vor vielen

JahrenalsMerkmal vonEichendorffs Werken bemerktworden ist (Rehder194).

In den Kommentaren wird oft die Konditionalwendung beziehungsweise der

“optative” Charakter der beiden letzten Zeilen betont (Rademacher 283), die dem

Konditionalsatz der ersten Strophe entsprechen. Eichendorff wünscht sich in

seinen Gedichten oft Flügel: “O hätt’ ich, hätt’ ich Flügel” (“Abendlandschaft”),

oder “Ach, wie oft wünscht’ ich mir Flügel” (“Der Kranke”). Dafür haben seine

Gefühle oft “Flügel”: Die Sehnsucht senkt ihre Flügel (“Entschluss”), das Gebet

nimmt Flügel (“Der Liedsprecher”). Hier braucht man aber nicht unbedingt an eine

“Sakralisierung des Landschaftsbildes” zu denken (Schwering 137) oder den Kuss

am Anfang als Bild eines hieros gamos, einer mystischen Ehe zwischen Himmel und

Erde, aufzufassen (Schulz777–78undGössmann46), wobei der Dichter am Schluss

zum Himmel und Gott hinauffliegt. Die Seele fliegt doch durch die stillen Lande;

und “nach Haus” kann ebensowohl die verlorene Heimat der Kindheit als den

Himmel bezeichnen. (Man denkt fast unwillkürlich an die Flötentöne, die Richard

Strauss am Ende des Lieds “Im Abendrot” [Vier letzte Lieder] erklingen lässt, die ja

die Lerchen sein könnten, die Eichendorff “Nachträumend in den Duft” steigen

läßt.) Es ist übrigens nicht nur Eichendorffs Seele, die in diesen Jahren in die Welt

40 THE GERMAN QUARTERLY Winter 2014

Page 9: Ich und die Vögel: Subjekt und Raum in vier Gedichten

hinaus fliegt. Auch in der “flaumenleichte[n] Zeit der dunkeln Frühe” von Mörikes

fast gleichzeitigem Gedicht “An einem Wintermorgen, vor Sonnenaufgang”

(1825) heißt es, indem der Dichter “der Hirtenflöten Klänge” hört und sein “Sinn

sich frisch zur Ferne lenkt”: “Die Seele fliegt, soweit der Himmel reicht, / Der Ge-

nius jauchzt in mir!” (9–10).

Die Szene kann ganz anders aufgefasst werden: Wenn der Dichter seine “Seele”

vogelartig in den Raum projiziert, wird in einem anderen Kontext die Identität oder

Dualität vonGeistund Natur,wie sie in Schellings Identitätsphilosophievorgestellt

wird, im Gedicht verkörpert. Wie laut dem bekanntem Wort in Schellings Ideen zu

einer Philosophie der Natur die Natur “der sichtbare Geist” sein soll (380), so soll des

Dichters Geist oder Seele “die unsichtbare Natur” sein, die in Vogelgestalt wieder

eine natürliche Gestalt annimmt und sichtbar wird.15 Von Goethes Objektivierung

des Raums sind wir weit entfernt. Allerdings sind die Versatzstücke der Landschaft,

wie Alewyn bemerkt, alle auf den Standpunkt des Betrachters visiert (Alewyn 38).

Aber der romantische Mensch bleibt nicht mehr in seiner Hütte oder auf dem

gegenüberliegenden Ufer melancholisch-betrachtend stehen; er wirft sich in seiner

Verwandlung als Vogel, als Natur gewordener Geist, ekstatisch in die Landschaft

und fliegt in die heimatliche Vergangenheit, die bei Hölderlin als verloren betrauert

wird, hinein. Bei Goethe und Hölderlin ist alles Ruhe, Stille und Betrachtung, bei

Eichendorff hingegen Geräusch, Bewegung, Handlung.

“Weltinnenraum”

Das bekannte Wort findet sich erst in der vierten Strophe von Rilkes titellosem

Gedicht aus dem Frühherbst (August/September) 1914.

Es winkt zu Fühlung fast aus allen Dingen,

aus jeder Wendung weht es her: Gedenk!

Ein Tag, an dem wir fremd vorübergingen,

entschließt im künftigen sich zum Geschenk.

Wer rechnet unseren Ertrag? Wer trennt

uns von den alten, den vergangnen Jahren?

Was haben wir seit Anbeginn erfahren,

als daß sich ein im anderen erkennt?

Als daß an uns Gleichgültiges erwarmt?

O Haus, o Wiesenhang, o Abendlicht,

auf einmal bringst du’s beinah zum Gesicht

und stehst an uns, umarmend und umarmt.

ZIOLKOWSKI: Eichendorff, Goethe, Hölderlin, Rilke 41

Page 10: Ich und die Vögel: Subjekt und Raum in vier Gedichten

Durch alle Wesen reicht der eine Raum:

Weltinnenraum. Die Vögel fliegen still

Durch uns hindurch. O, der ich wachsen will,

ich seh hinaus, und in mir wächst der Baum.

Ich sorge mich, und in mir steht das Haus.

Ich hüte mich, und in mir ist die Hut.

Geliebter, der ich wurde: an mir ruht

Der schönen Schöpfung Bild und weint sich aus.

(2: 92–93)

Hier haben wir es nicht wie bei Goethe, Hölderlin und Eichendorff mit der

Evozierung einer Landschaft zu tun, sondern mit einem Versuch, das Bild der

Anfangszeile zu erklären: “Es winkt zu Fühlung fast aus allen Dingen”—das heißt,

mit dem Gedanken, dass wir mit allem verwandt sind, an dem wir täglich fremd

vorübergehen: “O Haus, o Wiesenhang, o Abendlicht.” Die drei ersten Strophen

bieten eine Abrechnung mit der Vergangenheit, “den alten,den vergangnen Jahren”

mit ihrer klassischen Auffassung des Raums und des kapitalistischen Materialismus

(“Wer rechnet unseren Ertrag?”), die jetzt aber durch die moderne Physik mit

Einsteins neuem Begriff von Raum-Zeit und Ernst Machs Theorie eines

“erweiterten Ichs” ersetzt wird.16 Erst in den beiden letzten Strophen gelangen wir

zum Bild, das uns hier angeht.

Das Wort “Weltinnenraum” hat es nicht nur den Literaturwissenschaftlern,

sondern auch den Philosophen angetan, die vor allem bestrebt waren, das Bild nach

Husserl phänomenologisch-transzendental zu erklären.17 Klar ist ohne weiteres,

dass dieser Weltinnenraum einen neuen verinnerlichten Raum darstellt, der den

klassizistischen Raum mit seinen klar artikulierten Grenzen durch ein

Raum-Zeit-Kontinuum nach Einsteins Begriff ersetzt und der als “absolutes

Bewußtsein,” wo Geist und Natur im Sinne von Ernst Machs Theorie eines

“erweiterten Ichs” zusammentreffen, interpretiert werden kann. Selbstverständlich

wird der Raum mittels der Sprache dargestellt, aber die Gleichsetzung des Begriffs

“Weltinnenraum” mit “Sprach-Raum” verringert meines Erachtens ein Erlebnis,

das für Rilke existentiell war (Rademacher 412). Man vergleiche etwa den “ausge-

sparten Raum” im Geist des gläubigen Volks, in dem das Einhorn zu Wirklichkeit

wird (Sonette an Orpheus 1: 753).18

Hier interessiert uns aber die Beziehung des Dichters zu den erwähnten

Requisiten der Landschaft: Vogel und Baum. Anders als Goethe und Hölderlin, bei

denen auch Vögel und Bäume vorkommen, steht der Dichter nicht distanziert

betrachtend davor; und anders als Eichendorff, der sich als Vogel in die Landschaft

mit ihren rauschenden Wäldern hineinprojiziert, empfindet der Dichter sich selber

als Teil des Raums, durch den die Vögel fliegen und in dem der Baum wächst.19

Man dürfte eventuell auch an Heisenbergsunbestimmbare Welt denken, in welcher

42 THE GERMAN QUARTERLY Winter 2014

Page 11: Ich und die Vögel: Subjekt und Raum in vier Gedichten

der Beobachter und das Beobachtete im selben Feld existieren, wo sie aufeinander

bezogen sind. Im Gegensatz zu dem Raum bei Goethe und Hölderlin, der visuell

erlebt wird, und bei Eichendorff, der synästhetisch empfunden wird, wird dieser

Raum taktil wahrgenommen. Die Dinge dieser Welt, in denen die Vögel “still”

fliegen, bringen es allerdings “beinah zum Gesicht,” aber sonst winken sie nur “zu

Fühlung,” indem sie an uns “erwarmen” und “ruhen” und uns “umarmen.” Es ist für

das verallgemeinernde Wesen des Weltinnenraums—im Gegensatz zu dem indi-

viduellen Subjekt der drei vorhergehenden Gedichte—kennzeichnend, dass die

Vögel durch “uns” und nicht “durch mich” fliegen.

Dasselbe ornithologische Bild kommt übrigens in Gedichten aus diesen Jahren

mehrmals vor, um Rilkes Auffassung des Weltinnenraums zu exemplifizieren, so

etwa in dem Entwurf “Vor Weihnachten 1914” (1915), wo er bittet: “Doch laß

durch mich wie durch die Luft den Flug / Der Vögel gehen” (2: 96). In “Wendung”

(1914) heißt es: “Vögel durchflogen ihn grad, / Den gemütigen” (2: 82). In einem

anderen Gedicht aus demselben Jahr kreist demjenigen, der “Ausgesetzt auf den

Bergen des Herzens” (das heißt, im Weltinnenraum) ist, “der große geborgene

Vogel [...] um der Gipfel reine Verweigerung” (2: 95). In seinen verschiedenen

Formulierungen geht das Bild vermutlich auf Rilkes Erlebnis auf Capri im Winter

1906/07 und dann wieder ein Jahr später zurück, wo er nachts unter den Ölbäumen

im Garten stand “und der Ruf eines Vogels, über dem ich die Augen schließen

mußte, [...] gleichzeitig in mir und draußen wie in einem einzigen ununterschie-

denen Raum von vollkommener Ausdehnung und Klarheit [war].”20 (Es sind übri-

gens nicht nur Vögel, die durch Rilke ihren Weg machen; in den Aufzeichnungen des

Malte Laurids Brigge [1910] lesen wir: “Elektrische Bahnen rasen läutend durch

meine Stube. Automobile gehen über mich hin” [6: 710].)

Wie bei Goethe, Hölderlin und Eichendorff finden wir erwartungsgemäß auch

hier in der Kunst zeitgemäße Parallelen zum dichterischen Bild des Menschen,

dessen Innenraum durch Elemente der Außenwelt durchdrungen wird: bei Paul

Klee und Marc Chagall, bei Picasso und den Kubisten und vor allem bei den

Expressionisten. In seinem Gemälde Ich und die Stadt (1913, Abb. 5) kombiniert

Ludwig Meidner Stadtansichten mit dem eigenen Selbstporträt. Im Titelblatt des

Aufrufs “An die Künstler” von 1919 (um eine künstlerische Gemeinschaft in einer

sozialistischen Republik zu schaffen) zeigte Max Pechstein die Gestalt eines

Revolutionärs mit einem flammenden Herzen, dessen Flammen die ganze Stadt

hinter ihm entzünden. In frühen Filmen, wie in Karl Grunes Die Strasse (1923) oder

Jean Cocteaus Le sang d’un poète (1930), werden manchmal Montagetechniken

betätigt, wodurch menschliche Gestalten mit Dingen oder Szenen aus der äußeren

Welt durchdrungen werden.21

ZIOLKOWSKI: Eichendorff, Goethe, Hölderlin, Rilke 43

Page 12: Ich und die Vögel: Subjekt und Raum in vier Gedichten

In dieser kurzen vergleichen-

den Analyse habe ich nicht ver-

sucht, ausführliche Interpreta-

tionen der vier Gedichte zu bieten,

sondern einige charakteristische

Merkmale bei der Verwendung

desselben Motifs —Vogel und Ich

—als zeittypisch in der Behand-

lung von Raum zu identifizieren.

In Goethes Zeilen hat der Raum

einen deutlichen und evolutionär

artikulierten Aufbau; in Hölder-

lins Gedicht werden dieselben

Landschaftselemente in bewuß-

tem Gegensatz zur kahlen Verti-

kalität der Mauern beschrieben; in

“Mondnacht” besteht die Szene

aus lockeren Versatzstücken; in

Rilkes Gedicht ist der klassisch

organisierte Raum zu einem Weltinnenraum nach Vorbild der Relativitätstheorie

geworden. Goethes Raum ist völlig still und ruhig, Hölderlins (im Gegensatz zur

Sprachlosigkeit der Mauern) implizit geräuschvoll, Eichendorffs klangvoll und

bewegt, und Rilkes still und bewegt (wie der Kosmos). Bei Goethe und Hölderlin

wird die Zeit der Darstellung als gegenwärtig vorgestellt, bei Eichendorff als

vergangen und bei Rilke unbestimmbar in einer zu Raum gewordenen Zeit.

Goethes dichterisches Ich bleibt ruhig in seiner Hütte, Hölderlins steht dem

Nicht-Ich der Schwäne gegenüber, Eichendorffs fliegt in die Landschaft hinaus

und Rilkes wird zu einem absoluten Bewusstsein, in dem “der Schöpfung

Bild”—die stillen Vögel, der wachsende Baum—zur Ruhe kommen kann. Es ist

charakterisch für die jeweilige Haltung der Gedichte, dass das dichterische Subjekt

bei Hölderlin nur im Gegensatz zum “ihr” der Schwäne als “ich” bezeichnet wird;

bei Goethe wird es als “du” angeredet, bei Eichendorff als “meine Seele” und bei

Rilke als “uns.” (Allerdings wird Rilkes “uns,” durch die die Vögel fliegen, zum

“mir,” in dem der Baum wächst und an dem Bild der Schöpfung ruht.) In ihren

individuellen Merkmalen sind jedenfalls alle vier Gedichte nicht nur für ihre

Schöpfer typisch, sondern auch repräsentativ: für die zeitgemässe Kunst und für das

philosophische Denken der jeweiligen intellektuell-kulturellen Epoche.

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Abb. 5. Ludwig Meidner, Ich und die Stadt.

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Notes

ZIOLKOWSKI: Eichendorff, Goethe, Hölderlin, Rilke 45

1 Reed 194. Reed bietet auch eine Übersicht der Sekundärstudien.2 Hölderlin (ed. Hellingrath) 4:302.3 Vor allem seit Günther.4 Siehe www.weltinnenraum.de.5 Petz 18. Zum Aufbau von Lorrains Landschaften siehe vor allem Clark 63–65.6 Reproduziert in Schulze, Goethe und die Kunst 135.7 Reproduziert in Schulze, Goethe und die Kunst 119.8 Allerdings erblickt Eibl im Verhältnis der beiden Strophen keine Antithese, sondern

“Bild und Reflexion” (224).9 Hölderlin (ed. Beissner) 152. Zu Hölderlin und Fichte, wenn auch nicht zu den

Gedichten, vgl. vor allem Henrich 40–48.10Frühwald 403. Frühwald zitiert auch die Entwürfe, in denen der Mond noch vorhanden

war, aber verworfen wurde.11 Siehe Holsten 41.12 Zur Kontroverse siehe Koerner 47–63.13 Den Begriff “Kunstchaos” übernimmt Koerner aus Friedrich Schlegels Athenäum-

Fragmenten (Nr. 389). Der Begriff kommt sonst häufig bei Schlegel in diesem positiven Sinn

vor. Zum Beispiel: “Interessant ist aesthet[isches] Cha[os] und Classisch ist syst[ematische]

Bildung” (Literary Notebooks, Nr. 1239)—eine Differenzierung, die genau auf den Unter-

schied zwischen Lorrain und Friedrich, bzw. Goethe und Eichendorff trifft.14 Ich halte es für eine Übervereinfachung, wenn Alewyn behauptet, die Vögel seien in

Eichendorffs Werk “immer nur hörbar, nicht sichtbar” (31).15 Hier bin ich anderer Meinung als Seidlin, wenn er meint, dass Eichendorff “Natur und

Landschaft als Objekte, eindeutiges Gegenüber dem Organ, das sie aufnimmt,” erlebt und

“den enthusiastischen Anspruch auf Identität von Mensch und Natur ablehnt” (232).

Seidlins Verallgemeinerung bezieht sich vor allem auf die Landschaften in den Prosawerken

mit ihren realistischen Handlungen, aber im Gedicht “Mondnacht” trifft sie kaum zu.16 Die kühnste Interpretation des Gedichts und des Begriffs “Weltinnenraum” im Lichte

der Theorien von Einstein und Mach bietet Adler 110 und 122–25.17 Eine Übersicht bei Perlwitz. In seinem Kapitel über “Die Dialektik von Außen und

Innen” bezieht sich Bachelard 205–06 auf Rilke, allerdings nicht auf die Gedichte, sondern

auf eine Stelle aus den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, die er gründlich missversteht.

Denn bei Rilke heißt es: “Und in dir ist beinah kein Raum” (6: 777); aber in der französischen

Übersetzung, die Bachelard benutzt, wird die Stelle so übertragen: “Et il n’y a presque pas

d’espace ici”—eine Übertragung, die esBachelard im Zusammenhang mit dem Thema seines

Werkes ermöglicht, Rilkes “Weltinnenraum” einfach als sein Zimmer im Gegensatz zur

Welt draußen aufzufassen.18 Siehe Ziolkowski 16.19 Ich halte es für eine Verkehrung, wenn behauptet wird, Rilkes Text besinge “in fast

Eichendorffscher Manier den Einklang von Ich und Welt” (Sprengel 630). Denn Eichen-

dorff fliegt in die Welt hinaus, während bei Rilke die Welt in den Dichter hineinfliegt. Dem

Bild Eichendorffs liegt viel näher etwa Rilkes frühes Gedicht “Fortschritt” (1900), wo: “Mit

meinen Sinnen, wie mit Vögeln, / reiche ich in die windigen Himmel aus der Eichen” (1:

402). Auch Adler zitiert Eichendorffs Gedicht “Wünschelrute” (116), meint aber, dass “sich

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diese äußere Welt für den Romantiker Eichendorff noch in der äußeren Natur retten” ließ

(123), ohne das Zusammentreffen von Natur und Geist im Gedicht “Mondnacht” zu

erwähnen.20 Brief vom 14. Januar 1919 an Adelheid von der Marwitz (Rilke, Briefe 571). Den

Hinweis auf diese Quelle entnehme ich Ruffini 199.21Die meisten der erwähnten Beispiele in: Gesamtkunstwerk Expressionismus 206, 34, 285.

Engel schreibt: “Was hier in sehr R.schen Chiffren formuliert ist, meint literatur-

geschichtlich nichts anderes als ein klassisch-modernes Parallelprojekt zum zeitgenössischen

Expressionismus”—allerdings ohne irgendwelche Beispiele zu erwähnen (180).

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