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Leseprobe Demski, Eva Frankfurt ist anders Mein Stadtplan © Insel Verlag insel taschenbuch 4278 978-3-458-35978-4 Insel Verlag

Insel Verlag - suhrkamp.de · Wegbeschreibungen, Ortsterminen, Porträts, ... komme ich noch, auch nicht. ... wie man jemanden anschaut, ohne zu

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Leseprobe

Demski, Eva

Frankfurt ist anders

Mein Stadtplan

© Insel Verlag

insel taschenbuch 4278

978-3-458-35978-4

Insel Verlag

EineWeltstadt, die aus Dörfern besteht, das ist Frankfurt. Viel gescholten alskalter Bankenplatz, sucht die Stadt andereRollen und findet sie. Sie will zumBeispiel grün sein und glamourös, das eine schafft sie ganz gut, das anderenicht. Frankfurt ist für viele Menschen zunächst eine Durchgangsstation,in der sie nach Jahrzehnten plötzlich erstaunt feststellen: Ich bin ja geblie-ben!Eva Demski ist es genau so gegangen. Aus unzähligen Erkundungen,

Wegbeschreibungen, Ortsterminen, Porträts, Pamphleten und Liebeserklä-rungen ist ein Frankfurt-Buch geworden, ohne Anspruch auf Vollständig-keit, dafür mit Überraschungen. Vergessene Parks und das Mainufer mitMax Beckmanns Blick, wenig Goethe, dafür seineMutter und die FreundinMarianne von Willemer um so eingehender, selbstbewußte Häßlichkeitenund schüchterneSchönheiten,VeränderungswahnundBewahrungsmühen–all das und mehr kennzeichnet die Stadt, von der Eva Demski einmal gesagthat, sie liebe sie »wie einen häßlichen Hund« – was nichts anderes heißt als:ganz besonders.

Eva Demski, geboren in Regensburg, lebt in Frankfurt am Main. Ihrliterarisches Werk wurde vielfach ausgezeichnet, erhielt Eva Demskiden Preis der Frankfurter Anthologie.

insel taschenbuch

Eva DemskiFrankfurt ist anders

EVA DEMSKIrankfurt ist anders

Mein Stadtplan

Herausgegeben von Wolfgang Schopf

Insel Verlag

Umschlagabbildung: Hans Traxler

Erste Auflage insel taschenbuch

Originalausgabe© Insel Verlag Berlin

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet,

vervielfältigt oder verbreitet werden.Hinweise zu dieser Ausgabe am Schluß des BandesVertrieb durch den Suhrkamp Taschenbuch Verlag

Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, WaldbüttelbrunnDruck: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

Printed in GermanyISBN ----

Vorbemerkung

Die Stadt, in der ich geboren wurde, änderte sich scheinbarnicht. Man konnte sich auf sie verlassen. Schon meine Ur-großeltern hatten die gleichen Häuser gesehen, an denenich als Kind vorbeilief, und sie würden noch da sein, wennes mich längst nicht mehr gab. Ich kannte es nicht anders.Ein beinahe göttliches Gesetz: Menschen kamen und gingen,aber Städte blieben. Daraus konnte man folgern, daß Men-schen nicht so wichtig waren. Der Gedanke war angenehm,machte aber träge.

Als ich dann von Regensburg nach Frankfurt kam, geriet ichins Staunen. Diese Stadt grub sich andauernd selber um, än-derte sich, kaum daß man ihr den Rücken zugedreht hatte,buchstäblich über Nacht. An manchen Plätzen sehe ichschon die dritte oder vierte Generation Häuser. Das heißt,ich sehe nur, was für eins grade da steht. Es gibt eine spezielleFrankfurter Amnesie, von der man angesichts eines Lochs inder Innenstadt einfach nicht mehr weiß, was für ein Gebäu-de kurz zuvor dort gestanden hat, und wenn es noch so hochwar.Frankfurt wälzt sich auf seinem bißchen Platz wie ein

Schlafloser auf zerknitterten Laken. Manchmal drückt es inseiner Verzweiflung etwas Altes an sein Herz, es kann auch et-was sein, das nur alt aussieht. Ich habe gar nicht bemerkt, wieoft ich im Lauf der Jahre über Frankfurt geschrieben habe.Wahrscheinlich wollte ich mich erinnern können, wenn wie-der etwas zum Verschwinden gebracht worden war.Frankfurt ist anders, jeden Tag. Wenn Sie das lesen, hat es

sich schon wieder verändert. Auch das ist eine Art Verläßlich-keit.

. . . war mein erstes Jahr in Freiheit, mitsamt all ihren Frösten.Kein fester Job mehr, einen ungebackenen Roman im Hirn-herd, ich saß in Oberhessen, im Hintergarten eines halb zu-sammengefallenen Bauernhauses von großer Schönheit, dieSchafe des Nachbarn hießen Romeo und Julia, Romeo konn-te, ganz Kavalier, unseren Zaun flachlegen, damit Julia an un-seren Salat kam. Aus einem Scheunentürblatt und vier Pflök-ken hatte man fürsorglich für mich einen Arbeitstisch ge-macht, Hühner gaben vor, Anteil zu nehmen, es war sehrwarm, und ich trug einen schwarzen Kittel. Jetzt steht demDichtersein nichts mehr im Weg, dachte ich und schautemeineOlivetti an. Die nebenanwohnenden Landwirte ließensich durch sie beeindrucken. Wenns klapperte, war ich für sieein irgendwie nützliches Wesen. So weit kamen sie mir schonentgegen. BloßNachdenken allein war nicht ernst zu nehmen.Vor Schlachttagen rieten mir alle, ich möge im Haus bleiben.Endlich konnte ich morgens schlafen, so lang ich wollte. Des-halb hatte ich schließlich auch Dichter werden wollen. Aufdem Land ging das nicht. Deswegen bin ich bald zurück indie Stadt gegangen und jedem an die Gurgel, der dort zumir sagte: Um elf waren aber Ihre Gardinen noch zu!

o fing es an

Die ersten Jahre des Fernsehens

Im Jahr muß es gewesen sein, daß der arbeitslose Schau-spieler und Regisseur Fritz Umgelter zu dem ebenfalls arbeits-losen Bühnenbildner Rudolf Küfner, meinem Vater, sagte:»Rudtle, in Frankfurt machets jetzt ebbes, des hoisch Fernse-hen. Ein großer Schmarrn, aber sie händ viel Geld.«Und so begannen die beiden, die einemneuen Intendanten

desWiesbadener Staatstheaters zumOpfer gefallen waren, einanderes Leben. Sie kamen aus der einen Quelle, die das nochunbekannte Medium speiste: aus dem Theater. Die anderewar der Film, damals hauptsächlich die ziemlich braun ange-staubte UFA. Was sie in Frankfurt – und nur davon kann icherzählen – vorfanden, war das Gebäude, das den Bundestaghätte aufnehmen sollen, wenn Adenauer den nicht näherbei sich daheim hätte haben wollen.Das erste Fernsehstudio, an das ich mich erinnere, war im

Glasrundbau, ziemlich klein, und alles darin passierte life.Theater und Film lieferten Technik, Autoren, Schauspieler,und vor allem die Vorstellung von Publikum. Im Anfangwar die Fernsehgemeinde überschaubar und freute sich überalles, was sie kriegte. Selten kammal jemand, der TV in Ame-rika gesehen hatte, da gäbe esWerbung und in Farbe, aber dasinteressierte von den deutschen Pionieren keinen.Sie legtenmächtig los und gaben sich selber einen Bildungs-

auftrag. »Rudtle«, sagte der vorhin schon erwähnte Fritz Um-gelter, »wenn mir so weitermachet, weiß in zehn Jahren jederArbeiter, wer Kleist isch.« Und das wollten sie wohl. Regisseu-re wie Ludwig Berger, Michael Kehlmann und Harry Buck-witz waren sich nicht zu schade, die Möglichkeiten des klei-

nen Kastens auszuprobieren, und große Schauspieler, auf siekomme ich noch, auch nicht. Sie packten Shakespeare undLenz, Büchner und Anouilh, Christopher Fry und Aristopha-nes, Goethe und Giraudoux und noch vieles andere in dieSchachtel, und der Dramaturg Helmut Krapp sorgte für eineDosis existentialistischer Düsternis. Er liebte irische Dramati-ker. Ich durfte nur selten aufbleiben, vor allem bei Lysistratanicht, was ich sehr übelnahm. FilmundTheater – beides hattesich mit den Nazis eingelassen, und so waren die Davonge-kommenen leidenschaftlich verliebt in das unschuldige, spu-renlose Medium. Sie machten alles selber, man kann sichgar nicht vorstellen, wieviel und unter welchen Bedingungen.An Werkstätten, großartigen Handwerkern und Verrückthei-ten aller Art war kein Mangel, der technische Aufwand wäreheute gar nicht mehr zu bezahlen. Es erwartet ihn eigentlichauch niemand mehr. Wenn zum Beispiel in einer der zahllo-sen Quizshows die Frage kommt: Welche Schiffe hatten Au-gen? Und dann die nackten Buchstaben der multiple choice-Antwort und sonst nichts – die Männer und die wenigenFrauen von damals hätten entrüstet gesagt: Das ist doch keinFernsehen! Und ein in hundert Arbeitsstunden selbst gebau-tes Phönizierschiff mit Augen ins Studio einfahren lassen.Fernsehen war Bilder. Man mußte was sehen können. Und

wenn einem die Museen ihre kostbaren Stücke, wie zum Bei-spiel antikes Spielzeug, nicht leihen wollten, machte man eseben selber. Umgelter focht seine Schlachten aus und drehteeine stattliche Reihe von spannenden, sehr aufwendigen undfetzigen Kostümschinken, und mein Vater entdeckte die Un-terhaltung.Das, was man heute nostalgisch den großen Samstagabend

nennt, war eine riesige, sich selbst durchaus ernst nehmendeSpielwiese. Drei Männer waren, jeder auf seine Art, die Pro-tagonisten: Hans-Otto Grünefeldt, der damalige Fernsehdi-

rektor, dessen liebstes Kind diese Art von Circus war (undder, wahrscheinlich aus Schuldbewußtsein, auch jede MengeAvantgardistisches deckte), mein Vater, der ganz in der Stilleauch den pompösestenQuatschmöglichmachte und für einenDreiminuteneinspieler das komplette Forum romanum gebauthätte – nah dranwar er fast in jeder Sendung –, undHans-Joa-chim Kulenkampff, der seine unerfüllten Schauspielerträumeausleben konnte. Die Fragen dachten sie sich zu dritt aus, undzwar auf die Möglichkeiten des Sichtbar-Machens hin. Diedrei wollten allerdings auch ihren Spaß haben. Ich erinneremich, daß einmal ein Rolls-Royce in einer Frage vorkommenmußte, weil sie den unbedingt probefahren wollten. Dabeimachten sie prompt eine Delle in das teure Stück.Was darauf-hin passierte, weiß ich nicht, schlimm wird es nicht gewesensein.Heutzutage kannman sichnichtmehr vorstellen,wie ver-spielt das alles begonnen hat. Jetzt ist es verwaltet.Der alte Bildungsgedanke wurde aber nie außer acht gelas-

sen, und der Hessische Rundfunk hatte damals einen Ruf we-gen seiner ambitionierten Fernsehspiele. Würde man sichProduktionen wie Die Irre von Chaillot, Schatten der Helden,den sechsteiligen Shakespearezyklus, später dann Aufstieg undFall der Stadt Mahagonny und Dutzende andere, die in denspäten fünfziger, den sechziger und siebziger Jahren entstan-den sind, heute anschauen, sähe man, wie stark das Theatra-lische in ihnen war. Bei den Fernsehspielen jener Zeit hattedie Bühne den Film überholt.An die Produktion der Irren von Chaillot erinnere ich mich

noch genau, schon weil da so viele Bühnenlegenden mitspiel-ten. Hermine Körner als Irre, dazu TrudeHesterberg und EvaVaitl, Joachim Teege als Lumpensammler, Ingrid Andree alsBlumenmädchen, Buckwitz hatte Regie. Mein Vater benutzteseine Kostümentwürfe, um die Schauspieler alle zu porträtie-ren. Als man Hermine Körner ein Kreuz auf dem Studiobo-

den zeigte, auf dem sie bitte bei einem bestimmten Auftrittstehenbleiben möge, denn da sei die Mitte, soll sie geantwor-tet haben: »Ich dachte, die ist sowieso da, wo ich stehe!« HildeHildebrandt nannte meinen Vater wegen seiner Haare »meinkleiner Pasternak«. In welcher Produktion sie mitgespielt hat,weiß ich nicht mehr. Maria Becker dagegen war Kassandraund brachte mir bei, wie man jemanden anschaut, ohne zublinzeln.Wahrscheinlich war für all diese Legenden das Publi-kum ein besonderer Faktor, anders als beim Filmund ganz an-ders als beim Theater konnte die ganze Nation dazu gemachtwerden, nach derTagesschau, jedenfalls derTeil, der einenAp-parat hatte. Und das wurden, wie wir wissen, immer mehr.Quote gabs noch nicht. Bei alldem spielten die Kapazitätendes Senders eine große Rolle, die Werkstätten, Schneiderei,Maler, Schlosserei, Schreiner, die Bühnenbildnerkollegen, Re-quisite, Dekorateure. Viele von denen waren Künstler miteinem entsprechenden Selbstbewußtsein. Einer der Bühnen-maler namens Busch konnte von Rubens bis Dalí alles malenund tat das auch. Er signierte aus irgendeinem Grund immermit William S. Bushie. Ich will damit sagen, daß es damals,egal für wen, etwas Besonderes war, beim Fernsehen zu arbei-ten. Wenn in irgendeinem Dorf oder sonstwo ein Team auf-tauchte, kam in kürzester Zeit der Bürgermeister und lud eszum Essen ein.Mein Vater, der erste sogenannte Ausstattungschef des Hes-

sischen Fernsehens, verlor seine Liebe zum Theater dennochnie. Er wollte das Studio immer zur Bühne machen, auch dieRhein-Main-Halle, oder wo immer der Samstagabendcircusseine Runden drehte.Als Nurejew Rußland verlassen hatte, kam er ins Studio des

Hessischen Rundfunks, und man erzählte, die Studiodeckesei für seine Sprünge zu niedrig gewesen. Dore Hoyer tanzteund Maurice Béjart, und als Josephine Baker mit Ernst Kreu-

der am Klavier eine Show aufnahm, durfte ich die Schuleschwänzen. Sie gab mir ein Autogramm, drei oder vier ihrerziemlich schlecht gelaunten Kinder wuselten um sie herum,und ich staunte darüber, daß ihre weiße Federboa ein bißchenschmuddelig aussah. Eartha Kitt, die mein Vater für einenSong in einen viel zu großenMännerschlafanzug gesteckt hat-te, was sensationell aussah, nahm ihre ganzen Kostüme mitund rückte sie nie wieder raus. Und Caterina Valente. UndHeidi Brühl, für die mein Vater eine besondere Schwächehatte. Auch ich hatte, um , meine Chance und spielte un-ter Umgelters Regie in einem Agatha-Christie-Krimi, derDasSpinnennetz hieß, ein Kind namens Pippa Hailsham-Brown.Meine Kolleginnen Marlis Schoenau und Trude Moos gabenmir Tips. Die Sache war live, ich sollte umgebracht werdenund wurde in letzter Minute gerettet. Wenn danach eine Flutvon Angeboten gekommen sein sollte, habe ich jedenfallsnichts davon erfahren. Meine Großeltern folgten der Sachegespannt in einem Tegernseer Hotel und haben vor lauterBildgegrissel kaum etwas gesehen.Ich kann mich noch an den Tag der Umstellung auf Farbe

erinnern, es war ganz merkwürdig feierlich. Wir hatten vieleGäste, und dann kamdieserWürfel und so ein teppichmuster-artigesDing.WarendieEntwürfemeinesVaters inder Schwarz-weißzeit immer ziemlich farbig gewesen, wurden sie jetzt, inder Zeit des Farbfernsehens, immer schwarzweißer, grauer,zartfarbiger. Das schlimmste für ihn war, wenn das Fernsehensich bunt aufführte, in jeder Beziehung.Der größte Unterschied zu den heutigenMedien war, glau-

be ich, das Fehlen des Zwischenhandels, der unendlich vielengeldverdienenwollenden und machtausübenwollenden In-stanzen, aus denen die Sache heute besteht. Die Wege warendamals unfaßbar direkt, von der Idee, der Produktionsent-scheidung bis zur Realisation. Beim allmorgendlichen Gang

durch dieWerkstätten wurden Ideen geboren, die schon beimMittagessen abgesegnet werden konnten. Auch das erinnertemehr an die Konstruktion eines Theaters, man hatte nie denEindruck, in einer Behörde zu sein. Natürlich haben sie sichschon damals über zuviel Bürokratie aufgeregt, die Künstler.Wenn sie gewußt hätten!Es war eine anarchische Zeit, das Kasino lag im Keller, und

viele nutzten dieGelegenheit, demTageslicht für lange Zeit zuentfliehen. Eswurde unfaßbar viel geraucht und gesoffen, unddaß es eine Menge amouröses Durcheinander gab, entnahmich denUnterhaltungenmeiner Eltern.Manchmal nächtigtenzeitweilig Versprengte und Verjagte, Damen oder Herren, aufunseremWohnzimmersofa. Die schliefen noch, wenn ich zurSchule ging. Es waren bekannte Namen dabei.Heute leben offenbar alle gesund und trinken viel Wasser,

um keine Falten zu kriegen. Es gibt festgezurrte Zeitpläne,es werden keine phönizischen Schiffemehr fürUnterhaltungs-sendungen gebaut, und die regierende Macht heißt Quote.Manchmal freue ich mich, daß ich sie erleben konnte, dieMorgenröte eines ganz jungen, unschuldigen Mediums.

nsere kleine Stadt

Seit zwei Tagen steht ein neues Schild vor unseremHaus. Dar-auf ist zu lesen, es würden Markierungsarbeiten vorgenom-men. So fürsorglich gibt sie sich, unsere kleine Stadt, wie eineMutter! Oder ist sie das nicht? Läßt sie sich mißbrauchen vonden Grauen Herren der totalen Kontrolle?Wenn das Schild nicht dagewesen wäre, hätte vielleicht kei-

ner von den Anwohnern die große neue weiße gesehen, diejetzt auf dem Asphalt glänzt. Zugegeben: Erst das Schild hatdie Nachbarn in Suchende verwandelt, witternd sah man sieherumlaufen: Markierungsarbeiten? Was wird da wohl mar-kiert werden? Warum markiert wird, wo es doch ein Tempo--Schild gibt, fragt längst niemand mehr.Lange Zeit verhießen schief gekritzelte Plakätchen an den

Bäumen, man könne im Bürgerzentrum die Diskussion überdie Krümmungen der Radwege weiterführen. Ich bin damalsnicht hingegangen, das war wahrscheinlich ein Fehler. Es fan-den viele Diskussionen statt. Radwegekrümmungen scheineneine schwierige, die Bürger wirklich fordernde Angelegenheitzu sein. Andererseits steht eine schöne, die Gegend an Juni-abenden in einen wundervollen Duft hüllende Linde an derEcke. Die ist trotz ihrer fortschreitenden Schwächung keinThema. Denn das für sie zuständige Amt kennt zwar sieund ihre Probleme, kann den Hinweis, man möge ihr dochden Baumteller größer machen, damit sie mehr Regen kriegt,nur mit Bedauern zurückweisen. Da müsse ein anderes Amttätig werden. Es gab keinerlei Diskussion im Bürgerhaus überdie ungewisse Zukunft gewisser Bäume.Mütterlichkeit einer Kommune kann zur Verblödung ihrer

Kinder, der Bürger, führen. Oder zu einer Art Duldungsstar-re. Auf unserer kleinen Kreuzung haben wir seit einiger Zeit

eine walfischförmige, gestreifteMarkierung. (Seither, weil daserst keiner gemerkt hat, wird auf allfällige neueMarkierungenmit einem Absichtsschild hingewiesen.) Also, die Leute fuh-ren erst einmal so, wie sie es jahrzehntelang – ohne einen ein-zigen Unfall – getan hatten, und fuhren fröhlich dem auf dieStraße gemalten weißenWalfisch über den Bauch. So ging dasnicht, und in die Mitte der Malerei kam ein Schild mit einemmächtigen Betonfuß, damit die Anarchie auf der Kreuzungendlich ein Ende habe. Es ist schon zweimal über denHaufengefahren worden, beim zweiten Mal haben die Anwohner ap-plaudiert. Aber immer wieder kommt jemand und stellt es auf.Was ich vermisse, ist ein Schild, auf dem Schilderaufstellungs-arbeiten angekündigt werden.Es liegt mir fern, mit derlei Nachrichten aus der städtischen

Provinz weitermachen zu wollen. Ich liebe die kleine Stadt,das kann manmir ruhig glauben. Sie ist vielleicht so unschul-dig wie die meisten ihrer Bewohner.Manchmal wünsche ich mir, sie würde nachts von einer

marodierenden Gruppe Riesen durchstreift. Die alles weg-räumen, womit man sie angefüllt und verunziert hat: Wasch-betonkübel, überflüssige Poller, Schilder für Schwachsinnige,verbogene Fahrradständer, Betonrampen, megalomane Müll-behälter an lieblichen Ecken,mobile Klohäuschen an ebensol-chen: Die Riesen rissen alles weg und fräßen es auf. Diese gan-ze elendigliche Stadtmöblierung verschwände in denMäulerngütiger Giganten. Das wäre doch wunderbar, ein Ganzkörper-peeling gewissermaßen, um die Haut frei und klar zu machenfür eine umfassende Behandlung.Man könnte auch ein ernste-res Bild bemühen: Die Stadt, von allen Geräten zur Erziehungund Gängelung ihrer Bewohner befreit, ungeschützt und vollVertrauen deren Willkür – oder Zuneigung – preisgegeben.Ich hör euch schon schreien:Was dannpassierenwürde! Autosbis in die Straßenmitte übereinandergestapelt, Müll in Hau-

fen, Grünzeug wie es den Leuten so paßt. Ein Desaster! Bloß:Das wissen wir gar nicht. Die keine Grenzen duldende Volks-erziehung ist in den Städten so vor sich hingewuchert, undjetzt gibt es ein aufmerksames Heer von Beamten, die daraufachten, daßnichtswächst,wie eswill, undkeinBürger gezwun-gen ist, selbständig zu denken und zu entscheiden.Wir habenuns daran gewöhnt, wenn man uns mißtraut. Wir finden esvielleicht sogar richtig, daß unsere Schritte gelenkt, unsereBlicke geführt, unsere Hinterlassenschaften verwaltet werden.In den alten, unzerstörten, mit wehrhafter Schönheit be-

schenktenStädtengehtdas nicht so leicht: Irgend etwas Schutz-würdiges steht da immer im Weg und verhindert die ordent-liche Lenkung der Bürger. Gassen sind krumm und bucklig,Torbögen eng und störrisch, Parkleitsysteme nähmen sich al-bern aus an bröckeligenMauern, undWaschbetonblumenkü-bel würden auf unebenem Pflaster wackeln. Den Ordnungs-verwaltern solcher Städte haftet immer etwas Erschöpftesan. Sie führen einen fast aussichtslosen Kampf.In unserer Stadt dagegen ist nach der Zerstörung des Alten

eine Menge Ordentliches und leicht zu kontrollierendes ent-standen, Rechtwinkligkeit wälzte sich unaufhaltsam über lee-re oder mit Trümmern bedeckte Grundstücke. Und weil sienun einmal da war, diese Rechtwinkligkeit, die notgeborenenSchuhkartons der Fünfziger, folgten ihr in den nächsten Jahr-zehnten und bis heute weitere, luxuriösere, monströsere Schuh-kartons. Es ist, wie es ist. Man gewöhnt sich.Was könnte aus der Gewöhnung Zuneigung werden lassen

oder sie mindestens fördern? Wie die Behandlung des Stadt-gesichts nach seiner Reinigung und Befreiung aussehen? Far-ben, Pflanzen und Wasser. Wo die angewendet werden, mitMut zumAnarchischen, entsteht Überraschendes.Manchmalwird es gar nicht bewußt – so keimt auf der ereignislosenStrecke des Marbachwegs eine kleine gute Laune auf, hinter

deren Grund man erst nach einigemNachdenken kommt. Essind die vielen Rosenbüsche, eine tapfere und fleißige Sorte,plötzlich ist da ein bißchen Schönheit. Die Allee am Sencken-bergmuseum. Der wilde Wein, der sich immer wieder an denamerikanischen Wohnblocks hochkämpft und einen vor al-lem im Herbst über ihren Anblick tröstet.Und Farben? Ich habe mir schon früher die Verachtung der

Fachleute eingehandelt, als ich dafür plädierte, sich bei Fassa-denfarben nicht an der üblichen Grabsteinpalette zu orientie-ren (Ocker in allenVarianten,Grau, Schwarz, und jenenamen-lose Farbe, die man vonHoneckers Jacke kennt ) – sondern anden Fassadenfarben der Insel Burano. Damals erntete ich eineEmpörung, als hätte ich verlangt, alle Einwohner sollten inBaströckchen herumlaufen. Merkwürdig: Bei der Stadtgestal-tung ist Fröhlichkeit eine Art Schimpfwort, ein Greuel nichtnur für jenePuristen, die dasVolk gern inungestört grauenKu-ben aufgehoben sähenund für die jederBuchsbaumtopf schonGartenzwergisierung bedeutet. Computer machen es mög-lich –man könnte doch zumBeispiel die Rohrbachstraße oderirgendeine andere virtuell einfärben, apfelgrün, melonenrot,hortensienblau, kürbisgelb, ebenburanisch: und dann einfachmalgucken,waspassiertundwiedas aussieht.Einzelaktionen–was Knall-Lilanes in einer ansonsten schlechtwetterfarbenenZeile − sind eher kontraproduktiv. Solche Häuser tun mirähnlich leid wie Damen, die sich fürs Klassentreffen ins langeBallkleid geworfen haben. Auchwenn jetzt wieder vorsorglichder Untergang der Zivilisation beschworen wird – ich bin un-erziehbar. Hätten wir viele wirklich gestaltete Fassaden, wäredie Farbe nicht so wichtig. Haben wir aber nicht, und dieGrauenHerren haben in den sechziger Jahren dasÜbriggeblie-bene noch weggehauen. Wegen der Ästhetik. Stuck verdirbtnämlich dieMoral. So habenwir wenig Form, da würde FarbeWunder wirken. So wie früher.

Sie wohnen Langgasse zehn? Kenn ich nicht. Ach, in demroten Haus? Ja klar. Weiß ich, wo das ist.In diesem Zusammenhang auch gleich noch ein klagendes

Wörtchen zum Briefkasten-Klingelbrett- und Haustürenkar-tell. Das muß es geben. Es sitzt irgendwo und sorgt dafür, daßüberall mächtige weiße Tresore auf Beinen die Vorgärten ver-hunzen, keine schöne und identifizierbare Tür einen mehrempfängt, sondern die fünf verschiedenenEloxalgreuel, zu de-nen sich Hausverwalter und -besitzer offenbar gern überredenlassen. Horror. Abscheulich. Dabei kriegt man dieses Gerüm-pel auch nicht umsonst. Noch heute sehe ich in Containernwunderschöne ermordete Türen mit herrlichen Klinken lie-gen, die man hätte retten müssen vor dieser gleichmacheri-schen Mafia.Natürlich hat die Stadt, unsere arme Stadt, kein Geld. Was

ich vorschlage, ist auch keine Frage des Geldes, sondern derIndividualität und des Mutes. Ich bin fast etwas zu abergläu-bisch, um es hinzuschreiben – aber seit die Blocks in einer gro-ßen und schandbar zugerichteten Straße mehrere Farbtöp-fe gesehen haben und einen pfiffigen Gestalter, sind keineSchmierakel mehr aufgetaucht. Ich will sie nicht animieren,die Kerle, deswegen sage ich den Straßennamen nicht. Undhänge lieber noch ein bißchen der Illusion an, ein bißchenSchminke helfe gegen Depressionen. Manchmal.Wasser hilft auch gegen Depressionen. Brunnen sind etwas

Wunderbares. Ihr Geräusch, ihr Talent, einen schönen Treff-punkt fürMenschen zu bilden, nicht nur für Liebespaare, läßteinen brunnenreiche Städte mehr lieben als andere. Für dieseSegnung urbanen Lebens haben wir hier leider kein glück-liches Händchen. Das fing mit der feindseligen InstallationamEschenheimerTurm schon früh an. Ichweiß, der steht un-ter Denkmalschutz. Da kann man nichts machen. Ich mußbei seinem Anblick nicht an die Sanftheit des Wassers, son-