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FERTIGUNGS- & MASCHINENAUTOMATION www.etz.de 9/2015 Industrie 4.0 – eine perspektivische Betrachtung Das Thema Industrie 4.0 ist derzeit in aller Munde. Doch wie viel der Propa- ganda rund um das Thema ist reines Marketing und wie hoch ist der Anteil mit tatsächlichem Praxisbezug? Zwei Vertreter aus der Industrie fordern eine differenzierte Betrachtung: Philipp Boehmert, Handlungsbevollmächtigter beim Online-Sensorpezialisten Autosen, und Hans-Jürgen Heitzer, Geschäftsführer des Automatisierungsspezialisten Kardex Mlog. Text: Wolfgang Seidl Herr Boehmert, Herr Heitzer, bitte erläutern Sie jeweils kurz die aktuelle Bedeutung von Industrie 4.0 für Ihr Un- ternehmen? (Bild 2) Zurzeit herrscht noch viel Unsi- cherheit rund um das Thema, das beginnt schon bei der Definition: Je mehr Experten Sie fragen, desto mehr ver- schiedene Antworten erhalten Sie. Das liegt möglicherweise auch daran, dass sich mit einer latenten Unsicherheit auf Kundenseite gute Geschäfte machen lassen, wenn man es darauf anlegt. Wir sehen Industrie 4.0 nicht als Damok- lesschwert für Unternehmen, sondern als eine Chance, die es zur richtigen Zeit, richtig vorbereitet, zu ergreifen gilt. Das wesentliche Element ist in jedem Fall die Vernetzung, aber nicht nur die der einzelnen Geräte, sondern auch der Menschen, die in der „intelligenten“ Fabrik der Zukunft arbeiten. H.-J. Heitzer (Bild 3) Industrie 4.0 steht in der Tat für einen Paradigmenwechsel. Die strikte hierarchische Auto- 01 e Autosen-Portfolio umfasst optische und induktive Sensoren der Standard- und High-Resistance-Class sowie patentierte Verbindungstechnik. Noch in diesem Jahr ist eine Erweiterung des Portfolios um Standardsensoren, kapazitive Sensoren, Lasersensoren und Zylinderschalter geplant

Industrie . – eine perspektivische Betrachtung - etz.de · E-Procurement gilt als einer der Treiber der Industrie 4.0, Autosen als Internetpionier der Sensorikbranche. Auch Kardex

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FERTIGUNGS- & MASCHINENAUTOMATION

� www.etz.de 9/2015

Industrie 4.0 – eine perspektivische BetrachtungDas Thema Industrie 4.0 ist derzeit in aller Munde. Doch wie viel der Propa-

ganda rund um das Thema ist reines Marketing und wie hoch ist der Anteil

mit tatsächlichem Praxisbezug? Zwei Vertreter aus der Industrie fordern eine

differenzierte Betrachtung: Philipp Boehmert, Handlungsbevollmächtigter beim

Online-Sensorpezialisten Autosen, und Hans-Jürgen Heitzer, Geschäftsführer

des Automatisierungsspezialisten Kardex Mlog.

Text: Wolfgang Seidl

Herr Boehmert, Herr Heitzer, bitte erläutern Sie jeweils

kurz die aktuelle Bedeutung von Industrie 4.0 für Ihr Un-

ternehmen?

P� �������� (Bild 2): Zurzeit herrscht noch viel Unsi-cherheit rund um das Thema, das beginnt schon bei der Definition: Je mehr Experten Sie fragen, desto mehr ver-schiedene Antworten erhalten Sie. Das liegt möglicherweise auch daran, dass sich mit einer latenten Unsicherheit auf Kundenseite gute Geschäfte machen lassen, wenn man es

darauf anlegt. Wir sehen Industrie 4.0 nicht als Damok-lesschwert für Unternehmen, sondern als eine Chance, die es zur richtigen Zeit, richtig vorbereitet, zu ergreifen gilt. Das wesentliche Element ist in jedem Fall die Vernetzung, aber nicht nur die der einzelnen Geräte, sondern auch der Menschen, die in der „intelligenten“ Fabrik der Zukunft arbeiten.

H.-J. Heitzer (Bild 3): Industrie 4.0 steht in der Tat für einen Paradigmenwechsel. Die strikte hierarchische Auto-

01 - �� ���e Autosen-Portfolio umfasst optische und induktive Sensoren der Standard- und High-Resistance-Class

sowie patentierte Verbindungstechnik. Noch in diesem Jahr ist eine Erweiterung des Portfolios um Standardsensoren,

kapazitive Sensoren, Lasersensoren und Zylinderschalter geplant

�9/2015 www.etz.de

m���������������m���� ��� ����!�����-lang die produktionstechnischen Pro-zesse geprägt hat, wird ersetzt durch eine dezen trale Intelligenz und autarke Entscheidungen auf Geräte ebene. Dies bedeutet nicht nur eine Umstellung für den Anwender. Auch die Anlagen-bauer und Hersteller müssen umden-ken und einen Fokus auf intelligente Komponenten und deren Integration in ein Gesamtsystem legen.

Natürlich spielt das Netz schon lan-ge eine wichtige Rolle, aber es macht einen Unterschied, ob übergeordnete Systeme Protokolle versenden, oder intelligente Funktionseinheiten selbst Informationen aktiv austauschen und einen Prozess damit e!ektiver und e"zienter gestalten.

Die Infrastruktur dafür steht jeden-falls. So ist es beispielsweise mit der Einführung des „IPv6“-Standards möglich, dass alle Komponenten in einem Prozess eine eigene Identität er-halten und autark über das Internet kommunizieren.

P. Boehmert: Womit wir bei einem wichtigen Thema wären: 2008 waren zum ersten Mal mehr Geräte mit dem Internet verbunden als Menschen. „IPv6“ bietet künftig Platz für unfass-bare 360 Sextillionen intelligente Ent-scheidungsträger. Das sind mehrere hundert Millionen IP-Adressen pro Erdbewohner, darunter über kurz oder

lang natürlich auch eine Vielzahl, die von Sensoren besetzt werden. Ein enormes Umsatzpotenzial für einen Sensorikanbieter! Dennoch muss die Frage erlaubt sein, ob diese Komplexi-tät wirklich notwendig ist.

Wir jedenfalls bemerken heute jen-seits der Fachpresse eher ein theoreti-sches Interesse an intelligenten, kom-munikationsfähigen Sensoren und demgegenüber nur wenige praktische Anwendungen. Es hat sich mittlerwei-le eine regelrechte Autosen-Commu-nity gebildet, mit der wir uns regel-mäßig austauschen. Hier überwiegt die Skepsis bei der Frage, worin jetzt und hier der tatsächliche Mehrwert liegt – das gilt vor allem für kleinere und mittlere Unternehmen, die einen Großteil unseres Kundenkreises aus-machen. Dennoch steht fest: Jedes Unternehmen muss sich mit Industrie 4.0 auseinandersetzen. Welche Konse-quenzen das in der nahen Zukunft für die jeweiligen Prozesse hat, steht auf einem anderen Blatt.

Wie lautet demnach Ihre Strategie:

Abwarten und Tee trinken oder besser

gleich „den Hebel umlegen“?

H�"#� Heitzer: Industrie 4.0 klingt nach einer Release, ist aber eine Trans-formation. Entweder-oder-Denken hilft dabei nicht weiter. Eine schritt-weise Migration ist sinnvoll und mög-

02 7$%�%&& '(�$)�*�+ ,./� .01�voll-

mächtigter bei Autosen: „Autosen ist

Deutschlands erster Online-Anbieter von

Qualitätssensoren und damit eigentlich

prädestinierter Industrie-4.0-Vorreiter.

Dennoch empfehlen wir, den zweiten

Schritt nicht vor dem ersten zu tun.“

03 ,.A23*gen Heitzer, Geschäftsführer

von Kardex Mlog: „Als führender Anbieter

für integrierte Materialflusssysteme und

Hochregallager sehen wir es als unsere

Pflicht, unsere Kunden beim Thema

Industrie 4.0 mitzunehmen.“

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l�5�6 Die Technik erlaubt es ja, nahezu beliebige Funktions-einheiten zu definieren, in welche die Intelligenz schrittweise verlagert wird. Nehmen wir einmal das Beispiel eines Logis-tikzentrums mit einem vollautomatischen Hochregallager, das von einem intelligenten Materialflussrechner verwaltet wird. Das ist heute Stand der Technik. In einem ersten Schritt lässt sich die Intelligenz in das einzelne Regalbe-diengerät verlagern, im zweiten in ein intelligentes Lastauf-nahmemittel auf dem Gerät, zum Beispiel unser „MMove“. Dieses erhält vom Regalbediengerät (RGB) einen Auftrag, den es mithilfe von Sensoren autark ausführt – beispielsweise eine bestimmte Palette zu finden, aufzunehmen, zum RBG zu bringen und den gesamten Prozess auch noch selbststän-dig zu überwachen, zum Beispiel durch permanente Plausi-bilitätsprüfungen.

P. Boehmert: Bis zu diesem Punkt werden übrigens noch keine intelligenten Sensoren benötigt. Umso erstaunlicher ist es, welchen Stellenwert sie in der allgemeinen Diskussion haben. Jede der beschriebenen Anwendungen lässt sich über heute bereits verfügbare Bauteile abdecken. Unsere Stan-dardgeräte (Bild ) – wie auch die anderer Hersteller – sind zu Millionen in Produktionsanlagen verbaut. Gelinde gesagt wäre es nicht eben zielführend, diese auf Teufel komm raus umzurüsten. Und 90 % aller Unternehmen sind von dem von Hans-Jürgen Heitzer skizzierten Automatisierungsgrad noch weit entfernt. Das darf in der allgemeinen Begeiste-rung nicht übersehen werden. Ansonsten laufen eben diese 90 % Gefahr, im Wettbewerb abgehängt zu werden.

Aus Angst davor haben viele Unternehmen Projekte und Arbeitsgruppen ins Leben gerufen, die aber möglicherweise an der falschen Stelle ansetzen. Es mag bei einem reinen Sensorikanbieter wie Autosen überraschen, aber für uns ist Industrie 4.0 eben erst in zweiter oder dritter Linie eine Frage der Sensorik, in erster eher eine kulturelle.

H.-J. Heitzer: Das sehe ich ähnlich: Die Verlagerung der Intelligenz ist technisch gesehen geradezu banal gegen-

�8�� den kulturellen Veränderungen im Unternehmen. Hier passiert eindeutig zu wenig. Organisationen und Mitarbeiter müssen lernen, die Hoheit über Prozesse, Informationen und die Kommunikation ein Stück weit aufzugeben, in dem sie diese an Komponenten delegie-ren. Der Fokus liegt derzeit zu sehr auf der Technik. Es ist auch unsere Aufgabe, Kunden bei diesem Prozess zu begleiten und zu unterstützen.

E-Procurement gilt als einer der Treiber der Industrie

4.0, Autosen als Internetpionier der Sensorikbranche.

Auch Kardex Mlog hat schon früh auf webbasierte Ser-

vices, zum Beispiel in der Instandhaltung und Ersatz-

teillogistik, gesetzt. Wo sehen Sie mögliche Mehrwerte

in der Zukunft?

H�"#� H�9�;��: Eine Automatisierung der Beschaf-fung ist heute schon möglich. Defekte Bauteile oder Komponenten am Ende ihrer Laufzeit senden ein Protokoll und lösen damit die Bestellung eines Ersatz-teils aus. Voraussetzung dafür ist eine entsprechende Infrastruktur, eine bilaterale Procurement-Plattform zwischen dem Kunden und einem Anbieter.

P. Boehmert: Diese bieten zwar auf den ersten Blick einige logistische Vorteile, binden aber den Käufer auch an einen Lieferanten. Wir hingegen verfolgen das Ideal des offenen Marktplatzes mit transparenten Preisen und Konditionen, der dem Kunden alle Informationen für eine autonome Entscheidung bereitstellt. Selbst auf Ra-batte auf Mindestbestellmengen verzichten wir. So kann der Einkäufer flexibel im Einzelfall seinen Anbieter wäh-len. Auf Verkäuferseite ist das natürlich mit Aufwand und Investitionen verbunden: Wir haben einen extrem hohen Lagerbestand, um Lieferzeiten wie in einem geschlossenen Procurement-System zu bieten.

Herr Boehmert, Sie bleiben trotz der von Ihnen beschriebe-

nen Umsatzpotenziale den konventionellen Sensoren treu.

Wie lange wollen Sie diese Strategie beibehalten und wann

werden Smart Sensors von Autosen erhältlich sein?

P� ��������: Unsere Sortimentspolitik richtet sich seit jeher an den tatsächlichen Erfordernissen der Kunden aus. Das ist einer unserer USP, den wir auch in Zukunft nicht aufgeben werden. Noch in diesem Jahr planen wir eine Erweiterung unseres Angebots an Standardsensoren mit induktiven Sensoren für Lebensmittelapplikationen, neuen Sensorleitungen, kapazitiven Sensoren, Lasersenso-ren und Zylinderschaltern. Aber unsere Kunden wissen: In dem Moment, in dem sie intelligente Sensoren benötigen, werden diese als ausgereifte Modelle bei uns im Programm verfügbar sein. (ih)

Literatur

]1] Autosen GmbH, Essen: www.autosen.com

[2] Kardex Mlog, Neuenstadt: www.kardex-mlog.de

Autor

Wolfgang Seidl %� <�=$>?�?3$*�* /�* @�%/� 7B C D*���%.0

GmbH in Essen.

[email protected]

04 -�* %.� %�%Ee Online-Produktberater für Anwender auf

www.autosen.com: Die virtuelle Produktberatung erfolgt

über die Anwendung, nicht über die technischen Daten