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Nr. 6/2012 November/Dezember € 4,– INTERNATIONALE PRESSEKORRESPONDENZ Außerdem: Syrien Indonesien Pakistan Spanischer Staat USA Südafrika Die Linke und die Krise Südafrikas Marikana – ein Wendepunkt?

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Nr. 6/2012 November/Dezember € 4,–

I N T E R N A T I O N A L E P R E S S E K O R R E S P O N D E N Z

Außerdem: Syrien Indonesien Pakistan Spanischer Staat USA

Südafrika Die Linke und die Krise Südafrikas Marikana – ein Wendepunkt?

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2 inprekorr 6/2012

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

wer es gewohnt ist, auch die manchmal recht zahlreichen Anmerkungen zu unseren Texten zu studieren, wird sich schon des öfteren über die im-mer häufigeren Verweise auf Zeichen für Zeichen in den Browser zu über-tragende Internetadressen geärgert haben. Wenigstens für diejenigen Über-setzungen, deren Original online verfügbar ist – siehe die Quellenangabe am Ende der Übersetzung –, sei eine kleine Erleichterung empfohlen: Aus dem im Browser geöffneten Originaldokument können im Anmerkungsteil verlinkte Adressen einfach per Mausklick angesteuert werden.

Wenn auch die Weltgeschichte sich fast gar nicht vom Rhythmus des Ka-lenders beeindrucken lässt, nehmen wir uns aus gegebenem Anlass vor, im neuen Jahr die alte Sache mit neuem Schwung voranzutreiben!

Eure Redaktion

Eure großzügigen Spenden erbitten wir wie immer auf das folgende Konto:Thies Gleiss Sonderkonto; Kto.Nr. 478 106-507Postbank Köln (BLZ 370 100 50)

IMPRESSUM

Inprekorr ist das Organ der IV. Interna-tionale in deutscher Sprache. Inprekorr wird herausgegeben von der deutschen Sektion der IV. Internationale, von RSB und isl. Dies geschieht in Zusammen-arbeit mit GenossInnen aus Österreich und der Schweiz und unter der politi-schen Verantwortung des Exekutivbüros der IV. Internationale.

Inprekorr erscheint zweimonatlich (6 Doppelhefte im Jahr). Namentlich ge-kennzeichnete Artikel geben nicht unbe-dingt die Meinung des herausgebenden Gremiums wieder.

Konto: Neuer Kurs GmbH, 25761 BüsumPostbank Frankfurt/M. 60320 Frankfurt a.M.(BLZ: 500 100 60), KtNr.: 365 84-604IBAN = DE97 5001 0060 0036 5846 04BIC = PBNKDEFF

Abonnements: Einzelpreis: € 4,–Jahresabo (6 Doppelhefte): € 20,–Doppelabo (Je 2 Hefte): € 30,–Solidarabo: ab € 30,–Sozialabo: € 12,–Probeabo (3 Doppelhefte): € 10,–Auslandsabo: € 40,–

Website:http://inprekorr.de

Redaktion: Michael Weis (verantw.), Birgit Al thaler, Daniel Berger, Wilfried Dubois, Jochen Herzog, Paul Kleiser, Björn Mertens, Ursi UrechE-Mail: [email protected]

Satz: Grafikkollektiv Sputnik

Verlag, Verwaltung & Vertrieb:Inprekorr, Hirtenstaller Weg 34,25761 Büsum, E-Mail: [email protected]

Kontaktadressen:RSB / IV. InternationaleEigenstr. 5247053 Duisburg

isl, internationale sozialistische linkeRegentenstr. 75–59, D-51063 Köln

SOAL, Sozialistische [email protected]

Sozialistische AlternativePostfach 4070, 4002 Basel

Eigentumsvorbehalt: Die Zeitung bleibt Eigentum des Verlags Neuer Kurs GmbH, bis sie dem/der Gefangenen per-sönlich ausgehändigt ist. „Zur-Habe-Nahme“ ist keine persönliche Aushändigung im Sinne des Eigentums-vorbehalts. Wird die Zeitschrift dem/der Gefangenen nicht persönlich ausgehän-digt, ist sie dem Absender unter Angabe der Gründe der Nichtaushändigung um-gehend zurückzusenden.

Marxismus

Der unzeitgemäße Daniel Bensaïd, Interview mit François Sabado ..................3

SyrienDer bewaffnete Widerstand in Syrien, Khalil Hasbah ........................................5Kritische Bemerkungen zu der Opposition, Ghayath Naïssé .............................8

IndonesienIndonesische Arbeiterbewegung im Hoch, Zely Ariane ...................................14

Pakistan Fundamentalismus – eine Herausforderung für die Linke,

Interview mit Farooq Tariq .........................................................................16

Spanischer Staat Spanischer Staat – Soziale Krise und Nationalitätenfrage ...............................33Lluís Rabell .......................................................................................................33

USA Die Bedeutung von Occupy, Dan La Botz, Robert Brenner und Joel Jordan ..35

Südafrika Neville Alexander (1936 – 2012), Norman Traub ............................................43Die Linke und die Krise Südafrikas,

Interview mit Brian Ashley ............................................................................45Marikana – ein Wendepunkt? Martin Legassick ...............................................49

die internationaleDer islamische Fundamentalismus – Am Beispiel Irans und des Arabischen

Frühlings, Ali Behrokhi .................................................................................21

InhALt

InhALt

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inprekorr 6/2012 3

MarxisMus

MarxisMusDer unzeitgemäße Daniel Bensaïdinterview mit François sabado, dem Herausgeber von „Daniel Bensaïd, l’Intempestif“1

Jihane Halsambe: Warum „unzeitig“?Dies ist eine Anspielung auf Marx l’Intempestif. 2 Dieses Werk von Daniel ist eine kritische Lektüre des Kapital, ent-kleidet von Interpretationen, die aus der marxistischen Theorie eine abgeschlos-sene Geschichtsphilosophie, eine Sozio-logie oder ein wirtschaftswissenschaftli-ches Sachbuch gemacht haben. Für Da-niel ist Geschichte nicht vorherbestimmt und die Gesellschaftsklassen sind keine Dinge, sondern Beziehungen bzw. Ver-hältnisse. Sie existieren und treten nur durch den sie formenden Konflikt zuta-ge. Die Ökonomie ist politisch und ihre zeitlichen Verläufe kreuzen sich mit dem Klassenkampf. Daniel behandelt die Wi-dersprüche im Werk von Marx, die Span-nungen, das was „möglich“ ist. Unzeitge-mäß außerdem, weil er dort von sich hö-ren macht, wo man ihn nicht erwartet, in der Abgrenzung zur stalinistischen Ortho-doxie, aber auch in seiner Auseinander-setzung mit den nicht-marxistischen Den-kern oder durch solch überraschende Ar-beiten wie sein Buch über Jeanne d’Arc.

Samy Joshua sagt, dass Daniel bei Marx seine „Ankerpunkte“ findet, dass er aber woanders „wildert“, „mitunter tief im Innern der Erde“. Was also macht den Marxismus von Bensaïd aus? Gibt es einen spezifi-schen Beitrag von ihm?Daniel verfügte über eine beeindrucken-de Kenntnis von Marx, aber sein Marxis-mus ist einzigartig, indem er beispiels-weise ganz besondere Verknüpfungen mit den Werken von Charles Péguy oder Wal-ter Benjamin vornimmt. Er stellt den Be-griff von Fortschritt als linearem und ho-mogenem Kontinuum und als Sinn der Geschichte infrage. Es gibt für ihn kei-ne geraden Linien, die zeitlichen Verläu-fe fallen auseinander. Der Kapitalismus wird durch seine Krisen rhythmisiert, aber es gibt keine Automatismen. Letzt-lich entscheiden die Konflikte, die Klas-senkämpfe. Durch die Auseinanderset-zung mit idealistischen oder Heilslehren hat er neue Quellen gefunden und seinen Marxismus an anderen theoretischen und historischen Gedankengängen „gerieben“ und bereichert.

Ob es einen Marxismus von Bensaïd

gibt? Nicht im Sinn eines umfassenden und systematischen Gedankengebäudes. In vielen seiner Bücher zeigt Daniel auf, was der Marxismus nicht ist, nämlich ei-ne mechanistische, deterministische Den-kungsart, eine Stadieneinteilung der Ge-schichte oder ein historischer Fatalismus. Aber eine Definition dessen, was Mar-

xismus ist, ist nicht sein Anliegen. Die Herangehensweisen von Lenin, Plecha-now, Bernstein, Kautsky, Rosa Luxem-burg oder Trotzki führen nicht zum sel-ben Marx. Aber seine Offenheit hindert ihn nicht daran, sich zu entscheiden. Da-niel hat sich für seinen Weg entschieden: eine bestimmte „marxistische Orthodo-xie“ auseinanderzunehmen, die der II. und der später stalinistischen III. Inter-nationale, die der Geschichte eine objek-tive Gesetzmäßigkeit überstülpt, die frü-her oder später zum Sozialismus führen wird. Wie Marx weiß auch er, dass „Ge-schichte unter gegebenen Umständen ge-macht wird“, aber für Daniel – mehr noch als für andere MarxistInnen – „sind es die Menschen, die Geschichte machen“. In-sofern räumt er den historischen Schei-depunkten, den Krisenmomenten und den strategischen Entscheidungen, in denen durch das Eingreifen der Menschen die Geschichte in die eine oder in die ande-re Richtung gedrängt wird, einen zentra-len Stellenwert ein. Oft beharrt er auf der Konzeption einer „Partei als Stratege“. Die Partei darf nicht nur Lehrer oder Füh-rer sein, wie es die Lehrmeister der II. In-

ternationale erklärt haben. Sie ist ein Ge-triebe, das durch die Entscheidungen ih-rer Mitglieder gelenkt wird. Für ihn ist „das besondere Ereignis“, die Initiative von zentraler Bedeutung. Er ist auch stän-dig auf der Suche danach, wie durch eine Mobilisierung oder Kampagne die Kräf-teverhältnisse geändert werden können.

Derlei Intuition und Temperament haben ihn auch beispielsweise im Mai 68 dazu gebracht, in Krisenmomenten durch ent-scheidende Initiativen einzugreifen und (mit Cohn-Bendit) die Bewegung des 22. März und einen Aufruf zum Barrikaden-bau in der Nacht des 10. Mai im Quar-tier Latin in Paris herauszubringen. Die-ser Aktionswille geriet Anfang der 70er Jahre auch gelegentlich zum Voluntaris-mus oder „Substitutionalismus“ gegen-über der Massenmobilisierung, aber die-se Verirrungen hat er durch sein Gespür für die „reale Bewegung“ schnell über-wunden.

Bensaïd verstand die Partei als „ope-rativen Strategen“. Warum war ihm dies bei seinem Engagement so wich-tig? Warum erscheint der Bezug auf Lenin so wichtig?„Tod eines Strategen“, so titelte die spa-nische Zeitung Publico am Tag nach sei-nem Tod. Das Problem der Strategie war im ganzen politischen Denken von Daniel immer der entscheidende Punkt. Mit Hen-ri Weber veröffentlichte er 1968 das Buch Mai 68, une répétition générale.3 1976

Daniel Bensaïd

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4 inprekorr 6/2012

MarxisMus

schrieb er La révolution et le pouvoir.4 Mitte der 70er Jahre revidierte er auf-grund der Erfahrungen der Klassenkämp-fe in Südeuropa und der chilenischen Tra-gödie von 1973 seine strategischen Vor-stellungen. Seine Gedanken wurden durch unzählige Berichte und Diskussio-nen bei den Schulungstreffen der Organi-sationen der IV. Internationale bereichert. Er verarbeitete damals die revolutionären Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, von der russischen bis zur portugiesischen Re-volution. Sein Beitrag umfasste die Dar-legung verschiedener strategischer Optio-nen: der aufständische Generalstreik, der verlängerte Volkskrieg, die Kombination aus Widerstand, Guerilla und Aufstand. In seinen Auseinandersetzungen mit den Eurokommunisten der 70er Jahre wandte er sich gegen die linksreformistische Ver-einnahmung von Gramsci. Für ihn enthob die Eroberung der Hegemonie in der gan-zen Vorbereitungsphase auf eine Revolu-tion die Revolutionäre nicht der Aufgabe der theoretischen Vorbereitung auf vorre-volutionäre Situationen, auf den Moment, in dem die Macht kippt, und auf das wei-tere Vorgehen, wenn die alten Machtha-ber durch die neuen Organisationen aus den Reihen der unteren Klassen gestürzt worden sind. Diese Hypothesen stellen kein Modell dar und sind keine fertige Strategie. Anpassungen sind ständig von-nöten, aber man braucht Bezugs- und Ori-entierungspunkte.

Bei diesen Überlegungen nahm Lenin eine besondere Stellung ein. Daniel wet-terte gegen diejenigen, die Lenin einen Vorläufer Stalins nannten. Auch wenn Le-nin und Trotzki eine gewisse Verantwor-tung bei der Repression und Beschnei-dung elementarer Rechte zwischen 1918 und 1921 zukommt, ändert dies nichts da-ran, dass der Stalinismus eine bürokra-tische Konterrevolution darstellt. Und die Irrtümer Lenins können nicht mit der Konterrevolution in einen Topf geworfen werden. Bei Lenin fasziniert ihn das stra-tegische Denken: seine Überlegungen, Intuitionen und Entschlusskraft zwischen Februar und Oktober 1917. Aufmerk-sam studiert er, wie Lenin die bolschewi-stische Partei auf den Prozess der Macht-eroberung über die Sowjets eingeschwo-ren hat. Beim Rückblick auf die Debatten von 1902–1903 zum Zeitpunkt der Spal-tung zwischen Menschewiki und Bolsche-wiki geht es Daniel um Lenins Kampf ge-gen das ökonomistische Denken und sei-ne Fähigkeit, die Politik zu „einem eige-nen Feld“ zu machen. Politik ist nicht nur „die Politisierung des Sozialen“, sondern ein eigenes Feld mit bestimmten Insti-tutionen und Kämpfen von Parteien und

Gruppierungen. Auf Lenin Bezug neh-mend beharrt er darauf, dass das sozia-listische Bewusstsein jenseits des Kon-flikts zwischen „Arbeiter und Unterneh-mer“ entsteht. Im Unterschied zu Kautsky muss nach Daniel das sozialistische Be-wusstsein nicht durch sozialistische Intel-lektuelle von außerhalb der Arbeiterklas-se eingebracht werden. Es entsteht durch die Erfahrung der Arbeiter selbst, umfasst aber eine Reihe politischer, demokra-tischer und internationaler Probleme, die über ökonomische Konflikte hinausge-hen. Lenins politisches Denken hatte ei-nen großen Einfluss auf Daniel. Des Öfte-ren sagte er uns, dass nach der Beschäfti-gung mit Marx er sich intensiver mit Le-nin beschäftigen werde.

Er verstand sich als jemand, der den Schwung der Revolutionen, der hin-ter den dicken Mauern stalinistischer Geschichtsschreibung so tief verbor-gen ist, weitergeben, „vermitteln“ will. Warum war ihm dies so wichtig?Die stalinistische Geschichtsfälschung setzte die russische Revolution und den „real existierenden Sozialismus“ in eins. Diese Sicht der Geschichte muss neu auf-gerollt werden. Man muss unterscheiden zwischen dem revolutionären Prozess und der stalinistischen Konterrevolution. Für Millionen Menschen bedeutet Kommu-nismus stalinistischer Totalitarismus. Der Kampf der linken Opposition, der Kampf Trotzkis und seiner GenossInnen oder auch der AnarchistInnen erlauben uns ei-ne klare Feststellung: Die Revolution ist etwas völlig anderes als der Stalinismus. Daraus ergibt sich eine weitere Verpflich-tung, nämlich den roten Faden in der Hand zu behalten, d. h. die Kontinuität zwischen den Kämpfen von gestern und heute festzuhalten. Der Rückblick auf die Geschichte der Revolutionen, ihre Entste-hung und ihre Lehren ist nicht einfach nur eine Verbeugung vor der Vergangenheit. Es geht darum, eine Verbindung, einen Spannungsbogen zwischen dem kämpfe-rischen Alltag und dem strategischen Ziel zu bewahren. Dies gilt umso mehr in der gegenwärtigen Phase, in der die revolutio-nären SozialistInnen seit Jahrzehnten kei-nen revolutionär-sozialistischen Prozess mehr erlebt haben. Ohne eine strategische Perspektive verliert die Alltagspraxis ih-re revolutionäre Bedeutung. Sie verwäs-sert in den verschiedensten Bewegungen oder taktischen Gefechten.

Andererseits dürfen wir nicht in die Überbetonung der Strategie verfallen, in eine Politik also, die im Namen der revo-lutionären Sichtweise die realen Bewe-gungen, die Alltagsgefechte, die Kämp-

fe für soziale und demokratische Rechte und die taktische Vermittlung politischer Inhalte nicht mehr ausreichend berück-sichtigt.

Warum legte er so großen Wert dar-auf, am Kommunismus als politischer Perspektive festzuhalten?Dafür gibt es mehrere Gründe. Auf ei-ner ersten geschichtlichen Ebene müssen wir festhalten: Wenn Worte einen ande-ren Sinn erhalten haben, besonders durch den Stalinismus, „wenn sie die Stür-me des letzten Jahrhunderts nicht unbe-schadet überstanden haben“, wie Dani-el schreibt, beziehen wir uns dennoch auf eine geschichtliche Tradition, nämlich die des Kommunistischen Manifests. Auf ei-ner weiteren geschichtlichen Ebene gilt es klarzustellen: Kommunismus und Sta-linismus sind Gegensätze. „Der Gleich-setzung von Kommunismus mit der tota-litären stalinistischen Diktatur nachzuge-ben, hieße, vor den vorläufigen Siegern zu kapitulieren“.

Seine größte Sorge jedoch, die er in seinem letzten Text Puissances du com-munisme5 geäußert hat, dreht sich um die Frage der Aktualisierung des Programms: „die Abschaffung des privaten Kapitalei-gentums, soziale Gleichheit und gleiche Verteilung der Güter, die Generalisie-rung von Gemeineigentum und die Über-gabe der Macht an alle.“ Das Kommuni-stische Manifest begreift den Kommunis-mus als eine freie Assoziation, in der die freie Entwicklung jedes Einzelnen die Vo-raussetzung für die Entwicklung aller ist. Der Kommunismus ist schließlich keine Doktrin, wie eine Gesellschaft auszuse-hen hat, sondern „der Ausdruck einer re-alen Bewegung für die Abschaffung der bestehenden Ordnung“. Der Text Puis-sances du communisme liefert eine pro-grammatische Antwort auf die gegenwär-tige Krise des Kapitalismus.

Dies Interview erschien in TEAN revue 36 vom Oktober 2012 aus Anlass der Veröffentlichung des Buches „Daniel Bensaïd, l’Intempestif“.

Übersetzung: MiWe

1 Erschienen im Verlag La Découverte, 189 S, 17 €

2 [Der Titel spielt an auf Daniel Bensaïds: „Marx l’intempestif. Grandeurs et misères d’une aventure critique (XIX – XXe siècles)“. Sinngemäß  : «  Marx, der Unzeitgmäße. Hö-hen und Tiefen eines Abenteuers der Kritik.“ In dem Begriff „unzeitig“ oder „unzeitgemäß“ schwingt mit: „gegen die vorherrschende Mei-nung“ Anm. d. Übers.]

3 [Mai 68 – eine Generalprobe]4 [Revolution und Macht]5 Sinngemäß: Die Möglichkeiten des Kommu-

nismus

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Syrien

SyrienDer bewaffnete Widerstand in SyrienDieser Beitrag wurde bereits im Juni 2012 verfasst und gibt daher nicht die aktuellen entwicklungen wieder. insbesondere was den einfluss der reaktionären und fundamentalistischen arabischen re-gimes und die implikation westlicher Geheimdienste anlangt, steht er im Widerspruch zur aktuellen Datenlage. [AdÜ]

Khalil Hasbah

Die bewaffneten Oppositionsgruppen in Syrien sind seit ihrer Entstehung – zunächst als Bewegung der freien Of-fiziere unter Oberst Husein Hamusch – umstritten. Nach dessen Gefangen-nahme und Exekution kam es umge-hend zur Bildung der Freien Syrischen Armee (FSA) unter dem im Juli 2012 desertierten Oberst der Luftwaffe Ri-ad Asaad.

Maßgeblich für den revolutio-nären Prozess in Syrien sind gegen-wärtig in erster Linie die breiten Akti-vitäten der Bevölkerung, die Kundge-bungen und Streiks (wie im Dezember 2011) oder die Aktionen zivilen Unge-horsams. Trotzdem bedarf es natürlich einer Betrachtung und Wertung auch der bewaffneten Oppositionsgruppen und des zunehmenden bewaffneten Widerstands im Allgemeinen.

Die Militarisierung Der OppOsitiOn

Teile der syrischen Opposition haben die Militarisierung des Widerstands kritisiert, da dies zu einer Schwä-chung der Volksbewegung führe. Haitham Manna, Sprecher des Natio-nalen Koordinationskomitees für de-mokratischen Wandel meinte bspw.: „Als wir gewaltfrei waren, hatten wir drei Millionen Menschen hinter uns“, aber „seit der Widerstand bewaffnet verläuft, gehen nur noch 50  000 auf die Straßen“. Und weiter: „Der be-waffnete Kampf kann nicht gewonnen werden. Er spielt den extremistischen, von den Golfstaaten unterstützten Kräften in die Hände.“1 Diese Kräf-te würden sich für eine Auslandsinter-vention stark machen, was wir strikt ablehnen.2

Wir sind durchaus der Ansicht, dass der bewaffnete Widerstand al-lein nicht ausreicht, das Regime zu stürzen, und wir sind gegen eine Aus-landsintervention. Trotzdem halten wir die Herangehensweise von Ha-itham Manna für falsch. Die Volksbe-wegung in Syrien hat sich immer wei-ter entwickelt. Die blutige Unterdrü-ckung der Proteste existiert seit Be-ginn des revolutionären Prozesses im März 2011 und ist nicht erst durch den bewaffneten Widerstand provoziert worden. Der kubanische Nationalheld und Revolutionär José Martí mein-te: „Verbrecherisch handelt, wer in seinem eigenen Land einen vermeid-baren Krieg vorbereitet und wer einen unvermeidbaren Krieg vorzuberei-ten unterlässt.“ Wir können nicht die Augen davor verschließen, was in so vielen Syriern vorgeht angesichts der blutigen Repression des Regimes, das einen vermeidbaren Krieg gegen das eigene Volk führt.

Man muss daran erinnern, dass in Ägypten über 800 Aufständische ge-tötet wurden, bevor Mubarak gestürzt wurde. Irgendwann haben die De-monstranten dann zur Gewalt gegrif-fen, um sich gegen die Schergen zu schützen, die im Dienste des Regimes den Tahrir-Platz räumen sollten. Wie woanders auch haben die Menschen in Syrien das Recht, sich und ihre Fa-milien gegen ein totalitäres Unterdrü-ckerregime zu verteidigen. Oder be-streiten wir den Palästinensern das Recht auf Widerstand gegen die ras-sistischen und kolonialistischen isra-elischen Besatzer? Und haben wir in der Vergangenheit den südamerika-nischen Völkern das Recht bestritten, gegen ihre Diktatoren mit der Waffe in

der Hand Widerstand zu leisten? Na-türlich nicht! Das Recht auf Selbstver-teidigung gegen das unterdrückerische Regime steht nicht in Widerspruch zum gewaltfreien Kampf der Volksbe-wegung für den Sturz des Regimes.

Die anfänge Des bewaff-neten wiDerstanDs

Es gab mehrere Gründe, die zur Ent-stehung der bewaffneten Gruppen ge-führt haben:

Erstens die gewaltsame Unterdrü-ckung der friedlichen Demonstranten und der Anführer der Volksbewegung, die durch das Regime getötet, ver-haftet oder ins Exil gezwungen wur-den. Dies hat zur Radikalisierung der Bewegung geführt und dazu beige-tragen, dass die Befürworter des be-waffneten Widerstands Auftrieb beka-men. Unter der Zivilbevölkerung grif-fen immer mehr Menschen zur Waffe, um sich auf Demonstrationen und zu-hause gegen die mörderischen Scha-biha-Milizen und die Sicherheitskräf-te des Regimes oder gegen die Armee zu verteidigen.

Zweitens die Zunahme der Deserti-onen aus der Armee, besonders seitens der einfachen Soldaten, die sich wei-gerten, auf friedliche Demonstranten zu schießen. Am 26. Juni lief bereits der 13. General über und am 22. Juni ein Oberst der Luftwaffe, der als erster Offizier mit seiner Mig 21 nach Jor-danien geflohen ist. Infolge der Skru-pel der Soldaten, auf friedliche De-monstranten zu schießen, ist es bereits zu etlichen Meutereien und Deserti-onen gekommen. Mit Manaf Tlass hat sich auch ein General aus dem engsten Kreis um Präsident Baschar al-Assad in die Türkei abgesetzt.

Drittens sind inzwischen Interes-sensgruppen und Staaten bereit, ganz gezielt bewaffnete Truppen zu finan-zieren, um sich auf diese Weise in Sy-rien ein Faustpfand für die Zukunft zu verschaffen. So unterstützen die Muslimbrüder eine Miliz, die sich zi-

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6 inprekorr 6/2012

Syrien

vile Schutzkomittees oder Ibn al-Walid Brigade nennt. Die vom prominenten Abdul Razak Tlass geführten „Farouk Brigaden” stehen mit Saudi-Arabien in Verbindung. Ein Kämpfer mein-te dazu, dass „Geschäftsleute aus Ka-tar und Saudi-Arabien an den Militär-räten vorbei direkt Geld an kleine be-waffnete Oppositionsgruppen fließen lassen. Ein Teil davon geht an radikal-islamische Gruppen.“3

ZusaMMensetZung Der be-waffneten gruppen

Die soziale Zusammensetzung der Mitglieder der bewaffneten Wider-standsgruppen entspricht i. W. der der revolutionären Bewegung, nämlich in erster Linie marginalisierte Arbeiter aus Stadt und Land und Angehörige der unteren und mittleren Schichten, die unter der Akzentuierung der neo-liberalen Politik seit dem Machtantritt von Baschar al-Assad besonders zu leiden haben.4 Neben den desertier-ten Militärs bilden die Zivilisten, die sich für die Waffe entschieden haben, die überwiegende Mehrheit in diesen Gruppen. Somit besteht eine organi-sche Verbindung der bewaffneten For-mationen zur rebellierenden Bevölke-rung und aufgrund dieser heteroge-nen Zusammensetzung lässt sich aus-schließen, dass daraus eine einheitli-che Kraft im Dienste ausländischer Mächte entstehen könnte.

Die syrische Armee wurde un-ter Hafiz al-Assad, dem im Jahr 2000 verstorbenen Vorgänger und Vater des jetzigen Diktators, so aufgebaut, dass kollektiver Ungehorsam oder Meu-terei kaum möglich sind. Die oberen Kommandostrukturen basieren auf Klientelwirtschaft und Konfessions-zugehörigkeit. Die meisten regime-treuen Einheiten werden von alawi-tischen Offizieren befehligt, daneben gibt es aber auch sunnitische Offiziere und Generäle. Der Bataillonskom-mandeur, der im Februar das Blutbad im Viertel Baba Amr in Homs gelei-tet hat, ist ein sunnitischer Oberst. Die Funktion dieser Einheiten besteht da-rin, das Regime zu schützen. indem verschiedene Formen von Unterdrü-ckung angewandt werden. Potenzielle Deserteure können demnach nur als Individuen oder in kleinen Gruppen agieren.

Trotz dieser Widrigkeiten nimmt

der Umfang der Desertionen zu, so-dass das Regime gezwungen ist, die-se Einheiten mit Mitgliedern des Si-cherheitsapparats aufzufüllen, um ih-re Loyalität zu gewährleisten. Tausen-de von Soldaten und Offizieren sitzen im Gefängnis, weil sie der Sympathie mit der Revolution verdächtigt wer-den. Über die Hälfte der Verluste er-leidet die syrische Armee durch Liqui-dierungen in den eigenen Reihen sei-tens regimetreuer Militärs.

Zur naMensgebung Der MiliZen

In der Regel verweisen die Namen der Milizen auf einen sunnitisch-re-ligiösen Hintergrund, weswegen vie-le Beobachter auf eine konfessionel-le Bindung schließen. In Wahrheit je-doch kommt darin lediglich das sozia-le Milieu zum Ausdruck, dem die Mit-glieder entstammen, nämlich ländli-che oder marginalisierte Schichten, in denen meist Frömmigkeit praktiziert wird.

Aber auch andere Glaubensge-meinschaften sind unter den Milizen vertreten. Anfang 2012 sind alawi-tische Brigaden entstanden, besonders im Gouvernement Idlib. Muti Ilyas Ilyas war der erste christliche Offizier, der desertiert ist. Zahlreiche Christen, die der FSA angehörten oder sie un-terstützten sind von den Sicherheits-kräften liquidiert worden, darunter auch Hossam Mikhail.

Die Herkunft Der waffen

Im Unterschied zu den hiesigen Medi-enberichten5 bestreiten viele bewaff-nete Oppositionsgruppen, ihre Waf-fen von Saudi-Arabien oder Katar er-halten zu haben. Die meisten von ih-nen kämpfen mit Standardausrüstung (Maschinenpistolen/-gewehre, Präzi-sionsgewehre und Raketenwerfer aus russischer Produktion), die sie ge-stohlen oder von den notorisch kor-rupten Armeeangehörigen gekauft ha-ben. Ausgefeilte Waffensysteme wie die Panzerabwehrraketen Metis oder Komet wurden in Kämpfen mit der regulären Armee erobert, mitunter auch über korrupte Offiziere bezogen. Dies heißt natürlich nicht, dass nicht auch aus dem Ausland Waffen gelie-fert wurden, aber dies geschah we-der systematisch noch in großem Um-

fang. Im März oder April gab es erst-mals eine umfangreiche Lieferung an bestimmte Gruppen, die bei Idlib, Ha-ma, Homs und den Vorstädten von Da-maskus kämpfen.

Nach Angaben der Opposition stammen Waffen in bescheidenem Umfang aus Saudi-Arabien und Katar, während die Türkei jedwede Waffen-lieferung an die Rebellen bestreitet. Viele Milizen haben sich geweigert, vor den bürgerlichen Eliten der Golf-staaten zu Kreuze zu kriechen, um im Gegenzug Waffen zu erhalten.

Die Behauptungen Saudi-Arabi-ens, die FSA teilweise zu finanzieren, sind bis heute unbewiesen, und der CIA ist in der Südtürkei eher damit befasst, die bewaffneten Oppositions-gruppen zu überprüfen als ihnen zu helfen. Ein herausragendes Mitglied der obersten religiösen Autorität Sau-di-Arabiens (des Hohen Ulama-Rats) erließ Anfang Juni eine Fatwa, wo-nach es den Saudis verboten wäre, in Syrien den Dschihad zu führen, d. h. das dortige Regime zu bekämpfen.

Einige Milizen versorgen sich mit Waffen, die sie aus dem Irak, dem Li-banon oder der Türkei schmuggeln, aber diese Quelle ist weitgehend ver-siegt, nachdem der grenzüberschrei-tende Waffenhandel in diesen Ländern verboten wurde und es zu Festnahmen kam.

In erster Linie basiert die Unter-stützung der Milizen auf der einheimi-schen Bevölkerung, die sie mit Geld, Waffen, Nahrungsmitteln, Medika-menten etc. versorgt.

Die strategie Der bewaff-neten OppOsitiOnsgrup-pen

Die FSA ist bis heute keine einheit-liche Struktur. Bis vor kurzem noch ging die Koordination ihrer Einheiten kaum über die unmittelbar benach-barten Dörfer und Städte hinaus. Vie-le Rebellen wissen nicht einmal, wer ein paar Dörfer weiter das Komman-do innehat. Allmählich sind auf die-sem Gebiet jedoch ermutigende Fort-schritte zu verzeichnen. In den letzten Monaten hat sich eine Basisbewegung in der Bevölkerung entwickelt, die zu einer Vernetzung der Aktiven unterei-nander geführt hat und damit zu einer örtlichen und regionalen oder gar na-tionalen Koordination der Demonstra-

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Syrien

tionen, der Militäroperationen, der hu-manitären Hilfe oder der Öffentlich-keitsarbeit. Durch die Schaffung ei-nes „Koordinationskomitees“ soll „die politische Tätigkeit in Syrien in allen Bereichen der Revolution zusammen-geführt werden, um einen geordneten Übergang zu gewährleisten“.6

Jeweils drei Vertreter der vier wich-tigsten syrischen Oppositionsgruppen – darunter die Syrische Generalkom-mission der Revolution (SRGC) und die Lokalen Koordinationskomitees (LCC) als die beiden größten – bilden gemeinsam die Exekutive. Ziel des Komitees ist es, die bewaffneten Op-positionsgruppen, die der FSA angehö-ren oder ihre Zugehörigkeit reklamie-ren, unter eine gemeinsame Autorität zu stellen. Daher wurde versucht, alle Aktivitäten durch die Schaffung eines Vereinten Militärrats zu koordinieren und die verschiedenen Fraktionen zum Beitritt zu bewegen.

Durch die Bildung der Militärräte sollen die arg zerstreuten Milizen unter ein einheitliches Kommando und eine gemeinsame Kontrollstruktur gebracht werden. Nach Auskunft eines Mit-glieds des „Koordinationskomitees“ beteiligten sich im Juni 2012 landes-weit mindestens zehn Militärräte da-ran, Informationen auszutauschen und gemeinsame Aktionen zu planen. Auf Provinzebene arbeiten die Militärräte unter der Dachherrschaft der FSA, tref-fen ihre operativen Entscheidungen je-doch selbständig.

Eine solide Verankerung dieser Räte gibt es in Homs, Hama, Idlib, Deraa und Damaskus, wo sie schon zuvor als Bataillonsverband der FSA existierten. Auf politischer Ebene haben sie ihre Entsprechung in den Revolutionsräten der Provinzen, mit denen sie sich kurz-schließen. Es gibt zwar auch starke und gut verankerte Rebellenorganisationen, die die Militärräte nicht anerkannt ha-ben, aber deren Legitimation wird da-durch nicht infrage gestellt.7

Obwohl große Fortschritte hinsicht-lich der Koordination zu verzeichnen sind, ist die FSA noch immer haupt-sächlich ein Aushängeschild, hinter dem eine ganze Reihe unabhängiger bewaffneter Formationen stecken. Die LCC treten gemeinsam mit anderen Sektoren, darunter der revolutionären syrischen Linken, dafür ein, dass sich die bewaffneten Formationen unter ei-ner zivilen Oberhoheit zusammen-

schließen und deren Verantwortlichkeit anerkennen. Denn die lokalen Gruppen der FSA müssen koordiniert vorgehen, um die Ziele der revolutionären Bewe-gung zu erreichen und Einflüsse von außen fernzuhalten.

fsa unD MObilisierung Der bevölkerung beDingen einanDer

Um die Ziele der syrischen Revolution zu erreichen, müssen Rechte und Wür-de der Menschen unbedingt respek-tiert werden. Insofern wenden wir uns strikt gegen Praktiken, wie sie in einem kürzlichen Bericht von Human Rights Watch berichtet werden.8

Die bewaffneten Gruppen dürfen sich nur den Zielen der Volksbewegung und der Revolution verpflichten und nicht ausländischen Interessen. Daher müssen sie auch auf Distanz gehen zu den Rebellengruppen, die mafiöse oder religiöse Ziele verfolgen und damit dem revolutionären Prozess schaden. Genauso wenden wir uns strikt gegen Aufrufe einzelner Milizen zur militä-rischen Intervention von außen, zumal diese Appelle ohnehin illusionär sind, da eine militärische Intervention von keiner Seite geplant ist. Stattdessen tre-ten wir für eine Vereinigung der Volks-bewegung und der bewaffneten Re-bellen ein, da wir nur so die Kontrolle über die Ereignisse bewahren können.

Eine vereinigte und verantwor-tungsbewusste FSA ist ein Ziel, das uns aber nicht davon abhalten darf, die re-volutionäre Volksbewegung aufzubau-en. Um es mit den LCC zu sagen: „Wir müssen mit den Führern der Bewegung vor Ort zusammen arbeiten, um so de-ren revolutionäre Aktivitäten voranzu-treiben. Noch ist der Gedanke des ge-waltfreien zivilen Ungehorsams nicht in den Köpfen der Mehrheit verankert und der Zivilbevölkerung stehen noch etliche Möglichkeiten zum Widerstand offen.“

Der konkrete Rahmen der Revoluti-on sind die lokalen Strukturen und die Koordinationskomitees. An ihnen müs-sen sich die politischen Strömungen orientieren, sie unterstützen und ei-ne eindeutige und einheitliche revo-lutionäre Strategie erarbeiten. Nur so kann man eine revolutionäre Koaliti-on aufbauen, die die Mehrheit der re-bellierenden Bevölkerung vereint. Der Kampf des syrischen Volkes kann sich

nicht auf eine einfache militärische Konfrontation mit dem Regime be-schränken. Die syrische Armee umfasst 295  000 aktive Soldaten. Davon sind etwa 175  000 Wehrpflichtige mit un-terschiedlichem Ausbildungsstand und Engagement. Aber in der Armee gibt es auch etliche Einheiten, die bestens trai-niert und schlagkräftig sind, darunter die republikanische Gardedivision und die vierte mechanisierte Division, die zusammen 25–35 000 Mann stark sind und von Baschars Bruder Mahir al-As-sad kommandiert werden. Daneben gibt es die mit der regierenden Baath-Partei unmittelbar verbundenen para-militärischen Kräfte, die etwa 100 000 Mann umfassen.

Aus diesem Grund kommt der FSA u. E. eine ausschließlich defensi-ve Funktion zu, die sie mit den lokalen Strukturen wie den LCC koordinieren muss. Für den Sturz des Regimes ist die Verbindung zwischen dem Wider-stand des Volkes und dem bewaffneten Widerstand essentiell. Wie der opposi-tionelle Schriftsteller Salameh Kaileh schreibt, „ist es nicht möglich, die Re-volution in eine bewaffnete Revolution umzuwandeln. Es gibt nicht ein Bei-spiel dafür, dass sich ein Land von sei-ner Staatsmacht durch den bewaffneten Kampf befreit hat. Dieser mag im Fal-le einer Okkupation von außen nütz-lich sein, aber beim Klassenkampf im Innern kann er nur die Volksbewegung unterstützen, während diese die Grund-voraussetzung bleibt.“9

Die Volksbewegung muss die zen-trale Achse der Revolution bleiben; nur sie kann den Repressionsapparat und die Wirtschaftszentren des Regimes lahmlegen. Und nur sie kann dem be-waffneten Widerstand ermöglichen, sich auszudehnen und in neue Region auszubreiten und so die Armee und die Sicherheitskräfte des Regimes mit neu-en Herausforderungen zu konfrontie-ren.

Die Erfahrungen vom Dezember 2011 und Januar 2012 zeigen, dass durch einen von den LCC und ande-ren Basisgruppen koordinierten Streik auch die einflussreichen Arbeitermas-sen in den Raffinerien, Häfen, Fa-briken, Büros, Bergwerken, Eisen-bahnen, Flughäfen, Schulen und Kran-kenhäusern eingebunden werden kön-nen. Durch derartige Aktionen kann die Wirtschaft lahmgelegt und das Re-gime gebrochen werden, was wiede-

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Syrien

rum der bewaffneten Opposition Auf-trieb und neue Ansatzpunkte zugunsten der Volksbewegung verleiht.

Für dieses Ziel müssen die Basisor-ganisationen wieder aufgebaut werden, v.  a. in den Universitäten und Betrie-ben. Erste Erfolge sind bereits sicht-bar.10

Che Guevara hat überzeugend er-klärt, dass der Guerillakrieg von den Bauern und Arbeitern unterstützt wer-den muss, um das Regime zu stürzen und die Macht zu erobern.

Der gegenwärtige Kampf betrifft alle Schichten der Bevölkerung. Wie gesagt, unterstützen wir den bewaff-neten Widerstand, aber er ist nicht ausreichend. Die Volksbewegung ist das Schlüsselmoment für den Fort-gang und Sieg der Revolution. Volks-bewegung und bewaffneter Wider-stand müssen sich vereinigen und ko-ordinieren, um die Ziele der syrischen Revolution zu erreichen. Keine Hilfe von außen wird daran etwas ändern. Die Lösung liegt allein in Syrien und bei den Syriern.

Khalil Hasbah ist Mitglied der revolutionären Bewegung Syriens.

Übersetzung: MiWe

1 http://syrianncb.org/2012/05/17/haytham-manna-we-are-not-against-the-state-but-against-the-regime/

2 Bezügl. unserer Position zu diesem Thema si-ehe unseren offenen Brief an „Stop the War Coalition (Great Britain): http://syriafreedom-forever.wordpress.com/2012/05/24/open-let-ter-to-the-stop-the-war-coalition-stwc-or-real-solidarity-is-needed/

3 http://www.telegraph.co.uk/news/worldnews/middleeast/syria/9342471/syrian-activists-an-nounce-new-leadership.html

4 Mehr dazu im Artikel unter http://syriafree-domforever.wordpress.com/2012/05/24/syria-one-year-after-the-beginning-of-the-revoluti-on-part-i

5 http://world.time.com/2012/06/22/opening-the-weapons-tap-syrias-rebels-await-fresh-and-free-ammo/

6 http://www.telegraph.co.uk/news/worldnews/middleeast/syria/9342471/syrian-activists-an-nounce-new-leadership.html

7 http://www.understandingwar.org/sites/default/files/Syrias_MaturingInsurgency_21June2012.pdf

8 http://www.hrw.org/news/2012/03/20/syria-ar-med-opposition-groups-committing-abuses/

9 h t t p : / / w w w . a l q u d s . c o . u k / i n d e x .asp?fname=data%5C2012%5C06%5C06-18%5C18qpt899.htm

10 Weitere Informationen unter http://syriafree-domforever.wordpress.com/2012/06/26/the-student-movement-in-syria-and-its-role-in-the-revolution/

Kritische Bemerkungen zu der OppositionGhayath naïssé

Bei revolutionären Bewegungen ist häufig ein Abstand zwischen den auf-ständischen Massen und den Parteien zu beobachten, die behaupten, in de-ren Namen zu sprechen. Aber der Gra-ben ist selten so breit gewesen wie in Syrien, wo die beiden großen Bünd-nisse, die vorgeben, sie repräsen-tierten die Revolution, sich in einem Fall durch eine Unterordnung unter die westlichen Imperialismen und ih-re Verbündeten am Golf auszeichnen, im anderen Fall durch ihre versöhnle-rischen Positionen gegenüber dem Re-gime. Das steht im Gegensatz zu den Bestrebungen des syrischen Volks, das ebenso entschlossen ist, seine radika-len demokratischen Ziele durchzuset-zen, wie seine nationale Unabhängig-keit zu verteidigen.

Der syriscHe natiOnalrat

Im März diesen Jahres hat in Istanbul die zweite Versammlung der Gruppe der „Freunde Syriens“ stattgefunden, an der RepräsentantInnen von 83 Län-dern teilgenommen haben; diese Ver-sammlung hat den Syrischen Natio-nalrat als „Repräsentanten aller Syrer“ und „Hauptbestandteil“ der syrischen Opposition anerkannt. Diese Erklä-rung ist zwar nicht so weit gegangen wie die Behauptungen des National-rats, der sich als „einzigen und legiti-men Repräsentanten des Volks und der Republik“ ausgibt, sie benennt den-noch die klare und offene Unterstüt-zung der vertretenen Regierungen, vor allem der USA, Europas und Saudi-Arabiens, von Katar und der Türkei, seiner Paten, die ihm politische, finan-zielle und Medienhilfe leisten.

Die Bildung des Syrischen Nati-onalrats, die am 2. Oktober 2011 in Istanbul bekannt gegeben wurde, hat ein gewisses Echo innerhalb der sy-rischen Opposition gefunden, der es an einem politischen Ausdruck ge-

fehlt hatte. Aber der Nationalrat hat aufgrund seiner nicht-demokratischen Organisation, der Zögerlichkeit in sei-nen Erklärungen, seiner opportunisti-schen Positionen in Bezug auf die Re-spektierung des Willens des syrischen Volks, seiner erklärten Feindselig-keit gegenüber der Achse Iran–Hes-bollah zugunsten von Saudi-Arabien, Katar und der Türkei, seiner Zurück-haltung in der Frage des Golans (er hat zu „seiner Rückgabe mittels Ver-handlungen aufgrund der internatio-nalen Legitimität“ aufgerufen), kon-fusen Positionen einer ganzen Rei-he von führenden Mitgliedern – wie etwa den lobenden Erklärungen sei-nes Sprechers Bassma Kodmani ge-genüber Israel – seinen Kredit bei den Massen rasch verspielt.

Die Illusionen des Syrischen Nati-onalrats in Bezug auf eine unmittelbar anstehende ausländische Intervention und seine organische Unterwerfung unter die politische Agenda der Paten-Staaten, zu dem politische Meinungs-verschiedenheiten und Finanzskanda-le hinzukommen, haben am Ende den Rest von Glaubwürdigkeit in den Au-gen der Demonstrierenden beseitigt. Seine Verbindungen in das Landesin-nere beschränken sich auf eine be-grenzte Zahl von Gruppierungen, im Wesentlichen die Freie Syrische Ar-mee.

In einem Bericht von zwei euro-päischen Forschungszentren, der im Januar diesen Jahres erschienen ist, heißt es: „Der Syrische Nationalrat, der in Syrien wenig Gewicht und we-nige Wurzeln, wenige aktive Anhän-ger, keinerlei internen Rückhalt hat, wird von Katar, Saudi-Arabien und den westlichen Staaten und ihren Me-dien unterstützt und finanziert. Haupt-ziel dieser Unterstützung ist es, eine eventuelle Intervention in Syrien zu legitimieren, die der Syrische Natio-nalrat herbeisehnt.“

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Syrien

Das Gründungskommuniqué des Syrischen Nationalrats ließ bereits einen Widerspruch zwischen zwei Grundsätzen zutage treten, näm-lich der Ablehnung „jeglicher militä-rischen Intervention, durch die die na-tionale Souveränität angetastet wird“, und der Forderung nach „internatio-nalem Schutz der Zivilisten“ in Form von humanitären Korridoren oder Si-cherheits- und Pufferzonen. In sämt-lichen Kommuniqués wird zu aus-ländischen militärischen Interventi-onen aufgerufen, so in der an den Si-cherheitsrat gerichteten Aufforderung von Mitte April zu „einer Intervention nach Artikel 7“ und in dem Kommuni-qué vom 21. April, in dem eine „ent-scheidende militärische Intervention“ verlangt wird.

Der Syrische Nationalrat hat vor kurzem eine ernsthafte Krise durch-gemacht, als es nicht gelang, nach dem Rücktritt von Boran Ghalioun ei-nen Präsidenten zu benennen, und als aus diesem Anlass die Kulissenkämp-fe zwischen den Islamisten mit der Or-ganisation der Moslembrüder an der Spitze und denen, die sich zu den lai-zistischen Kräften rechnen oder ihnen nahe stehen, zu Tage getreten sind. Hinzu kommt, dass in den letzten Mo-naten eine ganze Reihe von Mitglie-dern aus unterschiedlichen Gründen aus dem Rat ausgeschieden ist.

Die Lokalen Koordinationskomi-tees haben ebenfalls gedroht, sich zu-rückzuziehen oder zumindest ihre Zu-gehörigkeit auf Eis zu legen, sofern es keine Korrektur der begangenen Feh-ler und eine Befassung mit ihren we-sentlichen Forderungen nach Reform des Rats gibt. Sie waren der Auffas-sung, dass er sich nach der Versamm-lung in Rom, auf der es zu einer ex-tremen Verschärfung der Meinungs-verschiedenheiten gekommen war, in permanentem Niedergang befand. Es fehle „ein Konsens zwischen dem Rat und der revolutionären Bewegung über ein gemeinsames Projekt“; offen-bar haben die RepräsentantInnen der Lokalen Koordinationskomitees wie Khalil Elhadsch Salah, Husan Ibrahim und Rima Filihane in den vergangenen Monaten als Zeichen ihres Protests gegen die Marginalisierung der revo-lutionären Bewegung die Sitzungen des Nationalrats boykottiert. Der Sy-rische Nationalrat reduziert sich im-

mer mehr auf ein Büro für „Public Re-lations“ und Finanzen, eine Geisel der Paten der genannten Staaten.

Das kOOrDinatiOnskOMitee für DeMOkratiscHen wan-Del

Die andere bekannte politische Kraft der Opposition, das Koordinationsko-mitee für Demokratischen Wandel, ist am 26. Juni 2011 entstanden und fasst

die Kräfte der traditionellen Oppositi-on, Reste der linken und nationalisti-schen Parteien (Nationale Demokrati-sche Sammlung, Sammlung der Mar-xistischen Linken) und einige islamis-tische und liberale Persönlichkeiten zusammen. Bereits in den ersten Mo-naten ist das Komitee mit Ausnahme von einigen jungen Kadern der (nas-seristischen) Partei der Sozialistischen Union in seinen Beziehungen zur Re-volution gestrauchelt. Auch Mitglie-der anderer Parteien nehmen in ihrem eigenen Namen an dem Komitee teil. Es handelt sich um traditionelle Poli-tiker, die beileibe nicht verstehen, was vor sich geht, nämlich eine Revoluti-on, und die unfähig sind, den Puls der

revolutionären Bewegung zu fühlen, an die sie sich mit Verachtung und von oben herab wenden.

Das Koordinationskomitee für De-mokratischen Wandel zeichnet sich durch seine inkonsequenten Positi-onen aus, denn während es zur Be-seitigung des „Sicherheits- und auto-ritären Regimes“ und zur „Verände-rung des Regimes“ aufruft, erklärt es sich offen zum Dialog mit dem Re-gime. Seine führenden Mitglieder,

die behaupten, sie repräsentierten den „schweigenden Block“, haben sich zu Erklärungen hinreißen lassen, durch die die Aufstandsbewegung und die RevolutionärInnen beleidigt wurden. Das Koordinationskomitee für Demo-kratischen Wandel hat eine Reihe von Positionen bezogen, die im Wesent-lichen auf diplomatisches Handeln in Richtung der mit dem Regime verbün-deten Staaten setzen – Russland, Chi-na und Iran. Es hat auf eine arabische Initiative und lange auf die von Kofi Annan gesetzt.

Viele Mitglieder sind unter Protest gegen die Monopolisierung der Lei-tung durch eine kleine Gruppe aus-geschieden. Es sind politische Kräfte,

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Syrien

die von dem Regime weiterhin als ei-ne „nationale Opposition“ betrachtet werden und die zum Dialog mit die-sem aufrufen. Wenn das Koordinati-onskomitee nicht für eine relative „Si-cherheit“ von vielen politisch Aktiven in Syrien sorgte, wäre eine noch be-deutendere Anzahl ausgetreten.

Eine weitere in Syrien präsente Struktur ist die Strömung zum Aufbau des Syrischen Staats von Louay Hos-sein, die erklärt, ihr gehe es nicht um die Machtfrage, sondern um einen po-litischen Dialog mit dem Regime zu festgelegten Bedingungen, nahe an den Thesen des Koordinationskomi-tees für Demokratischen Wandel.

Schließlich versteht sich noch die Front für Veränderung und Befreiung als oppositionell. Es setzt sich aus der Partei Volkswillen (einer neuen Be-zeichnung der Partei von Kadri Ja-mil), der Einheit der Kommunisten (einer Abspaltung von der Syrischen Kommunistischen Partei) und einer der Fraktionen der Syrischen Natio-nalen Sozialen Partei unter Führung von Ali Haider zusammen, wobei die beiden zuletzt genannten den Macht-habenden nahe stehen. Aufgrund der Positionen ihrer Führungen zur Revo-lution sind viele Kader dieser Parteien aus ihnen ausgetreten, vor allem Jün-gere, um sich der revolutionären Be-wegung anzuschließen.

Seit Februar versuchen Aktive, die aus ihren Erfahrungen im Koordinati-onskomitee oder anderen Strukturen Schlussfolgerungen ziehen oder die dort keinen Platz gefunden hatten, ei-ne Organisation zu schaffen: das Sy-rische Demokratische Forum. Es hat vom 13. bis 16. April in Kairo sei-ne erste Versammlung abgehalten. Es versteht sich als Raum für Diskussion und Dialog, als eine Brücke zur Ver-einigung der Opposition für Aktivi-täten zur „Versöhnung“ und zur „Re-flexion“. Von dieser Versammlung ist nichts ausgegangen, was das Forum von den anderen Kräften der Opposi-tion abheben würde, und seine Initia-torInnen sind vom selben Schlag wie die Führungen des Koordinationsko-mitees oder des Nationalrats.

ausDrucksfOrMen Der re-vOlutiOnären bewegung

Die syrische Revolution ist am 15.

März 2011 spontan ausgebrochen. Der Brand hat sich auf das gesam-te Land ausgeweitet, die jungen Re-volutionärInnen sahen sich gezwun-gen, Organisationsformen für die Pro-testbewegungen und zur Bewältigung der Probleme der Information und der Aktivitäten zu schaffen. Sie haben auf der Ebene von Stadtteilen, Städten und Regionen „Koordinationen“ ein-gerichtet. Diese Koordinationen ha-ben Agitation, Information und Hilfe-leistungen übernommen, doch wenige nehmen sich all dieser Aufgaben zu-gleich an.

Das Fehlen von organisierten poli-tischen Kräften vor Ort hat zum erup-tiven Entstehen dieser Koordinationen geführt, so dass es schwierig bzw. un-möglich ist, deren Zahl, ihren Um-fang und die jeweilige Rolle zuverläs-sig einzuschätzen. Es lässt sich jedoch sagen, dass es territoriale Koordinati-onen, deren Zahl nicht veröffentlicht worden ist, und andere gibt, deren Ak-tivitäten sich um Information und Me-dien drehen und die bekannt sind. In den letzten Monaten haben sich we-gen der Verschlechterung der huma-nitären Situation Komitees oder Ko-ordinationen für humanitäre Hilfe ge-bildet.

Einige Monate nach Beginn der Re-volution gab es Versuche zur Zusam-menfassung der Koordinationen, An-fang Juni 2011 wurde die Bildung der „Union der Koordinationen der sy-rischen Revolution“ mit einem Kom-muniqué bekannt gegeben. Sie hat vor, die zivile Bewegung politisch und in den Medien zu repräsentieren, und die Aktivitäten in den Bereichen zu ko-ordinieren und zu vereinigen. Sie hat zum Ziel, die Basis für einen Rat der Jugend und der AktivistInnen der Re-volution zu bilden, um deren Ziele und deren vollständige Verwirklichung zu sorgen. Das Komitee der Union um-fasst örtliche Koordinationen aus al-len Regionen, Städten und Stadtteilen. Sein Diskurs zeichnet sich durch eine islamische Färbung ab, ohne dass dies seine politische Zugehörigkeit zu den Moslembrüdern oder den salafistischen Strömungen bedeuten würde.

Weiter haben sich die Lokalen Ko-ordinationskomitees gebildet. In ih-rem Kommuniqué vom 29. August 2011 lehnen sie die Militarisierung der Revolution ab und gehen auf die

Gefahren ein, die sie für den revolu-tionären Kampf der Massen bedeu-ten würde. Diese Komitees sind dem Syrischen Koordinationsrat beige-treten und gehören zu dessen Grün-dungsmitgliedern. Sie haben hierzu in einem Kommuniqué vom 20. Septem-ber 2011 präzisiert, dass sie das „trotz der Bemerkungen über die Aktivität des Rats, die Art und Weise seiner Bil-dung und der Repräsentation der Kräf-te in ihm“ täten.

Die Lokalen Koordinationsko-mitees zeichnen sich auch durch ih-re Einschätzung der internationalen Intervention und von internationa-lem Schutz aus. In ihrem Kommuni-qué vom 2. November 2011 erklären sie: „Wir treten unter diesen ganz be-sonderen Bedingungen für das Recht des syrischen Volks ein, sein Recht auf Entscheidung über sein Geschick gegenüber der internationalen Ge-meinschaft zu behaupten. Wir sind der Auffassung, dass die Aufrufe, die auf der Grundlage des ,Rechts auf Einmischung‘, der ,Pflicht zur Ein-mischung‘, der ,humanitären Einmi-schung‘ oder auch der ,Verantwortung für den Schutz‘ stattfinden, den Be-strebungen des syrischen Volks nach einer friedlichen Veränderung aus sei-nen eigenen Kräften nicht zuwiderlau-fen und das syrische Volk nicht frem-den Einflüssen im Spiel der Nationen ausliefern dürfen. (…) Das syrische Volk will die Unterdrückung nicht durch Unterordnung unter einen aus-ländischen Einfluss ersetzt haben. Das syrische Volk hat seine Unabhängig-keit erkämpft und seinen modernen Staat gegründet. Es hat die Ambition, sein gesamtes Territorium zu befrei-en, in erster Linie den Golan, und sei-ne Unterstützung für den Kampf der Völker für die Bestimmung über ihr Geschick, in erster Linie für die Rech-te des palästinensischen Volks, fortzu-setzen. Das syrische Volk, das sich ge-gen seine Unterdrücker erhebt, wird die Revolution nicht für die Formen ausländischer Beherrschung aufge-ben.“

Trotz der Besonderheiten der Posi-tion der Lokalen Koordinationskomi-tees betrachten sie den Syrischen Na-tionalrat noch als ein politisches Vehi-kel, das ihre Positionen zum Ausdruck bringt, obwohl sie gelegentlich da-zu völlig im Widerspruch stehen. Ihre

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Syrien

Aktivitäten bestehen im Wesentlichen in Medienarbeit, abgesehen von be-stimmten Koordinationen vor Ort.

Am 18. August 2011 ist bei einem Treffen in Istanbul die Generalkom-mission der Syrischen Revolution ent-standen, in einem Klima zahlreicher Kongresse der Opposition im Aus-land. Sie umfasst ihrer Gründungsmit-teilung zufolge 40 Koordinationen, die Facebook-Seiten der syrischen Re-volution und Mediennetze. Ein Dis-kurs mit islamischen Begrifflichkeiten dominiert in den letzten Monaten den Ton ihrer Kommuniqués und ihrer Medienaktivitäten.

Auf der Ebene der Aktion sind diese Koordinationen nicht die wich-tigsten. Es gibt zahlreiche territoriale Koordinationen in den Städten, wäh-rend Komitees in Ortschaften und Dörfern sich Koordinationen nennen. Darin befinden sich AktivistInnen un-terschiedlicher politischer Zugehörig-keit oder ohne festgelegte politische Linie. Ihr wesentliches Ziel ist der ge-meinsame Kampf zur Beseitigung des Regimes, doch bleiben ihr örtlicher Charakter und ihre Zersplitterung ei-ne der Schwächen der revolutionären Bewegung.

Erwähnt seien noch das Nationale Treffen der Kräfte und der Koordina-tionen der Revolution, das im wesent-lichen eine bedeutende Anzahl von AktivistInnen in drei Regionen (Ha-ma, Deraa und Dir Ezzor) umfasst; die Freien der Revolution der Würde, ei-ne Zusammenfassung von Koordina-tionen, die in Damaskus und seinen Vororten aktiv sind; die Sammlung NABDH für die zivile Jugend, die in Homs und auf dem Land in dieser Re-gion sowie in Damaskus und seinen Vororten aktiv ist. Ferner gibt es die am 13. Februar 2012 gebildete Koali-tion Watan, die zahlreiche aktive Ko-mitees umfasst, der es jedoch noch nicht gelungen ist, ihrer Stimme Gel-tung zu verschaffen. Sie ist dem Druck von zahlreichen Seiten ausgesetzt: wie zu erwarten der Sicherheitsapparate, aber auch des Koordinationskomitees für Demokratischen Wandel, des Sy-rischen Nationalrats, des Demokrati-schen Forums, jeweils mit eigenen po-litischen Zielen.

Die Koalition Watan, die jetzt 17 Gruppierungen umfasst, könnte zum Ausgangspunkt für den Aufbau ei-

ner alternativen revolutionären Mas-senführung werden, zumal sich in ih-ren Reihen mehrere kämpferische lin-ke Gruppen befinden. Es sollte darauf hingearbeitet werden, diejenigen, die sich noch außerhalb befinden, zu in-tegrieren, beispielsweise die Koordi-nationen der syrischen Kommunisten, zu der außerordentlich enthusiastische

Jugendliche gehören, und die Gruppe Linke Perspektiven.

Es unterliegt keinem Zweifel, dass das Wüten des diktatorischen Re-gimes, die zunehmende Zahl der De-serteure parallel zu der Tendenz zur Militarisierung und Bewaffnung als Mittel zur Selbstverteidigung zahl-reiche Koordinationen zu einer Ver-mengung ihrer auf den nicht-be-waffneten Massenkampf orientierten Mehrheit und Minderheitsgruppen, die bewaffneten Aktionen zuneigen, veranlasst.

Ein notorisches Problem innerhalb der revolutionären Bewegung ist das des Syrischen Nationalrats, insbeson-dere seines hegemonialen Bestand-teils, der Moslembrüder. Sie erlangen – wenn auch begrenzt – bei den Ak-tiven Sympathie, weil sie ihnen Hil-fe, Schutz, finanzielle Unterstützung bieten, da ihnen das finanzielle Manna zugutekommt, das aus ihren Patenlän-dern stammt. Aber weder der Syrische Nationalrat noch die Moslembrüder können machen, was sie wollen, denn wenige Aktive akzeptieren an Bedin-gungen geknüpfte Hilfeleistungen: Die RevolutionärInnen haben sich von dem Hinterherlaufen freigemacht, sie

betrachten Hilfe als eine Pflicht, nicht als ein Gunsterweisen.

Die lage in Den kurDiscHen gebieten

Während die Revolte des kurdischen Volks im März 2004 die kurdische Frage ins Zentrum der Kämpfe in Sy-

rien gerückt hatte, hat die Mehrzahl der syrischen Oppositionskräfte deren Bedeutung erst spät verstanden. Die Position der Mehrzahl dieser Kräfte war in der Tat schändlich und hat Spu-ren hinterlassen. Die kurdischen Kräf-te haben sich isoliert und alleingelas-sen gefühlt. Ihr Misstrauen ist legitim, insofern die Positionen gegenüber den Kurden weiterhin verworren und wi-dersprüchlich sind.

Das hat mehrere kurdische Par-teien dazu veranlasst, sich im Okto-ber 2011 aus dem Koordinationsko-mitee für Demokratischen Wandel zu-rückzuziehen, um den Kurdischen Na-tionalrat zu bilden. Ebenso sind die hauptsächlichen kurdischen Bestand-teile nach der Versammlung des Sy-rischen Nationalrats vom 26. und 27. März 2012 in Istanbul, die unter dem Motto „Vereinigung der syrischen Opposition“ stattfand, ausgetreten. Nach der Veröffentlichung des „natio-nalen Dokuments zur kurdischen Fra-ge“ durch den Syrischen Nationalrat ist die Mehrheit der Kräfte des kur-dischen nationalen Blocks in ihn zu-rückgekehrt.

Im Kurdischen Nationalrat ist jetzt die Mehrheit der kurdischen politi-

proteste nach einem freitagsgebet in der syrischen Hafenstadt banias.

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Syrien

schen Kräfte und Koordinationen zu-sammengefasst, mit Ausnahme der Partei der Demokratischen Union (PYD), des syrischen Zweigs der Ar-beiterpartei Kurdistans (PKK) unter Leitung des in der Türkei gefange-nen Abdullah Öcalan. Die PYD gehört dem Koordinationskomitee für De-mokratischen Wandel an. Dem Kur-dischen Nationalrat gehört auch die Unabhängige Kurdische Strömung an, die 2005 von Michel Tempo gegrün-det wurde, einer bedeutenden Persön-lichkeit, die am 7. Oktober 2011 er-mordet worden ist. Diese Partei ver-tritt entschiedene Positionen zu dem diktatorischen Regime und ist zu des-sen Sturz entschlossen.

Die kurdische Jugend hat von An-fang an mit großer Begeisterung an den Protesten teilgenommen, und sie tut das weiter. Wie in den anderen Re-gionen Syriens hat sie ihre Koordina-tionen gebildet, die vor Ort aktiv sind. In der Mehrzahl haben sie sich dem Kurdischen Nationalrat angeschlos-sen.

Mit Ausnahme der Region Afarin, wo die PYD eine hegemoniale Stel-lung hat und in der es relativ ruhig ist, sind die kurdischen Regionen in Auf-ruhr. Sie befinden sich auf einer Linie mit der allgemeinen Dynamik, wäh-rend es zugleich eine nationale Beson-derheit gibt. So haben die Demons-trationen im März diesen Jahres unter dem Motto „kurdische Rechte“ statt-gefunden, um die ablehnende Haltung des kurdischen Volks gegenüber den Positionen des syrischen Nationalrats und der übrigen arabischen Oppositi-on zur kurdischen Frage deutlich wer-den zu lassen.

Die kurdischen Kräfte insgesamt fordern das Recht des kurdischen Volks, selbst über ihr Schicksal in einem „nicht zentralisierten Staat“ zu bestimmen, die verfassungsmäßige Anerkennung der nationalen Rech-te des kurdischen Volks (der zweit-größten Nationalität des Landes), die Ablehnung der Ungerechtigkeiten und die Abschaffung aller Gesetze und Maßnahmen, die ihre Rechte be-schneiden. Ein Aufruf zur Sezession ist nicht zu vernehmen.

Die PYD hat seitens des Regimes eine besondere Behandlung erfahren: Sie sollte „Kröten schlucken“. Der Grund dafür ist ihre Feindseligkeit

gegenüber der türkischen Regierung, die für die syrischen Machthaber ei-ne Bedrohung darstellt. Die PYD baut in den Regionen, in denen sie prä-sent oder einflussreich ist, eine „de-mokratische Selbstverwaltung“ auf. Die Kräfte des Kurdischen National-rats haben ebenfalls „lokale Räte“ ge-schaffen.

Die PYD zeichnet sich durch die Disziplin ihrer Mitglieder und die Här-te gegenüber Abtrünnigen und Kon-kurrenten sowie dadurch aus, dass die Mutterpartei in der Türkei über bewaff-nete Kräfte verfügt, die eine Verlänge-rung nach Syrien haben. Die Furcht vor einer Eskalation der Kämpfe mit den Kräften des Kurdischen Nationalrats hat dazu geführt, dass am 3. März 2012 ein Dokument der „gegenseitigen Ver-ständigung“ angenommen worden ist, dessen Ziel es ist, innerkurdische Bru-derkämpfe zu vermeiden.

Eine Strategie für Syrien kann ei-ner klaren Antwort auf die kurdische nationale Frage nicht ausweichen, ei-ner Antwort, die dazu geeignet ist, Vertrauen zwischen dem kurdischen Volk sowie seinen politischen Kräf-ten (die unter denselben Problemen wie die arabische Opposition zu lei-den haben, wobei sie sich von ihnen dadurch unterscheiden, dass sie in der Mehrheit nicht-religiös sind) und den Kräften der Revolution sowie den ara-bischen aufständischen Massen zu schaffen, um die Kämpfe zum Sturz des Regimes und zum Aufbau eines freien, demokratischen und laizis-tischen Syrien zu vereinigen, dessen BürgerInnen alle gleich wären, unab-hängig von ihrer ethnischen, religi-ösen oder sexuellen Orientierung.

Marginalisierte und verarmte kur-dische Regionen werden sich nur dann in gemeinsame politische und soziale Kämpfe begeben, wenn die arabischen Kräfte eine klare revolutionäre Positi-on zur kurdischen nationalen Frage beziehen. Wir werden die Abtrennung des kurdischen Volkes in Syrien nicht ermutigen, denn wir sind der Auffas-sung, dass dies unter den gegenwär-tigen Bedingungen für den gemein-samen Kampf der Volksschichten ge-gen ihre Bourgeoisien schädlich wäre, sämtliche Nationalitäten zusammen-genommen. Dies würde den Kampf gegen die Diktatur und unseren ge-meinsamen Kampf für soziale Ge-

rechtigkeit schwächen und das Land in einen katastrophalen Bürgerkrieg stürzen. Dies würde die kurdischen Volksmassen nationalen Führungen unterordnen, die den arabischen Füh-rungen in nichts nachstehen.

Unsere prinzipielle Position geht aus von dem gemeinsamen kurdisch-arabischen Interesse im Kampf gegen das despotische Regime, der Anerken-nung der nationalen Unterdrückung seitens aller arabischen Regierungen in Syrien, unter der das kurdische Volk leidet, dem Ende dieser Ungerechtig-keiten und der völligen Gleichheit al-ler syrischen BürgerInnen gleich wel-cher nationalen, ethnischen, religi-ösen Zugehörig oder sexuellen Orien-tierung, der verfassungsmäßigen An-erkennung der nationalen Rechte des kurdischen Volks in Syrien – also von dem Recht auf Selbstbestimmung und auf Sezession, auch wenn wir unsere kurdische Bevölkerung darum bitten, integrierter Bestandteil der Bevölke-rung Syriens zu bleiben.

Nur wenn wir von dieser Positi-on ausgehen, werden wir den gemein-samen Kampf aller nationalen Teile der syrischen Massen zum Sturz des unterdrückerischen Regimes stärken und Freiheit, Gleichheit und soziale Gerechtigkeit verwirklichen können.

eine revOlutiOnäre Mas-senfüHrung aufbauen

Die Stärke einer revolutionären Be-wegung liegt, ganz allgemein gespro-chen, in den arbeitenden und verar-mten Klassen sowie in der Jugend. Der einzige gesellschaftliche Bereich, der sich bis jetzt massiv erhoben hat, sind die Studierenden, die in der Mehrheit von Arbeitern oder der Mit-telschicht abstammen und die unter diesen Bedingungen die „Intellektu-ellen“ dieser Klassen repräsentieren. Bislang ist die Arbeiterklasse als sol-che nicht in Erscheinung getreten. Ei-ne Ausnahme ist der Protest der Mit-tel- und unteren Klassen in den Ge-werkschaften, die von den Apparaten der Staatsmacht beherrscht werden, für die Autonomie der Gewerkschaf-ten im Verhältnis zum Staat, die An-hebung der Löhne, bessere Arbeitsbe-dingungen und gegen Entlassungen. (Im vergangenen Jahr wurden über 100  000 Beschäftigte entlassen, die

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Syrien

Behörden haben über 180 Werke ge-schlossen.) Trotz der Verbindungen zwischen Staatsmacht und Bürokra-tie ist die Generalunion der Arbeiten-den seit 2006 von dem Aufbegehren betroffen, und mit der in Gang befind-lichen Revolution nimmt diese Ten-denz zu.

Keine politische Kraft der Oppo-sition kümmert sich um Aktivitäten in der syrischen Arbeiterklasse, deren Zahl nahe bei zwei Millionen liegt. Es schlägt auch keine ein Programm vor, das deren Interessen und Forderungen aufgreifen würde, ruft zu ihrer Unab-hängigkeit vom Staat oder zum Auf-bau von autonomen Gewerkschaften auf. Nicht zu vergessen sind die Mar-ginalisierung und die Beschlagnahme von Ländereien, von der die Arbeiten-den in den ländlichen Gegenden in den letzten Jahren betroffen gewesen sind, sowie die Notwendigkeit eines neuen Entwicklungsprogramms, mit dem die Kleinbauern ihre Rechte und die di-rekte Verwaltung ihrer Angelegenhei-ten mit Staatlicher Hilfe erhalten.

Die syrische Gesellschaft ist plu-rinational und multikonfessionell. Es wird unmöglich sein, breite Sek-toren, vor allem die Mittelschichten, die in den beiden Großstädten Damas-kus und Aleppo leben, zu überzeu-gen, ohne dass ein Programm aufge-stellt wird, in dem die Rechte der na-tionalen Minderheiten und die Laizi-tät des Staats anerkannt werden. Die-se Laizität, die auf den Ruinen des ge-genwärtigen Regimes errichtet wird, bedeutet keineswegs Feindseligkeit gegenüber den Religionen, jedoch Trennung von Religion und Staat so-wie die Anerkennung der Rechte der Frauen, ihre Gleichheit mit den Män-nern, die Gleichheit aller BürgerInnen in Bezug auf Rechte und Pflichten, un-abhängig von ethnischer, nationaler, religiöser Zugehörigkeit oder sexuel-ler Orientierung.

Das aufständische syrische Volk wird sorgsam über seine Unabhängig-keit wachen, es wird alle Versuche ab-lehnen, sie zu beschneiden, sei es sei-tens der bestehenden Macht oder der ausländischen Mächte. Ihm liegt da-ran, dass es die geraubten Ländereien zurückerhält, wie auch an dem Kampf

des palästinensischen Volks für all sei-ne historischen Rechte.

Während des Spanischen Bürger-kriegs der 1930er Jahre vertrat Trotzki

die Auffassung: „Die dringende Auf-gabe der spanischen Kommunisten ist nicht (nur) der Kampf für die Er-oberung der Macht, sondern auch der Kampf um die Massen.“ In Syrien müssen die linken (und radikalen la-izistischen, demokratischen) Kräfte heute eine revolutionäre Allianz bil-den, um die Massen auf der Grund-lage ihres Programms zu gewinnen, über das direkte Engagement in der revolutionären Bewegung und Hilfe für die revolutionären Massen bei dem Aufbau ihrer Selbstorganisations- und Selbstverwaltungskomitees in den Stadtteilen, Betrieben und Städten und bei dem Eintreten für ihre wirtschaft-lichen und sozialen Forderungen, im gegenwärtigen gewaltsamen Kampf für den Sturz des Regimes.

Sie sollten die Übergangslosung ei-ner provisorischen revolutionären Re-gierung aufstellen, die nach dem Sturz des Regimes im Rahme des demokra-tischen, revolutionären Übergangs-programms, um das sich die breites-ten Schichten der aufständischen Mas-sen sammeln werden, zwei Aufgaben hat: den Sicherheitsstaat zu zerstören und die freie Wahl einer verfassung-gebenden Versammlung, die auf einer nicht-konfessionellen Proportionalität beruht.

Die Herausbildung solch einer re-volutionären Massenführung ist ei-

ne wesentliche Frage für die Zukunft des revolutionären Prozesses. Sie ist die Garantie für den Sturz des Re-gimes und die tieferen politischen und

sozialen Änderungen über einen per-manenten revolutionären Prozess. Sie wird die Rückständigkeit des Massen-bewusstseins beenden, mit der man-che ihr Aufgeben eines solchen Pro-gramms rechtfertigen. Denn wie Trotzki geschrieben hat: „Wir solida-risieren uns nicht einen Augenblick lang mit den Illusionen der Massen, aber mit dem Fortschrittlichen, das sich hinter diesen Illusionen verbirgt, wir müssen das bis ans Ende nutzen, ansonsten wären wir keine Revolutio-näre, sondern elendige Pedanten.“

Die Abwartenden und Jamme-rer sollten also aufhören, sich zu be-schweren und Vorwände für ihr Des-interesse zu suchen, sie sollten den Platz räumen für den Kampf und Ak-tivitäten mit dem Ziel der Herausbil-dung dieser alternativen, revolutio-nären Massenführung.

1. Juni 2012

Dieser Artikel erschien zuerst auf Arabisch im Juni 2012 in der zweiten Ausgabe der Zeit-schrift Permanente Revolution. Er wurde von Luiza Toscane ins Französische übersetzt. Die gekürzte Fassung, die der vorliegenden Über-setzung ins Deutsche zugrunde liegt, erschien in Tout est à nous! La revue, Nr. 35, Septem-ber 2012.

Übersetzung: Friedrich Dorn

Demonstration in der syrischen stadt Daraa

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INDONESIEN

INDONESIENIndonesische Arbeiterbewegung im HochSeit 2011 befinden sich die indonesischen Arbeiter in einem Radika-lisierungsschub. Dieser begann, als Tausende von Arbeitern im Rah-men des „Social Security Action Comittee (KAJS)“ aktiv wurden und die Verabschiedung eines Gesetzes zu den Sozialversicherungen, „So-cial Security Providers“ (BPJS), bis Mitte 2011 forderten. Neben den De-batten, die die Arbeiterorganisationen über das Für und Wider dieses Gesetzes führten, erwiesen sich Mobilisierungen als effektives Mittel, um der Forderung Nachdruck zu verleihen: Nach einer Besetzung des Parlaments wurde der Gesetzesentwurf verabschiedet.1

Zely Ariane

Anfang Juli 2011 traten über 8000 Ar-beiter von Freeport McMoran in einen fast viermonatigen Streik.2 Zum ersten Mal in Indonesiens Post-Reformasi-Ära griffen die Arbeiter zum Mittel des Streiks. Sie blockierten Lieferfahrzeu-ge, mobilisierten ihre Familien und Ge-meinden und forderten über den Mini-mallohn hinausgehende Lohnerhöhun-gen. Die Hauptforderung konnten sie zwar nicht durchsetzen, ihr hartnäcki-ger Widerstand und die Forderung nach einem Lohn, der die Lebenshaltungs-kosten deckt, hatten bei den indonesi-schen Arbeitern jedoch Signalwirkung.

In der Folge kam es Ende 2011 und Anfang 2012 zu Demonstrationen im Kontext der Gespräche über den nati-onalen Mindestlohn. Über 300 000 Ar-beiter wurden am 27.  Januar 2012 in sieben Industriegebieten im Distrikt Bekasi, West-Java, mobilisiert. Ihre Proteste kulminierten in einem spon-tanen dreitägigen Streik und in einer Blockade der Autobahn.3 In benach-barten Industriezonen brachen ähnliche Kämpfe aus, so in Tangerang, Kara-wang und Purwakarta bei Jakarta. Ver-gleichbare Proteste gab es auch in Ba-tam, einem für seine Freihandelszone bekannten Industriezentrum nahe Sin-gapur, sowie in einigen Industriegebie-ten in Ost-Java. Die Arbeiter gingen zu Zehntausenden auf die Straße.4

Damit war die Bewegung aber nicht am Ende. Nach dem Kampf für ange-messene Löhne demonstrierten Tau-sende von Arbeitern aus dem Gebiet Bekasi im März 2012 gegen die Erhö-hung des Benzinpreises. Nachdem Stu-

denten in den meisten Großstädten In-donesiens mobilisiert hatten, spielten Arbeiter verschiedener Gewerkschaf-ten eine wichtige Rolle in diesen Pro-testen und traten dabei mit großer Ent-schlossenheit auf. Dass sie sich so zahlreich und auf diese Art beteiligen, ist eine neue Entwicklung. Tatsächlich gelang es der Bewegung, die Benzin-preiserhöhung zu verhindern: Nach ei-ner dramatischen Parlamentssitzung beschloss die Regierung am 30. März 2012 um Mitternacht, vorerst auf den Preisanstieg zu verzichten.5

Der Kampf geht weiter

Am Tag der Arbeit demonstrierten wie-der Zehntausende von Arbeitern auf der Straße6: für einen angemessenen Lohn, gegen Outsourcing und Leiharbeit und für lebenslange soziale Sicherheit. Am 12. Juli 2012 lancierten Tausende von Anhängern des indonesischen Gewerk-schaftsverbandes KSPI unter dem Kür-zel HOSTUM eine Kampagne gegen Outsourcing und niedrige Löhne.7 Der eigentliche Start war jedoch die Bewe-gung in Bekasi.

Einige Zeit nach dem 1. Mai 2012 sowie im Juni, Juli, August und bis heu-te kam es in verschiedenen Fabriken und Industriegebieten zu täglichen spontanen Streiks. Ausgangspunkt war, dass die Basis des Gewerkschaftsver-bandes KSPI zur Mobilisierung und ge-genseitigen Solidarität aufgerufen wur-de, doch niemand konnte die Arbeiter anderer Gewerkschaften davon abhal-ten, spontane Unterstützung zu leisten.

Während vier Monaten erfolgten Mobilisierungen in der sogenannten „geruduk“-Form respektive als Unter-stützungsaktionen: Um die Bosse zum Einlenken zu bringen, werden Solida-ritätsaktionen für Arbeiter organisiert, deren Verhandlungen mit der Unter-nehmensführung festgefahren sind. Die wichtigste Forderung ist die unbefriste-te Anstellung von Leiharbeitern. Doch wenn der Kampf ausbricht, werden die Forderungen der Arbeiter schnell ra-dikaler und beziehen sich auf fast alle drängenden Probleme: niedrige Löhne, Entlassungen, Angriffe gegen Gewerk-schaften usw. Unterstützung wird von verschiedenen Seiten geleistet, insbe-sondere von Arbeitern, die bereits feste Verträge erreicht haben. Via Facebook-Gruppen und mit Hilfe von BlackBer-ry-Telefonen verbreiten die Arbeiter und Aktivisten Verhandlungsberichte und rufen zur Unterstützung auf.8

Bislang gibt es noch keine offizi-ellen Angaben über die Zahl der Ar-beiter, die aufgrund dieser Aktionen unbefristete Anstellungen erhalten ha-ben. Eine Quelle spricht von 40  000, eine andere hingegen von 18 000 Per-sonen. Ungeachtet der Anzahl Arbeiter, die von den Auseinandersetzungen di-rekt profitiert haben, ist eines gewiss: Die Kämpfe lassen bei den Arbeitern ein neues Solidaritätsgefühl entstehen, unabhängig davon, welcher Gewerk-schaft sie angehören. Der Slogan „So-lidarität ohne Grenzen“ wird Realität.

Vor diesem Hintergrund rief der in-donesische Arbeiterverband MPBI im August 2012 zum Streik zwischen Sep-tember und Oktober auf, um für Loh-nerhöhungen und gegen Outsourcing zu kämpfen.9 Der Gewerkschaftsverband KSPI ist eine der führenden Vereini-gungen innerhalb des etablierten MPBI. Geplant ist ein landesweiter Streik von einer Million Arbeitern in 14 Distrikten, wobei das Gebiet Bekasi das Zentrum der Mobilisierung darstellt.

Unterstützt wird der Aufruf vom „Joint Secretariat of Labor“ (Sekber Buruh), das aus radikalen „roten Ge-

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INDONESIEN

werkschaften“ besteht, die nicht Mit-glied des MPBI sind. Sekber argumen-tiert, dass der Streik von einer Milli-on Arbeitern nur erfolgreich sein kann, wenn sich möglichst viele Gewerk-schaften beteiligen. Der MPBI baut je-doch nur auf sich selbst, insbesonde-

re auf den KSPI, und übergeht viele unabhängige Vereinigungen, die man zum Mitmachen ermuntern könnte. Der „One Million Strike“ könnte sich als bloßer Bluff erweisen. Sekber misst der Kampagne und der aktuellen Ra-dikalisierung in Bekasi, bei der es ei-ne aktive Rolle spielt, große Bedeutung zu. Dies ist auch der Grund, weshalb sich Sekber zur Unterstützung des Auf-rufs entschlossen hat.

herausforDerungen

Der Streikaufruf besitzt schon als sol-cher einen Wert. Zum ersten Mal wird in diesem Land zu einem Generalstreik

gegen Niedriglöhne und Outsourcing aufgerufen. Nachdem die Vereinigung des Ablesepersonals „Central Electri-city Meter Readers Officers Alliance“ letztes Jahr vor dem Staatsgerichts-hof durchsetzen konnte, dass zwei Ar-tikel über die Leiharbeit im Arbeitsge-

setz teilweise aufgehoben wurden10, und seit der Welle von „geruduk“-So-lidarität in Bekasi während der letzten vier Monate hat der Streikaufruf richtig Schwung bekommen.

Anlass zur Sorge gibt nur die Tat-sache, dass der MPBI das Datum des Streiks noch nicht festgesetzt hat. Es wäre nicht das erste Mal, dass der KSPI radikal lautende Forderungen aufstellt, sich dann aber in den Verhandlungen mit den Bossen mit weit weniger zu-frieden gibt. Bei anderen Gelegen-heiten ließ der KSPI verlauten, es ge-he nicht darum, Outsourcing als sol-ches abzuschaffen, sondern – wie vom Arbeitsminister vorgeschlagen – ein

Moratorium zu beschließen11 oder das Outsourcing auf bestimmte Arbeits-typen zu beschränken usw. Schon frü-her kam es vor, dass der KSPI radikale Forderungen formulierte, um die Un-terstützung der Basis zu gewinnen, nur um sich dann mit der Regierung auf ein Minimum zu einigen.

Gemeinsam mit verschiedenen lo-kalen und Firmen-basierten Gewerk-schaften in Bekasi arbeitet Sekber Bu-ruh intensiv daran, die Radikalisierung in Bekasi aufrechtzuerhalten und zu vertiefen sowie den KSPI dazu zu brin-gen, sich mit anderen Gewerkschaf-ten zusammenzuschließen. Doch mit oder ohne KSPI: Sekber Buruh wird alles daran setzen, sich möglichst ak-tiv an diesem Prozess zu beteiligen. Es besteht Grund zur Hoffnung, dass sich die Arbeiterbewegungen der verschie-denen Industriegebiete im Zuge dieser Welle von Kämpfen in einem Komitee zusammenschließen werden.

Aus: KPRM-PRD english blogspot Zely Ariane ist Mitglied des „National Com-mittee of Perempuan Mahardhika“ (Freie Frauen) und gehört zum Leitungskomitee der „People’s Liberation Party“ (PLP, früher Peop-les Democratic Party – Political Committee of the Poor KPRM-PRD), in Jakarta, Indonesien.

Übersetzung: Alena Walter

1 http://www.icem.org/fr/7-Asie-Pacifique/4745-Indonesia-Passes-Provisions-to-Implement-So-cial-Security-Law?la=EN

2 http://www.thejakartaglobe.com/home/thousands-of-freeport-workers-strike-in-pa-pua/450850

3 h t t p : / / k p r m - p r d - e n g l i s h . b l o g s p o t .co.uk/2012/02/recent-labor-struggle.html

4 http://libcom.org/news/strike-wave-indone-sia-02022012

5 http://www.thejakartaglobe.com/home/jakar-ta-braces-for-massive-fuel-price-hike-pro-tests-friday/508096

6 http://directaction.org.au/issue23/indonesian_workers_demonstrate_on_may_day

7 h t t p : / / w o r k i n g i n d o n e s i a . w o r d p r e s s .com/2012/07/11/july-12-day-of-action-to-re-ject-outsourcing-low-wages/

8 Zu diesen Aktivitäten liegen keine Informatio-nen auf Englisch vor, hier aber ein Beispiel: ht-tp://www.thejakartapost.com/news/2012/09/04/workers-union-takes-450-hostages-bekasi.html und seine Wirkung: http://www.thejakartapost.com/news/2012/09/06/union-violence-bekasi-deplored.html

9 h t t p : / / w w w . t h e j a k a r t a p o s t . c o m /news/2012/08/07/govt-urged-end-outsourcing.html

10 http://www.mahkamahkonstitusi.go.id/index.php?page=website_eng.BeritaInternalLeng-kap&id=6360

11 http://www.theindonesiatoday.com/news/peo-ple-news/people-photo/item/298-govt-opts-for-suspension-of-outsourcing-system.html

Demokratiebewegung 1998

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Pakistan

PakistanFundamentalismus – eine Heraus-forderung für die Linke Ein interview mit Farooq tariq von der Pakistanischen arbeiterpartei (LPP) über die Bedeutung des kampfes gegen den religiösen Funda-mentalismus. Zely ariane führte das Gespräch mit Farooq am 8. september 2012

Die Idee zu diesem Interview mit Fa-rooq Tariq entstand bei einem Vortrag, den er Ende Juli 2012 an der asiati-schen Global Justice School in Mani-la hielt. Dabei meinte er sehr katego-risch, Marxismus und Religion stün-den in völligem Gegensatz zueinan-der, weil insbesondere die wichtigste Grundlage der Religion das Privatei-gentum sei, das im Einklang mit einer Klassengesellschaft und dem Kapita-lismus stehe. Er unterstrich auch die Haltung der LPP gegenüber der Reli-gion, über die weder diskutiert wird noch Witze gemacht werden. Die LPP lehnt es auch ab, mit religiösen Argu-menten für den Sozialismus zu wer-ben. Gleichzeitig führte Farooq auch inspirierende Beispiele dafür an, wel-che Rolle SozialistInnen bei der Ver-teidigung der Religionsfreiheit in Pa-kistan spielen.

Für meinen Kontext in Indonesien, einem mehrheitlich muslimischen Land, in dem religiöse Intoleranz und Gewalt zunehmen, war das Gespräch sehr wichtig, vor allem in Bezug auf die Haltung der Linken. Bei dieser Gelegenheit habe ich Farooq auch zum jüngsten Vereinigungsprojekt der pakistanischen Linken befragt. [Zely Ariane ]

Zely Ariane: In Indonesien gibt es eine wachsende Zahl von islamisch-fundamentalistischen Gruppen, die religiöse Minderheiten, Frauen- und LGBT-Gruppen sowie die demokrati-schen Prinzipien bedrohen. Soweit ich weiß, hat keine der linken Kräfte die-se Entwicklung ernst genommen oder eine signifikante Antwort darauf vor-bereitet. Diese fundamentalistischen Gruppen gewinnen immer mehr An-hänger und bauen ihre Aktivitäten aus, obwohl die Zahl der Menschen, die den Islam als politische Idee und

Programm wirklich unterstützen, all-gemein rückläufig ist, wie die Parla-mentswahlen im Jahr 2009 gezeigt ha-ben.1 Für uns ist die Gewalt der fun-damentalistischen Gruppen wie der Islamischen Verteidigungsfront (FPI) als Thema also relativ neu. Mit ihren Aktivitäten schaffen sie eine neue At-mosphäre, in der wir sie ernst nehmen müssen. Ich möchte einen Eindruck davon gewinnen, wie der Kampf für euch als sozialistische Partei in Pa-kistan, die dieses Thema sehr ernst nimmt, aussieht.

Zuerst möchte ich aber auf das zu-rückkommen, was du während dei-nes Vortrags über die Zunahme fun-damentalistischer Kräfte in der Welt, vor allem aber in Süd- und Südosta-sien nach dem 11. September gesagt hast. Kannst du das weiter ausführen?

Farooq: Seit dem 11. Septem-ber ist der religiöse Fundamentalis-mus auf dem Vormarsch. Alle Bemü-hungen der imperialistischen Kräfte, die Aktivitäten der Fundamentalisten mit militärischen Mitteln unter Kon-trolle zu bekommen, sind gescheitert. Der Fundamentalismus in seinen ver-schiedenen Formen hat zugenommen. Er ist als politische Kraft gewachsen, er ist als sehr militante Kraft gewach-sen, neue Gruppen sind entstanden, es hat neue Formen von Selbstmord-anschlägen nicht nur in Pakistan und Afghanistan, sondern auch in afrika-nischen Ländern und Indonesien ge-geben. Und der Angriff wird von re-ligiösen Fanatikern als Mittel des Wi-derstandes dargestellt.

Der Fundamentalismus als Kraft muss auf politischer Grundlage be-kämpft und sehr ernst genommen wer-den. Wir dürfen nicht meinen, der Im-perialismus werde uns die Arbeit ab-nehmen, indem er sie unterdrückt oder mit seinen Drohnen oder seinem Krieg

gegen den Terror etc. tötet. Osama Bin Laden wurde getötet, nicht aber seine Ideen. Diese sind noch immer leben-dig. Neue Osama bin Ladens sind auf-getaucht, unter verschiedenen Namen und Aktivitäten. Sind die Aktivitäten nach Osamas Tod zurückgegangen? Nein. Es ist sogar schlimmer gewor-den, denn der Tod von Osama wurde von den USA als großer Sieg gefeiert. Der Präsident meldete sich zu Wort und sagte, Osamas Tod könnte ein Ende des Fanatismus sein. Aber wir haben seit dem 15. Mai 2011, als Osama getötet wurde, gesehen, dass die Fundamenta-listen ihre Aktivitäten nicht verringert haben. Sie haben unterschiedliche For-men angenommen und brauchten nicht lange, um sich zu reorganisieren. In Pa-kistan gibt es heute mehr Selbstmor-dattentate und mehr Fundamentalisten verschiedener Art. Wie wir gesehen haben, sind sie auf parlamentarischer Ebene stärker geworden: In Ägypten kommen sie an die Macht, in Liby-en haben sie knapp verloren, in Alge-rien und Tunesien haben sie gute Er-gebnisse erzielt. Man kann also sehen, welche Fortschritte sie machen, auch in Indonesien. Die Zunahme des Funda-mentalismus muss von der Linken sehr ernst genommen werden.

Wir hatten in den Jahren 1998/99 und 2000 eine lange Debatte in unserer Partei. Es gab Diskussionen über das Anwachsen des Fundamentalismus. Wir hatten zwei Tendenzen in der Par-tei: Die eine sagte, die Zunahme des Fundamentalismus wird durch die im-perialistischen Kräfte orchestriert und die Imperialisten könnten die Funda-mentalisten, wann immer sie wollen, jederzeit stoppen. Die Fundamenta-listen würden vom Imperialismus ge-fördert und stets von diesem gesteuert. Das war vor dem 11.  September. Ich war einer der Führer in der Partei, die sagten, Fundamentalismus entwick-le sich sprunghaft wegen der Krise des Kapitalismus und wegen der Unfähig-keit der kapitalistischen Parteien, auch nur eines der Probleme der Menschen

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Pakistan

zu lösen. So wird der Fundamentalis-mus als Alternative betrachtet. Mir war nicht klar, welche Dimension diese An-griffe gegen Amerika annehmen wür-den, den 11. September zum Beispiel.

Einige GenossInnen argumen-tierten, der Fundamentalismus sei wie ein Luftballon, dem die Luft ausgeht, sobald man ihn ansticht. Dann würde er wieder auf seine wirkliche natürli-che unbedeutende Größe schrumpfen. Wir sagten, nein, es ist keine Luftbla-se, es ist ein echtes Problem, es ist ein echtes Monster, das von den imperi-alistischen Kräften gezüchtet wurde, aber außer Kontrolle geraten ist. Wir haben gesagt, die Fundamentalisten würden ihre eigenen Bewegungen bil-den, ihre eigenen Kräfte aufbauen. Wir haben 9/11 erlebt und dann im Jahr 2002 hat der Fundamentalismus zum ersten Mal in Pakistan über 50 Prozent der Stimmen erhalten. Zuvor hatten sie nie mehr als drei, vier Pro-zent. 2008 konnten sie diesen Rekord aus mehreren Gründen nicht brechen. Es gab die Opposition von uns und ei-nige der fundamentalistischen Kräf-te boykottierten die Wahlen, während andere teilnahmen. Die fundamenta-listischen Kräfte waren während der Wahl 2008 folglich gespalten. Das eb-nete einer Parlamentsmehrheit der Pa-kistanischen Volkspartei (PPP) den Weg.

Aber es ist ein reales Phänomen, dem wir uns stellen müssen. Und die Linke sollte nicht denken, es sei nicht ihr Problem. Die Linke sollte nicht denken, jemand anderes wird sich um die Fundamentalisten kümmern, die Linke sollte sie wirklich ernst neh-men. Obwohl sie nicht der Hauptfeind sind. Das ist nach wie vor das kapita-listische System. Aber man sollte die-sen wachsenden Feind im Auge be-halten, der vor allem die schwächsten Teile unserer Klasse wie die Frauen und religiöse Minderheiten bedroht. Diese Gruppen sind durch das Wachs-tum des Fundamentalismus am stärk-sten bedroht.

Z.  A.: Wie du erwähnt hast, nimmt der Trend zu Selbstmordanschlägen zu. In Indonesien hat es solche An-schlägen gegeben. Jamaa Islamiyah Indonesia wurde dafür verantwortlich gemacht, und vielleicht waren sie es auch. Weißt du etwas über mögliche Verbindungen zwischen den islamisti-

schen fundamentalistischen Kräften in Indonesien und in Pakistan? Die Re-gierung behauptet manchmal, dass die indonesischen Fundamentalisten in Pakistan ausgebildet wurden.

Farooq: Ich glaube, religiös-fun-damentalistische Gruppen sind An-

hänger des Internationalismus. Sie wollen die Welt in eine islamistische Welt ändern. Es sind also nicht nur na-tionale Strömungen in Indonesien und Pakistan. Es gibt verschiedene inter-nationale Gruppen und Umgruppie-rungen von fundamentalistischen Ten-denzen. Es gibt Jamaa Islamiyah In-donesia, Jemaah Islami in Malay-sia usw. Es gibt auch Jemaah Islami in Bangladesch. So gibt es verschie-dene Internationalen, und die Funda-mentalisten vereinigen sich auf in-ternationaler Ebene. Wir haben gese-hen, dass ein Verantwortlicher für den Bombenanschlag auf Bali in Pakistan verhaftet wurde. Einer weiterer wurde vor Kurzem in Indonesien zu 20 Jah-ren Gefängnis verurteilt, und er wur-de in Pakistan in derselben Stadt ver-haftet, in der Osama bin Laden getö-tet wurde. Indonesische Fundamenta-listen pflegen also seit Langem Kon-takte zu pakistanischen Fundamen-talisten und das muss gegenüber den linken Kräften aufgezeigt werden. Al Qaida ist keine nationale Organisati-on. Sie werden gefährlicher, weil sie eine internationale politische Agen-

da verfolgen, ein Programm zur Über-nahme der Welt. Indonesien ist eines der Länder mit einer absoluten Mehr-heit an Muslimen. Die wachsende Un-terstützung für den Fundamentalismus lässt sich in verschiedenen Bereichen des Lebens beobachten.

Moderatere Gruppen ebnen den fundamentalistischen Hardlinern den Weg. Und das ist eine sehr gefährliche Tendenz in Indonesien. Ich denke, in-donesische SozialistInnen müssen das Phänomen ernst nehmen.

Z. A.: Was kannst du über den Zusam-menhang zwischen Militärs und fun-damentalistischen religiösen Grup-pen in Pakistan sagen? In Indonesi-en besteht eine Tradition der Zusam-menarbeit, aber manchmal vereinfa-chen Linke das Phänomen, indem sie den Fundamentalismus als reine Erfin-dung des Militärs abtun.

Farooq: Wenn die Fundamenta-listen wachsen, erklären dies einige linke Gruppen jeweils als verdeckte Arbeit der Amerikaner oder des Mi-litärs, des Geheimdienstes ISI (Inter-Services Intelligence, Pakistan). Die-ser Sicht zufolge sind die Fundamen-talisten nur die Lakaien des Militärs. Das stimmte einmal bis zu einem ge-wissen Grad, aber heute sind sie eine reale Kraft, eine politische Kraft. Sie sind eine etablierte Kraft, sie genießen die Sympathie der Mehrheit der Mus-

Zely Ariane

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Pakistan

lime in Pakistan und werden als anti-imperialistisch angesehen. Es ist die Idee des religiösen Fundamentalis-mus, der die Sympathien vieler Musli-me gewonnen hat, denn nach dem 11. September haben die USA mit ihrer Politik den Weg dafür gepflastert. Für Muslime in der ganzen Welt ist das Leben viel härter geworden.

Eine Sache, die auch für Pakistan und wohl auch für Indonesien gilt, ist, dass die meisten fundamentalistischen Kräfte aus Menschen bestehen, die ihr Land verlassen haben. Diese fun-damentalistischen Gruppen sammeln im Westen sehr viel Geld. Wenn Füh-rer solcher Gruppen in den Westen ge-hen, kommen sie jeweils mit sehr viel Geld zurück. Immigranten im Westen spüren den Druck des Rassismus, sie identifizieren sich stärker mit ihrer re-ligiösen Gruppe und denken, in ihrem Herkunftsland etwas für einen guten Zweck tun zu können. Das harte Le-ben der normalen Muslime und der Mangel an Alternativen seitens der bürgerlichen Parteien ebnen den Weg für die Ausbreitung des religiösen Fundamentalismus. In Pakistan sind sie sehr reich geworden.

Z. A.: Einige Linke argumentieren, dass Fundamentalisten auch ein Teil der Arbeiterklasse sind, weil die meis-ten von ihnen aus ärmeren Schichten der Gesellschaft kommen.

Farooq: Dieses Argument habe ich auch schon öfter gehört, dass sie aus der Arbeiterklasse kommen, es sich um eine Bewegung der Arbei-terklasse handelt und wir sie unter-stützen, uns ihnen anschließen müs-sen, um die Ideen des Fundamenta-lismus zu entlarven. Die Klassenbasis des Fundamentalismus sei ein Grund für die Linke, sich ihnen anzuschlie-ßen und so weiter. Ich denke, das sind alles falsche Ansichten. Die Klassen-herkunft der religiösen Fundamenta-listen ist vor allem der Mittelstand, der obere Mittelstand, und es handelt sich nicht um eine klassenbewusste Bewe-gung, sondern um eine Bewegung auf religiöser Grundlage. Sie wollen, dass sich Muslime anschließen, und nicht, dass sich ArbeiterInnen anschließen. Sie wollen keinerlei Klassenwider-spruch in den eigenen Reihen. In Paki-stan werden diese falschen Ansichten von einigen linken Gruppen vertre-ten, die behaupten, die paschtunische

Arbeiterklasse habe sich den Taliban angeschlossen etc. Ich halte das für falsch, auch in Indonesien. Es ist ein Irrtum, zu denken, dass wir wegen des Klassencharakters der Fundamenta-listen eine andere oder sogar positive Einstellung ihnen gegenüber haben und versuchen sollten, mit ihnen zu-sammenzuarbeiten. Es würde den völ-ligen Zusammenbruch der Linken be-deuten, wenn diese mit den fundamen-talistischen Gruppen zusammenarbei-ten würde.

Ich kenne den Fall von Dita Sa-ri sehr gut. Wir haben mit ihr disku-tiert und sie aufgefordert, nicht auf der Liste einer islamischen Partei zu den Wahlen anzutreten2, obwohl diese Partei keine fundamentalistische, son-dern nur eine religiöse Partei ist. Der Übergang zwischen einer religiösen und einer fundamentalistischen Partei ist sehr schmal. Religiöse Parteien bil-den die Grundlage für fundamentali-stische Parteien, sie sind der Nährbo-den, auf dem Fundamentalisten auf-treten können. Die restliche Führung der PRD (Demokratische Volkspartei Indonesiens) wählte die falsche Stra-tegie im Umgang mit dieser religiösen Partei. Ich hatte 2007 eine Diskussion mit Dita Sari zu diesem Thema, aber sie dachte, sie würden ins Parlament einziehen und dort tun können, was sie wollen. Ich fragte: „Welches Par-lament? Dieses Parlament wird eurer Partei nicht helfen zu wachsen. Das geht nur durch den Klassenkampf. Nur der Kampf auf der Straße, die Massenbewegung, der Kampf der nor-malen Menschen, der Kampf gegen Fundamentalismus ist es, der den Weg für einen Erfolg der PRD ebnen wird. Nun erleben wir den völligen Zusam-menbruch dieser Partei, was sehr tra-gisch ist. Ich hatte großen Respekt für Dita Sari und ihre Opferbereitschaft, und die ganze Partei war wirklich wie ein leuchtendes Beispiel für andere Parteien in Asien, die gegen die Dik-tatur kämpfen und sich für die Rechte der ArbeitnehmerInnen einsetzen. Die PRD war das Vorbild für die Art von Partei, die wir in Pakistan aufbauen wollten. Als wir die LPP gründeten, hatten wir immer das Vorbild der PRD vor Augen, die wachsen und Kompro-misse eingehen kann. Als Suharto be-siegt wurde, hofften wir, diese Par-tei würde enorm wachsen, was zum Teil auch geschah: Die PRD wuchs

tatsächlich und zog eine Menge Leu-te an. Aber leider können falsche Ent-scheidungen in eine Katastrophe mün-den. Es war ein Verbrechen der PRD-Führung.3 Aber ich denke, es ist auch ein Verbrechen, den Fundamentalismus ignorieren zu wollen. Wenn man ihn auf die leichte Schulter nimmt, wird man später den Preis dafür zahlen.

Z. A.: Nun zur Kampagne gegen den Fundamentalismus: Kannst du etwas über die Erfahrungen der Pakistanischen Arbeiterpartei in der Solidaritätskampa-gne für den Bürgermeister von Pandsch-ab und eine konvertierte Hindu-Frau sa-gen? In Indonesien haben wir das Bünd-nis gegen die Islamische Verteidiger-front (FPI)4 und die Petition gegen die-se unterstützt, aber niemand sonst aus der Linken hat sich angeschlossen, was verschiedene Gründe hat.

Farooq: Wir versuchen immer, un-terschiedliche Tendenzen gegen den Fundamentalismus zu vereinen. Da die-ser Kampf umfassend ist, müssen wir die Kräfte breit bündeln, um ihn zu be-kämpfen. Wir versuchen immer, soziale Organisationen, NGOs, Gewerkschaf-ten, politische Parteien in einem nati-onalen Kampf gegen den Fundamen-talismus zusammenzubringen. Wir ha-ben den „Gemeinsamen Aktionsaus-schuss für Volksrechte“ gebildet. Er hat keine Struktur, es ist nur ein Ausschuss, aber er tritt zusammen, um verschiedene Themen aufzugreifen. Es ist eine Bewe-gung. Die LPP wurde einmal als NGO-Partei bezeichnet. In einer Gesellschaft, die durch Feudalismus, Fundamenta-lismus und Imperialismus kontrolliert wird, ist es unerlässlich, sich ein Stück weit in der sozialen Arbeit mit sozialen Organisationen zu engagieren und zu versuchen, sie zu radikalisieren. Wir ha-ben also diesen Kampf gegen den Fun-damentalismus mit sozialen Organisa-tionen geführt und versuchen immer, mit dem Rest der Linken zusammenzu-arbeiten: mit den Gewerkschaften und verschiedenen sozialen Bewegungen.

Als eine hinduistische Frau in Sindh zum Islam zwangskonvertiert wurde5, ergriffen wir als LPP die Initiative zu Protesten in Sindh6. Es gab eine Kund-gebung in Hyderabad, der zweitgröß-ten Stadt, und eine in Karatschi. Die Kundgebung in Hyderabad wurde von der fundamentalistischen sunnitischen Gruppe Tehreek angegriffen7, die uns vorwarf, gegen das Gesetz zur Bekämp-

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Pakistan

fung von Blasphemie zu sein und ge-gen den Fundamentalismus zu demons-trieren. Sie haben uns angegriffen, wir haben uns verteidigt. Die Polizei kam, die Fundamentalisten zogen sich zu-sammen und alle unsere Genossen, rund hundert an der Zahl, wurden verhaf-tet. Und das allein wegen des Falls ei-ner armen hinduistischenFrau, die ge-zwungen wurde, zum Islam überzutre-ten. Wir sind für Religionsfreiheit, aber wir wussten, dass diese Frau zur Kon-version gezwungen worden war.

Nach acht Stunden wurden unsere GenossInnen aus dem Gefängnis ent-lassen, und die Fundamentalisten hät-ten uns fast auf der Grundlage des An-ti-Blasphemie-Gesetzes vor Gericht ge-zogen. Auf Gotteslästerung steht in Pa-kistan die Todesstrafe. Das ist also ein Beispiel für unsere Strategie. Bei der Verteidigung von Minderheiten in Pa-kistan – hauptsächlich hinduistische und christliche – machen wir keine Ab-striche. Es ist unsere Hauptaufgabe als Sozialisten, diejenigen zu verteidigen, die am meisten unterdrückt sind, und dazu zählen die Minderheiten.

Ein weiterer Fall in Pandschab war letztes Jahr die Ermordung des Gouver-neurs.8 Pndschab ist die größte Provinz Pakistans. Der Gouverneur war von der Pakistanischen Volkspartei (PPP). Er zeigte Verständnis für eine christliche Frau, die wegen Blasphemie verhaftet und angeklagt worden war. Er besuchte sie im Gefängnis und setzte sich in den Medien für sie ein. Die Fundamenta-listen warfen ihm Gotteslästerung vor, weil er diese Frau unterstützte, die blas-phemischer Aussagen beschuldigt wur-de. Er war ein liberaler Bürgerlicher, der es wagte, diese Frau zu verteidigen. Und was ist mit ihm passiert? Sein ei-gener Leibwächter, der unter dem Ein-fluss der Fundamentalisten stand, tötete ihn. Seine Partei, die PPP, lehnte es ab, sein Andenken zu ehren, weil sie sich nicht mit den Fundamentalisten anlegen wollte. Lieber verschloss sie ihre Augen und hielt still. Also ergriffen wir die In-itiative zu einer ersten Verurteilung der Tat, was in der Bevölkerung breiten An-klang fand. Wir kündigten an, Kerzen vor dem Haus des Gouverneurs anzu-zünden9, und Tausende von Menschen kamen, um seiner zu gedenken. Wir hat-ten mit diesem Gouverneur viele poli-tische Differenzen, aber im Kampf ge-gen den Fundamentalismus müssen wir uns mit den Liberalen zusammentun

... Wir müssen vereint sein und in un-serer Taktik sehr flexibel und geschickt auf die Situation reagieren. Wir sollten flexibel in unserer Taktik und kompro-misslos in unseren Grundsätzen sein. Zum Glück war die Familie des Gou-verneurs bei dieser Gelegenheit recht zufrieden mit der Initiative der LPP.

Z. A.: Du hast gesagt, andere Teile der Linken beteiligten sich ebenfalls an der Kampagne gegen den Fundamentalis-mus und nicht nur eure Partei. Kannst du mehr über das jüngste linke Vereini-gungsprojekt in Pakistan sagen?

Farooq: Seit wir 1997 die Par-tei gegründet haben, haben wir im-mer versucht, mit verschiedenen lin-ken Strömungen in Pakistan zusam-menzuarbeiten. Obwohl wir aus einem trotzkistischen Hintergrund kommen, werden wir keine trotzkistische Par-tei aufbauen. Wir wollen eine marxi-stische Partei, eine sozialistische Par-tei. Wir haben also den gewöhnlichen Namen Arbeiterpartei (Labor Party) gewählt. Die Überlegung dahinter ist, dass es eine Klassenpartei sein soll, die verschiedene Tendenzen und Men-schen unterschiedlicher Herkunft an-zieht. Sie sollten sich vereinen, um ei-ne Partei zu bilden, können gleichzei-tig aber in historischen Fragen unter-schiedliche Meinungen haben. Denn nach dem Zusammenbruch des Stali-nismus und der Offensive des Kapita-lismus seit den 1990er-Jahren haben

die Spaltungen innerhalb der Linken an Bedeutung verloren. Es ist nicht mehr die gleiche Situation wie vor 1990. Ich kann mich daran erinnern, dass wir damals auch viele sektiere-rische Meinungen vertraten. Die Lin-ke ist nicht zuletzt durch die Offensi-ve des Kapitalismus bedroht und muss

sich daher vereinen. Und ich denke, in einem Land wie Pakistan konnten Trotzkis Ideen, namentlich die Theo-rie der permanenten Revolution, viele ehemalige Stalinisten überzeugen, weil sie ein Bündnis mit der Bour-geoisie ablehnen. Sie spricht sich ge-gen eine Etappentheorie der Revoluti-on aus und begründet das damit, dass die Bourgeoisie die historische Rol-le, die sie in den demokratischen po-litischen Revolutionen in Europa hat-te, nicht wiederholen kann. Die Bour-geoisie ist außerstande, den Imperi-alismus zu überwinden, Demokratie einzuführen oder die Nation zu einen. Genauso wenig kann sie den Staat von der Religion trennen oder die Industri-alisierung vorantreiben.

Wir haben also mit verschiedenen Parteien und Gruppen zusammengear-beitet und immer eine Vereinigung an-gestrebt. Im Jahr 2006 gründeten wir mit allen sieben linken Gruppen von Pakistan die Awami Jamhoori Tahreek (AJT)10, deren Sekretär ich war, und organisierten sehr erfolgreiche Ver-anstaltungen. Aber das Projekt kam

Farooq Tariq

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wegen der ausgesprochen sektiere-rischen Haltung einiger Gruppen nicht sehr weit. Immerhin haben wir in der Bewegung der Anwälte zusammenge-arbeitet und waren im Kampf gegen den Fundamentalismus vereint. Letztes Jahr begannen wir darüber zu diskutie-ren, wie sich drei Parteien zusammen-schließen können: die Labor Party, die Workers Party und die Awami Party of Pakistan. Alle drei bildeten eigene Fu-sionsausschüsse. Die Labor Party grün-dete ihren Fusionsausschuss auf der letzten Sitzung des Bundesausschus-ses in Aktabad, der Stadt, in der Osama bin Laden getötet wurde. Wir bestan-den darauf, dass die Einheit der Linken auf einem sozialistischen und nicht auf einem antikapitalistischen Programm beruhen müsse. Antikapitalismus ge-nügt nicht. Wir konnten uns mit un-serer Argumentation durchsetzen, die anderen beiden Parteien stimmten zu. Es ist der wissenschaftliche Sozialis-mus, von dem wir reden, der demokra-tische Zentralismus, die leninistische Organisationsform und so weiter …

Im August werden die Gespräche zu organisatorischen Fragen weitergeführt und dann werden wir in unsere eige-ne Partei zurückgehen. Wenn die Ver-handlungen zu einem Abschluss kom-men und wir uns einigen, dann wird es eine Sondersitzung des Bundesaus-schusses der LPP geben. Wir wollen

eine solche Entscheidung nicht über-stürzen, sondern sicher sein. Wenn der Zusammenschluss über die Bühne ist, dann wird das die eigene Partei. Wir verfügen über eine 20-jährige proble-matische Erfahrung mit solchen Pro-jekten und müssen aus anderen nega-tiven wie positiven Erfahrungen lernen.

Eine vereinte linke Partei in Paki-stan würde zahlreiche radikalisierte Ju-gendliche anziehen. Zurzeit herrscht große Verwirrung darüber, welcher Par-tei sie beitreten sollen, da es alle die-se verschiedenen linken Parteien gibt. Sie fragen, was uns unterscheidet. Ich hoffe, dass es für die Ausbreitung lin-ker Ideen ein großer Schritt nach vorn sein wird, wenn die Fusionsverhand-lungen erfolgreich sind und die Par-teien zustimmen. Wenn wir in der La-ge sind, eine große linke Partei zu bil-den, wird diese ein Wachstumspotenzi-al haben und möglicherweise auch ei-nige Parlamentssitze gewinnen.

Quelle: http://www.europe-solidaire.org/spip.php?article26272

Übersetzung: Tigrib

1 http://inside.org.au/indonesia%E2%80%99s-islamic-parties-in-decline/

oder http://tinyurl.com/ygvkseq 2 Siehe ESSF (Artikel 11192), Indonesia: Uni-

on militant to contest elections und (Artikel

26268), The indonesian Left and Green Left Weekly.

Ein Beispiel zum Internetaufruf: ESSF (Arti-kel 11192) wird zu folgender Adresse:

http://www.europe-solidaire.org/spip.php?article11192

3 Für weitere Hintergrundinformationen zu die-sem Thema auf ESSF (Artikel 26270), siehe Our Stance.

4 Siehe http://www.thejakartapost.com/news/2012/02/15/no-love-shown-fpi.html

oder http://tinyurl.com/d8ejvpv http://www.asiacalling.org/en/news/

indonesia/2511-indonesians-rise-up-against-hard-line-islamic-group

oder http://tinyurl.com/bqffem6 http://www.thejakartaglobe.com/home/anti-

fpi-movement-threatens-indonesias-national-police-with-lawsuit/517139

oder http://tinyurl.com/cbno5n45 http://www.asianews.it/news-en/Hindu-girl-

tells-Supreme-Court-she-would-rather-die-than-convert-to-Islam-24358.html

oder http://tinyurl.com/brh6jq3 6 Siehe ESSF (Artikel 24893), Hyderabad (Pa-

kistan): Left rally against forced religious conversion attacked by Sunni Tehreek.

7 Ebenda.8 http://www.bbc.co.uk/news/world-south-

asia-12111831 oder http://tinyurl.com/33u8jlr9 http://dawn.com/2011/01/08/a-commemora-

tion-for-the-slain-governor-of-punjab/ oder http://tinyurl.com/9wls3qm10 Siehe ESSF (Artikel 26271), Pakistan: Pro-

gram of Awami Jamhoori Tahreek (National Leftist Forum).

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Der islamische Fundamentalismus –am Beispiel Irans und des Arabischen FrühlingsAli Behrokhi*

EinführEndE WortE

Das Erscheinungsbild des is-lamischen Fundamentalis-mus – bekannt auch als „po-litischer Islam“ oder „Isla-mismus“ – ist vielfältig. Von „moderaten Islamisten“ bis hin zu subversiv gewaltberei-ten Gruppen stehen zwar tak-tisch unterschiedlich agie-rende Gruppen auf der politi-schen Bühne, die jedoch stra-tegisch ziemlich gleiche Ziele anstreben. Das massive Auf-treten islamistischer Gruppie-rungen wirft berechtigte Fra-gen auf: Welche Gründe sind für das Entstehen und Erstar-ken der islamistischen Kräfte verantwortlich? Welche Mo-tive verfolgen sie? Ist ihre ab-lehnende Haltung gegenüber den „weltlichen Institutionen und Einrichtungen“ eine rein islamische Angelegenheit, oder ist sie auch im Judentum und Christentum anzutreffen?

Die Antworten fallen un-terschiedlich, ja gar wider-sprüchlich aus. Dieses schein-bare Paradoxon ist auf die parteipolitische und journali-stische Provenienz zurückzu-führen, der die AutorInnen an-gehören.

Der Verfasser dieser Zeilen hat sich zur Aufgabe gesetzt, unabhängig von dem politi-schen Establishment Zusam-menhänge aufzuzeigen, die heute Nährboden für die Poli-tisierung der islamischen Re-ligion sind. Doch die aktuelle politische Diskussion macht es notwendig, auf Gemein-

samkeiten und Unterschiede zwischen den drei monotheis-tischen Religionen hinzuwei-sen.

Wenn in den sog. Medien-gesellschaften der westlichen Welt von der Rolle der Reli-gion in der politischen Aus-einandersetzung die Rede ist, wird der Öffentlichkeit in der Regel folgendes Szenario prä-sentiert:

Eine friedfertige und hel-fende christliche Religion, die manchmal von menschlichen Verfehlungen überrascht wird und darauf verlegen, ja hilflos reagiert.

Ein Judentum, das dem Na-zi-Terror mit unglaublich ho-hen Verlusten entkommen ist und von Terroristen existenzi-ell bedroht wird.

Und schließlich ein fana-tischer Islam, dessen „jihadis-tische Aktivisten“ vor nichts zurückschrecken und den Weltfrieden bedrohen.

Dieses weitverbreitete Bild ist einseitig, voll gespickt von Halbwahrheiten und anstatt für Klärung zu sorgen, sät es mehr Zwietracht.

Die historische Entwick-lung und die aktuelle Situati-on belegen, ob Christentum, Judentum oder Islam: Sobald sie die religiös-theologische Sphäre verlassen und sich um die weltlichen Angelegenhei-ten „kümmern“, handeln sie mit ähnlichen Methoden und Mitteln.

Im Laufe der Jahrhunderte war die Kirche als instituti-onalisierte Form der christ-

lichen Religion – zunächst als Teil der absolutistisch-feuda-listischen Staaten Europas – an höchster Stelle an der Aus-beutung und Unterdrückung der bäuerlichen Bevölkerung beteiligt und diente später den europäischen Kolonialmäch-ten im Rahmen der „Missi-onierung der wilden und un-zivilisierten Erdteile“ bei der Eroberung und Unterjochung vieler Völker dieser Welt.

Der Zionismus ist im Grun-de die politische Instrumenta-lisierung der jüdischen Reli-gion. Er missbraucht die „Ju-denfrage“ und begeht im Na-men einer Religion seit der Gründung des Staates Israels vor den Augen der Weltöffent-lichkeit Massenmord am pa-lästinensischen Volk, zerstört Tausende Häuser und Dör-fer unschuldiger Menschen, macht Millionen von ihnen zu Flüchtlingen. Wie alle ande-ren religiösen Kräfte, die kraft Religion Politik betreiben, se-hen sich die Zionisten immer noch im Recht, malen Phan-tome an der Wand, die sie be-drohen, und setzen ihr blu-tiges Handwerk fort.

Mit diesen einführenden Worten sollte schlussgefolgert werden, dass diese drei mo-notheistischen Religionen mit ihrem Absolutheitsanspruch dafür gedacht und „geschaf-fen“ sind, das Verhältnis des gläubigen Menschen mit dem Jenseits, mit „seinem Gott im Himmel“ zu regeln und ihm in seinem irdischen Leben Trost und Halt zu geben. Der Staat

dagegen ist eine rein irdische Erfindung und soll das ge-meinsame menschliche Leben – besonders in unserer Zeit! – unter menschlicher Kontrol-le regeln.

Historische und aktuelle Beispiele belegen aber, wenn es zu einer Vermengung und Vermischung von Staat und Religion kommt, wird der Staat gänzlich der menschli-chen Kontrolle entrissen und unter eine für Menschen un-sichtbare und unkontrollier-bare „göttliche / himmlische“ Kontrolle gestellt. So wird ei-ner autoritären Staatsführung der Weg geebnet.

I. DreI UrsAchen Für DIe entstehUng Des IslAmIschen FUnDA-mentAlIsmUs.

Der Beginn des 20. Jahrhun-derts ist zugleich die Phase des politischen Erwachens der Völker des Nahen und Mitt-leren Ostens. Die Menschen wehren sich gegen die absolu-tistische Herrschaft ihrer „ei-genen“ Könige, Fürsten und Feudalherren, die in Abhän-gigkeit von den europäischen Kolonialmächten einen Aus-verkauf der Ressourcen ihrer Länder betreiben und die Be-völkerung wie Knechte be-handeln. Zwischen den Jahren 1901 und 1907 zeichnen sich in Iran die ersten Protest- und Widerstandsformen ab, die politische Veränderungen for-dern und zum Teil durchset-zen. Mit Aktionen wie Flug-

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blattverteilung im Schutz der Dunkelheit - „Schabna-meh“-, Bildung von geheimen Komitees, Sitzstreiks, Stür-mung von Regierungssitzen und ausländischen Gesandt-schaften bis hin zum bewaff-neten Kampf will die Protest-bewegung die absolute Macht des korrupten Königshofs ein-schränken und die „Herrschaft des Gesetzes“ durchsetzen.

Diese antifeudale Bewe-gung, die jahrelang in Iran an-dauert und die wichtigsten ur-banen Gebiete des Landes er-fasst, gehört zu den wich-tigsten politischen Ereignis-sen im Osten überhaupt und steht in einer Reihe mit der russischen Revolution von 1905 und der chinesischen Revolution von 1911. Der Be-wegung, die als „konstitutio-nelle Revolution“ in die Ge-schichte eingeht, gelingt es zwar, die absolute Macht des Königs (Schah) zu brechen, ein Wahlgesetz zu verabschie-den und die erste National-versammlung einzuberufen, scheitert aber letztlich 1907 an der massiven Einmischung aus dem Ausland. Die bri-tischen Imperialisten im Sü-den und das zaristische Rus-sland im Norden teilen das Land als jeweilige „Schutzge-biete“ unter sich auf und liqui-dieren so die erste iranische Revolution.

Das Ende des I. Welt-krieges (1914-1918) mit den folgenden regionalen und in-ternationalen Ergebnissen prägt auch die weitere poli-tische Entwicklung der Regi-on entscheidend; das Osma-nische Reich bricht endgül-tig auseinander und seine ara-bischen Provinzen, ca. 90% der heutigen arabischen Staa-ten, geraten unter die Kon-trolle der (west)europäischen Kolonialmächte. Russland fällt mit der Oktober-Revolu-tion als eine imperialistische Macht aus und Deutschland spielt als Kriegsverlierer im internationalen Konkurrenz-kampf der Großmächte vor-läufig keine Rolle mehr.

Von nun an stehen für Jahr-

zehnte riesige Gebiete vom Persischen Golf bis Nordafri-ka unter der Kontrolle Groß-britanniens als kolonialer Supermacht jener Zeit und Frank reichs als dessen Junior-partner. Diese beiden Mächte teilen den Kuchen unter sich auf, ziehen willkürliche Gren-zen, reißen uralte Siedlungs-gebiete auseinander und sor-gen dafür, dass Grenz- und ethnische Konflikte für die Zukunft „vorprogrammiert“ sind.

Es ist der gleiche Zeit-raum, in dem die Völker der Region aus der bitteren Erfah-rung der nationalen Abhän-gigkeit lernen, dass der erste Schritt zu einem menschen-würdigen Dasein die Befrei-ung aus dem Fremdenjoch ist.

1. diE politischE Ent-Wicklung in dEn ländErn mit musli-mischEr BEvölkE-rungsmEhrhEit

Der Kampf der Völker der Re-gion um politische Freiheit und nationale Würde, der in den ersten Jahren des 20. Jahr-hunderts seinen Anfang ge-nommen hat, benötigt für das Erreichen eines Etappenziels mehr als ein halbes Jahrhun-dert Zeit.

Das Ende des II. Welt-krieges bedeutet eine erheb-liche Schwächung der Welt-machtposition Großbritan-niens. Das britische Imperi-um muss nach und nach sei-ne „kolonialen“ Besitzungen aufgeben und seine Truppen letztendlich auch vom Per-sischen Golf abziehen. Erst Mitte der 60er Jahre des letz-ten Jahrhunderts muss sich die französische Kolonialar-mee nach einem brutalen und verlustreichen Krieg in Alge-rien geschlagen geben und das Land der algerischen Befrei-ungsbewegung überlassen.

Mit dem offiziellen En-de der kolonialen Ära und der Gründung der neuen Natio-nalstaaten versprechen sich die Völker der Region, in ih-ren befreiten und unabhängig gewordenen Ländern Ideale

wie soziale Sicherheit und po-litische Freiheit verwirklichen zu können.

Die neue Elite übernimmt zwar die politische Herr-schaft, versäumt aber, sich an eine Umwälzung der sozialen Strukturen zu wagen. Mit an-deren Worten: Im Großraum Naher und Mittlerer Osten wird die alte Gesellschafts-ordnung nicht überwunden, demokratische Kontrollen der Reichtümer des Landes durch die Werktätigen werden nicht gewährleistet und die Eigen-tumsverhältnisse in der Land-wirtschaft und Industrie blei-ben im Wesentlichen unverän-dert. Dies ist jedoch eine we-sentliche Voraussetzung dafür, dass soziale Gleichheit her-gestellt werden kann und das soziale Elend sich nicht fort-setzt.

Neben dem Scheitern der Nationalstaaten gilt es zwei weitere Faktoren zu berück-sichtigen, die dem Gedei-hen der fundamentalistischen Strömungen dienlich sind.

2. diE lagE dEr mus-limischEn mindEr-hEit in dEr Emigra-tion.

Aufgrund der enormen menschlichen Verluste wäh-rend des II. Weltkrieges hatte die Wirtschaft der Industrie-länder Westeuropas nach 1945 unter Arbeitskräftemangel zu leiden.

Der Bedarf nach jungen und unverbrauchten Arbeits-kräften wurde so groß, dass die „Kernländer“ der heutigen EU Anfang der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts „Anwer-be-Delegationen“ auf die Su-che nach gesunden und „ar-beitswilligen“ Menschen in die Länder des Südens schick-ten. Frankreich z. B. holte das benötigte „Menschen-Materi-al“ aus seinen ehemaligen Ko-lonien. In die Bundesrepublik wurden Hunderttausende aus dem ehemaligen Jugoslawien, Griechenland, Italien und der Türkei geholt.

Bekanntlich war geplant,

dass junge kräftige Männer ins Land kamen. Doch folgten den Ehemännern, Söhnen und Vätern nach und nach Frauen, Mütter und Kinder. Die ver-antwortlichen Stellen in den Aufnahmeländern mussten später ihre „Fehlplanung“ ein-gestehen und kommentierten die entstandene Situation so: „Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen.“ (Max Frisch in dem Vorwort zu dem Buch „Siamo Italiani - Die Italiener“ von Alexander J. Seiler, 1965)

Die ins Land geholten Werktätigen der ersten Stun-de sind längst im Rentenalter. Ihre Kinder und Kindeskinder sind in den Aufnahmeländern zur Welt gekommen, haben hier Schul- und Berufsaus-bildung erhalten und üben in ähnlicher Weise wie die Ange-hörigen der Mehrheitsgesell-schaft einen Beruf aus.

Nach mehr als einem hal-ben Jahrhundert hat die eu-ropäische Migrationspolitik es nicht fertiggebracht – we-der auf EU-, noch auf natio-naler Ebene – ein demokra-tisches und menschenfreund-liches Konzept auf die Beine zu stellen, das das Zusammen-leben von Menschen unter-schiedlicher Herkunft, Haut-farbe, Religion regelt. Men-schen sowohl der Mehrheits-gesellschaft als auch aus der Migration sind sich selbst überlassen, mensch lebt nach drei Generationen in erster Li-nie nebeneinander statt mitei-nander.

So entstehen Ecken und Nischen, in denen Vorur-teile und Ängste herrschen, die Teile der Mehrheit gegen-über der Minderheit und Teile der Minderheit gegenüber der Mehrheit hegen und pflegen. Angesichts dieser Situation ist es nicht weiter verwunder-lich, dass am rechten Rand der Mehrheitsgesellschaft Neo-Nazi-Gruppen wie Pilze aus dem Boden schießen und den „Ausländern“ regelrecht den Krieg erklären.

Ebenso aus derselben Kon-fliktsituation heraus, für de-

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ren Entschärfung sich offen-sichtlich keine offizielle Stel-le verantwortlich fühlt, ent-stehen innerhalb der Fami-lien und Verbände der Mi-grantInnen und in „Hinter-hofmoscheen“ fundamentali-stische Strömungen und Ten-denzen, die im trüben Was-ser der Ablehnung, der Aus-grenzung und der Bedrohung agieren und mit Losungen wie „zurück zu den Wurzeln“ auf offene Ohren stoßen.

3. diE ausWirkungEn dEr hEgEmonialpoli-tik dEr grossmächtE

Für die Entstehung und Er-starkung des politischen Islam trägt die Hegemonialpolitik, die die Imperialisten seit 100 Jahren in der Region betrei-ben, ein hohes Maß an Mit-verantwortung. Folgende Fak-toren belegen dies:

Im ersten Jahrzehnt des letzten Jahrhunderts stoßen die britischen Agenten im Ge-biet des heutigen Irak und Iran auf die ersten Erdölquellen. In den darauf folgenden Jahren machen die westlichen Ölkon-zerne die Feststellung, dass mehr als die Hälfte der welt-weit bekannten Erdölreser-ven im Becken des Persischen Golfs lagern. Seit dieser Zeit gibt es keine politischen, wirt-schaftlichen Einmischungen und Kriege der Imperialisten, die nichts mit der Ölpolitik zu tun hätten. Seit Generati-onen machen die Menschen in

der Region die Erfahrung, wie die Ölkonzerne als Symbol und Vertreter der westlichen Macht und Arroganz ins Land kommen, die korrupten Eliten kaufen, die rebellischen Füh-rer stürzen und ihre Reich-tümer klauen. Dies ist ein nachvollziehbarer Grund, wa-rum die „westliche Moderne“ von der Mehrheit der Bevöl-kerung in der Region als ne-gativ und als Bedrohung emp-funden wird.

Die Spannungen der euro-päischen Mächte werden auf dem Rücken und auf Kosten der Völker der Region aus-getragen. Bereits in der Za-renzeit gehörte die Golfregi-on zu den strittigsten Fragen zwischen den westlichen Im-perialisten auf der einen Seite und Russland auf der anderen Seite. Der russische Bär ver-suchte immer wieder zu den warmen Gewässern des Per-sischen Golfes zu gelangen und der Westen suchte nach Wegen, um das russische Vor-dringen zu verhindern. Nach der Oktoberrevolution und be-sonders nach dem II. Welt-krieg gewinnt dieser Konflikt noch einmal an Schärfe.

In der Zeit des „Ost-West-Konflikts“, der 1945 be ginnt und mit dem Zusammen-bruch des Ostblocks 1989/90 endet, haben die Westmächte (NATO) in ihrem Kampf ge-gen den „Kommunismus“ in der Region eine gefährliche Doppelstrategie gefahren, für deren kulturelle und politische

Langzeitfolgen besonders die Völker der Region einen ho-hen Preis bis jetzt schon be-zahlt haben und in der Zukunft noch zu zahlen haben. Die lä-stige Präsenz der Sowjetunion, die in einigen wichtigen Län-dern der Region wie Ägypten, Syrien, Irak, Libyen als Waf-fenlieferant bereits einen Fuß an der Türschwelle hatte und auf der politischen Bühne als deren diplomatische Schutz-macht auftrat, musste einge-dämmt werden. Deshalb ver-bündeten sich die „demokra-tischen“ Länder des Westens mit den reaktionärsten gesell-schaftlichen Kräften der Re-gion. Der Höhepunkt der Ver-brüderung der „Demokraten“ mit den Reaktionären war, als die Geheimdienste Israels und Pakistans als verlängerte Ar-me der CIA beschlossen, isla-mistische Kräfte, die bis dato eine gesellschaftliche Rand-erscheinung waren, als wich-tige politische Kraft zu akti-vieren, zu bewaffnen und ein-zusetzen. Dieser „Plan“ ver-folgte das Ziel, z. B. in Palä-stina mit der Unterstützung von Hamas säkulare Kräfte zu schwächen und zu spalten oder in Afghanistan mit der Bewaffnung und finanziellen Unterstützung von Modjahe-din und Taliban die Sowjets zu bekämpfen: Dieses „Instru-ment“ galt zumindest für ei-ne geraume Zeit als die „Wun-derwaffe“ der westlichen und prowestlichen Geheimdienste in der Region.

Die arabischen, afgha-nischen und zentralasia-tischen „Modjahedin“ waren als „Freiheitskämpfer“ im anti-sowjetischen Kampf, in Afgha-nistan und in den ehemaligen zentralasiatischen Sowjet-republiken im Einsatz. Innen-politisch wurden und wer-den weiterhin diverse islamis-tische Kräfte zur Schwächung und, wenn nötig, Eliminierung säkularer und demokratischer Bewegungen eingesetzt. Denn aus ihren Erfahrungen der ko-lonialen und nachkolonialen Zeit wissen die Imperialisten, je schwächer und unterentwi-ckelter zivilgesellschaftliche und demokratische Strukturen in den unterdrückten Ländern sind, desto leichter ist es für die sie, dort Fuß zu fassen und die Eliten zu instrumentalisie-ren.

Als ein sehr wichtiger Fak-tor – sozusagen als „komple-mentäre Maßnahme“ zur Stär-kung der islamistischen Kräf-te – sollten die segensreichen Petrodollars aus Saudi-Ara-bien und anderen Öl-Monar-chien am Persischen Golf nicht außer Acht gelassen werden, die sowohl für die Fi-nanzierung der bewaffneten Kämpfe der „Modjahedin“ flossen und weiterhin fließen, als auch den weltweiten isla-mistischen „Kulturkampf“ in Form von prachtvollen Mo-schee-Bauten, islamisch ori-entierten Schuleinrichtungen und ähnlichen Institutionen im Gang halten.

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II. DIe polItIschen UnD kUltUrellen Folgen Der oBIgen DreI FAktoren

Bisher wurde versucht klar zu machen, dass der islamische Fundamentalismus trotz sei-ner Unterschiedlichkeiten in Auftritt und Aufmachung eine Reaktion, ein Ergebnis kon-kreter politischer und sozialer Abläufe ist. Damit keine Miss-verständnisse aufkommen ei-ne kurze Anmerkung: Religi-öser Fundamentalismus ent-steht, wenn sich die Moderne in ihrer gesellschaftlicher Ent-faltung so präsentiert, dass re-ligiöse Einrichtungen sich, ih-re Privilegien und Positionen dadurch zurückgedrängt und bedroht fühlen. Dieses Verhal-tensmuster ist nicht typisch is-lamisch und kommt in ande-ren Religionen genau so vor. Der Begriff „Fundamentalis-mus“ als politischer Terminus tauchte zum ersten Mal auf, als vor ca. 90 Jahren einige christliche Gemeinden in den USA mit dem rasanten Fort-schreiten der Moderne nicht mehr klarkamen und ihre An-hängerInnen aufriefen, zu ih-ren alten christlichen Werten, zu den Wurzeln, zurückzukeh-ren und die moderne Lebens-art abzulehnen. Der grund-sätzliche Unterschied zwi-schen christlichem und isla-mischem Fundamentalismus liegt aber darin: Der christ-liche Fundamentalismus war mehr oder weniger eine Re-aktion von oben. Die Vertreter und Sprecher (die „Oberhir-ten“) der christlichen Gemein-den sahen, wie die Zahl ihrer Gemeindemitglieder abnahm, und dadurch ihre eigene Stel-lung an Bedeutung verlor. Ihr Aufruf, zu den Wurzeln zu-rückzukehren und die Moder-ne abzulehnen, war ein Ver-such zu verhindern, dass die „Felle nicht davon schwim-men“.

Der islamische Fundamen-talismus ist jedoch auf unter-schiedliche, ja sogar entge-gengesetzte Ursachen zurück-zuführen. Zum einen macht

die muslimische Bevölkerung in den Ländern, wo die Mus-lime die Mehrheit bilden, mit dem Experiment „National-staat“ eine äußerst negative Erfahrung. Der Staat, den sie aus der kolonialen Abhängig-keit mit so viel Mühe, so viel Opferbereitschaft schafften, erweist sich sehr bald als un-fähig, ihre Probleme zu lö-sen. Sie lehnen ihn ab, weil er als „nationales Symbol“ der Moderne ihre alten Pro-bleme nicht löst und neue da-zu schafft. Zum anderen erle-ben sie sich in den Aufnahme-ländern als eine Minderheit, die zum Teil in der zweiten und dritten Generation immer noch als „Gäste“ behandelt werden, die ja irgendwann zu gehen haben. Ihre Bräu-che, Sprache, Religion finden kaum Beachtung. Trotz im-menser Anstrengung hält sich die gesellschaftliche Anerken-nung in Grenzen, die Anfein-dungen überwiegen.

Die Mehrheitsgesellschaft der Aufnahmeländer ist auf die Minderheit schlecht vorberei-tet. Man spricht selten mit ih-nen, eher über sie und die Be-hörden und ähnliche Einrich-tungen wie z. B. die Schulen, wenn es um die „Ausländer-frage“ geht, haben selbst mehr Fragen, als sie klärend und beruhigend wirken würden. Und schließlich bei der „prak-tischen Ausübung“ der expan-sionistischen Großmachtpoli-tik d. h. bei jeder Form impe-rialistischer Einmischung ste-hen die Völker der Region von vornherein auf der Verlierer-seite.

Erst die Verzahnung dieser drei Elemente verschafft den verschiedenen Schattierungen des islamischen Fundamen-talismus die sozialen, politi-schen und logistischen Mög-lichkeiten, sich vom „Orient bis Okzident“ auszubreiten. Dort in der Region sind sie als Terrorgruppen aktiv, können aus schier unerschöpflichen Quellen Selbstmordattentä-ter rekrutieren, stellen Regie-rungen und stehen mit Diplo-maten und Regierungsvertre-

tern der Großmächte in Kon-takt. Und in den westlichen Ländern dürfen sie ihre „kul-turelle“ Wühlarbeit fortsetzen und die unzufriedenen und enttäuschten Jugendlichen in den fundamentalistischen Sumpf ziehen. Dies dürf-te als „fundamentalistisch-is-lamische Bilanz“ gelten, die aus dem Scheitern der Nah-oststaaten, den Misserfolgen der Migration in den west-lichen Ländern und der impe-rialistischen Zerstörungspoli-tik vorläufig zu ziehen ist.

III. DIe sItUAtIon In IrAn

Der Volksaufstand von Febru-ar 1979 in Iran ist ein klas-sisches Beispiel für das Schei-tern der aus den imperialis-tischen Metropolen in die Pe-ripherie importierten „Moder-ne“. Das durch einen CIA-Putsch 1953 an die Macht ge-hievte Schah-Regime verord-nete dem Land mit dem Be-ginn der 60er Jahre des letz-ten Jahrhunderts ein von den USA diktiertes Reform-Pro-gramm. Mit Maßnahmen wie Landreform, Armee des Wis-sens (gegen den Analphabetis-mus), Armee der Hygiene (ge-gen Epidemien und Seuchen) sollte das Land nach den Vor-stellungen der USA „refor-miert“ werden. Im Grunde ging es aber darum, die hoch politisierte Unzufriedenheit im Volk zu neutralisieren und für die Verlängerung der Le-bensdauer des Regimes zu sorgen. In einer der US-Di-rektiven hieß es unverblümt: „Entweder wir machen Re-formen von oben oder die Re-volution kommt von unten!“

Weniger als 20 Jahre spä-ter waren eine bis dahin bei-spiellose Landflucht, zügel-lose Öffnung des Landes für ausländische Investitionen und Waren und ein aufgebläh-ter Polizei- und Militärappa-rat das Ergebnis der „Moder-nisierung“. Während der Herr-schaft des Schahs herrsch-te in Iran Friedhofsruhe. Lin-ke, fortschrittliche, libe-

ral und national eingestellte Kräfte, die die „Einmanndik-tatur“ und die Abhängigkeit vom Ausland ablehnten, wur-den als Kommunisten, Terro-risten, Agenten verfolgt. Tau-sende saßen in den Gefäng-nissen, viele von ihnen muss-ten unter Folter oder vor den Erschießungskommandos ihr Leben lassen.

In derselben Zeit, während die gesamte iranische Oppo-sition im Gefängnis saß, hin-gerichtet wurde oder im Exil lebte, war eine andere Perso-nengruppe in Iran landesweit organisiert und aktiv und ge-noss relative Freiheit. In der vorrevolutionären Zeit stan-den schätzungsweise ca. 60  000 schiitische Geistliche (Mullahs) – ihre heutige Zahl wird auf über eine halbe Mil-lion geschätzt – in Tausenden von Moscheen im direkten Kontakt mit der Bevölkerung. Als das politische Erdbeben beginnt und der Schah, sei-ne Generäle und ihre auslän-dischen Beschützer und Be-rater buchstäblich den Boden unter den Füßen verlieren, er-eignet es sich in einem politi-schen Vakuum.

Im entscheidenden Augen-blick fehlt der revolutionären Bewegung das notwendige Rüstzeug; die fähigsten Köpfe und Persönlichkeiten fehlen, sind physisch liquidiert. Die wenigen, die den Terror über-lebt haben und nun aus den Gefängnissen befreit werden, müssen in mühsamer Aufbau-arbeit den Kontakt zum re-voltierenden Volk erst suchen und aufbauen. Ebenso fehlen Organisationen, die im Volk verankert sind, der Bewegung Halt geben und sie weiterfüh-ren. Der Revolution, die mo-natelang von Millionen von Frauen und Männern getra-gen wird, gelingt es zwar, den Schah vom Thron zu stürzen, Nutznießer der revolutionären Kämpfe sind aber gleich im Moment des Machtwechsels die Reaktionäre.

Dem schiitischen Geist-lichen Khomeini und seiner Anhängerschar gelingt es, erst

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mit zögerlicher, aber nach und nach intensiver Unterstützung der imperialistischen Länder die Führung der Anti-Schah-Bewegung zu beanspruchen. Als wenige Wochen vor dem Umsturz Khomeini nach Pa-ris gebracht wird, ihm dort in-ternationale Medien rund um die Uhr zur Verfügung gestellt werden, wird klar, dass der antimonarchistisch-antiimpe-rialistischen Bewegung bald ein islamisches Gewand auf-gestülpt wird.

Im 33. Jahr der Herrschaft des islamischen Regimes in Iran können die gemachten Erfahrungen und die gegen-wärtige Stimmungslage wie folgt zusammengefasst wer-den: Die Menschen erfahren es täglich am eigenen Leib, dass die Vermischung von Religion und Staat in unserer Zeit unweigerlich zur Kata-strophe führt.

Die Katastrophe im Iran von heute, von der hier die Rede ist, ist konkret und hat einen Namen; entsprechend dem religiösen Absolutheits-anspruch, der in der Verfas-sung der islamischen Repu-blik verankert ist, ist die po-litische Macht unkontrollier-bar, liegt in der „Hand Gottes und dessen Stellvertreters auf Erden“; daraus resultiert ei-ne korrumpierte Staatselite, die die Wirtschaft des Lan-des ruiniert hat, Repressions-methoden, die die Inquisition des Mittelalters in den Schat-ten stellen, überfüllte Ge-fängnisse, öffentliche Hin-richtungen und polizeistaat-liche Überwachung der Fa-briken, der Schulen ja sogar der Krankenhäuser. Dies ist die traurige Seite der Medail-le der iranischen Wirklichkeit von heute.

Die andere Seite ist erfreu-licher und stimmt hoffnungs-voll.

Es herrscht dort eine brei-te, von Millionen Menschen getragene Ablehnungsfront gegen das Regime. In keinem vergleichbaren Land gibt es so viel vom Regime unabhän-gige soziale, politische und

kulturelle Aktivitäten wie in Iran. Unter widrigsten Bedin-gungen und mit unglaublicher Risikobereitschaft werden in den Betrieben Arbeiterräte und Streikkomitees gebildet, die Protestmärsche, Streiks, Fabrikbesetzungen durchfüh-ren. Iranische Frauen und die Jugend kämpfen an der vor-dersten Front für die Durch-setzung ihrer demokratischen Forderungen und tragen den Wunsch nach Veränderungen immer tiefer in die iranische Gesellschaft. Jüngere Irane-rInnen, die die Februar-Re-volution nur vom Hörensa-gen kennen, äußern sich in Internet und anderen elektro-nischen Medien so: Wir wol-len eine Republik ohne Is-lam; wir wollen Freiheit und Demokratie, aber ohne den Einfluss des Westens. Wei-ter gehen sie auf die Rolle, die Russ land und China spie-len, ein und kritisieren sie, weil sie das islamische Re-gime unterstützen. Sie erklä-ren z. B., dass sie die Feh-ler ihrer Eltern nicht wieder-holen wollen und ihre Bewe-gung ein Dokument ein Ma-nifest haben sollte, in dem die demokratischen Rech-te der Frauen, der nationalen und religiösen Minderheiten in Iran und Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit veran-kert sein sollten.

In der dunklen Nacht, die das Regime seit über 30 Jah-ren über Iran verhängt hat, sind es Funken, Lichtstrah-len, die hoffnungsvoll stim-men.

IV. Der ArABIsche FrühlIng UnD DIe lehren DArAUs

Die Massenaufstände, die seit Beginn des Jahres 2011 in den wichtigsten Ländern der Region im Gang sind, haben die Verhältnisse dort buch-stäblich auf den Kopf ge-stellt und versetzen die inte-ressierte internationale Öf-fentlichkeit in Erstaunen. Ih-re bisherigen Höhen und Tie-fen beschäftigen Freunde und

Feinde der Völker der Regi-on – auch in den Metropo-len. Während die Feinde ge-heim und offen daran „ar-beiten“, wie der Zug des ara-

bischen Frühlings zu stoppen wäre, fragen die Freundinnen und Freunde, welche Grün-de es gibt, dass es in mehre-ren Ländern fast gleichzeitig zu revolutionären Massener-hebungen kommt? Wie ist die ungebrochene Begeisterung von so vielen Frauen und Männern für einen unglei-chen Kampf mit ungewissem Ausgang zu erklären? Wohin geht die Reise? Wie kann dem revolutionären Kampf dort „geholfen werden“?

Der Kampf, den die un-tersten Gesellschaftsschich-ten, die Jugend, die Frauen, die Intellektuellen begon-nen haben, ist das Glied ei-ner Kette, eine neue Etappe von kontinuierlichen Kämp-

fen, die seit 100 Jahren in der Region geführt werden. Kurz nach dem erfolgreichen Ab-schluss der antikolonialen Befreiungskämpfe und nach

der Gründung eigener Na-tionalstaaten macht die Be-völkerungsmehrheit der Län-der der Region die Erfahrung, dass ihre Staaten diktatorisch entartet und deshalb unfähig sind, einfachste Grundsät-ze der politischen Freiheit zu respektieren und die so drin-gend benötigte soziale Si-cherheit zu gewährleisten.

Die aktuellen Kämpfe be-weisen wieder einmal, dass die Völker der Region erneut dabei sind, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen, Dik-taturen zu beseitigen und die ersten Grundsteine für Demo-kratie und ein menschenwür-diges Dasein zu legen.

Es kann sein, dass es dem einheimischen Militär oder

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anderen Fraktionen der politi-schen Elite gelingt, mit „Hil-fe aus dem Ausland“ das Rad der Geschichte zu verlang-samen oder gar vollends zum Stillstand zu bringen. Es kann sein, dass dem kurzlebigen arabischen Frühling dunk-ler Herbst oder kalter Winter folgt. Doch allein schon das bisher Erreichte gibt den Zi-vilgesellschaften dieser Län-der das Selbstbewusstsein, dass sie in der Lage sind, groß-artige und für nicht möglich gehaltene Leistungen zu voll-bringen. Einfache Frauen und Männer sind in Tunesien und Ägypten gegen bis zu den Zäh-nen bewaffnete Polizeistaaten in den Kampf gezogen und ha-ben gewonnen. In einem Land haben sie einen Diktator in die Flucht geschlagen und in dem anderen Land haben sie den Diktator gestürzt und dafür ge-sorgt, dass er ins Gefängnis kommt. Dieses Erlebnis wird das Kollektivbewusstsein von Menschen nicht nur in Tune-sien und Ägypten, sondern in der ganzen Region prägen und sie bei ihrem Kampf stärken.

Eine weitere unmittelbare Folge der diktatorischen Herr-schaft in den Ländern der Re-gion ist, dass in den Gesell-schaften dieser Länder zivile Einrichtungen und Strukturen sehr mangelhaft oder gar nicht existent sind. Während der bü-rokratisch aufgeblähte Staats-apparat seine Hauptaufgabe in der Überwachung, Kontrol-le und „Führung“ des Volkes sieht und Vetternwirtschaft die Lieblingsbeschäftigung der Staatseliten ist, werden wich-tige gesellschaftliche Sektoren wie Sicherstellung der Ernäh-rung, Gesundheit, Bildung grob vernachlässigt oder völlig außer Acht gelassen.

Gerade hier fällt diversen islamistischen Gruppierungen die historische Chance in den Schoss, staatliche Aufgaben zu übernehmen. Sie füllen die durch die staatlichen Versäum-nisse entstandenen Lücken und erscheinen zugleich den hilfsbedürftigen und unzufrie-denen Menschen als großzü-

gige und vor allem „saubere“ Opposition, die auf ihrer Sei-te und nicht auf der der Regie-rung steht. Im Laufe der Jahre gelingt es ihnen, nicht nur so-ziale Dienste zur Verfügung zu stellen, die ja überall fehlen, sondern auch – dank Spen-den aus dem In- und Ausland – Volksküchen zu organisieren, kostenlose Mahlzeiten zu ver-teilen – da durch die Misswirt-schaft der Regierungen auch das einfache Brot oft zur Man-gelware wird – die arme Be-völkerung medizinisch zu ver-sorgen und den Kindern von Arbeitslosen und Slumbewoh-nern Schul- und Unterrichts-räume in Koranschulen (!) zur Verfügung zu stellen.

So verschafft ihnen die Dik-tatur gewollt oder ungewollt die Gelegenheit, für die ein-fachen und von Entbehrungen geplagten Menschen die Rol-le des großzügigen Menschen-freunds zu spielen, der die bit-ter nötige Hilfe leistet und mit dem Regime keine gemein-samen Sachen macht und in „Opposition“ steht.

Abhängig von dem gesell-schaftlichen Entwicklungs-stand des jeweiligen Landes fallen die Rollen der islamis-tischen Kräfte entsprechend unterschiedlich aus.

Die revolutionäre Erfah-rung der Jahre 2011/12 bietet sich bei der Einschätzung der Islamisten in den gesellschaft-lich politischen Auseinader-setzungen als ein idealer Prüf-stein an. Ägypten als wich-tigstes arabisches Land, als Zentrum des arabischen Früh-lings und als ein Land mit der größten islamischen Organisa-tion (die Muslim-Brüder) ist hierfür ein Paradebeispiel.

Die Ereignisse auf dem Kai-roer Tahrir-Platz gelten als Hö-hepunkt des arabischen Früh-lings und werden als Symbol für direkte Demokratie und das Durchsetzungsvermögen der bewussten revolutionären Massen in die Geschichte ein-gehen. Zehntausende Men-schen hielten dort monatelang dem Druck der Polizei, der be-zahlten Mörderbanden und der

Panzer der Militärs stand. Sie ließen sich weder von Mord und menschenverachtenden Verhaftungsmethoden auf of-fener Straße noch von Folter in den Gefängnissen einschüch-tern. Ihre Standhaftigkeit rüt-telte eine ganze Gesellschaft wach und zwang eine brutale Militärdiktatur zu Zugeständ-nissen.

Doch lange führte die re-volutionäre Jugend gemein-sam mit mutigen Frauen und Männern aus den einfachen und verarmten Bevölkerungs-schichten diesen Kampf allein. Weder die moderaten „Mus-lim-Brüder“, die über landes-weite Organisationsstrukturen verfügen, noch radikalere isla-mistische Gruppen (Salafisten) waren für eine bedenklich lan-ge Zeit auf dem Tahrir-Platz zu sehen. Auch irgendwelche klar formulierten Forderungen oder Manifeste wurden von ihnen in der entscheidenden Phase des Kampfes nicht veröffentli-cht. Das heißt, sie hatten kein Konzept und kein Programm zum Sturz des Mubarak-Re-gimes. Erst als das Blatt sich zu wenden begann, der Fun-ke der Bewegung auf andere Städte übersprang und die For-derungen nach dem Sturz des „neuen Pharaos“ nicht mehr zu ignorieren waren, schlos-sen sich die „Muslim-Brüder“ der Bewegung an und erklär-ten, sie unterstützten die de-mokratischen Forderungen des Volkes. Die Engagements und Verlautbarungen der Mus-lim-Brüder vor, während und nach dem Umsturz und ähn-liche Erfahrungen mit isla-mistischen Kräften in anderen Ländern sind unmissverständ-liche Erfahrungswerte, die ein-deutig beweisen, dass sie nicht Kräfte der Veränderungen und des Fortschritts sind. Sie stre-ben die Beteiligung an der po-litischen Macht und, wenn die Umstände es erlauben, deren totale Übernahme.

Die „Wahlen“, von denen seit Beginn des arabischen Frühlings in der Region die Rede ist, machen folgende Anmerkung notwendig:

Eine Parlaments-, Präsi-denten- oder sonstige „Wahl“ kann nur dann als Wahlverfah-ren im eigentlichen Sinn be-zeichnet werden, • wenn dabei ein Mindest-

maß an demokratischen Prämissen gewahrt bleibt,

• wenn die Kandidatinnen und Kandidaten die glei-chen Möglichkeiten haben, mit der Wählerschaft unge-stört und sicher den politi-schen Kontakt herzustellen,

• wenn die Wählerinnen und die Wähler ihrerseits das garantierte Recht haben, sich über die zur Wahl ste-henden Personen, ihr Wahl-programm, ihre politische Vergangenheit und zukünf-tige Ambitionen zu infor-mieren,

• und schließlich, wenn ent-sprechende Strukturen wie Parteien, Organisationen vorhanden sind, die für die Wahrung dieser Rechte in Anspruch genommen wer-den können.

Die meisten „Wahlen“, die bis heute in der Region auf der politischen Bühne stattfan-den, waren Inszenierungen, die den Namen „Wahl“ nicht verdienen und mehr Ähnlich-keiten mit den „Wahlen“ auf-weisen, die vor 2011 von den Diktatoren zur Bestätigung ihrer Herrschaft veranstaltet wurden.

Über die Rolle der Muslim-Brüder, die sie bei den Parla-mentswahlen und bei der Prä-sidentenwahl spielten, äußert sich ein Sprecher der revolu-tionären Jugend vom Tahrir-Platz bei einem Interview so: „Die Wahlen, das heißt die Fortsetzung der Diktatur. Im Wahlkampf stehen die Medi-en, besonders das Fernsehen absolut unter der Kontrolle der Militärs. Die Islamisten be-kommen ihren Platz und ihre Sendezeiten von den Militärs zugewiesen. Linke, unabhän-gige und revolutionäre Kan-didaten haben keine Möglich-keit einen fairen Wahlkampf zu führen. Sie werden ver-folgt, verhaftet, und wenn sie

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mit dem Leben davon kom-men, haben sie nicht die ge-ringste Chance, mit der Be-völkerung zu kommunizieren. „Über die Stichwahl, bei der ein Vertreter der Militärs und ein „Muslim-Bruder“ für das Amt des Präsidenten zur Wahl standen, sagte ein Kairoer Pas-sant: „Wir stehen vor der Wahl zwischen Pest und Cholera.“

Der arabische Frühling ist für die Masse der Bevölke-rung in Ägypten und anderen Ländern der Region die ein-malige politisch-praktische Möglichkeit, die Worte und Taten der islamistischen Kräf-te auf den Prüfstand zu stellen. Diese Erkenntnis konnte ihnen kein kluges Buch und keine schlaue Theorie so anschau-lich und einprägsam vermit-teln, wie der arabische Früh-ling es getan hat und weiterhin tun wird.

Auch in den außenpoli-tischen Zusammenhängen bringt der arabische Frühling den Menschen über die Ab-sichten der imperialistischen Mächte und Blöcke neue Er-kenntnisse und Lehren.

Wie bereits erwähnt, lässt sich die Spur der imperialis-tischen Interventionspolitik und ihrer unterschiedlichen Akteure gut hundert Jahre zu-rückverfolgen.

Hier ein Überblick:Bis Ende des I. Weltkrieges kämpfen die westeuropä-ischen Kolonialmächte und das zaristische Russland mal kontrovers mal „harmonisch“ in der Region um Einflussge-biete.

Zwischen den beiden Welt-kriegen spielt das britische Imperium die erste Geige in der Region.

Nach dem II. Weltkrieg übernehmen die USA als neue und frische Supermacht die Rolle Großbritanniens, au-ßerdem wird die Region zu einem der brisantesten Schau-plätze der Spannungen der da-maligen Weltpolitik, die als „Ost-West-Konflikt“ bekannt sind. Die wichtigsten Gebie-te und Länder wie Saudi Ara-

bien, Iran und die Türkei stan-den unter der uneingeschränk-ten Kontrolle der Westimperi-alisten - NATO -!

Der Ostblock – unter Füh-rung der Sowjetunion – be-schimpfte die westliche Poli-tik als „imperialistisch“, ver-folgte aber mit allen Mittel, die auch massive Waffenliefe-rungen einschlossen, seine ei-genen Hegemonialinteressen und bezeichnete dies als „so-zialistische Bruderhilfe“.

In den letzten gut 20 Jahren, da es den Ostblock nicht mehr gibt und der „real existieren-de Sozialismus“ sich von der politischen Bühne verabschie-det hat, tobt in der Region eine neue Variante des imperialis-tischen Konkurrenzkampfes. Die inzwischen älter gewor-dene und schwächelnde Su-permacht USA steht (sic!) ge-meinsam mit ihren westlichen Verbündeten mit modernstem Kriegsgerät, mit Hunderttau-senden Soldaten in der Regi-on Gewehr bei Fuß und zettelt (sic!) einen Krieg nach dem anderen an. Mit dieser Kano-nenbootpolitik verfolgen die USA und die wichtigsten EU-Staaten die folgenden nicht of-fiziell erklärten aber klar um-rissenen und erkennbaren Ziele: • Sie beabsichtigen, den rus-

sischen Bären in Schach zu halten, damit er ja nicht nä-her an die „warmen Gewäs-ser“ herankommt.

• Das weitere Vordringen der neuen – und zukünftigen – asiatischen Weltmächte wollen sie verhindern oder zumindest verlangsamen.

• Und natürlich sind sie da … wegen der „Aufstands-bekämpfung“!

Die Länder der Region gehö-ren wegen ihrer Naturressour-cen zu den reichsten Ländern dieser Erde. Zugleich leben die Bevölkerungsmehrheiten dieser Länder unter unvor-stellbar ärmlichen Verhältnis-sen. Delikat wird die Angele-genheit dadurch, dass die Völ-ker der Region sich über die-ses Missverhältnis bewusst

sind und dieses Bewusstsein so weit entwickelt ist, dass sie sich immer wieder kollektiv dagegen erheben und grund-legende Veränderungen durch-setzen wollen. Der arabische Frühling ist das aktuelle Bei-spiel hierfür!

Die Militärmaschinerie, die Diplomatie und die unsicht-bar und ohne jede „demokra-tische Kontrolle“ agierenden Geheimdienste sind im Ein-satz und sorgen dafür, dass es möglichst nicht so weit kommt. Aber wenn die „Mas-sen außer Kontrolle“ geraten, sind sie vorbereitet und kön-nen reagieren. Fadenscheinige Lügenmärchen wie Terrorbe-kämpfung (Afghanistan) oder Verhinderung eines verrückten Diktators bei der „Herstellung von Massenvernichtungswaf-fen“ (Irak) sind Rechtferti-gungsversuche für imperialis-tische Eroberungskriege.

Das Begriffskonstrukt „Re-gime-Change“ ist eine weitere Umschreibung der imperialis-tischen Einmischungspolitik und zwar für den Fall: Wenn in einem Land aufgrund sozia-ler und politischer Kämpfe der Sturz eines Regimes absehbar ist, gleichzeitig das Land we-gen seiner Naturschätze (Erd-öl!) für die imperialistischen Interessen so wichtig ist, dass es um jeden Preis unter „ei-gener“ Kontrolle bleiben soll und zusätzlich der Einfluss der Konkurrenz in dem Land auch noch im Spiel ist, dann tritt „Regime-Change“ auf den Plan.

Der Fall Libyen ist ein Bei-spiel für solch einen „Plan“, der sich im Jahr 2011 vor den Augen der Weltöffentlichkeit abgespielt hat.

Im Zuge des arabischen Frühlings kam es im Frühjahr 2011 auch in Libyen zu er-sten Erhebungen und Aufstän-den. Für die EU- und US-Im-perialisten stand von Anfang an fest: Die Kämpfe in Liby-en durften auf keinen Fall eine Situation herbeiführen, an de-ren Ende die LibyerInnen ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen würden. Dies hätte

zur Folge, dass die Westim-perialisten die Kontrolle über die libyschen Ölfelder verlo-ren hätten und die chinesische Konkurrenz, die in Gestalt von mehreren Zehntausend Bera-tern und Technikern vor Ort war, noch mehr an Terrain ge-wonnen hätte.

Deshalb belegten Formati-onen der euro-amerikanischen Marine und Luftwaffe mona-telang die libyschen Städte von der See und von der Luft mit Bombenteppichen, ermor-deten an die 100 000 libysche Frauen, Kinder und Männer und zerstörten die mühsam aufgebaute Infrastruktur des Landes. Damit die „Drecksar-beit“ am Boden vor und nach dem Umsturz „ordentlich er-ledigt“ wird, sorgten sie au-ßerdem dafür, dass mehre-re Hundert „geschulte“ und hochgerüstete islamistische Söldner aus dem Reservoir der Al-Quaida-Ableger in Af-ghanistan und anderen ara-bischen Ländern nach Libyen geschickt wurden.

Als im Herbst 2011 Ghaddafi vor laufender Kame-ra von Berufskillern ermordet wurde, war das Projekt „Re-gime-Change“ abgeschlossen; islamistische Kräfte durften die Macht in Libyen überneh-men und die westliche Ober-hoheit über die libyschen Erd-ölquellen blieb ungefährdet, dort fand kein „Wechsel“ statt.

V. Unsere „AUFgABen“ UnD eIn ABschlIes-senDes Wort

Den Leserinnen und Lesern dieser Zeilen ist es kein Ge-heimnis, dass das globalisierte Kapital in unserer Zeit alle Be-reiche der Politik, der Kultur, der Kommunikation sowohl in den Metropolen als auch in der Peripherie entweder un-eingeschränkt beherrscht oder versucht, immer mehr zu ma-nipulieren. Es dürfte wei-ter klar sein, dass die „Unter-stützung und Hilfe“ für unter-drückte und kämpfende Völ-ker nur dann den Namen ver-dient, wenn sie von der Basis

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kommen und unabhängig von den Regierungen und den of-fiziellen Einrichtungen auf die Beine gestellt werden. Erfreu-licherweise gibt es eine be-achtliche Zahl von humanis-tischen, fortschrittlichen und linken Personen, Gruppen und Organisationen, die diese Kri-terien erfüllen und wertvolle Solidaritätsarbeit leisten.

Doch bei der Beantwortung der Frage nach der Unterstüt-zung und „sonstigen Hilfs-maßnahmen für die 3.Welt“ fallen im breiten linken Spek-trum zwei Strömungen auf, de-ren Haltung zur „Hilfe“ und zur „internationalen Solidari-tät“ Fragen und Unverständnis hervorrufen. Gemeint sind:a) die Kräfte, die ihre unmit-telbare Umgebung und die „weite große Welt draußen“ mit der euro-zentristischen Brille (Eurozentrismus!) wahrnehmen und b) die, die in der alt her-gebrachten Denkform des „Block- und Lagerdenkens“ verharren.

ad a) Der arabische Frühling hatte auch zur Folge, dass es in den linken Kreisen verstärkt zu Diskussionsrunden, Kundge-bungen und Solidaritätsveran-staltungen mit den Völkern der Region kam. Viel zu oft wur-den solche und ähnliche Fra-gen gestellt: Wem soll man denn da helfen? Dort kämpft doch jeder gegen jeden! Wie soll mensch helfen? Wen er-reicht die Hilfe? Ist es sicher, dass die Richtigen die Hilfe er-halten?

Diese Art von Einstellung zur „Hilfeleistung“ sieht die Welt von oben herab, ist–- trotz guter Absichten – reali-tätsfern, bemüht sich nicht, mit der komplexen Problematik vertraut zu werden, lässt jegli-che Ähnlichkeit mit linker, so-zialistischer und revolutionärer Solidaritätskultur vermissen und erinnert an kirchlich und staatlich organisierte Hilfsak-tionen, die ihre Gemeinde und Bürger aufrufen, den Armen und Bedürftigen dieser Welt zu „helfen“.

Hilfe, wie internationalis-tische Solidarität sie versteht, ist in erster Linie Hilfe zur Selbsthilfe, gegenseitige Hil-fe und Unterstützung zur Be-kämpfung des gemeinsamen Feindes. Die Kräfte, die von den Metropolen aus den unter-drückten Völkern dieser Welt helfen wollen, haben zunächst die Aufgabe, sich Gedanken zu machen und Fragen wie die folgenden zu stellen: Welche Ursachen und Fakten sind für die miserable wirtschaftliche Lage in der Peripherie verant-wortlich zu machen? Die Re-gisseure agieren normalerwei-se nicht auf der Bühne oder Leinwand. (sic!) Welche „Re-gierollen“ spielen also (sic!) die „westlichen Demokratien“ bei dem Zustandekommen der Dramen in der „3.Welt“? Der links und kritisch eingestell-te Mensch, wenn denn dieser linken und kritischen Einstel-lung auch Taten folgen sollen, steht vor der Aufgabe, diesen scheinbaren Widerspruch und die merkwürdige Metamor-phose zu begreifen und in der Lage zu sein, sie zu erklären. Wie kommt es, dass die „De-mokratien“ hier in den kapita-listischen Metropolen sich dort in der „3.Welt“ als „Helfer“, Berater und Komplizen der Diktatoren und Massenmörder entpuppen?

Wie erwähnt ist der arabische Frühling der vorläufige Höhe-punkt der Kämpfe, die die Völ-ker der Region seit Jahrzehnten objektiv für grundlegende Ver-änderungen führen.

Die „Großmächte“ sind da-ran interessiert, dass der Status quo in der Region aufrechter-halten bleibt. Dies ist die eine Seite der Realität. Die andere Seite ist, was die kapitalistisch geführten und gelenkten Me-dien daraus machen und in der „Heimat“ wiedergeben. Einem „ungeschriebenen Gesetz“ fol-gend erfüllen sie den Auftrag, ihren Konsumentinnen und Konsumenten die imperialis-tische Einmischungspolitik in die Wirtschaft, Politik, Kul-tur der unterdrückten Völker

als „Entwicklungshilfe“ und „Technische Zusammenarbeit“ zu verkaufen.

Wenn von dem Raub an den Naturressourcen und der Aus-beutung der menschlichen Ar-beitskraft der imperialistischen Länder in der „3. Welt“ abge-sehen wird und ihre so oft ge-priesene „Entwicklungshilfe“ in den Mittelpunkt der Auf-merksamkeit gestellt wird, dann sind folgende Berichte von höchst offiziellen und ver-antwortlichen Stellen bezeich-nend für ihre Politik in den „Entwicklungsländern“:

„Verschiedene voneinan-der unabhängige UNO-Gre-mien und Kommissionen stell-ten bereits vor Jahren fest, Ent-wicklungspolitik, wie sie kon-zipiert sei und praktiziert wer-de, mache die Geberländer rei-cher und die Nehmerländer är-mer. […]

In einem anderen UNO-Be-richt hieß es unmissverständ-lich: „Die Kapitalzufuhr aus den Industrieländern in die ‚3. Welt‘ steht einem erheblichen Kapitalabfluss aus der ‚3.Welt‘ in die Industrieländer gegen-über.“1

Es dürfte klar geworden sein, dass die Medien über die „Ent-wicklungshilfepolitik“ der Me-tropolen (Industrieländer) ge-genüber der Peripherie (Ent-wicklungsländer) manipulie-rend und mit Halbwahrheiten berichten. Den medialen Teu-felskreis zu durchbrechen, sich mit den bestehenden Verhält-nissen erst „hier“ und dann „dort“ auseinanderzusetzen, sich zu bemühen, eine „Ge-genöffentlichkeit“ zu schaffen, die ihr Recht auf Meinungs- und Informationsfreiheit ernst nimmt und sich gegen den Missbrauch dieser Rechte zur Wehr setzt – dies alles wäre für den linken und frei denken-den Menschen mit eurozentris-tischen „Resteinflüssen“ eine interessante Aufgabe und ein entscheidender Schritt in Rich-tung Hilfe und Unterstützung für die Kämpfe der unterdrü-ckten Völker.

ad b) Das „Blockdenken“ ist eine politische Strömung, die als Erbe aus der Zeit des Ost-West-Konflikts übrig geblie-ben ist. Die VertreterInnen und VerfechterInnen des „Block-denkens“ verharren auf einem (sic!) Standpunkt, der sich vor der (sic!)Veränderung der Zeit blind stellt und jede „antiwest-liche Haltung“ für (sic!) „an-tiimperialistisch“ und deshalb für (sic!) unterstützungswürdig hält. Diese Einstellung rührt aus der bedingungslosen Ge-folgschaft gegenüber der groß-en „Bruder-Partei“ her und hat vor und nach der „Wende“ im Befreiungskampf der Völker Afrikas, Lateinamerikas und der Nah-Ost-Region erheb-lichen Schaden angerichtet.

Beispielhaft soll dies an Worten und Taten der ira-nischen „Blockdenker_innen“ sowie der hiesigen Unterstüt-zer des Assad-Regimes ver-deutlicht werden: • Als zu Beginn der 80er Jah-

re endgültig klar war, dass das „neu“ konstruierte isla-mische Regime durchaus in der Lage war, der iranischen Februarrevolution von 1979 buchstäblich den Kopf ab-zuschlagen;

• als die gerade zu diesem Zweck auf den Plan geru-fene Wächtermiliz (Pasda-ran) innerhalb der Gefäng-nisse und auf offener Straße damit beschäftigt war, mit der Ermordung von Zehn-tausenden revolutionären iranischen Frauen und Män-nern die iranische Revoluti-on zu Grabe zu tragen;

• als die Imperialisten und Reaktionäre dieser Welt zu-frieden auf die Ereignisse in Iran schauten und sich über-zeugen konnten, dass von Iran „keine Gefahr“ mehr ausging, folgte gerade in dieser Zeit die iranische Va-riante des „Blockdenkens“ (Tudeh-Partei und Fedayin-Mehrheit) der Einschätzung der damaligen Sowjetunion und behandelte das Regime von „Imam-Khomeini“ als „antiimperialistisch“. Sie gingen soweit und schrie-

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ben in ihren diversen Schrif-ten, die islamische Regie-rung möge die „Brüder Pas-daran“ im Kampf gegen die Konterrevolution mit schweren Waffen ausrüsten.

Nun, 30 Jahre danach, ist das damalige Blockszenario obso-let. Wenn in der heutigen Welt von „Blöcken und Bündnis-sen der Weltmächte“ die Re-de ist, dann sind es allesamt kapitalistisch-imperialistische Allianzen, die um die Beherr-schung der Naturressourcen und um den Erhalt bzw. die Er-weiterung von Einflussgebie-ten miteinander kooperieren oder gegeneinander konkurrie-ren.

Russland und China stel-len sich heute der imperialen Politik der USA und der EU-Staaten in der Region entge-gen und versuchen dabei, be-stimmte Länder in der Region im eigenen Interesse zu beein-flussen. Wenn es im kapitalis-muskritischen Spektrum „lin-ke Kräfte“ gibt, die den rus-sischen oder chinesischen „Be-mühungen“ in der Region „an-tiimperialistische Züge“ abge-winnen wollen, dann haben sie weder von der Geschichte ge-lernt noch begreifen sie die ak-tuelle Situation der heutigen Welt. Die Innenpolitik der rus-sischen und chinesischen Re-gierungen zeigt, dass sie kor-rupt sind, diktatorisch regieren und die Interessen der eigenen Bevölkerung mit Füßen treten. Wie kann dann angenommen werden, dass sie sich für das Schicksal fremder unterdrü-ckter Völker interessieren und sich für sie „einsetzen“?

Die iranischen „Blockden-ker“ und ihre internationalen Verbündeten haben vor 30 Jah-ren wegen fehlender Erfahrung und ohne Rücksicht auf beste-hende Verhältnisse ein Regime für „antiimperialistisch“ ge-halten, das es nicht war. Heu-te liegen unbestreitbare Daten und Fakten als Ergebnis der Herrschaft des islamischen Re-gimes vor. Wer die Augen da-vor schließt, handelt aus „ide-ologischen Zwängen“ und wie-

derholt die Fehler der Väter.Die iranischen „Blockden-

ker“ machen diese Befürch-tungen wahr und setzen die

von ihnen selbst begangenen Fehler weiter fort. Als vor ge-nau 3 Jahren im Sommer 2009 Tausende Iranerinnen und Ira-ner die „Wahlbetrugsaffäre“ zum Anlass nahmen und wo-chenlang auf den Straßen ira-nischer Städte „Tod dem Dik-tator“ und „iranische Republik statt islamische“ riefen, erklär-ten die „Tudeh-Partei“ und die „Fedayin-Mehrheit“, sie un-terstützten die „Reformkräf-te“ unter Moussawi und Ka-roobi. An der Spitze der is-lamischen Republik tobt seit Jahren ein erbitterter Macht-kampf und die Flügelkämpfe sind zu einem weiteren Läh-mungsfaktor innerhalb des Regimes geworden. Moussa-wi als ehemaliger Minister-präsident und Karoobi als ehemaliger Parlamentspräsi-dent werfen der herrschen-den Fraktion Abweichung von der „wahren islamischen Li-nie des Imams“ vor und er-klärten während der Unruhen, sie wollen „zum Goldenen Zeitalter der Anfänge der is-lamischen Republik“ zurück, wo Moussawi eben Minister-präsident war. Mit ihrer Stel-

lungnahme zeigen „Tudeh-Partei“ und „Fedayin-Mehr-heit“ wie weit sie der Demo-kratiebewegung hinterherhin-

ken und, wenn es einmal da-rauf ankommt, wo sie stehen. Sie „handeln“ wie die höch-sten ehemaligen und jetzigen Kader des Regimes und treten für „Reformen“ von oben ein, die für das Überleben des Re-gimes notwendig sind!

Ein Blick auf die wich-tigsten Lebensbereiche der iranischen Gesellschaft soll zeigen, wie die politische Herrschaft „funktioniert“, welche Folgen sie den Völkern Irans gebracht hat und für den „Erhalt“ welcher Verhältnisse sich die iranischen „Block-denker“ einsetzen:

Im 33. Jahr der islamischen Republik in Iran herrscht dort eine sich religiös legitimieren-de Diktatur, die die Inquisition des Mittelalters in den Schat-ten stellt. Wegen politischer Gesinnung, gewerkschaft-licher Aktivität, Zugehörig-keit zu einer anderen Religion oder „Nicht-Beachtung isla-mischer Kleidervorschriften“ werden Frauen und Männer willkürlich auf offener Stra-ße, im Betrieb, in der Schule aber auch zu Hause verhaftet und ins Gefängnis geworfen.

In den überfüllten Gefängnis-sen sitzen politische Gefange-ne, Aidskranke, Drogenabhän-gige und Kriminelle in Zellen

dicht gedrängt nebeneinander. Um Angst und Schrecken zu verbreiten, greifen Schergen des Regimes fast täglich un-schuldige Frauen und Män-ner heraus, verurteilen sie im Minutentakt zu Tode und rich-ten sie öffentlich gruppenwei-se hin.

Neben der physischen Ver-nichtung der Menschen ist die Zerstörung der iranischen Wirtschaft gravierend. Noch nie in seiner modernen Ge-schichte war Iran vom Im-port von Waren des täglichen Bedarfs so abhängig wie heu-te. Davon ist im traditionellen Agrarland Iran besonders die Landwirtschaft betroffen. We-gen Misswirtschaft, Korrupti-on und Vetternwirtschaft müs-sen heute die wichtigsten Nah-rungsmittel wie Weizen, Reis, Fleisch, Molkereiprodukte eingeführt werden. Würden die „segensreichen“ Petrodol-lars aufhören zu fließen, die die kostspieligen Importe aus Asien, Europa und dem fer-nen Süd- und Mittelamerika ermöglichen, würde in großen Teilen der iranischen Bevölke-rung Hungersnot ausbrechen.

hezbollah-demonstration in Beirut

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Bereits heute sind Mange-lernährung und Unterversor-gung in Iran ein ernsthaftes ge-sellschaftliches Problem. Im Frühjahr 2012 mussten die of-fiziellen iranischen Stellen öf-fentlich gestehen, dass Preis-steigerung und Inflationsrate zwischen 30% und 100% lie-gen, dass 40% der iranischen Bevölkerung unter dem Exi-stenzminimum leben und die Arbeitslosigkeit bei ca. 25% liegt. Wohl gemerkt: dies sind von der Zensur freigegebene Zahlen. Die Realität sieht viel düsterer aus.

Auch kulturell fügt die is-lamische Herrschaft der ira-nischen Gesellschaft bleibende Schäden zu. Besonders betrof-fen sind davon die iranische Jugend und die Frauen. Religi-öser Aberglaube und Wunder-geschichten, die den Geist be-nebeln und dem Menschen jeg-liche eigene Kreativität neh-men, werden staatlich geför-dert und sind längst als Unter-richtsstoff in den Schulbüchern zu finden.

Frauen sind in Iran rechtlich halb so viel „wert“ wie Män-ner, Polygamie (mit bis zu vier „offiziellen“ Frauen) und sog. „Zeitehen“ sind in Iran „gel-tendes Recht“! In fast jeder iranischen Stadt gibt es „Zeit-Ehen-Institute“, die unter Lei-tung eines Mullahs „arbeiten“. Frauen bieten sich dort aus Not zum Verkauf an und wer-den von einem Geistlichen für Stunden oder Tage „verehe-licht“. Auf diesen kulturellen Anachronismus und staatliche sanktionierte Prostitution ist wohl zurückzuführen, dass die iranische Jugend und Frauen bei allen Protestaktionen ge-gen das Regime an der vor-dersten Front stehen und den Gedanken der Ablehnung und des Widerstands immer tief-er in die iranische Gesellschaft tragen.

Nicht nur die iranischen Völker lehnen aufgrund der bit-teren Erfahrung das islamische Regime objektiv ab und kämp-fen für seine Beseitigung. So-gar die sehr liberale und sehr parlamentarisch eingestell-

te iranische Opposition vertritt seit Jahren die Meinung, das is-lamische Regime sei nicht „re-formfähig“ und bei den Strei-tigkeiten an der Regimespitze gehe es nicht um „Reformen“, sondern um Machtkämpfe ver-schiedener Fraktionen. Wel-che Positionen die iranischen „Blockdenker“ „Tudeh-Partei und Fedayin-Mehrheit“ bezie-hen, welche Ansichten sie ver-treten, ist klar; vor 30 Jahren unterstützten sie die „antiim-perialistische Linie des Imam Khomeini“, heute treten sie mit Teilen des Regimes für „Re-formen“ von oben ein. Sie ge-hören zu den das Regime er-haltenden Kräften und ste-hen nicht auf der Seite der ira-nischen Völker. Gefragt sind nun ihre internationalen – deut-schen – Verbündeten; sie müs-sen sich und den anderen die Fragen beantworten: Wie funk-tioniert ihr „Solidaritätsver-ständnis“; auf welcher Seite der Geschichte und der Gegen-wart stehen sie?

Noch ein Wort zur Außen- und Atompolitik des islamischen Regimes:

Die Hintergründe der aktu-ellen Präsenz und der zukünf-tigen Ambitionen der imperia-listischen Diplomatie und Mi-litärpolitik am Golf sind wie folgt zu beschreiben:

Die USA und ihre EU-Ver-bündeten stehen heute mit ei-ner riesigen See- und Luft-streitmacht am Golf „Ge-wehr bei Fuß“. Weiter lassen die USA Gerüchte und Wahr-heiten darüber verbreiten, dass ein „Regime-Wechsel“ in Iran in Vorbereitung sei. Wenn Im-perialisten unliebsame Regie-rungen stürzen, Putsche in-szenieren oder fremde Länder überfallen wollen, erzählen sie nicht jahrelang darüber. Sie tun es!

Die westliche Kriegsma-schinerie ist aus anderen Grün-den am Golf stationiert.

Vor ca. 10 Jahren fabrizierte die US-Regierung ein Lügen-märchen und behauptete, das Saddam-Regime in Irak sei dabei „Massenvernichtungs-

waffen“ zu bauen und bedro-he damit Israel und die west-liche Welt. Gestützt auf diese Lüge haben die USA und ih-re Verbündete Irak überfallen, mehrere 10  000 irakische Zi-vilisten ermordet, die gesamte Infrastruktur eines Landes, die zu den modernsten in der Regi-on zählte, zerstört und die ira-kischen Ölquellen unter ihre Kontrolle gebracht. Über die bestehenden Öl-Lieferverträ-ge, die das irakische Regime mit Russland und China hat-te, äußerten sich die US-Gene-räle nach dem „erfolgreichen“ Krieg so: „Die Russen und die Chinesen können die Verträge wohin stecken.“

Heute, zehn Jahre nach dem irakischen Desaster, sind Chi-na, Russland und andere auf-strebende asiatische Mächte (z. B. Indien) stärker als je zu-vor in der Region aktiv und set-zen unverkennbare politische Akzente.

Die chinesische Wirtschaft überflutet seit Jahren den ira-nischen Markt mit Billigwa-ren, unterhält mit dem Tehe-raner Regime engste Bezie-hungen und schließt mit Iran Milliarden schwere Ölverträ-ge ab. Deshalb unterstützt Chi-na gemeinsam mit Russland das Regime in Teheran diplo-matisch, was von den Westim-perialisten als Störung wahrge-nommen wird. China und an-dere asiatische Mächte befin-den sich erst am Anfang ihres „Nahostabenteuers“. Sie wol-len noch mehr Markt, noch mehr Einfluss und noch mehr Naturressourcen. Die Militär-präsenz der USA und der füh-renden Staaten der EU ist al-so eine Reaktion darauf, eine Warnung an die chinesische, russische und andere Konkur-renz, die lautet: Bis hierher und nicht weiter!

Ein Blick auf syriEn

Gegenwärtig (Sommer 2012) deutet alles darauf hin, dass sich in Syrien nach einem Sturz des Assad-Regimes ein weiteres fundamentalistisches Regime etablieren wird, wenn

es denn überhaupt in abseh-barer Zeit zu einem Ende des Bürgerkriegs kommt. Zwei-fellos werden bei einem sol-chen „Regime-Change“ in die-sem Land religiöse und eth-nische Konflikte zunehmen. Und damit einhergehend wird es auch sozial und kulturell be-deutsame Rückschritte geben (nicht zuletzt was die Stellung der Frauen in der Gesellschaft angeht).

Eine solche Perspektive darf aber humanistisch und internationalistisch (und erst recht sozialistisch) eingestell-te Menschen und politische Kräfte nicht dazu verleiten, die Augen vor den Verbrechen des Assad-Regimes zu schlie-ßen und darüber kein Wort zu verlieren, so wie dies seit An-fang des offenen ausgebro-chenen Konflikts die Tages-zeitung junge Welt tut. Sie be-richtet praktisch ausnahmslos über die Verbrechen der Re-bellentruppen (die es ohne je-den Zweifel gibt!). Aber auf-grund ihres „Lagerdenkens“ berichtet die junge Welt-Re-daktion an keiner Stelle über die jahrzehntelangen Verbre-chen sowie die gewaltige Kor-ruption des Assad-Regimes. Auch die seit knapp zehn Jah-ren betriebene neoliberale Umgestaltung der Wirtschaft mit ihren verheerenden Fol-gen der Verelendung ärmerer Bevölkerungsschichten wird ausgespart. All dies bildete aber überhaupt erst die Grund-lage dafür, dass fundamentali-stische Kreise diesen Zulauf, ja Massenanhang gewinnen konnten und weiter gewinnen.

Seit Ende der 70er Jahren haben die verschiedenen Ge-heimdienste des Assad-Clans (zunächst unter Hafiz al Assad dann unter seinem Sohn Bas-har) Zehntausende (vornehm-lich linke) Regime-Kritiker inhaftiert und gefoltert, von der gewaltsamen Niederschla-gung der Revolte in Homs 1982 mit Tausenden unschul-diger Opfer ganz zu schwei-gen. In der jungen Welt uner-wähnt bleibt auch die brutale Härte, mit der das Assad-Re-

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gime seit anderthalb Jahren bei der Jagd auf „Terroristen“ ganze Stadtviertel dem Erdbo-den gleichmacht.

Das Lager-Denken funkti-oniert so: Das Assad-Regime ist dem Imperialismus nicht ganz genehm, es ist kein er-klärter Verbündeter der USA. Hinzu kommt, dass es von Russland gefördert wird, al-so einem Land, das ebenfalls gegen die USA eingestellt ist (und vielleicht nach Einschät-zung der junge Welt-Redak-teure noch Restbestandteile ihrer früheren „progressiven“ Rolle auf der internationalen Bühne in sich trägt?). Deshalb muss das syrische Regime fortschrittlich sein. Es muss also gegen alle Feinde unter-stützt werden, und zwar kritik-los! Lagerdenken in der übels-ten Form.

Diese Blindheit vor den Folgen unterdrückerischer Po-litik (ganz gleich unter wel-chem Namen und mit welcher vorgeschobenen Ideologie sie begründet wird) vernebelt die Sicht auf politische Zusam-menhänge und fördert damit indirekt (wenn auch natürlich unfreiwillig) die politische Stärkung pro imperialistischer und/oder fundamentalistischer Strömungen.

In einem weiteren Sinn ist die „Regime-Change-Strategie“ ein Ass, das die US- und EU-Imperialisten stets im Ärmel haben:

Im Falle des iranischen Re-gimes steht definitiv fest, dass das Regime politisch, wirt-schaftlich, moralisch und kul-turell gescheitert ist. Eine über 90%ige Mehrheit der ira-nischen Bevölkerung lehnt es ab und sehnt sein Ende lie-ber heute als morgen herbei. Die „zuständigen Kreise“ in den Hauptstädten der west-lichen Metropolen wollen, dass der „Regimewechsel“ – wenn er kommt – nicht von unten kommt, sondern von oben gelenkt, „geordnet“ und von außen kontrolliert vor sich geht. Dafür sorgen sie im Vo-raus, indem sie eine „brave

und zahme Opposition auf-bauen“. Konkret sieht der „Plan“ so aus: Diverse mo-narchistische Gruppierungen, sog. „islamische Oppositio-nelle“, die zum größten Teil bis vor Kurzem noch als Pas-daran oder Abgeordnete hohe Funktionäre des islamischen Regimes waren (wie „Ganji“, „Sazegara“ Frau „Haghigh-

atjoo“, „Eshkavari“ ...) und nun dem Regime den Rücken gekehrt haben, Liberale so-wie ehemalige „linke“ Kräf-te, die nun zur „Vernunft“ ge-kommen sind, stehen offiziell und „legal“ auf der Gehaltsli-ste von CIA und anderen west-lichen Geheimdiensten. Satel-liten gestützte Fernsehkanäle, die ihnen zur Verfügung ste-hen, versetzen sie in die Lage, die iranische Bevölkerung in Iran und in der Diaspora rund um die Uhr zu erreichen.

Diese Gruppierungen ha-ben trotz Scheinunterschieden etwas gemeinsam: Sie glauben nicht an das iranische Volk als eine selbstständige Kraft im politischen Kampf. Sie wol-len – so schnell wie möglich!

– das islamische Regime in Iran beerben, und auf diesem Weg ist ihnen jede Art „west-licher Hilfe“ willkommen. Dies ist eine Variante der „Re-gime-Change-Strategie“, die von den westlichen Imperia-listen allgemein und den USA besonders für den „Tag X“ in Iran favorisiert wird.

Ein anderer Punkt, der in

der Außen- und Innenpolitik der islamischen Republik zu-mindest propagandistisch ei-ne zentrale Rolle spielt, ist die sog. „iranische Atompolitik“. Die mediale Ausschlachtung der Atomproblematik, die von der „internationalen Staaten-gemeinschaft“ und dem isla-mischen Regime gleicherma-ßen missbräuchlich betrieben wird und sogar kritisch inte-ressierte Menschen zu fal-schen Schlussfolgerungen verleitet, macht einen kleinen diesbezüglichen Exkurs am Ende der Arbeit notwendig.

Doch zunächst eine grund-sätzliche Klarstellung: Jeder souveräne Staat dieser Welt hat das Recht, das Wissen über die Atomtechnologie zu er-

werben und sie zu friedlichen Zwecken einzusetzen. Kei-ner Groß- und Supermacht, wie groß sie auch ist, wie viel Atombomben sie auch besitzt und wie viel Gewicht ihr „Ve-torecht“ in der längst reform-bedürftigen UNO-Organisa-tion auch hat, steht das Recht zu, dem Rest der Welt vorzu-schreiben, wer wie viel Atom-

technologie haben darf und wer nicht. Übrigens ein wich-tiger Beitrag zur Entschär-fung des „Atomkonflikts“ und zur Reduzierung der atoma-ren Bedrohung wäre, wenn die fünf „Atommächte“ (USA, Russland, China, Großbritan-nien, Frankreich) mit anderen Atombombenländern (Israel, Indien, Pakistan.) ihre Nukle-ararsenale unter der Kontrolle einer internationalen und un-abhängigen Kommission ver-schrotten würden. Dies würde die Welt sicherer machen und die „Schurkenstaaten“ davon abhalten, an der Bombe zu ba-steln.

Nun aber ein Blick auf den „iranischen Atomkonflikt“, der von den beiden Seiten miss-

irak: demo für al-sadr

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braucht und instrumentalisiert wird.

Die islamische Republik ist aus sehr realen und prak-tischen Gründen unglaubwür-dig, wenn sie behauptet, sie baue die Atomtechnologie aus-schließlich zu wissenschaftli-chen Zwecken aus und wolle sie friedlich und im Sinne des gesellschaftlichen Fortschritts einsetzen. Dieses Regime be-trachtet und behandelt jeden Gedanken, jede Idee, die sich außerhalb der schiitisch-fa-schistischen Staatsdoktrin be-wegt, als „Sünde“ und bestraft die TrägerInnen solcher Ideen wie Schwerverbrecher. Die-ses Regime hat aufgrund sei-ner Feindschaft zur Moder-ne, seiner ideologischen Rück-wärtsgewandtheit und zum Himmel schreiender Korrupti-on in keinem Bereich der ira-nischen Wirtschaft, Landwirt-schaft oder des Handwerks ir-gendeinen Schritt nach vorn vorzuweisen, sondern Berge von Zerstörung und Konkurs hinterlassen. Wie kann so ein Regime glaubhaft erscheinen, wenn es behauptet, in einem sehr speziellen, sehr modernen und sehr aufwendigen Wis-sensgebiet im Sinne des wis-senschaftlichen Fortschritts und im Interesse des iranischen Volkes handeln zu wollen?

Folgende Beweggründe scheinen eher die treibende Kraft bei der „Atompolitik“ der islamischen Republik zu sein:

Die immer dünner wer-dende Anhängerschar im Land und im schiitisch-islamischen Ausland bekommt durch den „Atomstreit“ ein gutes Propa-gandafutter, diesmal nicht re-ligiös-gottesfürchtig gekleidet, sondern geschmückt mit mo-derner Technik und Wissen-schaft. Außerdem kann das Re-gime seinen Anhängern vor-machen, es sei stabil, biete ei-nigen Großmächten die Stirn und werde von anderen unter-stützt.

Und schließlich dient dem islamischen Regime die Atom-frage als eine „echte“ Drohku-lisse gegenüber dem inneren

Feind (dem iranischen Volk, das lieber heute als morgen sein Ende herbeisehnt) und den äußeren Widersachern (all den-jenigen, die am Plan „Regime-Change“ arbeiten). Hier unter-scheidet sich das in Iran herr-schende Regime von anderen diktatorisch regierenden Re-gimes kaum. Sie schrecken vor nichts zurück, wenn es um ihre Existenz geht!

Wie das islamische Regime missbrauchen die USA und die EU-Staaten die Frage der „iranischen Atompolitik“. Mit ihrer Macht und ihrem Ein-fluss peitschen sie eine Reso-lution nach der anderen durch die UNO-Gremien. Mit ihren „Sanktionen“ bestrafen sie in erster Linie nicht das Regime, sondern die sowieso politisch und wirtschaftlich in Bedräng-nis geratene iranische Bevöl-kerung mit der Absicht, sie ge-fügig und mürbe zu machen für spätere „Maßnahmen“, die von den „westlichen Ländern“ kommen könnten. Einen in-nenpolitischen Nutzen zu Hau-se in den Metropolen hat das „iranische Atomproblem“ für die Imperialisten auch. Die Medien sorgen dafür, dass die Aufmerksamkeit der Öffent-lichkeit auf den „Atomstreit“ gelenkt wird. Die Iran-Proble-matik wird reduziert auf die „Atomfrage“. Der Mensch als Medienkonsument in den ka-pitalistischen Metropolen wird darauf vorbereitet, sich all-mählich bedroht zu fühlen, vor dem „Verrückten mit der Bom-be“ in der Hand und Verständ-nis aufzubringen für die „Ein-dämmungsmaßnahmen“ ihrer Länder.

Die sog. „Atompolitik“ des Regimes der islamischen Re-publik steht neben dem politi-schen Missbrauch, der, wie ge-zeigt wurde, von beiden Seiten massiv betrieben wird, auch energietechnisch und wirt-schaftlich den Interessen der iranischen Völker diametral entgegen.

Energietechnisch ist sie sinnlos. Iran gehört seit Jahr-zehnten zu den ersten drei bis vier wichtigsten Energielie-

feranten (Erdöl/Erdgas) der Welt. Bei dem absehbaren En-de der Erdöl- und Erdgasre-serven sollte das Land auf sei-ne riesigen Möglichkeiten wie Sonne und Wind zurückgrei-fen und nicht auf Atomener-gie setzen, die wegen der ho-hen Risikofaktoren die Gegen-wart längst verloren und abso-lut keine Zukunft hat.

Wirtschaftlich ist sie schäd-lich. Die Völker Irans sind bis heute die größten Verlierer bei diesem „Geschäft“. Während für strukturelle Bedürfnisse des Landes das Geld fehlt, wird die europäische, russische und asiatische Atomindustrie mit-tels Kauf von Know-how und Ausrüstungsgütern mit Milli-arden Dollar aus der iranischen Staatskasse bedient.

aBschliEssEndE WortE

Der vorliegende Text versteht sich als ein Beitrag, der auf die Ursachen des islamischen Fun-damentalismus und die daraus resultierenden Konsequenzen in unserer Zeit aufmerksam machen möchte. Folgende As-pekte der Problematik waren Gegenstand der Erörterung:

Der religiöse Fundamenta-lismus ist eine Reaktion auf die Moderne, drückt Ängste und Unsicherheiten aus, versucht erst die Mitglieder der religi-ösen Gemeinde und später ver-unsicherte oder benachteiligte Teile der Gesellschaft zu alten „Werten und Wurzeln“ zurück-zuführen, also eine rückwärts-gewandte erst religiöse später politische Bewegung..

In den Ländern mit musli-mischer Bevölkerungsmehr-heit ist die Erfahrung mit der Moderne objektiv und materi-ell negativ.

Das Ziel fundamentalisti-scher Bestrebungen ist keine Veränderung und Verbesserung bestehender Verhältnisse, son-dern Beteiligung bzw. Erobe-rung der politischen Macht.

Der Kampf der Völker der Region hat historisch eine Pha-se erreicht, in der sie täglich lernen, dass ihr Kampf eine

kulturell-demokratische Kom-ponente hinzugewonnen hat und dass die Trennung von Staat und Religion eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Errichtung eines demo-kratischen Staates ist.

Die imperialistische Einmi-schung führt – neben verhee-renden wirtschaftlichen Fol-gen – zur Schwächung der De-mokratiebewegung und stärkt konservativ-reaktionäre Kräfte.

Der arabische Frühling ist ein neuerlicher Beleg dafür, dass der Kampf der unterdrü-ckten Völker historisch gerecht ist, den gemeinsamen Feind der Demokratie, des Fort-schritts und des Friedens, d. h. das global herrschende Kapital, an seinem schwächsten Glied trifft und deshalb internationa-le Solidarität verdient. Erfreu-licherweise gibt es auch in den kapitalistischen Metropolen wertvolle Unterstützung, die im Sinne der Völkerverständi-gung und internationaler Soli-darität geleistet wird. Innerhalb der linken und fortschrittlichen Kräfte sind auch Überreste von Denkformen und Strömungen anzutreffen, deren „Solidari-tätsverständnis“ sich entwe-der im überheblich-kapitalis-tischen oder im von der Zeit längst überholten „linken“ Rahmen bewegt. Gemeint sind a) der „Eurozentrismus“ und b) das sog. „Blockdenken“. Wenn die Erstgenannten sich von der westlich-kleinbürger-lichen Vorstellung von „Hil-fe“ und Letztere sich von dem veralteten „östlichen“ Welt-bild nicht lossagen, bleiben sie weiterhin weit davon entfernt, bei der Erfüllung der internati-onalistischen Aufgaben einen sinnvollen Beitrag zu leisten.

August 2012

*Ali Behrokhi gehört der unabhän-

gigen linken iranischen Opposition

im Exil an.

1 Vgl. Nuscheler, Franz, Lern- und Arbeitsbuch Entwicklungspolitik, 4. Aufl., Bonn, 1995, S. 43 ff.

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SpaniScher Staat

SpaniScher StaatSpanischer Staat – Soziale Krise und nationalitätenfrageanderthalb Millionen Demonstrantinnen am 11. September in Barce-lona und hunderttausende vier tage später in Madrid: der von der Wirtschaftskrise tief gebeutelte spanische Staat wird durch soziale und nationale Widersprüche erschüttert.

Lluís rabell

Selbst die optimistischsten Prognosen der Organisatoren wurden damit weit übertroffen, ebenso die der konserva-tiv-nationalistischen Regierung Kata-loniens. Deren Versuch, sich mit den Meriten dieser erfolgreichen Demons-tration zu schmücken, sollte einerseits über die eigene Verantwortung der Ge-neralitat für die Austeritätspolitik, die mit gleicher Härte und im Gleichklang mit der Zentralregierung geführt wird, hinweg täuschen und zugleich den Spielraum bei den Budgetverhandlun-gen mit der Regierung unter Mariano Rajoy erweitern.

Am Ende waren es wahre Men-schenfluten, die sich am 11. September in die Straßen Barcelonas ergossen, um die „Unabhängigkeit“ einzufordern. Die Diada, der Nationalfeiertag zur Er-innerung an den Fall der Hauptstadt Barcelona im Jahr 1714, geriet dies-mal zu einem historischen Schauspiel. Einerseits wegen der riesigen Teilneh-merzahl, andererseits wegen der noch nie dagewesenen Entschiedenheit, mit der für eine Sezession vom spanischen Staat eingetreten wurde: „Katalonien – ein neuer Staat Europas“.

Aufgerufen von den Gewerkschaf-ten und zahlreichen sozialen Organisa-tionen demonstrierten Hunderttausen-de von Menschen gegen den sozialen Kahlschlag der rechten PP-Regierung, deren Kehrseite die Bankenrettung ist, die die Last auf den Schultern der ar-beitenden Klassen noch vergrößert und die wirtschaftliche Rezession weiter verschärft. Die offizielle Bitte um eine neue Finanz“hilfe“ und damit um ei-ne generelle „Rettung“ Spaniens ver-sucht die Regierung noch hinauszuzö-gern, um ihre Wirtschaftspolitik nicht der offenen Kontrolle durch die Troika unterstellen zu müssen. Ins Haus ste-

hen Wahltermine, die für die spanische Rechte wenig Gutes verheißen: Regio-nalwahlen im Baskenland und in Ga-lizien Ende Oktober und die politisch hochbrisanten, vorgezogenen Neu-wahlen in Katalonien Ende November.

Der Spielraum für kalendarische Tricksereien wird für die Regierung indes immer enger. Im Oktober wird die Rückzahlung von über 30 Milliar-den Euro an – vorwiegend europäische – Gläubiger fällig, und mangels Li-quidität ist Spanien gezwungen, seine Schulden zu horrenden Zinsen zu refi-nanzieren. Diese auf Dauer unhaltbare Verschuldung bereitet im Alltag ange-sichts des Missmuts unter der Bevöl-kerung zunehmende Probleme. Wirt-schaftsminister De Guindos muss-te sich gegenüber seinen europäischen Amtskollegen dazu verpflichten, wei-tere Einschnitte bei den Staatsausgaben vorzunehmen, die bekanntlich diesmal die Rentenkassen betreffen werden.

Auch wenn sie vor einer tatsäch-lichen Konfrontation zurückschre-cken, kamen die beiden großen Ge-werkschaften Comisiones Obreras und UGT in Madrid nicht umhin, einen neuen Generalstreik anzudrohen. Die Gewerkschaftslinke hat bei den Mobi-lisierungen gemeinsam mit Umweltor-ganisationen und der radikalen Linken, darunter Izquierda Anticapitalista, eine solche Aktion unter Einbeziehung al-ler Kräfte gefordert. Und ein weiterer Angriff auf das Rentensystem würde unweigerlich zu diesem Generalstreik führen – bereits der zweite, den die seit weniger als einem Jahr amtierende Re-gierung Rajoy hinnehmen müsste. Hin-zu kommen sektorielle Arbeitskämpfe, etwa im Schulwesen (in Katalonien be-gann das Schuljahr mit 30 000 zusätz-lichen Schülern und 3 000 Lehrkräften

weniger!) oder bei der Eisenbahn und im öffentlichen Verkehrswesen in Ma-drid und Barcelona, wo es gegen Lohn-kürzungen und Privatisierungen geht. An Spaniens Himmel dräut ein sozialer und politischer Gewittersturm.

Die komplexe NatioNali-täteNfrage

Die Wirtschaftskrise fällt zusammen mit der Krise eines politischen Systems und eines Staates, deren Fundament die ungleichen Beziehungen zwischen den verschiedenen Nationalitäten auf der iberischen Halbinsel sind. Ein paar Zahlen, um die Tragweite der Rezessi-on, die auf dem Land lastet, zu ermes-sen! Nach Prognosen der Unternehmer wird die Arbeitslosenzahl im kommen-den Jahr bei sechs Millionen liegen und damit bei über 26 % der erwerbsfähi-gen Bevölkerung. Unter der Jugend be-trägt die Arbeitslosenquote bereits heu-te über 55 %. Diese schwindelerregen-den Zahlen zeugen vom Zusammen-bruch eines ganzen Wirtschaftsmo-dells.

Mit der europäischen Integration wurden die Wirtschaftsstruktur und der Stellenwert Spaniens innerhalb der glo-balisierten Wirtschaft einer kompletten Neuordnung unterzogen. Nachdem die Schwerindustrie zerschlagen war, ist das Land zum Zielobjekt für die mul-tinationalen Konzerne geworden, die sich einen guten Teil der kleinen und mittleren Industrieunternehmen ein-verleibt haben. Die ländlichen Regi-onen sind verwaist und die bäuerliche Landwirtschaft unter den Zwängen der Agrarindustrie zusammengebrochen. Die Regierungen von rechts bis sozial-liberal haben auf den Ausbau des Tou-rismus, Privatisierung der Böden und Grundstücksspekulation gesetzt. In den 15 Jahren vor Ausbruch der Krise ist die Bauwirtschaft aberwitzig aufge-bläht worden. Aufgrund der defizitären Handelsbilanz Spaniens haben sich die spanischen Finanzhäuser bei den eu-ropäischen und besonders den franzö-

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SpaniScher Staat

sischen und deutschen Großbanken mit frischem Geld versorgt, um ihre fiesta zu finanzieren. Niedriglöhne und pre-käre Arbeitsverträge erschienen hin-nehmbar, solange es billige Kredite

gab. Viele Menschen nahmen Hypo-thekendarlehen auf, um eine Wohnung zu finden. Inzwischen sind die Folgen unübersehbar – über 500 000 Familien, die aus ihrem Heim vertrieben wurden und dabei noch immer bei den Banken verschuldet sind, und über eine Milli-on leerstehender Appartements, die mit einem fiktiven Wert bei den Finanzin-stituten zu Buche stehen.

Die spanische Schuldenkrise ist re-aliter eine Krise der privaten Verschul-dung besonders der Banken und Groß-unternehmen. Diese Verschuldung, die bei 150  % des BIP liegt, wurde nach und nach in eine Staatsverschul-dung umgewandelt und schnürt nun den haushaltspolitischen Spielraum ein. Von Seiten der führenden Politi-ker kommt inmitten dieser Katastrophe keinerlei Initiative zur Ankurbelung der Konjunktur, bloß ein paar vage Ver-suche, ausgerechnet die Sektoren wie-der zu beleben, die durch ihre „inno-vativen“ und abenteuerlichen Speku-lationen den allgemeinen Zusammen-bruch heraufbeschworen haben.

Vor diesem Hintergrund erweist sich die Dezentralisierung des Staates, die vor 30 Jahren zur Aufweichung des Unabhängigkeitsstrebens in Kata-lonien und im Baskenland beschlos-sen wurde, als grotesk und überholt. Die autonome Regionalregierung Ka-

taloniens muss mit ihrem Haushalt umfangreiche Dienstleistungen abde-cken: Erziehungs- und Gesundheits-wesen, soziale Dienste, Polizei, Justiz, Raumordnung, (teilweise) Verkehrswe-

sen etc. Das Steuersystem ist ein chro-nischer Streitpunkt zwischen der Regi-onalregierung und Madrid. Der Staat, der den Großteil der Steuern abschöp-fen und verwalten kann, lastet Katalo-nien einen unverhüllt überhöhten An-teil an sozialen Verpflichtungen auf. Die nationalistische Rechte in Katalo-nien wiederum prangert lauthals den „Steuerraub“ an, um darüber vergessen zu machen, dass sie ihrerseits alle sozi-alen Einschnitte der spanischen Rech-ten mitgetragen oder sogar vorwegge-nommen hat. Der gegenwärtige Haus-halt der Generalidad (Regierung der Provinz [Anm. d. Red.]), der beispiel-lose Kürzungen im öffentlichen Ge-sundheits- und Erziehungswesen vor-sieht, wurde vor einem Jahr mit den Stimmen der PP verabschiedet. Hierin zeigt sich, wie elementar die nationale Frage ist. Sie lastet auf der Einheit und Handlungsfähigkeit der Arbeiterbewe-gung und drängt die Linke in die De-fensive.

Die sozialdemokratische PSOE, die an der zentralspanischen Idee fest-hält, wendet sich gegen jedwedes Un-abhängigkeitsstreben. Izquierda Uni-da (Vereinigte Linke, Sammlungs-bewegung um die alte KPE) unter-nimmt wiederum – obwohl traditio-nell dem Recht der Völker auf Selbst-bestimmung verschrieben – keine son-

derlichen Anstrengungen, die wieder erwachten Autonomiebestrebungen zu unterstützen. Trotzdem treiben diese inzwischen weite Teile der Bevölke-rung um und erzeugen einen Elan ge-gen ein politisches System, das sich durch mangelndes Demokratiever-ständnis auszeichnet und die politische Vorherrschaft der traditionellen Oligar-chien und Nutznießer des Franco-Re-gimes zementiert. Hier ist eine kämp-ferische Linke gefordert, die die Hege-monie wiedererobern und den Kampf für die sozialen Rechte mit dem Kampf um die breitestmögliche Demokratie verknüpfen muss. Die Einheit der Ar-beiterbewegung kann nicht auf Dauer sein, wenn sie nicht das Recht der Völ-ker auf staatliche Selbständigkeit ak-zeptiert, zumal wenn die Autonomiebe-wegung in Opposition zur Monarchie steht und für soziale Forderungen ein-tritt. Der Weg zu einer freien Föderati-on der Völker der iberischen Halbinsel, die auf der Verständigung der arbeiten-den Klassen beruht, ist untrennbar ver-bunden mit der vollständigen Umset-zung der historischen Bestrebungen Kataloniens, Euzkadis und auch Gali-ziens nach nationaler Unabhängigkeit.

In einer Erklärung von Revolta Glo-bal – Esquerra Anticapitalista heißt es: „Wenn die katalanische Bevölke-rung die Unabhängigkeit fordert, sind die antikapitalistischen Linken und die sozialen und alternativen Bewegungen gefordert, diese nationale Forderung nach einer katalanischen Republik mit dem Kampf um soziale Rechte und mit dem Ziel, die kapitalistische Krise ent-lang der mehrheitlichen Interessen der Bevölkerung zu überwinden, zu ver-knüpfen. Wenn wir diese Verknüpfung nicht zustande bekommen, werden die Großkonzerne und die konservativen Kräfte diesen Prozess in die Hand neh-men und den nationalen Unabhängig-keitskampf in ihrem Sinn umfunkti-onieren und die sozialen Mobilisie-rungen unterlaufen.“

Lluis Rabell ist Mitglied von Revolta Global – Esquerra Anticapitalista, der katalanischen Organisation der spanischen Izquierda Antica-pitalista.

Aus: TEAN revue Nr. 36, Oktober 2012

Übersetzung: MiWe

kampf gegen privatisierung

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USA

USADie Bedeutung von OccupyDie Occupy-Bewegung, die erste derart breite, nationale, themenü-bergreifende Massenbewegung seit vierzig Jahren, war ein Test für die revolutionär-sozialistische Linke in mehrfacher Hinsicht. Erstens: Würde die Linke ihre Bedeutung erkennen und sich sofort bewegen, um ein aktiver Teil von ihr zu werden und in ihr zu arbeiten, um zu hel-fen, eine Führung aufzubauen? Zweitens: Wäre die Linke in der Lage, sowohl die Stärken von Occupy zu schätzen als auch eine Kritik ih-rer Schwächen und Grenzen zu entwickeln? Wäre sie gleichzeitig in der Lage, sozialistische Propaganda zu verbreiten und für die sozia-listische Bewegung zu rekrutieren? Drittens: Wäre die Linke in der La-ge, die Occupy-Erfahrung im Nachhinein zu analysieren und daraus zu lernen, um sich selbst auf künftige Bewegungen vorzubereiten? Das nachstehende Dokument wird als Teil des Prozesses des Verste-hens und Analysierens von Occupy und der wichtigsten Entwicklung der Occupy-Bewegung, ihrer Wechselwirkung mit den Gewerkschaf-ten, gesehen. Diese Wechselwirkung stellte die wichtigste Aufgabe für die Bewegung und für diejenigen von uns, die sie verstehen und von ihr lernen wollen, dar.

Dan La Botz, Robert Brenner und Joel Jordan

Die Bewegung Beginnt: Oc-cupy! wir sinD Die 99 %

Die „Occupy Wall Street“-Bewegung“ (Besetzt die Wall Street), die Mitte September 2011 im Zuccotti-Park in der Nähe der Wall Street in New York als Protestschrei gegen die erdrücken-de Macht der Konzerne, die enormen Ungerechtigkeiten in der amerikani-schen Gesellschaft und die übermäßi-ge Rolle des Geldes in der Politik be-gann, breitete sich innerhalb weniger Wochen über das ganze Land aus. Der brillante Slogan „Wir sind die 99  %“ weckte nicht nur die Phantasie der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, son-dern auch von weiten Teilen der breite-ren amerikanischen Öffentlichkeit, und das aus gutem Grund. In den vergan-genen Jahrzehnten hat es eine epocha-le Umverteilung der Einkommen nach oben hin zu dem obersten 1  % und noch höher gegeben, und das Kapital und die Reichen haben Politiker und Regierung in einem Ausmaß im Wür-gegriff, das man seit dem Gilded Age1 nicht gesehen hat. In den Herbstmona-ten des Jahres 2011 nahmen Tausende an den Occupy-Camps in den Städten des ganzen Landes teil, während sich Zehntausende an Demonstrationen und Protestmärschen der Bewegung betei-

ligten; Occupy entwickelte sich zur größten und wichtigsten sozialen Be-wegung in den Vereinigten Staaten seit den 1960er und 70er Jahren. Occupy Wall Street und ihre Ableger waren die erste ernsthafte Antwort von arbeiten-den Menschen und der Bevölkerung allgemein auf die Wirtschaftskrise des Jahres 2008 und spielten die Rolle, die in einem anderen Land oder in frühe-ren Zeiten vielleicht eine starke Arbei-terbewegung oder eine neu entstehende populistische oder sozialistische Partei gespielt hätte. Die Occupy-Erklärung2 repräsentierte einen umfassenden und radikalen Protest gegen das wirtschaft-liche und politische Establishment und den Status quo, wie wir es seit den Bür-gerrechts- und Black-Power-Kämpfen, der Antikriegsbewegung und den Stu-dents for Democratic Society (Studen-ten für eine Demokratische Gesell-schaft – SDS) nicht mehr erlebt haben.

Bevor die Occupy-Bewegung ent-stand, dominierte die rechte Tea-Party-Bewegung Nachrichten und Kommen-tare in Amerikas Zeitungen, Radio- und Fernsehprogrammen, doch kaum war Occupy aufgetaucht, rückte sie in den Mittelpunkt. Praktisch das gesamte politische Establishment trommelte für Sparpolitik als grundlegende Antwort auf die Wirtschaftskrise und nur we-

nige Wochen zuvor hatte die Obama-Regierung auf Vorschlag ihrer eigenen Bowles-Simpson-Kommission eine „große Lösung“ zur Verringerung der Staatsausgaben und zum Ausgleich des Haushalts vorgeschlagen, die vor allem aus einer Kürzung der öffentlichen Rentenversicherung und der Gesund-heitsprogramme Medicare und Medi-caid 3 bestand. In nur wenigen Monaten hatte die Occupy-Bewegung den natio-nalen Diskurs von den rechten Themen der Tea Party wie Steuersenkungen und Haushaltskürzungen verschoben zu Diskussionen über die übermäßi-gen Gehälter und Boni der Banker und Vorstandsvorsitzenden, die finanziellen Zuwendungen der Reichen an Politiker und vor allem die Wirtschaftskrise, von der Millionen von Amerikanern betrof-fen sind. Obama selbst musste, zumin-dest vorübergehend – bis zu den Wahl-en –, alles Gerede vom „Gürtel enger schnallen“ einstellen. Occupy kritisier-te die anhaltend hohe Rate der Arbeits-losigkeit, die Zwangsräumungen von Haus- und Wohnungseigentümern, die Unzulänglichkeit des Gesundheitswe-sens (einschließlich Obamas Gesund-heitsplan) und die Krise der Kosten der Hochschulbildung. Obwohl nie explizit antikapitalistisch und sicher nicht pro-sozialistisch, tendierte die Kritik von Occupy dazu, das System insgesamt in Frage zu stellen – und das System war der Kapitalismus, auch wenn er meist nicht benannt wurde. Der Ruf der Be-wegung „Wir sind die 99  %!“ hallte nicht nur durch die Steinschluchten der Wall Street, sondern ertönte auch in Städten und Universitäten überall in den Vereinigten Staaten und bald kam das Echo aus der ganzen Welt, als Oc-cupy-Camps in vielen Ländern in Eur-opa und Lateinamerika entstanden.

Der internatiOnale KOn-text

Die Occupy-Bewegung in den Verei-nigten Staaten entstand, zumindest teil-weise, aus einer Reihe von außerge-wöhnlichen Massenkämpfen, die welt-weit als Reaktion auf die Weltwirt-schaftskrise ausbrachen und Demokra-

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tie forderten und Sparpolitik ablehnten. Im arabischen Frühling, der im Dezem-ber 2010 begann, entstanden riesige so-ziale Bewegungen gegen Diktatoren, die in den folgenden Monaten die Re-gierungen von Tunesien, Ägypten, Li-byen und Jemen zum Rücktritt zwan-gen. Gleichzeitig gab es größere Auf-stände und umfassende soziale Protes-te in Algerien, Bahrain, Irak, Jordani-en, Kuwait, Marokko, Syrien und an-deren Länder der arabischen Welt und in muslimischen Ländern in Afrika. Die Proteste auf dem Tahrir-Platz, an denen sich im Januar 2011 Zehntau-sende beteiligten, bildeten das Modell der Besetzung eines zentralen Platzes, wo Ägypterinnen und Ägypter sich bei massiven Aktionen zivilen Ungehor-sams engagierten, die von Streiks vor-bereitet und begleitet wurden. Forde-rungen nach dem Ende der Mubarak-Regierung und ihrer heftigen Repres-sion wurden mit Forderungen nach Preissenkungen und Lohnsteigerun-gen verbunden. Zur gleichen Zeit sam-melten sich in Israel Hunderttausende in einer Protestbewegung für soziale Gerechtigkeit zu Fragen wie Inflation, Gesundheits- und Bildungswesen und riefen: „Wir wollen soziale Gerechtig-keit!“

Inspiriert durch Ägypten und den arabischen Frühling brachten in Spa-nien Gruppen wie Juventud sin Futu-ro (Jugend ohne Zukunft) und ande-re Hunderte von kleineren Organisati-onen zusammen, die gemeinsam jun-ge Arbeitslose dazu aufforderten, die öffentlichen Plätze am 15. Mai zu be-setzen, woraus dann die M-15 oder In-dignado-Bewegung entstand. Die In-dignados4 forderten Arbeitsplätze und wehrten sich gegen Sozialabbau und das politische System Spaniens und seine Parteien. Im Juni weiteten sich die Demonstrationen auf 80 spanische Städte aus, und die Besetzungen zen-traler Plätze wurden von riesigen De-monstrationen und Märschen begleitet.

In Großbritannien, Frankreich, Spa-nien, Portugal, Italien und Griechen-land, ganz besonders in Griechenland, gab es diesem Zeitraum große Gewerk-schaftsproteste und Streiks, insbeson-dere im öffentlichen Sektor, einschließ-lich Generalstreiks gegen die Sparpo-litik. Alle Proteste und Umwälzungen in Europa und der arabischen Welt sind Reaktionen auf die Wirtschaftskri-

se von 2008, obwohl, wie im Fall von Tunesien, Ägypten und anderen ara-bischen Ländern, die Krise auch die Möglichkeit bot, sich mit Fragen der langjährigen autoritären Regierungen zu befassen, mit dem Fehlen bürgerli-cher und politischer Rechte und mit der Armut von Millionen. In diesen Fällen war die Krise der Zünder der lange auf-gestauten explosiven Kräfte in der Ge-sellschaft.

Der HintergrunD vOn Oc-cupy in Den usa

Die Vorgeschichte der Occupy-Bewe-gung zeigt sich am deutlichsten in den Bewegungen gegen Globalisierung und für weltweite Gerechtigkeit, die ihr vorausgingen und nach der „Schlacht von Seattle“, den massiven Protesten der Umwelt- und Gewerkschaftsbewe-gung gegen die Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation 1999 in Seat-tle (im Nordwesten der USA), kräfti-gen Zulauf bekamen. Mit der „Schlacht von Seattle“, bei der eine Reihe von Umweltorganisationen und Gewerk-schaften wie die United Steel (Metall), Teamsters (Transport) und Internatio-nal Longshore and Warehouse Union (Häfen) zusammenkamen, um die Stra-ßen von Seattle zu blockieren, entstand ein Modell kämpferischer direkter Ak-tion gegen die Globalisierung der Kon-zerne. Sie waren zwar nie antikapita-listisch, aber die massiven und mili-tanten Demonstrationen der Bewegung für weltweite Gerechtigkeit aus radika-ler Jugend, Umweltschützern und Ge-werkschaften bei einer Reihe von inter-nationalen Handels- und Politikgipfeln von Regierungen und Unternehmens-führungen weltweit über mehrere Jah-re stellten eine bedeutende radikale so-ziale Bewegung, wenn nicht sogar ei-ne nationale Massenbewegung, wie wir sie in den 1960er und 1970er Jahren er-lebt haben und wie sie jetzt mit Occupy wieder entstanden ist, dar.

Der unmittelbare Vorgänger von Occupy Wall Street waren die Proteste 2011 in Wisconsin gegen die Antige-werkschaftsgesetze von Gouverneur Scott Walker, bei denen Zehntausende, manchmal sogar 100  000 Menschen vor dem Parlamentsgebäude protes-tierten und Tausende es tatsächlich be-setzten; außerdem führten Lehrerinnen und Lehrer wilde Streiks durch. Die

Proteste in Wisconsin bildeten – auch wenn Gewerkschaftsbürokratie und Demokratische Partei sie schnellst-möglich beendeten und dann in Bemü-hungen um einen Volksentscheid zur Abwahl des Gouverneurs (Recall) und eine wahlpolitische Orientierung kana-lisierten – das Modell der Besetzung des öffentlichen Raumes, von Massen-protesten der arbeitenden Bevölkerung und von Streiks. Wisconsin, etwa zeit-gleich mit der ägyptischen Besetzung des Tahrir-Platzes, bildete den Prototyp für Occupy Wall Street.

Das außergewöhnliche Potenzial der Occupy-Bewegung und die durch sie verkörperte Bedrohung des heu-tigen politisch-ökonomischen Esta-blishments resultierte aus ihrer Fähig-keit, die beispiellose Verkettung von politisch-ökonomischen und Ideolo-gischen Bedingungen, die mit dem Ausbruch der globalen Krise von 2007 bis 2008 entstanden waren, effektiv an-zusprechen, Die historischen Bewe-gungen der 1960er Jahre waren auf dem Höhepunkt von Wohlstand und Renta-bilität des Nachkriegskapitalismus ent-standen, im Zuge eines mehr als zwei Jahrzehnte dauernden, beispiellosen Anstiegs der Reallöhne für große Teile der Arbeiterklasse und zu einem Zeit-punkt, als Überschüsse/Steuern/ver-fügbare Einkommen es dem politi-schen Establishment erlaubten, auf den Druck der Massen von unten mit einer Reihe von substanziellen Reformen und relativ wenig Zwang (abgesehen natürlich von der endlosen Repressi-on gegen die schwarze Bürgerrechts-bewegung, insbesondere als sie sich in die Städte des Nordens ausdehnte und ihr Programm von Bürgerrechten zu sozioökonomischer Gerechtigkeit er-weiterte) zu reagieren. Die nachhaltige Verbesserung des Lebensstandards für große Teile der Bevölkerung brachte den Kapitalismus auf den Höhepunkt seines Ansehens, während der Ausbau des Wohlfahrtsstaats die Wirkung hat-te, die damals hegemoniale etatistisch-liberale Ideologie und die mit ihr ver-bundenen politischen Parteien und In-stitutionen (einschließlich zu einem ge-wissen Ausmaß der Republikanischen Partei) zu stärken. Daher fanden die Massenbewegungen in dieser Zeit nie eine Basis, um den Kapitalismus als System in Frage zu stellen, und wurden zu einem großen Teil von der Linken

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des politischen Mainstreams, dem libe-ralen Flügel der Demokratischen Par-tei, wieder aufgesogen.

Ganz im Gegensatz dazu entstand Occupy nach vier Jahren der schlimm-sten Wirtschaftskrise seit der Weltwirt-schaftskrise von 1929, die ihrerseits am Ende eines sehr langen Zeitraums nied-rigen Wachstums, Stagnation und rela-tiven Abschwungs des amerikanischen Kapitalismus ausgebrochen war. Die durchschnittlichen Reallöhne sind seit fast vier Jahrzehnten nicht mehr gestie-gen, der Wohlfahrtsstaat hat praktisch aufgehört zu wachsen, und die Un-gleichheit der Einkommen und Vermö-gen hat eine Größenordnung erreicht, die man seit dem neunzehnten Jahr-hundert nicht gesehen hat. Beide po-litischen Parteien haben längst aufge-hört, nennenswerte soziale Reformen zu versprechen, sondern widmeten sich überwiegend dem Einsatz des Staates als Motor der Plünderung und der Um-verteilung des Reichtums nach oben.

Beide Parteien und alle Flügel der kapitalistischen Klasse hatten sich vollständig der weltweit vorherrschen-den, neoliberalen Ideologie verschrie-ben, aber der Neoliberalismus hat der großen Mehrheit der Arbeiterklasse, deren Mitglieder, soweit Sie überhaupt eine Art wirtschaftlicher Weltanschau-ung besaßen, wahrscheinlich das „Es gibt es keine Alternative“ akzeptiert hatten, nichts zu bieten.

Die getreuen Anhänger des etatis-tischen Liberalismus5, die weitgehend geschwächte Gewerkschafts- und Bür-gerrechtsbewegung, blieben zwar no-minell weiter einer Reformpolitik ver-schrieben, waren aber so abhängig von der Demokratischen Partei und so tiefgreifend geschwächt durch ih-re langjährige Position, dass sie unfä-hig waren, irgendetwas zu bewegen; rein praktisch war der Staatsliberalis-mus tot. Inzwischen hat die Demokra-tische Partei unter Führung des domi-nierenden DLC6 diese Kräfte als gege-ben akzeptiert, während sie versuchen, ihre Beziehungen mit Teilen des Kapi-tals und konservativen Wählerschich-ten im Süden und anderswo zu zemen-tieren.

Der große Anstieg der Wohnungs-preise im Jahrzehnt vor dem Crash von 2008 kann auch die materielle Basis für so etwas wie eine erneute Begeisterung für den freien Markt durch einen nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung

gebildet haben. Aber als die Immo-bilienblase platzte und die Große Re-zession mit verbreitetem Elend folgte, brachte die Bereitschaft der politischen Elite, Billionen zur Rettung der Ban-ken/Kreditgeber bereitzustellen, wäh-rend man nichts für die große Masse der Haushalte/Kreditnehmer tat, tiefe Enttäuschung und eine augenblickliche

Diskreditierung des Systems zusam-men mit einem tiefen Zorn auf die Ban-ker und die Politiker, die ihnen offen-sichtlich dienten. Es war diese plötz-lich weitreichende, aber bisher weitge-hend unausgesprochene Entfremdung von breiten Schichten der Arbeiterklas-se von einem politisch-ökonomischen System, das ihnen nur eine Verschlech-terung ihrer wirtschaftlichen Verhält-nisse und zunehmende Demütigung bietet, die den Weg für Occupy öffnete.

Die natur vOn Occupy

Occupy hatte, weil es eine nationa-le Bewegung quer durch die Vereinig-ten Staaten war, wo wirtschaftliche, so-ziale und politische Verhältnisse stark variieren, in verschiedenen Regionen notwendigerweise unterschiedliche Er-fahrungen und einen unterschiedlichen Charakter. Doch es gab auch viele Ge-meinsamkeiten. Wir wollen einige der Unterschiede benennen: Bei Occupy Wall Street waren weit mehr Studenten und Jugendliche beteiligt, als bei den meisten anderen Occupy-Aktionen. Während die meisten Occupy-Gruppen

überwiegend weiß waren, gab es in At-lanta und Oakland eine größere Zahl von Afroamerikanern und Latinos. Es gab auch viele Gemeinsamkeiten: Teil-weise war Occupy eine Sammlung von Aktivistinnen und Aktivisten aus vielen Bewegungen. Beobachtete man De-monstrationen in irgendeiner Stadt an irgendeinem Tag, so sah man Demons-

tranten mit T-Shirts und Jacken mit den Logos aller Bewegungen, die das Land in den letzten zwei Jahrzehnten berührt haben: Anti-Krieg, LGBTQ7, Zwangs-räumungen, Gewerkschaften und Bür-gerrechte. Dazwischen gingen andere, die neu in der Bewegung waren, Arbei-ter und Angestellte, oft mit handgemal-ten Schildern mit Slogans wie „Schafft Arbeitsplätze, reformiert die Wall Street, höhere Steuern für Reiche“ und „The People are Too Big to Fail” („Die Menschen sind zu bedeutend, als dass man sie fallen lassen kann“, eine An-spielung auf das Argument der US-Re-gierung, die Banken müssten gerettet werden, weil sie „zu bedeutend seien, als dass man sie fallen lassen könnte“). Das Gefühl von Optimismus, das die Bewegung entstehen ließ, wurde von einem Schild auf der Wall Street auf den Punkt gebracht: „Dies ist das ers-te Mal, dass ich etwas Hoffnung fühle, seit langer, langer Zeit.“

Die Bewegung hatte einen uto-pischen Charakter im besten Sinne des Wortes. Viele von denen, die sich an Occupy beteiligten, wollten nicht nur die unmittelbaren Auswirkungen der

Occupy: we are the 99%

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Wirtschaftskrise überwinden, sondern wollten ein besseres Leben, ein bes-seres Land, eine bessere Welt. Viele schlossen sich der Bewegung an wegen des Gefühls von Gemeinschaft, das sie geschaffen hatte, einer Gemeinschaft, von der sie glaubten, dass sie im Klei-nen die Gesellschaft vorzeichne, die sie auf nationaler Ebene anstreben. Die Bewegung als solche hatte keine Ideo-logie. Occupy war eine Art linker Po-pulismus: Das Volk gegen das Großka-pital und die schlechte Regierung. Ob-wohl es Anarchisten gab und sie ihr ei-niges von ihrem Stil aufprägten, war es keine anarchistische Bewegung. Ob-wohl es einige Sozialisten gab, war die Bewegung keineswegs sozialistisch. Vielleicht das Beste und Aufregendste an der Bewegung war das Zusam-mentreffen der vielen sozialen Bewe-gungen mit Menschen aus der Mittel-schicht und der Arbeiterklasse, die zur Wall Street oder dem zentralen Platz in irgendeiner anderen Stadt gekommen waren, um zu sagen: „Wir sind am En-de.“ Der Utopianismus der Bewegung hat gewöhnliche Menschen inspiriert, zu denken und zu sagen: „Wir können anders leben, wir müssen das, und wir werden das.“

Die aBleHnung Der pOlitiK

Die Occupy-Bewegung hat sich selbst negativ aus der Ablehnung der traditio-nellen sozialen Bewegungen und poli-tischen Organisationen definiert, die so oft gescheitert sind. Bewegungen, Ge-werkschaften und Parteien hatten al-le repräsentative und delegierte Lei-tungsstrukturen, bei denen sich die Führer schnell der Kontrolle der Mit-glieder entzogen haben. Occupy woll-te keine haben, getreu der alten Paro-le: „Wir haben keine Führung. Wir sind alle Führer.“

Andere Organisationen arbeiteten mit komplizierten Formen von Lei-tung und Verwaltung, die die Leitung undurchschaubar machten. Occupy wollte einfach durch scheinbar trans-parente Vollversammlungen und par-tizipative und autonome Aktionsgrup-pen funktionieren. Andere Gruppen stellten Forderungen. Occupy weigerte sich, spezifische Forderungen zu stel-len, zu einem großen Teil als Verteidi-gung gegen eine Vereinnahmung durch die Demokratische Partei, die Gewerk-schaften und die Linke, die alle die Be-

wegung drängten, sich durch eine Li-ste von wirtschaftlichen und politi-schen Forderungen zu definieren. For-derungen schienen ihr der erste Schritt zur Institutionalisierung und Kooptie-rung zu sein. Auch wenn man natür-lich alle Aspekte der Praxis von Occu-py kritisieren kann, entstand sie doch teilweise aus einer gesunden Ableh-nung alles Undemokratischen, Büro-kratischen und Stickigen von typischen Bewegungen, Gewerkschaften und Par-teien. Occupy repräsentierte einen ide-alistischen, vielleicht naiven Versuch, Gesellschaft und Politik neu zu begin-nen, transparenter, demokratischer und partizipativer.

Occupy lehnte Politik in allen ih-ren vielen Spielarten ab. Politiker der üblichen Demokratischen Partei wa-ren in der Regel unerwünscht. Sozia-listische Reden, oft herablassend, und die Verteilung sozialistischer Literatur, oft mit dem Anspruch, die Bewegung zu leiten, wurden als spalterisch gese-hen und waren verpönt. Die Libertarian Party und die Anhänger von Ron Paul, die zeitweise Occupy kolonisierten, wurden nur als Individuen akzeptiert, nicht als Parteianhänger. Die Grüne Partei genoss im Allgemeinen größere Toleranz, da man meinte, dass sie die allgemeine Umweltschutzorientierung der Occupy-Bewegung teilen würde. Occupyer äußerten sich oft gegen po-litische Parteien und Kandidaten, aber fast nie zu deren Gunsten. Doch ob-wohl sie feindlich gegenüber Politik im Sinne von Wahlen eingestellt war, wur-de Occupy trotzdem eine Art inoffizi-elle Partei der ausgebeuteten und unter-drückten 99 %.

Die BeDrOHung DurcH Oc-cupy

Die Occupy-Vollversammlungen stell-ten, auch wenn sie schlecht vorberei-tet und schwierig in ihrem eigentlichen Ablauf waren, ein Modell der partizi-pativen Demokratie in scharfem Ge-gensatz zu dem undemokratischen Charakter der amerikanischen Regie-rung und Verwaltung auf allen Ebenen dar. Die Küchen, Bibliotheken, medi-zinische Dienste und Security-Teams von Occupy, die alle auf freiwilli-ger und kooperativer Basis organisiert waren, bildeten ein alternatives Ge-sellschaftsmodell. Die Besetzung von Parks und anderen öffentlichen Plätzen

in städtischen Gebieten bildete sowohl einen Sammelpunkt als auch eine Büh-ne im Herzen der Stadt, um die Mäch-tigen anzugreifen und die Ausgesto-ßenen und Unzufriedenen der Gesell-schaft zu mobilisieren. Occupy-Camps im ganzen Land wurden Sammelpunk-te für arbeitslose 20- und 30-Jähri-ge, für ältere Arbeiterinnen und Arbei-ter, einige von ihnen auch Angestellte und Führungskräfte, die ihren Arbeits-platz verloren hatten, für Studenten mit Sorge vor hohen Studiengebühren und wachsenden Schulden, für Gewerk-schafterinnen und Gewerkschafter, für radikale Linke und für Obdachlose, die schon in den Parks gelebt hatten, bevor die Bewegung begann.

Die Mischung einer radikal-demo-kratischen Bewegung aus sozial Be-nachteiligten, aus beschäftigten und ar-beitslosen Lohnabhängigen zusammen mit linken Kräften, und all das mitten im Herzen der Stadt und bereit, nach kurzfristigem Aufruf in Foren gegen Banken und Konzerne zu mobilisie-ren, bildete eine ernsthafte Bedrohung nicht nur für die Stadtverwaltungen und die Zentralen der Wirtschaftselite in den Innenstädten, sondern auch ei-ne allgemeine und potenziell gefähr-lichere Bedrohung für das System und den Staat, eben weil sie vielleicht nur der Anfang sein konnte. Die Wahrneh-mung dieser Bedrohung führte zu mas-siver und manchmal brutaler Unterdrü-ckung durch die meist von der Demo-kratischen Partei gestellten Bürgermei-ster und Stadträte im ganzen Land, of-fenbar in Abstimmung mit der Oba-ma-Regierung8 in Washington. Occu-py-Camps wurden zerstört und die Be-setzer herumgestoßen, verprügelt, mit Tränengas eingenebelt und zu Hun-derten verhaftet. Im ganzen Land gab es Tausende von juristischen Maßnah-men gegen die Besetzer, von Verwar-nungen und Bußgeldern bis zu Straf-verfahren. Zwischen September 2011 und Juli 2012 gab es Insgesamt 7361 Verhaftungen in 117 Städten9 der USA. Die Behörden versuchten auch Occupy mit linken Gruppen in Verbindung zu bringen und erhoben Anklagen wegen Terrorismus und Gewalt gegen Per-sonen in Cleveland und Seattle die in Verbindung mit der Occupy-Bewegung gebracht werden konnten oder dort am Rande beteiligt waren. Die Repression gegen die Occupy-Bewegung mit Tau-senden von Verhaftungen, ihrer Bruta-

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lität und den Terrorismus-Vorwürfen kann nur mit Wilsons Repression im Ersten Weltkrieg, der Kommunisten-furcht der 1920er Jahre, der McCar-thy-Ära der 1950er Jahre und der Ge-walt gegen die afroamerikanische Be-wegung in den 1960er und 1970er Jah-ren verglichen werden.

Ein Fall von Polizei-Brutalität ge-gen Occupy UC Davis10, wo lässig Pfefferspray gegen Studenten einge-setzt wurde, die sich an gewaltfreiem zivilem Ungehorsam beteiligten, wur-de schnell zu einem Internet-Phäno-men1112. (siehe nebenstehendes Foto)

Occupy unD Die gewerK-scHaften

Einige Gewerkschafterinnen und Ge-werkschafter waren natürlich von An-fang an bei Occupy Wall Street betei-ligt. Der [Gewerkschaftsdachverband] AFL-CIO und die wichtigsten landes-weiten Gewerkschaften reagierten an-fangs sehr positiv auf Occupy und bo-ten Unterstützung und Ressourcen an. Anfang Oktober 2011, als Occupy Wall Street die Zwangsräumung drohte, drückte Rich Trumka, Vorsitzender des AFL-CIO, seine Unterstützung für Oc-cupy Wall Street (OWS) aus. Zur glei-chen Zeit mobilisierten große Gewerk-schaften des öffentlichen Dienstes in New York, unter Führung vor allem der Ortsgruppe 100 der Transport Workers Union, Tausende ihrer Mitglieder zu ei-ner riesigen und dynamischen Demons-tration auf dem Foley Square zur Un-terstützung von OWS, was einen Hin-weis auf das enorme politische Poten-zial eines Bündnisses zwischen Occupy und der Arbeiterbewegung gab. Das war nicht einfach nur Solidarität, sondern war auch der Versuch der Gewerkschaf-ten, am plötzlichen und spektakulären Erfolg der neuen Bewegung, Tausende gegen Konzernmacht und soziale Un-gleichheit zu mobilisieren, teilzuhaben. Gewerkschaften mobilisierten Anfang Oktober nicht nur ihre Mitglieder, Sie spendeten auch Geld und Lebensmittel und stellten im Fall der Lehrergewerk-schaft United Federation of Teachers den Occupyern auch Platz zur Verfü-gung. Die Gewerkschaften unterstütz-ten Occupy auch wieder bei den riesi-gen Aktionen vom 17.  November, als Zehntausende in New York und weitere Tausende in anderen Städten im ganzen Land und der ganzen Welt marschierten.

Das Erscheinen der Gewerkschaf-ten begeisterte die Occupyer, die plötz-lich ihre Bewegung anschwellen sahen, aber es machte ihnen auch Angst. Be-

sonders die Anwesenheit der Ortsgrup-pe 100 der Transport Workers Union, der Gewerkschaft, die Züge und Busse in den Städten rollen lässt, ist hier zu nennen. Doch viele Occupyer spür-ten, dass die Gewerkschaften ihre ei-genen Ziele hatten, und einige sorgten sich, dass dazu auch die Unterstützung der Demokraten und des Präsident-schaftswahlkampfs von Barack Oba-ma gehörten, die viele als verantwort-lich oder zumindest mitschuldig für die unternehmerfreundliche Politik der Re-gierung ansahen. Die Fähigkeit der Ge-werkschaften, Tausende von Arbeitern mobilisieren zu können, erstaunte und erschreckte die Occupyer, die das Ge-fühl hatten, sie könnten durch die Ar-beiterbewegung einfach überrollt wer-den.

Occupyer Begeistert unD erscHrecKt DurcH Die ge-werKscHaften

Die Ängste der Occupyer wurden noch vertieft, als Mary Key Henry, Vorsit-zende der Service Employees Interna-tional Union (SEIU), kurz vor dem Ak-tionstag am 17. November auf den Oc-cupy-Slogan „wir sind die 99 %“ Be-zug nahm, als sie die Wiederwahl von Obama befürwortete. Dann ließ sie

sich mit den Occupyern auf der Brook-lyn Bridge verhaften und benutzte da-bei offenbar Occupy, um sich selbst, die SEIU und die Obama-Kampagne

in die Medien zu bringen. Viele Oc-cupyer sahen voller Sorgen den Schat-ten der SEIU, einer der größten und am schnellsten wachsenden Gewerkschaf-ten des Landes, über die Bewegung fal-len.

Die Occupyer, die meist eher aus den Mittelschichten als aus der Arbei-terklasse stammen und meist jung und ohne Erfahrung mit Gewerkschaften sind, wussten nicht viel über Gewerk-schaften oder wie man mit ihnen um-gehen soll. Nur wenige erkannten, dass Gewerkschaften selbst komplexe Or-ganismen sind, dass unterschiedliche Gewerkschaften unterschiedliche Po-litik machen, und dass Gewerkschafts-führer und einfache Mitglieder oft ganz andere Interessen haben. Nur ei-nige wenige Occupyer, meist Sozia-listen, die mit Gewerkschaften gear-beitet hatten, kannten sich besser mit den näheren Umständen der Gewerk-schaftsbewegung aus. Einige von ih-nen in New York City, die von einer Aussperrung durch Sotheby‘s Aukti-onshaus gegen 43 Teamster-Mitglie-der gehört hatten, mobilisierten Occu-pyer, um die Teamsters13 im September beim Unterbrechen einer Auktion und „Schmähen“ der Chefs zu unterstüt-zen14. Trotz der Unterstützung des Oc-cupy-Gewerkschaftskomitees bei den

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Protesten der Teamsters gegen die Aus-sperrung kam es nie zu einer tiefen und dauerhaften Beziehung zwischen Oc-cupy und der Gewerkschaft.

In Chicago, wo die Sozialisten ein starkes Gewerkschaftsunterstützungs-komitee organisierten und mit reform-orientierten Funktionären, Basisgrup-pen und linken Gewerkschaftern zu-sammenarbeiteten, vertieften sich die Beziehungen zwischen Occupy und den Gewerkschaften. Im Januar 2012 organisierte das Occupy-Gewerk-schaftskomitee in Chicago ein Treffen mit 150 Gewerkschaftern, um zu erör-tern, wie man Widerstand gegen die Sparpolitik leisten kann. Ein Occu-py-Mitglied beschrieb dort eine „Part-nerschaft“ zwischen Occupy, den Ge-werkschaften und anderen Basisgrup-pen. Die Schlüsselfaktoren beim Auf-bau erfolgreicher Beziehungen zwi-schen Occupy Chicago und den Ge-werkschaften waren anscheinend die Anwesenheit einer großen Anzahl von Sozialisten, die Existenz einer Basiss-truktur, die vor kurzem die Führung der Chicago Teachers Union über-nommen hatte, und verschiedene lo-kale Gewerkschaftsfunktionäre, die auf der Suche nach Unterstützung für Ihre angeschlagenen Organisationen waren. Die Tatsache, dass es in Chi-cago nicht mehr Konflikte zwischen Occupy und den Gewerkschaften gab, kann darin gelegen haben, dass die Ge-werkschaften in keinen Massenkämp-fen aktiv waren, in denen die kämp-ferischere Taktik von Occupy zu einer Bedrohung hätte werden können.

Occupy OaKlanD unD Die stilllegung Des Hafens

Bei Occupy Oakland waren viele mit einem multinationalen kämpferischen Arbeiterklassenhintergrund aktiv, wie auch eine große Anzahl von Sozialis-ten und Anarchisten aus einer Vielzahl von Organisationen. Um einen Schlag gegen das 1 % zu führen und die Ha-fenarbeiter der ILWU zu unterstüt-zen, die in einen Tarifkampf in Long-view, Washington verwickelt waren, legten Tausende von Occupy-Aktivis-ten den Hafen von Oakland mehr oder weniger erfolgreich am 2.  Novem-ber und dann noch einmal am 12. De-zember still. Die Aktionen gehörten, auch wenn sie kein voller Erfolg wa-ren, zu den größten, kämpferischs-

ten, direkten Konfrontationen zwi-schen arbeitenden Menschen und Ka-pital der letzten Jahrzehnte, nicht nur an der Westküste, sondern für die Ver-einigten Staaten insgesamt. Die Ge-werkschaft ILWU, die durch das von der Occupy-Bewegung verfolgte Mo-dell kämpferischer, direkter Aktio-nen, die die etablierten Beziehungen mit den Hafen- und Lagerhaus-Unter-nehmen gefährdeten, unter Druck ge-raten war, reagierte mit dem Abbruch der Beziehungen zu Occupy. Einmal störten lokale ILWU-Funktionäre so-gar eine Sitzung und griffen Occupy-er und einfache ILWU-Mitglieder an.

Warum stellte sich die ILWU, eine der besten Gewerkschaften des Lan-des, am Ende gegen Occupy? Gewerk-schaften in den Vereinigten Staaten, einschließlich denen wie der ILWU, die wir zu den Besten zählen, werden von einer bürokratischen Kaste privi-legierter Funktionäre beherrscht, die sich vollständig mit der Gewerkschaft als Organisation identifiziert haben. Ihr Interesse ist es, die Gewerkschaft als Institution und ihre Positionen in-nerhalb dieser Institution zu erhalten, anstatt für ihre Mitglieder zu kämp-fen. Im Gegenteil: Die Kämpfe ihrer Mitglieder drohen ihre Beziehung zu den Unternehmern oder der Regie-rung zu stören, sodass sie in der Re-gel schnell reagieren, oft in Absprache mit dem Management, um die Mit-glieder zu stoppen. Der Kampf der IL-WU-Mitglieder und von Occupy Oa-kland, der aus der Blockade des Ha-fens von Oakland und der Beteiligung von Occupy am Longview-Kampf entstand, brachte die ILUW-Führung und örtliche Funktionäre letztlich da-zu, sowohl ihre eigenen Mitglieder als auch die Occupy-Aktivisten zu stop-pen. Am Ende zwang die ILWU ihre Ortsgruppe Longview, ungesehen ei-nen Tarifvertrag zu akzeptieren, und die lokalen Funktionäre wurden da-zu diszipliniert, nichts gemeinsam mit Occupy zu unternehmen.

Auch wenn dies – mit Ausnah-me von kurzen und intensiven Mo-menten von Klassenkampf und grö-ßeren Unruhen – die übliche Reakti-on der Gewerkschaftsfunktionäre in der gesamten Geschichte der amerika-nischen Gewerkschaftsbewegung war, von den Tagen der AFL-Handwerker-gewerkschaften über die CIO-Indust-riegewerkschaften und die AFL-CIO-

Blütezeit im „Goldenen Zeitalter“ des amerikanischen Kapitalismus in den 1940er bis 1960er Jahren, reagie-ren heutige Gewerkschaftsfunktionäre wahrscheinlich noch schneller und heftiger, um Basisbewegungen und Klassenkämpfe zu unterdrücken, weil klar ist, dass jeder Kampf, um erfolg-reich zu sein, sehr massiv geführt wer-den muss. Solche gewaltigen Schlach-ten würden die Gewerkschaftsbewe-gung völlig umwälzen und ohne Zwei-fel die alten Strukturen aufbrechen, die derzeitigen Gewerkschaftsfüh-rer hinauswerfen und zu unvorherseh-baren Folgen führen, da niemand den Ausgang eines wirklichen voll ent-wickelten Kampfes zwischen Kapital und Arbeit vorhersagen kann. Occu-py lässt vermuten, dass wir, sollte die Bewegung wiederbelebt werden oder eine neue Massenbewegung entste-hen, erwarten können, dass Gewerk-schaftsführer wieder ebenso heftig ge-gen Versuche, einen wirklichen Klas-senkampf durch eigene Mitglieder oder durch eine andere Bewegung zu beginnen, reagieren werden.

Der winter Der unzufrie-DenHeit

Die heroische Periode der Occupy-Bewegung von September bis Anfang Dezember 2011 ging unter dem Ein-fluss der national koordinierten Po-lizei-Repression in Dutzenden von Städten, der Winterkälte und der Zer-splitterung der Bewegung, als sie Sinn und Richtung zu verlieren schien, ih-rem Ende entgegen. Im Winter wa-ren dann viele von den Vollversamm-lungen, die Diskussionen und Ent-scheidungsfindung nahezu unmöglich machten, und vom Fehlen von Orga-nisationsstrukturen und transparenter Führung frustriert. Mit dem Verlust der öffentlichen Räume zogen einige der Occupy-Gruppen nach drinnen in private Räume, doch in viel kleinerer Zahl.

Auch die gewalttätigen Pro-teste des anarchistischen „schwar-zen Blocks“ waren ein Problem ge-worden. Die „Occupy Oakland“-Pro-teste gaben Anarchisten und anderen im Stil des schwarzen Blocks Orga-nisierten die Möglichkeit, unter dem Deckmantel der „Vielfalt der Tak-tiken“ privates Eigentum entlang der Route der Demonstrationen und in

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der Nähe anderer Aktionen anzugrei-fen, was zu gewalttätigen Auseinan-dersetzungen größeren Ausmaßes mit der Polizei führte. Die Proteste in Oa-kland und die scheinbare, von den An-archisten ausgehende Provokation von Konflikten mit der Polizei, die nur zu froh war, gegen sie vorgehen zu kön-nen, führte zu einer nationalen De-batte sowohl innerhalb als auch au-ßerhalb der Bewegung über die Rol-le der Anarchisten und des Anarchis-mus. Die anarchistische Dominanz in der Bewegung in Oakland führte zu einer gewissen Entfremdung von der Bewegung bei anderen Gruppen und vielen Einzelpersonen. Als die Fähig-keit, militante Massenaktionen zu or-ganisieren und sich an großen Akti-onen zivilen Ungehorsams zu betei-ligen, schwand, verlagerten viele Oc-cupy-Gruppen ihren Fokus auf Initia-tiven auf Stadtteilebene, mit dem Ar-gument, dass man so Occupy in die Mitte der Gesellschaft führen würde. Das Gefühl des Verlusts von Dynamik und Größe zusammen mit fehlender Klarheit darüber, welche Projekte und Kampagnen man angehen soll, und fehlender Klarheit über die langfri-stigen Ziele führte in vielen Bereichen zu einer Fragmentierung, manchmal sogar zu kleinen rivalisierenden Grup-pen in der gleichen Stadt.

Die sOzialistiscHe KritiK an Occupy

Alle von uns, die an Occupy teilge-nommen haben, wissen, wie schwierig es war, zu versuchen, Einfluss auf eine Bewegung zu nehmen, die so groß war, geografisch so ausgedehnt, so unter-schiedlich in der sozialen Zusammen-setzung und der politischen Orientie-rung und so festgelegt auf ihre populis-tischen Strukturen wie Vollversamm-lungen und autonome Aktionsgrup-pen. Trotzdem war es damals und ist es heute wichtig, deutlich zu machen, was wir als die Stärken und Schwächen der Bewegung gesehen haben, von de-nen viele hier bereits beschrieben wur-den. Das Fehlen demokratischer Struk-turen, mit denen Occupy-Aktivisten ih-re Ideen hätten diskutieren, Strategien verabschieden und Führungen wählen können, hat die Bewegung stark behin-dert. Während Konsens bei bestimmten Arten von Organisationen oder auf be-stimmten Stufen des Organisierungs-

prozesses eine wertvolle Methode sein kann, hat er bei Occupy zur „Tyrannei der Strukturlosigkeit“ geführt, die alle Versuche vereitelt hat, der Bewegung Ziel und Richtung zu geben.

Die Führung, das heißt das Feh-len jeglicher Führung, war auch ein

ernstes Problem. Die Occupy-Bewe-gung brachte Führer aller Art hervor, gute, schlechte und gleichgültige, aber die offizielle Position der „Führungs-losigkeit“ machte es unmöglich, ei-ne politisch rechenschaftspflichtige, transparente und verantwortliche Lei-tung zu haben. Wegen des Fehlens ei-ner demokratischen Struktur und ohne klare und rechenschaftspflichtige Füh-rung der Bewegung als Ganzes wur-de die Leitung in jeder Stadt von auto-nomen Aktionsgruppen oder Bezugs-gruppen, die jede ihren eigenen Kurs verfolgte, erobert oder übernommen. Zwar gab es viel Energie und Krea-tivität und oft auch Klassenbewusst-sein und Kampfbereitschaft in diesen Aktionen, doch wurde all das in der kaleidoskopischen Vielzahl von Vor-trägen, kulturellen Veranstaltungen, Märschen, Demonstrationen und Ak-tionen zivilen Ungehorsams verzet-telt und zersplittert. Occupy war nach einer amerikanischen Redensart der „Karneval der Unterdrückten“, aber nicht der Hammer der Unterdrückten.

Ohne Struktur und ohne Führung hat sich Occupy als unfähig erwiesen,

entweder eine Strategie des Kampfes oder ein politisches Programm für die Bewegung zu entwickeln. Der bril-lante 99 %-Slogan, die Kritik der so-zialen Ungleichheit, und die Forde-rung, dass das große Geld aus der Po-litik verschwinden soll („Get money

out of politics“), weckten die Phanta-sie der Öffentlichkeit. Occupy neigte dazu – und das war ihre große Stärke – alle wichtigen sozialen Fragen auf-zugreifen, von Arbeitslosigkeit bis zu Wohnraum, von Bildung bis zum Ge-sundheitswesen und viele andere Pro-bleme, kleine und große. Doch Occu-py ist es nicht gelungen, diese Ideen in ein brauchbares politisches Programm umzusetzen, eine alternative politische Ökonomie, die die amerikanische Öf-fentlichkeit hätte ansprechen können. Gleichzeitig ist es ihr auch nicht ge-lungen, eine Strategie des Kampfes zu entwickeln, die die Bewegung von der Besetzung von Parks zu Auseinan-dersetzungen in großem Maßstab mit wirtschaftlichen und politischen Insti-tutionen hätte führen können.

Ein weiteres Problem war, dass Oc-cupys soziale Zusammensetzung in den meisten Orten überwiegend weiß geblieben ist. Im Großen und Ganzen ist es Occupy nicht gelungen, Afroa-merikaner, Latinos und Einwanderer zu aktivieren. Zwar gab es in den mei-sten Städten Latinos und Afroameri-kaner unter den Occupy-Führern und

Occupy: support by twu

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strömten in einigen Orten farbige Ak-tivisten zur Bewegung, doch hatte Oc-cupy nie eine tiefe Verankerung in der farbigen Bevölkerung. Zu ihren Guns-ten muss man auch erwähnen, dass Oc-cupy in verschiedenen Städten „Occu-py the Hood“-Gruppen [Besetzt den Stadtteil] gebildet hat, von denen viele von afroamerikanischen und Latino-Aktivisten geführt wurden. Doch hat-ten diese Gruppen meist nur begrenz-ten Erfolg. Auch beklagten sich Frauen und LGBT-Aktivisten in vielen Städ-ten, dass sie sowohl aus der Führung ausgeschlossen als auch als Teilneh-merinnen und Teilnehmer schikaniert wurden, aber auch dass ihnen gesagt wurde, ihre Anliegen seien spalterisch. Occupy hatte weniger Erfolg, sich die-sem Problem zu stellen.

warum ist Occupy ins stO-cKen geraten unD wie sOll es jetzt weitergeHen?

Der Hauptgrund, dass Occupy in den meisten Bereichen ins Stocken gera-ten ist, war einfach die enorme Re-pression gegen die Bewegung, die von den höchsten Ebenen der US-Regie-rung koordiniert und von bundesstaat-lichen und lokalen Behörden ausge-führt wurde: die Vertreibung der Be-setzer aus den Parks, die enorme Zahl von Festnahmen, die gewalttätigen Angriffe mit Schlagstöcken, Tränen-gas und in einigen Fällen sogar das Abfeuern von Gummigeschossen. Nachdem die Occupyer aus den öf-fentlichen Räumen vertrieben worden waren, wurden diese von der Polizei besetzt. Hinter all dem stand eine mas-sive Überwachung der Occupy-Bewe-gung, begleitet von Intrigen der Poli-zei und dem Einschleusen von Provo-kateuren, um Occupy-Aktivisten Fal-len zu stellen und sie dann wegen Ter-rorismus anzuklagen. Meist gelang es Occupy nicht, das zu erreichen, was sie möglicherweise hätte erreichen können, weil sie bereits in der Wiege von der Polizei erwürgt wurde.

Niemand will Occupy voreilig für tot erklären, aber im Moment sind ih-re Vitalfunktionen schwach. Die Be-wegung hat ihre Fähigkeit verloren, Zehntausende zu mobilisieren, die sie noch vor weniger als einem Jahr hat-te. Ihre Vitalität und Kreativität schei-

nen nachgelassen zu haben, ihre Zah-len scheinen zu schrumpfen, und da-mit ist sie von den Titelseiten der Pres-se verschwunden. In vielen Gebieten, in denen Occupy einst als Symbol der Opposition gegen das Establishment oder das System als Ganzes in all sei-nen Manifestationen stand, wurde sie jetzt darauf reduziert, in einzelnen Ein-Punkt-Kampagnen mitzuarbeiten, häu-fig in Anti-Gentrifizierungs-Bewe-gungen der Arbeiterklasse und der Ar-men in den Stadtzentren.

Während wir dies schreiben, Ende Juli 2012, scheint es unwahrschein-lich, dass Occupy wiederbelebt wer-den kann, auch wenn es möglich wäre. Es bleibt die Frage, was von den Oc-cupy-Erfahrungen unserer Meinung nach gerettet werden kann. Erstens können wir alle Lehren bewahren, die wir versucht haben, hier zu ziehen: die Anerkennung der große Stärken von Occupy, als eine jener seltenen und schönen sozialen Bewegungen, die sich erheben, um das System als Ganzes in Frage stellen, die in die-sem Fall aber von staatlicher Repres-sion leider schon in der Wiege erstickt wurde, bevor sie heranreifen konnte, um die Aufgaben anzugehen, vor de-nen sie stand. Zweitens können wir versuchen, den von Occupy geschaf-fenen Kader zu retten, die Männer und Frauen, junge und alte, die zu Occu-py strömten, das Licht der Erkenntnis sahen, dass das Problem das System des Kapitalismus ist, zu Aktivisten ge-formt und durch der Erfahrung verän-dert wurden. Wir wissen, dass ande-re Massenbewegungen von unten ge-gen dieses System entstehen werden, und wir wissen, dass wir mehr Soziali-stinnen und Sozialisten brauchen wer-den, um zu helfen, eine Führung für eine solche Bewegung zu entwickeln.

Dan La Botz kommt aus Cincinnati und ist Lehrer, Schriftsteller und Aktivist. Er ist Mit-glied des Nationalkomitees von Solidarity.

Robert Brenner ist der Autor von „The Boom & the Bubble“ (2002), „The Economics of Global Turbulence“ (2006), „Property & Pro-gress“ (2009), und einer der Herausgeber von Against the Current. Er ist der Direktor des Center for Social Theory and Comparati-ve History an der Universität von Los Ange-les (UCLA).

Joel Jordan war einige Jahrzehnte führend in der Lehrergewerkschaft United Teachers in Los Angeles tätig, wo er erfolgreich Basisiniti-ativen aufbaute, um die Gewerkschaft für eine Orientierung auf Partnerschaften mit Stadtteil-gruppen zu gewinnen, um die öffentliche Bil-dung zu erhalten und zu verbessern. Er war in der Kampagne für die Millionärsteuer aktiv.

9. August 2012

Übersetzung und viele Anmerkungen (gekennz.): Björn Mertens

1 „Vergoldetes Zeitalter“ in den USA von ca. 1876 bis 1914 – Anm. d. Üb.

2 http://www.nycga.net/resources/declaration/3 Medicare ist ein Gesundheitsdienst für Per-

sonen über 65. Medicaid ist ein Gesundheits-fürsorgeprogramm für Personen mit geringem Einkommen, Kinder, ältere Menschen und Menschen mit Behinderungen. – Anm. d. Üb.

4 Spanisch für „Die Empörten“ – Anm. d. Üb.5 Nach einer „modernen”, vor allem von der Li-

bertarian Party vertreten Ansicht, sind beide US-amerikanischen Hauptparteien „etatistisch”, also für eine starke Rolle des Staates (während nur sie selbst „libertär”, also für „weniger Staat“ und eine stärkere Rolle des Individuums seien). Der Unterschied bestehe nur darin, dass die De-mokraten als „etatistische Liberale” für den Ausbau des Wohlfahrtsstaates und ein gutes, ko-stengünstiges Bildungssystems eintreten, wäh-rend die Republikaner als „etatistische Konser-vative” eine starke Armee als Weltpolizist, die Einhaltung enger Moralvorstellungen und hohe Landwirtschaftssubventionen anstreben, all das trotz Steuersenkungen durch eine starke Rolle des Staates. – Anm. d. Üb.

6 Der Democratic Leadership Council (DLC) ist eine 1985 gegründete Organisation, die sich zum Ziel gesetzt hatte, den vermeintlichen „Linksruck” der Demokratischen Partei seit Ende der 1960er Jahre zu korrigieren. Als ih-ren größten Erfolg wertet sie die Kandidatur von Bill Clinton. 2008 unterstützte der DLC Hillary Clinton gegen Barack Obama. – Anm. d. Üb.

7 LGBT: Lesben, Schwule, Bi- und Transsexuel-le. Von denen, die sich nicht einordnen lassen können oder wollen, wird gelegentlich noch ein „Q“ für „queer“ angehängt. – Anm. d. Üb.

8 http://www.dailykos.com/story/2011/11/15/1036711/-Updated-Home-land-Security-FBI-Others-Advise-US-Conf-Mayors-Coordinated-Occupy-Crackdowns

9 http://stpeteforpeace.org/occupyarrests.sour-ces.html

10 UC Davis ist die Universität von Kalifornien in Davis – Anm. d. Üb.

11 http://knowyourmeme.com/memes/casually-pepper-spray-everything-cop

12 Ein Internet-Phänomen (oder „meme“) ist z. B. ein Bild, das sich schnell im Netz verbreitet und vielfach künstlerisch variiert wird. – Anm. d. Üb.

13 http://www.solidarity-us.org/site/node/347714 http://www.solidarity-us.org/site/node/3457

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SÜDAFRIKA

SÜDAFRIKANeville Alexander (1936 – 2012)Norman Traub berichtet über das Leben des verstorbenen südafrika-nischen Revolutionärs.

Norman Traub

Neville Alexander, der südafrikani-sche Revolutionär, Erziehungswissen-schaftler und renommierte Linguist ist nach einem langen Kampf gegen den Krebs am 27. August 2012 in Kapstadt gestorben. Er war 75 Jahre alt. Gebo-ren wurde er in Cradock in der Kap-provinz. Seine Großmutter mütterli-cherseits war eine freigelassene Skla-vin aus Äthiopien, die nach Südafrika geschickt wurde. Neville besuchte in Cradock eine Klosterschule, auf der er von deutschen Nonnen unterrichtet wurde. 1953 zog er nach Kapstadt um, wo er sich an der University of Cape Town einschrieb, um Geschichte und Germanistik zu studieren. Er schrieb eine Diplomarbeit über das schlesi-sche Barockdrama.

Durch den Kontakt mit einem Do-zenten wurde er radikalisiert; Ron-nie Britten war Mitglied der Teachers League of South Africa, einer Organi-sation, die dem Non-European Uni-ty Movement of South Africa (NUM-SA) angeschlossen war. Neville trat der Cape Peninsula Students Union bei, einer Mitgliedsorganisation der NUMSA; dort wurde er nicht nur mit der Ideologie des nationalen Kampfs vertraut gemacht, sondern auch in die Schriften von Karl Marx und Leo Trotzki eingeführt.

Er erhielt ein Stipendium der Ale-xander-von-Humboldt-Stiftung für ein Studium an der Universität Tübin-gen, wo er eine Dissertation über Ger-hart Hauptmann schrieb und dem So-zialistischen Deutschen Studenten-bund (SDS) beitrat. Da NUMSA ihn anhielt, für neue Ideen offen zu blei-ben, trat er in Kontakt zu Studieren-den aus vielen Teilen der Welt, darun-ter Algerien und Kuba. Das Massaker in Sharpeville [März 1960] konnte er nur aus dem fernen Deutschland ver-folgen. Bei seiner Rückkehr nach Süd-afrika kam er in Konflikt mit seinen GenossInnen von der NUMSA, als er die Übertragung des Guerillakriegs

nach Südafrika vorschlug. Er wurde aus der Organisation ausgeschlossen und gründete zusammen mit nami-bischen Aktivisten den Yu Chi Chan Club1 und später die National Libera-tion Front.

Diese Organisationen diskutierten über den Umsturz des Staates, enga-gierten sich aber konkret in keinerlei

Aktionen gegen den Staat. Ende 1963 wurde die Organisation von Spionen infiltriert, und eine Reihe von Mitglie-dern wurde festgenommen, unter An-klage gestellt und wegen verschwö-rerischer Vorbereitung von Sabotage verurteilt. Neville Alexander wurde zu zehn Jahren Haft auf Robben Island verurteilt. Die harten Urteile gegen Alexander und seine Genossen wur-den international verurteilt. I. B. Taba-ta, der Präsident der NUMSA, der sich auf einer Rundreise durch die USA befand, initiierte die Bildung des Ale-xander Defence Committee (ADC), das die Sammlung von Geld für die juristische Verteidigung und die Un-terstützung der Familien von politi-schen Gefangenen in Südafrika zum

Ziel hatte. In Kanada und verschie-denen europäischen Ländern entstan-den Dependancen des ADC.

Die Gefangenschaft auf Robben Island brachte Alexander in Kontakt mit Führungsleuten und anderen Mit-gliedern anderer Organisationen von Befreiungsbewegungen. Auch wenn Nelson Mandela bei den Verhand-lungen mit den Behörden fast immer der Sprecher der Gefangenen war, gab es vorher stets einen sehr demokrati-schen Prozess über anstehende Ent-scheidungen. Auf Robben Island bil-

deten die Gefangenen sich selbst wei-ter. Zu diesem Bildungsprozess sagte Alexander:

„Wir brachten uns untereinander bei, was wir wussten, und entdeckten dabei die Fähigkeiten von jedem ein-zelnen. Wir lernten auch, wie Men-schen mit wenig oder keiner formellen Bildung nicht nur selbst an Bildungs-programmen teilnehmen können, son-dern anderen eine ganze Reihe von Er-kenntnissen und Fähigkeiten beibrin-gen können. Die ,Universität von Rob-ben Island‘ war eine der besten Uni-versitäten im Lande. Sie hat mir auch gezeigt, dass man keine Professoren braucht.“

1974 wurde Alexander aus dem Gefängnis entlassen, fünf Jahre lang

Neville Alexander

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SÜDAFRIKA

stand er unter Hausarrest. 1977 ver-suchte Steve Biko, der Führer der Black-Consciousness-Bewegung, Ne-ville im Rahmen eines Prozesses zur Herstellung von Einheit unter den Befreiungsbewegungen in Kapstadt zu treffen. Wegen der rigorosen Be-

schränkungen seiner Bewegungsfrei-heit, die ihm seitens der Behörden auferlegt waren, konnte Alexander Bi-ko nicht treffen. Dies betrachtete er als „einen der tragischsten Momente in meinem Leben“. Als sein Hausar-rest 1979 zu Ende ging, hatte er sein Buch über die nationale Frage in Süd-afrika beendet: One Azania, One Nati-on erschien unter dem Pseudonym No Sizwe. Das zentrale Thema war, dass alle nationalen Bewegungen, die eine falsche Auffassung davon haben, wer die Nation Südafrika bildet, auf dem Felsen des Opportunismus auflaufen müssen. Über das Buch wurde viel und kontrovers diskutiert.

Gleich nach dem Ende des Haus-arrests nahm Alexander seine Lehr-tätigkeit an der Universität von Kap-stadt wieder auf. Er arbeitete im South African Committee on Higher Educa-tion (Sached) mit, einem bedeutenden Zentrum für alternative Bildung, und wurde 1980 zum Direktor von Sached Kapstadt ernannt. Die zentrale Idee dahinter war „Bildung für Befreiung“. Anfang der 1980er Jahre war Neville auch in der Cape Action League und

dem National Forum aktiv, das zur Koordination der Opposition gegen die Dreikammer-Verfassung gebildet wurde. Auf dem Gebiet der Sprachpo-litik war er an der Leitung einer Unter-suchung beteiligt, die zu dem Schluss kam, Südafrika werde eine mehrspra-

chige Gesellschaft bleiben, auch wenn Englisch sich in einer Post-Apartheid-Gesellschaft zum nationalen Kom-munikationsmittel entwickeln werde. 1990 veröffentlichte er das Buch Ed-ucation and the Struggle for National Liberation in South Africa, in dem er wiederholt darauf insistierte, dass Bil-dungsanstrengungen zur Befreiung von Südafrika führen würden.

1990 trat er an die Spitze der Wor-kers Organisation for Socialist Action (WOSA), die zur Vertretung der Inte-ressen der Arbeiterklasse gegründet wurde. Sie trat für die führende Rol-le der Arbeiterklasse, Antiimperialis-mus und Antirassismus ein. Sie war eine der wichtigsten Organisationen in Südafrika, die sich mit der Theo-rie der permanenten Revolution iden-tifizierte. WOSA beteiligte sich 1994 an den ersten demokratischen Wah-len, aus denen der ANC siegreich her-vorging.

1993 wurde Neville Alexander zum Direktor des „Project for the Study of Alternative Education in South Afri-ca“ ernannt. Diese unabhängige For-schungseinheit organisierte im Ju-

li 1994 die erste nationale Konferenz über Primarschulinitiativen, auf der der Regierung eine Reihe von Vor-schlägen zur Reform des Bildungs-systems gemacht wurde. 1996 wur-de ein Komitee unter Vorsitz von Ne-ville Alexander für die Vorbereitung eines Entwurfs zur Sprachenplanung gebildet, der dem Minister für Künste, Kultur, Wissenschaft und Technik 1996 vorgelegt wurde. Er wurde Mit-glied des Interimvorstands der „Afri-can Academy of Languages“ (ACA-LAN), die als offizielle Sprach- und Planungsagentur der Afrikanischen Union gegründet wurde. 2004 wurde er Mitvorsitzender eines neu geschaf-fenen Lenkungskomitees für die Um-setzung des Sprachenaktionsplans für Afrika mit Sitz in Jaunde (Kamerun). Ziel dieses Plans war und ist es, ei-nen Rahmen für die Bewertung aller Regierungsinterventionen im Zusam-menhang mit Sprachinfrastruktur vor-zulegen.

Neville Alexander hielt im Mai 2010 an der Universität von KwaZulu (Natal) die vierte Strini Moodley An-nual Memorial Lecture. Strini Mood-ley war ein führender Aktivist der Black-Consciousness-Bewegung. Ne-ville schloss den Vortrag mit den fol-genden Worten: „Ich denke, ich spre-che im Sinn von Strini Moodley und seinen Genossen, wenn ich der Hoff-nung Ausdruck verleihe, dass wir Ein-heit in der Aktion erreichen, gera-de weil wir doch eine neue Sicht auf den Kampf für eine andere Welt und ein anderes Südafrika zu finden versu-chen.“ Das revolutionäre Denken und die revolutionäre Leidenschaft von Neville Alexander werden beim Lesen dieser Ansprache deutlich, die in ihrer ganzen Länge (auf Englisch) hier zu finden ist:

„South Africa – an unfinished rev-olution“, http://socialistresistance.org/?p=3878.

Übersetzung aus dem Englischen und Bearbeitung: Friedrich Dorn

1 Yu Chi Chan: der von Mao angeführte Gue-rilla-Krieg zur Befreiung von der japanischen Okkupation.

Neville Alexander 1990

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Südafrika

Südafrikadie Linke und die krise SüdafrikasBrian ashley ist der Herausgeber der südafrikanischen Zeitung AMANDLA! Er wurde von david finkel und dianne feeley für die Zei-tung Against the Current interviewt.

interview mit Brian ashley

Against the Current: Bitte erzähle über das Magazin Amandla! – Was ist Eure Orientierung und Perspektive und was ist Euer Publikum im Rah-men der südafrikanischen Linken?

Brian Ashley: Amanla! wurde 2006 lan-ciert, zu einer Zeit, als die sich die Kri-se im Land vertiefte, die neoliberale Po-litik die Trennungslinien der Apartheid verschlimmerte und sich die Krise des African National Congress (ANC) und seiner Allianzpartner (der Kommunisti-schen Partei Südafrikas [SACP] und des Gewerkschaftsbundes COSATU) ver-tiefte. Anfänglich beteiligten sich Lin-ke innerhalb und außerhalb der ANC-Allianz aktiv, wobei allerdings diejeni-gen außerhalb der Allianz die Initiative leiteten.

Die Idee war, ein offenes linkes Fo-rum zu etablieren und eine nicht-sek-tiererische Diskussion über linke Stra-tegie zu erleichtern angesichts der (so-zialen und ökonomischen) Krisen im Land und des Aufbegehrens der Bevöl-kerung in den armen Gemeinden gegen die Unfähigkeit des Staates, grundle-gende und essentielle Dienstleistungen bereitzustellen, und angesichts der Ar-beitskämpfe gegen Arbeitsplatzverluste und Privatisierungen.

Allerdings löste sich die Linke in der Allianz im Wesentlichen in eine Frakti-on des ANC auf, die von Jacob Zuma, dem stellvertretenden Präsidenten des ANC und jetzigen Präsidenten des Lan-des, geführt wurde. Nachdem sie an-scheinend den Kampf um die Hegemo-nie im ANC gewonnen hatte, sah die Linke im ANC Beziehungen zu linken Kräften außerhalb des ANC als weniger wichtig an. Infolgedessen entstanden Differenzen innerhalb des Amandla!-Kollektivs, die sich wegen der Zunahme autoritärer und intoleranter Tendenzen innerhalb des von Zuma geführten ANC verschärften.

Führende Initiatoren des Amandla!

Projekts wurden aus der SACP ausge-schlossen, weil sie die Position kritisier-ten, dass die Zuma-Führung eine Wen-de nach links repräsentiere. Angesichts dessen änderte Amandla! die Perspekti-ve hin zur Förderung alternativer linker Strategien und der Unterstützung von Prozessen, die darauf abzielten, unab-hängige Kämpfe der Arbeiterklasse und unabhängige Initiativen zu fördern.

Der African National Congress war seit dem Ende der Apartheid offen-sichtlich die dominierende politische Partei. Ist es seine Entwicklung nach dem Vorbild der europäischen Sozi-aldemokratie, die ihn „sozial-neoli-beral“ werden ließ? Oder ist es kom-plizierter? Welches sind die rivalisie-renden Kräfte in ihm und wie steht es um die Dreier-Allianz mit dem Ge-werkschaftsbund COSATU und der Kommunistischen Partei Südafrikas?

Der ANC ist eine breite nationalistische Bewegung mit unterschiedlichen politi-schen und ideologischen Strömungen. Innerhalb der Organisation haben bür-gerliche, hauptsächlich aber kleinbür-gerliche Kräfte immer eine dominan-te Rolle gespielt. Die SACP und die Al-lianz des ANC mit der Gewerkschafts-bewegung haben für einen starken Ein-fluss der Arbeiterklasse gesorgt, der sich im Zusammenhang mit den Massen-kämpfen der 80ger Jahre verstärkte.

Aber nach Erringen der politischen Freiheit 1994 und als Ergebnis der Auf-nahme vieler Schwarzer in den Öffent-lichen Dienst und der Politik des Black Economic Empowerment (Schwar-ze wirtschaftliche Ermächtigung), ha-ben hauptsächlich bürgerlich nationalis-tische und kleinbürgerliche Kräfte den politischen Kurs des ANC bestimmt.

Viele ANC Führer sind jetzt bedeu-tende Investoren in einer Reihe von In-dustrien: Finanzen, Bergwerken, Fi-scherei, Landwirtschaft, Telekommu-

nikation, Rüstung und vielen anderen. Sie nutzen ihre politischen Positionen im ANC und im Staat, um lukrative Geschäfte abzuschließen, die sie fast über Nacht zu Dollarmillionären ma-chen.

Wenn man sich das Versagen des ANC, den Reichtum umzuverteilen, und seine neoliberale Politik ansieht, dann sollte man nicht den Einfluss der Ände-rung des internationalen Kräfteverhält-nisses nach dem Kollaps der Sowjetuni-on und dem Aufkommen der Globalisie-rung aus dem Auge verlieren. Trotzdem ist der Schlüssel für Südafrikas neolibe-rale Wandlung die Macht des südafri-kanischen Kapitals und das anfängliche Widerstreben des ANC, die Konfron-tation mit dem Kapital zu suchen, den Reichtum durch Besteuerung, Zwangs-investitionsprogramme und selbst Na-tionalisierungen umzuverteilen und da-durch das Erbe von Apartheid und Un-terentwicklung zu überwinden.

Stattdessen gibt es eine gradu-elle Kooptierung durch das große Ka-pital mit Hilfe von „Black Economic Empowerment“-Programmen, durch die politisch vernetzte schwarze Ge-schäftsinteressen durch allerlei Ge-schäfte zu Juniorpartnern des großen Kapitals werden.

Zuma repräsentiert angeblich die ANC-Linke, somindest rhetorisch. Hat sich seine Regierung um die öko-nomische und soziale Lage der Mehr-heit der Schwarzen gekümmert – und wie würdest Du die Wirtschaft und das Ausmaß der Ungleichheit im ge-genwärtigen Südafrika charakterisie-ren?

Es war eine große Tragödie für die Lin-ke, als COSATU, die SACP und ande-re linke Kräfte im ANC, die verzweifelt nach einer Alternative zur neoliberalen Politik des Regimes des AIDS-Leug-ners Mbeki suchten, sich um Jacob Zu-ma sammelten und dabei halfen, dass er zum Präsidenten des ANC und danach des Landes gewählt wurde. Zuma ist ein mit allen Wassern gewaschener Politi-ker, der sich seine Unterstützung gesi-chert hat, in dem er sich gleichzeitig als

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Südafrika

Mann der Linken präsentierte und den Mantel des Zulu-Nationalismus von der Inkatha Freedom Party übernahm.

Er hat absolut nichts Linkes an sich. Persönlich ist er ein Schwulenfeind, ein Frauenfeind und ein Polygamist. Sei-ne Regierung führt die neoliberale Poli-tik fort, in dem sie eine Politik des Mo-netarismus, der Inflationsbekämpfung und der Flexibilisierung des Arbeits-markts verfolgt. Das erklärt die wach-sende Entfremdung der COSATU von dem Regime, dem sie half, an die Macht zu kommen. Das jüngste Anzeichen für den Bruch zwischen Zumas Regierung und der COSATU war der massive Ge-neralstreik am 12. März 2012, den die COSATU führte und der sich gegen die Maut auf Johannesburgs Autobahnen und das Ausbleiben des Verbots der Ar-beitsvermittler durch die Regierung richtete.

Welten trennen das Leben in den Townships von dem in den Vorstädten, und ein noch größerer Unterschied be-steht zwischen dem Leben in den frühe-ren Bantustans und dem in den Metro-polen. Unser Land steht vor extremen Schwierigkeiten im Umgang mit Mas-senarbeitslosigkeit und Armut. In ih-rer Verbreitung und Auswirkung ist die HIV/Aids-Pandemie nach wie vor ver-heerend, obwohl die Zeiten der Aids-Leugnung vorbei sind. Und wir können auch nicht die Augen vor den Krisen un-serer Erziehungs-, Gesundheits-, Was-ser- und Wohnungssyteme verschließen. Das Ergebnis sind Kriminalität und Ge-walt, die unsere Gesellschaft erschüttern und unsere Sinne betäuben.

Ungleiche gesellschaft, niedergang der Wirtschaft

Massenarbeitslosigkeit und Armuts-löhne stehen im Zentrum der sozialen Krisen, mit denen unser Volk konfron-tiert ist. Mehr als ein Viertel der Ar-beitskräfte sind arbeitslos. Wenn man noch die ArbeiterInnen berücksich-tigt, die aufgehört haben, nach Arbeit zu suchen, dann beträgt die Arbeitslo-senquote 40 % aller Arbeitskräfte. Laut der National Planning Commission des Regierungsministers Trevor Manuel, verdient mehr als ein Drittel aller Ar-beiterInnen weniger als 120 $ im Mo-nat und die Hälfte aller ArbeiterInnen verdient weniger als 300 $.

Dieser Krise liegt der Niedergang der südafrikanischen Wirtschaft zu-

grunde. Südafrika ist seit Kurzem Mit-glied der BRICS, einer Gruppe führen-der Schwellenländer: Brasilien, Russ-land, Indien und China. Die Ironie ist, dass Südafrikas Ökonomie die Region und den weiteren afrikanischen Konti-nent dominiert und gleichzeitig als ei-ne niedergehende im Gegensatz zu ei-ner aufstrebenden Ökonomie einge-schätzt werden kann.

Das ist im Wesentlichen ein Er-gebnis der Erschöpfung des Wachs-tumsmodells der Apartheid, das auf Bodenschätzen und Energie basierte, und dem Versäumnis nach dem Ende der Apartheid, die Wirtschaft in neue Wachstumssektoren zu diversifizie-ren. Die Öffnung der südafrikanischen Wirtschaft vermochte nicht die aus-ländischen Investitionen anzuziehen, mit denen man hoffte, ein nachhal-tiges Wachstum in den produktiven, Arbeitsplätze schaffenden Sektoren zu erreichen.

Im Zentrum von Südafrikas Nie-dergang sind drei miteinander verwo-bene Faktoren: Südafrikas zurückge-hende Ressourcen; schwache interne Märkte und Nachfrage nach Konsum-gütern; ein politischer Rahmen, der ei-ne offene, nach außen orientierte Öko-nomie begünstigt, die Finanzialisie-rung und Kapitalflucht erleichtert.

Die Nach-Apartheid-Literatur hat sich darauf konzentriert, die struk-turellen Schwächen der südafrika-nischen Wirtschaft und den neolibe-ralen politischen Rahmen als Hinder-nisse für nachhaltige Entwicklung zu beschreiben. Weniger Aufmerksam-keit gab es für den Niedergang der südafrikanischen Ressourcen.

In Südafrika gibt es ein allge-meines Muster der Ressourcener-schöpfung in vielen zentralen Sek-toren wie Energie, Bodenschätze (zum Beispiel wurden die Schätzungen der Kohlereserven auf nur ein Fünftel der ursprünglichen Schätzung nach unten revidiert), Wasser (2004 waren bereits 98  % aller Wasserreserven zugeteilt) und Bodenfruchtbarkeit (41  % aller kultivierten Böden sind von nachlas-sender Fruchtbarkeit betroffen).

Selbst Südafrikas Biodiversität und Umweltinfrastruktur steht unter ex-tremen Stress durch industrielle Pro-zesse und den Klimawandel. Die Res-sourcenerschöpfung in diesen zentra-len Sektoren wird einen negativen Ef-fekt auf die südafrikanischen Exporte

haben und die Kosten der lokal produ-zierten Güter nach oben treiben, was die Wirtschaft noch weiter schwächen wird. Wenn das Wirtschaftswachstum nicht von zunehmendem Ressourcen-verbrauch und negativen Umweltaus-wirkungen abgekoppelt wird, dann wird die wirtschaftliche Entwicklung leiden, mit allen negativen Konse-quenzen für Gesellschaft und Umwelt.

Vor dem Hintergrund der globalen Krise wurde Südafrikas Verwundbar-keit durch externe Schocks der Welt-wirtschaft fortwährend gezeigt durch Währungszusammenbrüche, Kapi-talflucht, Exportrückgänge und mas-sive Arbeitsplatzverluste. Während der großen Rezession 2008–2009 al-lein gingen eine Million Arbeitsplät-ze verloren.

All das hat dazu beigetragen, dass Südafrika eines der am stärk-sten, wenn nicht gar das am stärk-sten „ungleich“ entwickelte Land der Welt ist. Der südafrikanische Gini-Koeffizient ist 0,73, wobei 1 absolu-te Einkommensungleichheit bedeu-tet. (Das ist eine statistische Maß-zahl, die ausdrückt, wieviel Einkom-men die reichsten Schichten auf sich vereinen. Zum Vergleich: in den USA, dem ungleichsten der industrialisier-ten Länder liegt der Gini-Koeffizient zwischen 0,46 und 0,47 – die Heraus-geber.)

Ein wesentlicher Grund für das Ansteigen der Ungleichheit ist, dass sich die Arbeitslosenquote seit dem Ende der Apartheid fast verdoppelt hat. 70 % der Arbeitslosen sind unter 35 und mehr als 60 % sind Frauen.

Frauen in den ländlichen Gebieten, insbesondere in den früheren Bantu-stans, sind am meisten von Arbeitslo-sigkeit und Armut betroffen – insbe-sondere wegen des Versäumnisses der Regierung das Land neu zu verteilen. Von den 30 % des Landes, die bis 2014 umverteilt werden sollten, erhielten Schwarze weniger als 7 %. Ein großer Teil dieses Landes wird nicht produk-tiv genutzt, weil die Regierung es ver-säumt, die Gemeinden mit Saatgut und Beratung zu unterstützen.

Ungleichheit findet ihren Ausdruck auch in dem ungleichen Zugang zu Gü-tern der Daseinsvorsorge wie Wasser, Elektrizität, Abwasserentsorgung, Woh-nung, Bildung und Gesundheit. Das hat zu einer Welle militanter Proteste ge-führt, die dafür sorgten, dass Südafrika

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Südafrika

das Land mit der höchsten Anzahl sozi-aler Proteste pro Kopf der Bevölkerung der Welt ist.

aUf dem Weg zU einer alternative

Was ist die Demokratische Linke Front (Democratic Left Front) – und in welchem Umfang ist sie bereits eine Alternative bzw. kann sie eine solche werden? Was sind ihre strategischen Prioritäten und wie steht es mit ih-rer Unterstützung durch die Arbei-terklasse?

Die Democratic Left Front (DLF) ist ei-ne antikapitalistische, politische Ein-heitsfront sozialer Bewegungen, Ge-werkschaften, Gemeindeorganisationen und politischer Strömungen, die offizi-ell im Januar 2011 gegründet wurde. In der Mehrzahl der 9 Provinzen Südafri-kas hat sie Strukturen, und obwohl sie nicht an den Lokalwahlen 2011 teilge-nommen hat, hat sie 20 gewählte Man-datsträgerInnen, die über angeschlos-sene Organisationen mit ihr zusammen-arbeiten.

Ihre zentrale strategische Priorität ist es, Solidarität mit den Tausenden von Basiskämpfen zu üben und sie zu ver-netzen; Basiskämpfe, die ausbrachen aufgrund des Versagens der Regierung, die arme Bevölkerung mit grundlegen-den und essentiellen Dienstleistungen zu versorgen. Angesichts von Massen-arbeitslosigkeit (40  %, wenn man die entmutigten ArbeiterInnen einbezieht) und einem Fehlbestand von mehr als 2 Millionen Wohnungen hat die DLF ei-ne Kampagne gestartet, die diese beiden Dinge zusammenbringt. Wir fordern ein massives Wohnungsbauprogramm, das notleidende Industrien stimulieren und Millionen von Arbeitsplätzen am Bau schaffen kann.

Die DLF orientiert sich am Öko-Sozialismus und unterstützt daher die Kampagne „One Million Climate Jobs (Eine Million Arbeitsplätze im Klima-sektor)“. Hier geht es um Arbeitsplät-ze, um den Ausstoß von Treibhausga-sen zu verringern, die für den Klima-wandel verantwortlich sind. Da Süd-afrika der zwölftgrößte Verursacher von Treibhausgasen in der Welt ist, ist es dringend, dass wir auf erneuerbare Ener gien (hauptsächlich Sonne und Wind) umschalten, ein anständiges öf-fentliches Verkehrssystem aufbauen (in

diesem Zusammenhang Umwelt ver-schmutzende Lastkraftwagen und Autos von der Straße nehmen), Gebäude Ener-gie sparend umrüsten und – weg von der industriellen – auf kleinflächige, orga-nische Landwirtschaft umschalten.

Auf diese Weise können Millionen von Arbeitsplätzen im Klimasektor ge-schaffen werden und unsere gegenwär-tig stark extraktionsorientierte Wirt-schaft kann auf eine diversifiziertere in-

dustrielle Struktur umorientiert werden, die sich der dringendsten Bedürfnisse unserer Bevölkerung annimmt. Das ist die Art, wie ArbeiterInnen auf einer wie auch immer gearteten Massenebene auf den Klimawandel aufmerksam ge-macht werden können. Anders erscheint der Klimawandel zeitlich und örtlich zu weit entfernt und verschwindet an-gesichts der unmittelbaren Krisen von Wohnraum, Bildungswesen, Gesund-heitswesen und natürlich guter Arbeit.

Die DLF ist dabei, zu einer bedeu-tenden Kraft zu werden, insbesondere in der Provinz Gauteng, dem Zentrum der südafrikanischen Arbeiterklasse. Allerdings erachten wir es als wichtig, uns auf die COSATU zu beziehen; das ist die dominierende Gewerkschaftsbe-wegung des Landes. Sie befindet sich gegenwärtig in einer Allianz mit dem ANC und der SACP. Die Spannungen innerhalb der ANC-Allianz nehmen zu und wir glauben, dass das die Möglich-keit einer breiteren Umgruppierung mit der Linken in COSATU und anderen so-zialen Strömungen schafft, was die Ba-sis für eine politische Alternative zum ANC auf Massenbasis sein wird.

Da diese Entwicklung noch einige

Jahre auf sich warten lassen wird, ist es wichtig, dass sich die DLF in den aktu-ellen Kämpfen aufbaut und das Vakuum auf der Linken füllt, besonders seit sich die SACP in den ANC aufgelöst und aufgehört hat, als unabhängige Kraft die ArbeiterInnen zu mobilisieren.

Kapstadt ist die einzige größere Stadt, die von der Democratic Alliance (der liberalen Oppositionspartei) regiert

wird, und die Kapregion ist das ein-zige Gebiet, wo die Menschen, die nach der Farblehre der Apartheid („Farbige“, Inder und Weiße) nicht als „schwarz“ eingestuft wurden,, die Mehrheit sind. Wir wissen, dass viele Schwarze (nicht nur ANC-Anhänge-rInnen) das als Problem sehen. Was ist mit diesen Gefühlen? Wie ist die soziale Zusammensetzung der Demo-cratic Alliance? Sind die schwarzen Unterstützer der DA hauptsächlich Angehörige der professionellen und reichen Klassen? Ist sie langfristig ei-ne ernsthafte Gefahr für den ANC?

Die Mehrheit der Bevölkerung in Kap-stadt und der Westkap-Provinz wird von Menschen gestellt, die vom Apartheid-Regime als „Farbige“ eingestuft wur-den. Wir müssen uns vergegenwärti-gen, dass unter der Apartheid Kapstadt auch als Region mit vorzugsweise far-biger Arbeitskraft behandelt wurde. Das bedeutete, dass die Migration von soge-nannten AfrikanerInnen aus den Ban-tustans sehr eingeschränkt wurde. Das erklärt diese spezielle demographische Zusammensetzung.

Historisch gesehen muss man ver-

Brian ashley

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Südafrika

stehen, dass Kapstadt die älteste Stadt Süfafrikas ist und mehrere Wellen ko-lonialer Einwanderung (aus Holland und Britannien) erlebt hat und die Hei-mat der ersten afrikanischen und ma-layischen Sklaven war.

Kapstadt hat eine reiche Geschich-te von Widerstand, gewerkschaft-licher Bewegung und militanter Kämp-fe. Sogenannte „Farbige“ spielten ei-ne führende Rolle in der Anti-Apart-heid und anti-kapitalistischen Bewe-gung im Westkap. Die Rolle und der Beitrag dieses Teils der unterdrückten Bevölkerung war nie voll integrierter Bestandteil des schwarzen Nationalis-mus, der sich in der Nach-Apartheid-Zeit durchsetzte. Afrikanischer Natio-nalismus definierte sich zu eng, um die sogenannten „Farbigen“ zu integrieren und ihnen das Gefühl zu geben, Be-standteil der sich bildenden Nation zu sein.

Da dieser Teil der Bevölkerung in Bezug auf Löhne, Wohnungen und Le-bensstandard etwas besser gestellt war, führte die bevorzugte massive Ein-stellung von Schwarzen in den Staats-dienst nach dem Fall der Apartheid zu Ängsten, dass die „Farbigen“ ge-genüber den „Afrikanern“ die Verlie-rer sein würden. Das verschärfte Pro-zesse der Polarisierung, schwächte die gemeinsame schwarze Identität (aufge-baut während des Befreiungskampfes) und führte zum Gefühl einer getrenn-ten Identität.

Es wurde wenig getan, um das Erbe räumlicher Apartheid, getrennter Ent-wicklung und anderer Barrieren (Spra-che, Bildung, Sport) zu überwinden. „Farbige“ leben nach wie vor in den gleichen Vierteln und ihre Kinder be-suchen die gleichen Schulen wie unter der Apartheid.

Diese Bedingungen führten zu Un-sicherheiten und Ängsten in den Wohn-bezirken der ArbeiterInnen, während sie gleichzeitig die Auswirkungen der neoliberalen Politik zu spüren beka-men: Massiver Verlust von Arbeitsplät-zen im öffentlichen Sektor bei städ-tischen Dienstleistungen, Bildung, Ge-sundheit und dem Dienstleistungssek-tor im Allgemeinen. Massenarbeits-losigkeit und Mangel in vielen „far-bigen“ Vierteln haben zu einer tiefen Entfremdung von der Gesellschaft ge-führt. Das trifft besonders auf die Ju-gend zu.

Das führte zu einem hohen Ni-

veau von Gangstertum, Verbrechen und Drogenmissbrauch, das mit eini-gen Gebieten der afroamerikanischen Ghettos vergleichbar ist. Die dadurch bedingten Unsicherheiten und das Phänomen der Massenarbeitslosig-keit führten dazu, dass viele „Farbige“ nicht mehr für den ANC stimmten. Al-lerdings gewann die Democratic Alli-ance (DA) ihre Basis nur durch eine Serie von Fusionen mit kleineren Par-teien wie den Independent Democrats und der früheren National Party (die alte Apartheid Partei).

Die wesentliche Wählerbasis der DA sind nach wie vor Weiße der Mit-telklasse. Aber mit der wachsenden Verzweiflung angesichts steigender Ar-beitslosigkeit, dem Versagen der Re-gierung, die grundlegenden Dienst-leistungen anzubieten, verbunden mit wachsender Korruption, gelangen der DA Einbrüche in die Wählerschaft ei-niger schwarzer Wohnviertel.

Es ist wahrscheinlich, dass zu den nächsten Wahlen eine Allianz kleinerer Parteien einschließlich des Congress of the People (COPE), einer Abspal-tung vom ANC zu Zeiten des Sturzes von Mbeki, gemeinsam mit der DA antritt und dann fusioniert. So könnte die DA größere Unterstützung in eini-gen afrikanischen Wohnvierteln gewin-nen. Nichtsdestoweniger unterstützt die schwarze Mittelklasse hauptsäch-lich den ANC und lässt sich durch ei-nen chauvinistischen schwarzen Natio-nalismus mobilisieren.

Wie beurteilst Du aus südafrika-nischer Sicht das US-Wahlspektakel aus der Ferne?

Ja, wir waren sehr beeindruckt vom Aufkommen der Occupy-Bewegung als Bewegung der 99 % gegen die Eli-te von 1 %, die alle Aspekte des Lebens in den USA dominiert. Dass sie unter dem Namen „Besetzt die Wallstreet“ in Erscheinung trat, war inspirierend und hat große Erregung bewirkt angesichts der Rolle, die die Wallstreet bei der Fi-nanzkrise und der Erhaltung des Neoli-beralismus spielt.

Viele Details der Occupy-Bewe-gung, der unterschiedlichen Kräfte,die beteiligt sind, und der unterschied-lichen ideologischen Positionen be-kommen wir aufgrund der Entfernung von den USA trotz Internet, das ja alles näher zusammenbringt, nicht mit.

Anfänglich hatten viele Schwarze große Illusionen angesichts des trium-phalen Wahlsiegs, aus dem Obama als erster schwarzer Präsident der Vereini-gten Staaten hervorging. Bei den fort-schrittlichen Schichten sind sie ver-schwunden, da Obama Bushs Krieg ge-gen den Terrorismus fortführte und an-gesichts der Interventionen im Nahen Osten. Viele SüdafrikanerInnen ärger-ten sich darüber, dass die USA Muba-rak angesichts des Aufstands in Ägyp-ten verteidigten, sowie über die Stati-onierung amerikanischer Truppen in Afrika.

Das Aufkommen der Tea-Party-Be-wegung und anderer reaktionärer Kräf-te in und um die Republikanische Par-tei haben wir im Wesentlichen verpasst. Als Romney Präsidentschaftskandidat wurde und Obama bezichtigte, sozia-listische Politik zu machen, und – wie berichtet wird – 40  % der US-Bevöl-kerung das für wahr halten, waren wir bass erstaunt und tendieren nun dazu, nicht mehr zu glauben, dass die Politik in den USA einen Sinn ergibt.

Was die Dinge für uns besonders schwer verständlich macht: Wir wür-den erwarten, dass es angesichts der Auswirkungen der wirtschaftlichen Krise, der Millionen von Menschen, die durch sie und die Rolle des 1 Pro-zents ihre Wohnungen und Erspar-nisse verloren haben, große Massende-monstrationen der arbeitenden Bevöl-kerung, Proteste und sogar General-streiks gäbe. Wir finden es schwer zu verstehen, dass es nicht mehr Ereig-nisse wie in Wisconsin gibt und wa-rum sie nicht erfolgreicher dabei sind, die Eliten zu stoppen. Es handelt sich ja nur um 1 %!

Dianne Feeley ist eine sozialistische Feminis-tin und eine Redakteurin von „Against the Cur-rent“. Feeley ist in Rente und arbeitete früher in der Automobil Teile Industrie. Sie ist Mitglied von USW Local 235.

David Finkel ist ein Redakteur von „Against the Current“, die von der sozialistischen Organisati-on Solidarity (USA) herausgegeben wird.

Brian Ashley ist der Herausgeber der südafrika-nischen Zeitung Amandla!.

Übersetzung: W. Weitz

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SÜDAFRIKA

SÜDAFRIKAMarikana – ein Wendepunkt?Auch wenn der Streik der schwarzen Minenarbeiter in Marikana mit zwischenzeitlichen Lohnerhöhungen zwischen 10 und 20 % weit hinter den ursprünglichen Forderungen zurückgeblieben ist, bleibt der folgende Artikel hinsichtlich der Tragweite der Ereignisse auf die südafrikanische Gesellschaft aktuell. Inzwischen (Mitte Oktober) be-finden sich fast 100 000 Bergarbeiter im wilden Streik und blockie-ren trotz Massenentlassungen die Platinminen. Die Kritik am ANC wegen dessen Unvermögen, die schwarze Bevölkerung am Roh-stoffreichtum teilhaben zu lassen, wächst, und Präsident Zuma ver-liert immer mehr die Initiative und beschränkt sich mittlerweile da-rauf, einen „konstruktiven sozialen Dialog“ einzufordern. Das Ver-trauen der internationalen Investoren in das Krisenmanagement der Regierung schwindet ebenso wie der Kurswert des Rand. Die Aktien der Rohstoffkonzerne geraten unter Druck und der Platinpreis ex-plodiert. Und ein Ende der größten Erhebungen seit dem Sturz der Apartheid ist nicht in Sicht. [AdÜ]

Martin Legassick

Das Massaker vom 16. August in Ma-rikana mit mindestens 34 toten und über 80 verletzten Bergleuten hat Wut und Entsetzen über Südafrika hinaus hervorgerufen. Die Geschichte unse-res Landes könnte dadurch einen ent-scheidenden Wendepunkt erfahren ha-ben.

Die Stadt Marikana liegt in einer Ödnis, die im Winter von dürrem Gras überzogen ist und wo sich hie und da bewachsene Steinhügel (kopjes) fin-den. Die drei Minen, die der Lonmin1 gehören – Karee, West und East Pla-tinum – liegen am Rande der Stadt. Zwei davon sind von einer Siedlung mit Wellblechhütten umgeben, zwi-schen denen Wäscheleinen gespannt sind. Dort, in Enkanini, lebt die Mehr-zahl der Bergleute.

Überragt wird die Siedlung von den Gebäuden der Minengesellschaft und einem riesigen Umspannwerk mit Strommasten, die das Gelände zer-schneiden. Diese Verschachtelung von Bergbau und Energieerzeugung in einem sog. mineral-energy complex (MEC) ist spezifisch für die südafrika-nische Wirtschaft und wurde Ende des 19.  Jh. als Modell auf Grundlage der billigen Arbeitskraft der schwarzen Wanderarbeiter entwickelt. Mittler-weile wurde lediglich das Gold durch Platin als Hauptabbauprodukt ersetzt.

Südafrika liefert drei Viertel des weltweiten Platinbedarfs, der bspw.

beim Bau von Fahrzeugkatalysatoren sowie bei der Schmuckerzeugung ent-steht. Als Goldproduzent hingegen ist das Land vom ersten auf den fünften Platz zurückgefallen. Die Bergarbei-ter stammen noch immer vorwiegend aus der Provinz Ostkap, die während der Apartheid am meisten von der Wanderarbeit betroffen war. Ein Drit-tel der Beschäftigten sind Leiharbei-ter, die gegen niedrigen Lohn und oh-ne jede soziale Absicherung arbeiten.

Die Hauer in den Platinminen ar-beiten unter Tage bei Temperaturen von 40–45 °C unter beengten, feuch-ten und stickigen Bedingungen, stän-dig bedroht durch herab fallendes Ge-stein. Die 3000 Bergleute, die dabei täglich ihr Leben aufs Spiel setzen, sind in den Streik getreten, um Lohn-erhöhungen von monatlich 4000 auf 12 000 Rand durchzusetzen.

Die enormen gesellschaftlichen Gegensätze im heutigen Südafrika kommen gerade in diesem Neben-einander von MEC und Enkanini zum Vorschein. In dem Elendsquartier tei-len sich 50 Menschen eine Toilette im Freien, aus den wenigen Wasserhäh-nen tröpfelt ein Rinnsal, Krankheiten werden über die Abwässer aus den undichten Rohren verbreitet und die Kinder suchen sich ihre Nahrung auf den Müllhalden.2

Unter der ANC-Regierung seit dem Ende der Apartheid 1994 haben

die Gegensätze noch weiter zugenom-men. Die Unternehmensvorstände kas-sieren Millionen an Gehältern und Bo-ni, während fast ein Drittel der Men-schen von 432 Rand3 oder weniger im Monat leben müssen. Die Gehälter der drei Spitzenmanager von Lonmin la-gen 2011 bei 4,6 Mio. Rand (Sunday Independent, 26. August 2012). Ein-zelne Schwarze, die nach 1994 infol-ge eines Abkommens der weißen Ka-pitaleigner mit der Regierung in die Unternehmensvorstände gehievt wur-den, glänzen durch unglaubliche Ver-schwendungssucht. Cyril Ramaphosa, ehemaliger Generalsekretär der Nati-onal Union of Mineworkers (NUM) und jetziger Direktor von Lonmin, hat unlängst einen seltenen Büffel zum Preis von 18 Mio. Rand gekauft – was umso größere Empörung unter den Bergleuten von Marikana hervorgeru-fen hat, als er lediglich 2 Mio. Rand für die Beerdigungskosten der ermor-deten Bergmänner spendete. Die Ar-beitslosigkeit in Südafrika liegt re-al bei 35–40 % und höher noch unter den Frauen und Jugendlichen, und da-mit weltweit an erster Stelle.

Auf der flucht erschos-sen

In den Medien war zu sehen, wie die Polizei mit Maschinenpistolen auf die streikenden Bergleute schoss, die von den Hügeln herab auf sie zu rann-ten, und wie die tödlich Getroffenen zu Boden fielen. Die Polizei hatte ei-ne Sperre aus Stacheldraht errichtet mit einer 5 m breiten Lücke, durch die die Bergleute zurück nach Enkanini zu flüchten versuchten, um dem Trä-nengas und den Wasserwerfern zu ent-kommen.

Die meisten Toten gab es jedoch nicht dort, wie beschämender Wei-se durch Nachforschungen der Uni-versität von Johannesburg statt durch Journalisten enthüllt wurde. Denn das Gros der Streikenden flüchtete vor der Polizei in die genau entgegengesetz-te Richtung. Auf einem hinter der Hü-gelsiedlung gelegenen „kopje“ sind noch die Spuren der Blutlachen zu se-

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SÜDAFRIKA

hen. Die gelben Markierungen der Po-lizei auf diesem „Todeshügel“ zeigen, wo vormals die Leichen lagen, und die vorgenommenen Etikettierungen rei-chen bis zum Buchstaben „J“. Auch aus Hubschraubern wurde auf die flüchtenden Arbeiter geschossen und andere wurden, nach Angaben der Bergleute, von Panzerfahrzeugen der Polizei zerquetscht. Binnen weniger Tagen hat die Polizei auf dem ganzen Gelände die Gummigeschosse, Pa-tronenhülsen und Tränengasgranaten beseitigt. Nur verkohlte Grasflecken weisen noch darauf hin, dass die Poli-zei Spuren durch gezieltes Abbrennen verwischt hat.

Die Zahl der Todesopfer liegt ziemlich sicher über den offiziellen Angaben von 34, da noch immer Ar-beiter vermisst werden.

Allem Anschein nach hat die Poli-zei keineswegs in Panik auf die Arbei-ter geschossen, in der Annahme, dass diese sie mit Stöcken und Macheten angreifen würden. Warum sollte sie dann eine schmale Lücke im Stachel-draht lassen? Und warum tötet sie Ar-beiter, die von den Polizeistellungen wegrennen? Vielmehr war es eiskalter Mord, den eine hochgerüstete Polizei begangen hat, um den Streik zu bre-chen, und zwar auf Befehl von ganz oben. Die Autopsien haben jüngst er-geben, dass den meisten Arbeitern in den Rücken geschossen wurde, was zeigt, dass sie auf der Flucht niederge-macht wurden.

Infolge der globalen kapitalisti-schen Krise ist der Absatz von Neu-fahrzeugen und damit der Platinpreis zurückgegangen, was auf die hohen Profite von Lonmin drückt. Das Un-ternehmen weigerte sich, mit den Streikenden zu verhandeln und drohte stattdessen in altbewährter Manier mit Massenentlassungen. Da durch den Streik täglich 2500 Feinunzen Pla-tin im Gegenwert von 3,5 Mio. Dol-lar weniger gefördert werden, war das Unternehmen natürlich bestrebt, den Streik zu zerschlagen. Ein Vorstands-mitglied aus der Platinindustrie wird mit den Worten zitiert, dass, wenn die Löhne auf 12  500 Rand erhöht wür-den, „der gesamte Platinabbau dicht-gemacht werden müsse“ (New Age, 20. August 2012).

Das Massaker hat sich jedoch als Bumerang für die Unternehmer er-wiesen und nur den Zorn und die Ent-

schlossenheit der Bergleute von Ma-rikana, den Streik aufrecht zu erhal-ten, verstärkt. „Lieber sterben wir, als auf unsere Forderung zu verzichten“, hieß es auf einer Protestkundgebung am 22. August in Johannesburg. Nach dem Massaker hat sich der Streik so-gar noch auf die Beschäftigten der Un-ternehmen Royal BaFokeng Platinum und Anglo American Platinum ausge-weitet, und selbst ein Generalstreik in dem Sektor ist inzwischen nicht mehr auszuschließen.

Riah Phiyega, der Polizeichef, be-suchte unmittelbar vor dem Massaker die Polizei in Marikana. Am Tag des Massakers selbst erklärte ein Polizei-sprecher: „Heute ist der Tag X“ (Busi-ness Report, 17. August 2012). Nach den Morden meinte Phiyega: „Wir haben richtig gehandelt“ (The Star, 20.  August 2012). Die ANC-Regie-rung handelt als Komplize bei diesen Morden im Dienst der weißen Berg-werkunternehmer.

der Anc Als erfüllungsge-hilfe polizeilicher gewAlt

Das Massaker ist typisch für das ge-waltsame Vorgehen von ANC und Po-lizei gegen soziale Proteste, das be-reits in den vergangenen Jahren meh-rere Opfer gefordert hat, u. a. den Füh-rer der South African Municipal Wor-kers Union (SAMWU), Petros Msiza. Natürlich verliert der ANC dabei sei-ne moralische Autorität, die er sich in den Jahren des Befreiungskampfes er-worben hat. Nach dem 16. August ver-suchte Jacob Zuma, der südafrikani-sche Präsident, diese Klippe zu um-schiffen, indem er sich von den Mor-den distanzierte und die tragischen Ereignisse bedauerte. Bei seinem Be-such in Marikana sechs Tage danach wurde er von den Kumpels kühl emp-fangen, obwohl er offizielle Trauer ausgerufen und eine Untersuchungs-kommission eingerichtet hatte. Damit versucht er, sich und den ANC zu re-habilitieren, bevor er sich im Dezem-ber auf der ANC-Konferenz in Man-gaung zur Wiederwahl stellen muss. Dementsprechend ist der Zeitplan: Die Kommission soll ihren Bericht in fünf Monaten – und damit nach der Konferenz – vorlegen und bis dahin soll alle öffentliche Diskussion darü-ber abgewiegelt werden.

Die Minenarbeiter trauen dieser

offiziellen Kommission wenig und fordern eine unabhängige Untersu-chungsinstanz und die Aufhebung der Anklagen gegen die 259 verhafteten Kumpel. Wie einer von ihnen sagt: „Derselbe, der den Schießbefehl ge-geben hat, hat nun die Kommission ernannt.“ (Business Day, 23.  August 2012).

Der frühere und inzwischen aus-geschlossene Jugendführer des ANC, der Populist Julius Malema, versucht von den Ereignissen zu profitieren, in-dem er – mit Vorwürfen an die Adres-se des Präsidenten – Marikana einen Besuch abstattet und den Familien der Getöteten seine Unterstützung anbie-tet. Auch die anderen Führer der par-lamentarischen Opposition haben sich wie die Aasgeier als Delegation am 20. August in Marikana eingefun-den, um ihr Beileid abzustatten. Bei der dortigen Prozession machten sich gleich 20 Prediger gegenseitig das Mi-krofon streitig.

gewerkschAftliche flü-gelkämpfe

Nach Medienberichten ist die Ge-walttat Folge der Rivalität zwischen der NUM und der Association of Mi-neworkers and Construction Uni-on (AMCU). Dies ist insofern unsin-nig, als die Grubenarbeiter mit ihrem Streik direkte Verhandlungen mit der Konzernleitung erzwingen und nicht durch irgendeine Gewerkschaft ver-treten sein wollten. Und auch auf den Versammlungen nach dem Massaker in Marikana und auf der Protestveran-staltung am 22.  August wurde noch-mals ausdrücklich darauf verwiesen. Auch zuvor war der Streik gewaltsam verlaufen und hatte bereits vor dem Massaker zehn Opfer – sechs Bergar-beiter, zwei Wachleute und zwei Poli-zisten – gefordert.

Die National Union of Minewor-kers (NUM) gilt mit ihren 300 000 Mit-gliedern als traditionelle Vertreterin der Bergarbeiter und ist während des An-ti-Apartheid-Kampfes entstanden. Sie kann auf eine kämpferische Tradition zurückblicken, wie den Streik von 1987 unter der Führung von Cyril Ramapho-sa. Nach 1994 jedoch orientierte sie zu-nehmend auf Sozialpartnerschaft und mit Lonmin hatte sie ein zweijähriges Abkommen über jährliche Lohnerhö-hungen von 8–10 % geschlossen.

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SÜDAFRIKA

Als die Bergarbeiter für Lohner-höhungen um mehr als das Doppelte in den Streik traten, versuchte die NUM abzuwiegeln. Nach Aussagen der Streikenden war die NUM für den Tod von zwei Bergarbeitern zu Beginn des Streiks verantwortlich. Frans Ba-leni, der Generalsekretär der NUM, sprach noch zwei Tage vor dem Mas-saker von den Streikenden als „krimi-nellen Elementen“ (Business Report, 15.  August 2012). Das Massaker er-klärte er zu einem „bedauerlichen“ Ereignis, für das er aber nicht die Po-lizei verantwortlich machte, sondern „dunkle Kräfte, die die Arbeiter ver-führen“.4 Balenis Gehalt beträgt mo-natlich 77 000 Rand, d. h. zehnmal so viel wie das der Bergarbeiter. Mitglie-der der NUM in Marikana haben ihre T-Shirts mit dem Gewerkschaftslogo zerrissen und weggeworfen, und auf der Protestkundgebung am 22. August in Johannesburg wurde ein Redner der NUM von den Kumpels aus Marika-na ausgebuht.

Nutznießer der Lage ist die AM-CU, die vor dem Streik nur 7000 Mit-glieder in Marikana hatte, und zwar in Karee, wo nicht gestreikt wurde. Sie waren nach einem Streik im Vor-jahr gemeinsam mit einem desillusi-onierten NUM-Sekretär übergetreten. Inzwischen schließen sich auch Ar-beiter der West and East Platinum der AMCU an.

Die Gewerkschaft ist entstanden, nachdem ihr gegenwärtiger Vorsit-zender Joseph Mathunjwa 1999 von einem Kohlebergwerk in Mpumalan-ga entlassen und dann auf Druck der Beschäftigten hin wieder eingestellt, zugleich jedoch von der NUM we-gen „gewerkschaftsschädigenden Ver-haltens“ disziplinarisch belangt wor-den war. Nach seinem anschließenden Ausschluss aus der NUM (deren da-maliger Vorsitzender Gwede Mantas-he bezeichnenderweise inzwischen Generalsekretär des ANC ist) gründe-te er die AMCU.

Inzwischen gehören ihr 30 000 Ar-beiter der Kohlen-, Chrom- und Pla-tinminen in Mpumalanga, der Koh-lenbergwerke in KwaZulu-Natal, der Chrom- und Platinminen in Limpo-po oder der Eisen- und Manganberg-werke in Nordkap an. Auch unter der 30  000-köpfigen Belegschaft der Im-pala Platinum (ein Riesenkomplex mit 14 Schächten) in Rustenburg, wo

im Februar/März 4300 Arbeiter sechs Wochen lang streikten und es vier To-te gab, konnte sie Mitglieder gewin-nen. Ihr Schwerpunkt liegt auf der Vertretung der besonders ungesicher-ten Leiharbeiter. Momentan lässt sich schwer abschätzen, ob sie sich zu ei-ner festen Organisation unter den Pla-

tinbergarbeitern entwickeln kann oder ob sie bloß populistische Rhetorik be-treibt.

Die AMCU gehört dem Gewerk-schaftsverband National Council of Trade Unions (NACTU) an, der Kon-kurrentin der Congress of South Af-rican Trade Unions (COSATU). Bei-de waren aus dem Kampf gegen die Apartheid hervorgegangen, die CO-SATU ist jedoch wegen ihrer Regie-rungsnähe unter Kritik geraten.

zwist in der cosAtu

Die Streiks in den Platinminen und das Massaker in Marikana fallen in die Zeit unmittelbar vor dem 11. Kon-gress der COSATU Mitte Septem-ber. Zwischen der COSATU und dem ANC gibt es seit langem Differenzen wegen dessen Wirtschaftspolitik und in jüngster Zeit spitzen sich innerhalb der COSATU die Differenzen darüber und über die Frage, ob Zumas Wie-derwahl zum ANC-Vorsitzenden, und damit (voraussichtlich erneut) zum Staatspräsidenten unterstützt wer-den soll. Der Vorsitzende der COSA-TU, Sdumo Dlamini, unterstützt ge-

meinsam mit der NUM und der Na-tional Health and Allied Workers’ Un-ion (NEHAWU) Zumas Kandidatur. Der Generalsekretär der COSATU, Zwelinzima Vavi, sowie die National Union of Metalworkers of South Af-rica (NUMSA) und die South African Municipal Workers Union (SAMWU)

hingegen sind in dieser Frage eher zu-rückhaltend. Andere Gewerkschafts-verbände sind sich uneins.

In dem politischen Bericht, den Vavi dem Kongress vorlegen wird, ist von einem „völligen Versagen des Staates“ (was sich auf die Unfähigkeit der Regierung bezieht, die Schulen in Limpopo mit Schulbüchern zu versor-gen) und von „wachsender sozialer Distanz zwischen der Führung und der Basis des ANC“ die Rede (Mail and Guardian, 10.–16. August 2012).

Auf ihrem Kongress im Juni ver-abschiedete die NUMSA eine Reso-lution für die Verstaatlichung der In-dustrie, in der es heißt, „dass Landes-zentralbank, Bergwerke, Ländereien und strategisch wichtige und monopo-listische Industriezweige umgehend und entschädigungslos verstaatlicht werden müssen, wenn wir nicht infol-ge der Armut, Arbeitslosigkeit und ex-tremen Ungleichheit in der gegenwär-tigen südafrikanischen Gesellschaft in Anarchie und Gewalttätigkeit versin-ken wollen“. (Notabene sprechen sich auch Julius Malema und der Jugend-verband des ANC für eine Verstaatli-chung der Minen aus, wohinter jedoch

streikende Arbeiter der platinmine von marikana nahe der südafrikanischen stadt rustenburg haben sich mit stöcken und macheten bewaffnet

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SÜDAFRIKA

die Absicht korrupter schwarzer Ge-schäftsleute vermutet wird, sich durch den Verkauf ihrer Anteile an den Staat bereichern zu wollen.)

Die NUM ist in puncto Verstaat-lichung zurückhaltender. Einer ihrer Sprecher meinte kürzlich: „Wir sind

für Verstaatlichungen, aber nur, wenn sie kein Chaos stiften“. In einem Pa-pier vom Juni kritisiert die NUM „den Ruf nach Verstaatlichung zur Lösung … der Herausforderungen als popu-listische Demagogie“ – wobei mit He-rausforderungen die sozialen und öko-nomischen Bedingungen sowie das Unvermögen der Bergbauindustrie, notwendige Veränderungen vorzuneh-men und sich an die Bergbau-Charta5 anzupassen, gemeint sind (miningmx, 19. August 2012).

In seinem o.g. Bericht verweist Va-vi auch auf „die wachsende Distanz zwischen Führung und Basis in den COSATU-Gewerkschaften“ (Mail and Guardian, 10.–16. August 2012) – ei-ne Feststellung, die auch die NUM be-trifft. In einem kürzlich geführten Pri-vatgespräch warnte der Generalsekre-tär der NUM Vavi davor, seinen „Pri-vatfeldzug“ fortzuführen, wenn er sein Mandat auf dem COSATU-Kon-gress behalten wolle.

Das Massaker wird nun sicher auch den Verlauf des Kongresses be-einflussen und die Differenzen stär-ker hervortreten lassen. Manche Be-obachter rechnen mit einer Spaltung

der COSATU während oder nach dem Kongress. Beide Flügel in der Ge-werkschaftsführung müssen sich je-doch dem Mitgliederverlust der NUM und dem Erstarken der AMCU und anderer Gewerkschaften, die unzu-friedene COSATU-Mitglieder rekru-

tieren, stellen.In einer Erklärung vom 23.  Au-

gust spricht die COSATU von „ei-ner koordinierten politischen Strate-gie, die von ehemaligen, im Unfrie-den geschiedenen Gewerkschaftsfüh-rern mit der Absicht betrieben wird, das Klima der Gewalt und Einschüch-terung in die Gründung separater sog. Gewerkschaften umzumünzen, um die Gewerkschaftsbewegung zu spalten und zu schwächen“. Weiter heißt es, dass der COSATU-Kongress „darüber diskutieren muss, wie wir diesem Ver-such, die Arbeiterbewegung zu spal-ten und zu schwächen, entgegen treten … und diesen spalterischen Scheinge-werkschaften und ihren finanziellen und politischen Hintermännern das Wasser abgraben können“. Mit die-sem Verweis auf die bedrohte Ein-heit der Arbeiter lassen sich die Dif-ferenzen in der COSATU möglicher-weise zudecken und die einflussreiche KP Südafrikas (CPSA) wird sicherlich auf diese Strategie zurückgreifen. Na-türlich sind die wirklichen Spalter in der Führung der NUM, die die Arbei-ter zum Austritt aus der Gewerkschaft veranlassen, weil sie deren Interessen

nicht hinreichend vertreten.Wenn es zu einer Spaltung der CO-

SATU käme und die AMCU und an-dere oppositionelle Gewerkschaften mit diesen abgespaltenen Gruppie-rungen zusammen fänden, wären gün-stige Voraussetzungen vorhanden, ei-ne Arbeitermassenpartei zu propagie-ren, die dem ANC mit einem linken Programm gegenüber treten und die Machtfrage stellen kann. Diese Kon-stellation ergäbe sich aus gleichzei-tigen Spaltungen traditioneller Arbei-terorganisationen und dem Entstehen neuer Organisationen. Allerdings ist dieses Szenario für die nahe Zukunft wenig wahrscheinlich.

Wie der Kongress in Mangaung für Zuma ausgehen wird, ist noch of-fen. Viel wird davon abhängen, wel-che Folgen das Massaker nach sich ziehen wird. Angeblich gibt es bereits Vorbehalte gegen Zuma aus den Rei-hen der ANC-Führung (Sunday Times, 26. August 2012). Wenn der ANC die Wogen der Empörung nicht erfolg-reich glätten kann, könnte das Ent-setzen über das Massaker den Anfang vom Ende der ANC-Herrschaft ein-läuten. Auf alle Fälle wird nichts mehr so sein wie zuvor.

Martin Legassick ist Mitglied der Democra-tic Left Front, einer antikapitalistischen Ein-heitsfront. Nach dem Massaker bereiste er Marikana.

Übersetzung: MiWe

1 Lonmin betreibt mehrere Bergwerke im Bush veld-Komplex in Südafrika und ist heute mit 28.000 Beschäftigten der weltweit dritt-größte Platin-Produzent. Das Unternehmen ist zu knapp 80 % im Besitz des Konzerns An-glo Platinum, der wiederum eine vollständige Tochtergesellschaft von Anglo American ist.

2 Für detailliertere Informationen über die Exi-stenzbedingungen siehe: Communities in the Platinum Minefileds www.benchmarks.org.za/research/rustenburg_review_policy_gap_final_aug_2012.pdf

3 Entspr. 38,60 € [Anm. d. Red.]4 Siehe Video der NMU: http://www.youtube.

com/watch?v=1eLzskhdYwY5 Die 2004 verabschiedete Charta sieht vor,

dass bis 2014 die Bergbaukonzerne 26  % ihres Kapitals in die Hände von Schwarzen legen und 40  % ihrer leitenden Angestellten Schwarze sein müssen. Faktisch dient die-se Maßnahme dazu, eine neue, schwarze bür-gerliche Elite zulasten der alten Eliten her-anzuziehen. Ein beredtes Beispiel dafür ist Ramaphosa.