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Scharia-Gelehrte und die Einkommensschwäche der Muslime
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Gustav Stresemann Stiftung e.V. | Löbdergraben 11a | 07743 Jena
www.stresemann-stiftung.de | [email protected]
Zusammenfassung: Islamic Finance ist in Deutschland bisher weitgehend erfolglos geblieben. Der Vergleich mit
anderen europäischen Staaten legt nahe, dass dies nicht an besonderen rechtlichen Rahmenbedingungen hier-
zulande liegt. Stattdessen scheinen intrinsische Hindernisse ausschlaggebend: Zum einen sind muslimische
Migranten durch geringere formale Bildung und der oft fehlenden Erwerbstätigkeit der Frauen einkommens-
schwach und weisen wenig Anlagepotenzial für Finanzprodukte auf. Zum anderen führt das System der Scharia-
Gelehrten durch mangelndes Wirtschaftswissen und widersprüchliche Rechtsgutachten verschiedener Autori-
täten selbst zu Problemen.
Abstract: In Germany, Islamic finance has so far been largely unsuccessful. The comparison with other Euro-
pean countries, however, suggests that this is not due to the specific legal framework of the country. Instead,
intrinsic barriers seem crucial: First, Muslim immigrants have lower than average incomes, because of lacking
formal education and low labour participation rates of Muslim women . Thus, their investment potential for fi-
nancial products is rather marginal and focused on real estate in Turkey. Second, the system of Shariah scholars
causes some trouble due to insufficient economic knowledge and conflicting legal opinions.
1. Einleitung
Das Scharia-konforme Finanzwesen ist in Deutschland trotz einiger Versuche weitgehend erfolglos
geblieben. Als Begründung dafür wird immer wieder die mangelnde Unterstützung seitens der Politik
und Behörden angeführt. Doch die Entwicklungen in Frankreich und England zeigen, dass der wirt-
schaftliche Erfolg auch ausbleibt, wenn Steuer- und Regulierungsänderungen durchgeführt werden.
So gibt es in England nur eine islamische Bank, die sämtliche Serviceleistungen im Privatkundenge-
schäft anbietet. Doch seit ihrer Gründung 2004 hat die Islamic Bank of Britain Verluste geschrieben
und musste durch eine Bank aus Qatar (QIIB) 2011 vor dem Bankrott gerettet werden. Frankreich hat
nicht nur seine Rahmenbedingungen angepasst, um das islamische Finanzwesen zu fördern, sondern
sein Entgegenkommen durch die Etablierung von vier Scharia-Räten sowie die Übersetzung von Scha-
ria-Regularien aus dem Arabischen gezeigt. Dennoch ist bisher keine einzige islamische Bank in dem
europäischen Land mit der größten muslimischen Gemeinschaft gegründet worden.
Da die gesetzliche Regelungen in England und Frankreich günstig sind, liegt die Vermutung nahe, dass
die intrinsischen Hindernisse des islamischen Finanzwesens weitaus entscheidender für das wirt-
schaftliche Versagen sein könnten, als die äußeren Bedingungen. Auf zwei der wenig beachteten,
aber entscheidenden Faktoren für die bisherige Entwicklung soll hier ein Schlaglicht geworfen wer-
den, um eine inhaltliche Diskussion über die Grundlagen und Werte des islamischen Finanzwesens zu
ermöglichen.
DISKUSSIONS-PAPIER
INTRINSISCHE HINDERNISSE DES ISLAMISCHEN F INANZWESENS
SCHARIA-GELEHRTE UND DIE E INKOMMENSSCHWÄCHE DER
MUSLIME
Von Rebecca Schönenbach, zertifizierte Islamic Finance Spezialistin – Stand: Juli 2012
Vortrag auf der Konferenz der International Civil Liberties Alliance (ICLA) in Brüssel, 9. Juli 2012
2
DISKUSSIONS-PAPIER
Teil I: Einkommensschwach, aber kapitalstark?
Am 9. Mai 2012 stellte CIMB Principal Islamic den ersten von der deutschen Finanzaufsicht BaFin zer-
tifizierten islamischen Fond vor. CEO Datuk Noripah Kamso erklärte, dass das malaysisch-
amerikanische Joint Venture vor allem auf muslimische Kunden aus der türkischen Gemeinschaft in
Deutschland hofft. Von den in Deutschland lebenden 4,3 Millionen Muslimen sind die türkeistämmi-
gen mit ca. 2,7 Millionen die größte Gruppe, sie gehören allerdings gegenwärtig zu den einkommens-
schwächsten Teilen der deutschen Gesellschaft. Bisher in Deutschland beworbene Scharia-konforme
Fonds wie der 2010 erschienene Meridio Fonds, aufgelegt in Luxemburg, waren kein Erfolg. Trotz der
positiven Berichterstattung und der breitflächigen Werbung durch die Presse wird der Fond nun vor-
zeitig liquidiert. Ähnlich erging es dem 2005 von der Commerzbank aufgelegten Al Sukoor-Fond.
Die relative Armut der muslimischen Gemeinschaft könnte einer der Gründe sein, warum Scharia-
konforme Fonds in Deutschland bisher nicht angenommen wurden. Dennoch findet dies in der Be-
richterstattung zum Thema Islamic Finance keine Beachtung, wohingegen eine hohe Sparquote der
Muslime regelmäßig als Basis für islamische Anlageformen ins Feld geführt wird. Ein kurzer Blick auf
die Einkommenssituation sowie das Sparverhalten der türkischstämmigen Muslime1 in Deutschland
könnte Aufschluss über die Erfolgsaussichten des neuen CIMB Fonds geben.
Einkommenssituation
Laut der Studie Muslimisches Leben in Deutschland (Haug et al. 2009), herausgegeben im Auftrag der
Deutschen Islam Konferenz durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, leben 20 Prozent der
Muslime in Haushalten, in denen Transferleistungen die einzige Einkommensquelle darstellen. Dem-
nach bestreiten ca. 80 Prozent ihren Lebensunterhalt ganz oder teilweise durch Lohn- oder Gehalts-
einkünfte beziehungsweise durch Einkommen aus selbstständiger Erwerbsarbeit. Aber auch bei letz-
teren ist das Einkommen eher gering.
Konkret heißt dies: In Nordrhein-Westfalen, Deutschlands bevölkerungsreichstem Bundesland, be-
trug das Nettoeinkommen eines Haushaltes 2006 im Durchschnitt 2.647 Euro, Haushalte mit türki-
schem Migrationshintergrund verfügten hingegen nur über 2.061 Euro. Da in türkischen Haushalten
im Schnitt mehr Personen leben (ca. 3,8 vs. 2,4 Personen in Haushalten ohne Migrationshintergrund),
belief sich das durchschnittlich verfügbare Pro-Kopf-Einkommen nur auf ca. 542 Euro. Haushalten
ohne Migrationshintergrund standen ca. 1100 Euro pro Kopf zur Verfügung (Sauer 2010).
Für das vergleichsweise niedrige Einkommen lassen sich im Wesentlichen zwei Gründe anführen:
Zum einen das niedrige Bildungsniveau der türkischstämmigen Bevölkerung und zum anderen die ge-
ringe Erwerbsbeteiligung der Frauen.
Bildungsniveau
Qualifikation und Einkommen stehen im direkten Zusammenhang. Je niedriger die Qualifikation, des-
to geringer das erzielte Einkommen. Die Hälfte der Türkeistämmigen besitzt entweder keinen Schul-
abschluss (24,4%) oder einen Hauptschulabschluss (31,4%) (Zentrum für Türkeistudien und Integrati-
onsforschung 2009). Dementsprechend hoch ist der Anteil der türkischstämmigen Beschäftigten mit
1 Die üblichen statistischen Quellen erfassen keine Religionszugehörigkeit. Daher orientieren sich die Auswertungen hauptsächlich an den
Herkunftsländern. Der Anteil der Muslime im Ursprungsland dient als Grundlage, um die Anzahl der Muslime unter den Migranten und de-
ren Nachkommen zu schätzen. Ebenso wird mit den Eingebürgerten und ihren Nachkommen verfahren. Die Zahlen sind also mit Vorsicht zu behandeln. Allerdings ordnen sich bei den Befragungen für die hier diskutierte MLD-Studie die türkeistämmigen Migranten zu 88% selbst
als dem Islam zugehörig ein, 41% bezeichnen sich als »sehr stark gläubig« und 47% als »eher gläubig«. Daher wird hier die übliche Handha-
bung nach ethnischer Herkunft übernommen.
3
DISKUSSIONS-PAPIER
geringem Einkommen; mehrheitlich sind es Arbeiter (55,9%), die weniger verdienen als Angestellte
(27,2%), Selbstständige (16%) oder Beamte (<1%). Die hohe Zahl der ungelernten Arbeiter begründet
sich auch in den fehlenden Berufsausbildungen. Eine Befragung zu Migranten und Finanzdienstleis-
tungen (Hayen et al. 2005) im Auftrag des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz stellt sich wie in Tabelle 1 ersichtlich dar2:
Dass weit über die Hälfte der ersten Ge-
neration keine Berufsausbildung hat,
überrascht nicht, da sie hauptsächlich für
ungelernte Arbeit angeworben wurden.
Jedoch verfügen auch in der zweiten und
dritten Generation mehr als ein Drittel
nicht über eine Berufsausbildung. Bei Bil-
dungsinländern, also jenen, die in
Deutschland die Schule abgeschlossen
haben, wird eine interessante Differenz
bei den Bildungsabschlüssen sichtbar. Die
Daten eines IAB Kurzberichtes zu Berufs-
abschlüssen von 26- bis 35-Jährigen zei-
gen insgesamt zwar eine positive Tendenz
für die nachfolgende Generation. Hierbei schneiden junge Deutsche türkischer Herkunft aber deut-
lich besser ab, als junge türkische Staatsangehörige in Deutschland. So sind letztere immer noch zu
54 Prozent ohne Berufsabschluss, während es bei Deutschen türkischer Herkunft nur noch 33 Pro-
zent sind. 57 Prozent der Deutschen türkischer Herkunft haben eine Berufsausbildung und ein Zehn-
tel hat sogar einen Hochschulabschluss. Im Vergleich dazu sind es bei denjenigen mit türkischem Pass
nur 44 und zwei Prozent. Bei Deutschen ohne Migrationshintergrund ist das Bildungsniveau bei bei-
den Gruppen signifikant höher. (68% Berufsausbildung und 20% Hochschulabschluss, ohne Berufsab-
schluss sind nur 12%) (Seibert 2008, zitiert nach Sarrazin 2010).
Dies veranschaulicht, warum das Nettoeinkommen der türkischstämmigen Migranten relativ zu dem
Einheimischer niedrig ist, denn, wie oben erwähnt, bestimmt die Bildung nicht nur über die Teilnah-
me am Arbeitsmarkt, sondern vor allem auch über die Höhe des erzielbaren Einkommens. Eine
OECD-Studie zum Thema Arbeitsmarktintegration der Zuwanderer in Deutschland folgert sogar:
»Noch deutlicher ist dies in der zweiten Generation, wo der niedrigere Bildungsabschluss den im
Vergleich zu Personen ohne Migrationshintergrund schlechteren Beschäftigungsstatus fast zu 100%
erklärt« (Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung 2005: 38). Für die Ent-
wicklung eines türkischstämmigen Mittelstandes scheint also trotz des positiven Trends der Bil-
dungsabschlüsse in der zweiten und dritten Generation in naher Zukunft wenig Hoffnung zu beste-
hen.
Erwerbsbeteiligung der Frauen
Der zweite Faktor, der zum niedrigeren Haushaltseinkommen von Muslimen beiträgt, ist die geringe
Teilnahme der Frauen am Arbeitsmarkt. Bei den 15- bis 64-jährigen Frauen ohne Migrationshinter-
grund sind 63 Prozent erwerbstätig, während es bei den türkischstämmigen Frauen nur 42,3 Prozent
sind (Haug et al. 2009). Ein wenig beachteter Aspekt der Zuwanderungsgeschichte könnte einen Er-
2 Dabei ist zu beachten, dass die Autoren der Studie auf die überdurchschnittliche Qualifikation der Befragten im Vergleich zum
durchschnittlichen Ausbildungsniveau der türkischstämmigen Gemeinschaft hinweisen.
Ausbildung Generationszugehörigkeit Ge-samt
Erste Zweite Dritte Hei-ratsm.
Keine Berufsausbildung 63,3 37,8 34,0 71,7 52,2
Berufsfachschulabschluss 25,5 44,1 39,6 16,5 32,7
Meisterbrief/Techniker 5,9 4,1 1,9 2,8 4,2
Hochschulabschluss 5,2 6,1 3,8 7,1 5,9
Anderer Berufsabschluss - 0,2 - 0,5 0,2
In Ausbildung/Studium - 7,7 20,8 1,4 4,8
Gesamt Befragte 286 449 55 212 1.002
Tab. 1: Berufsausbildung türkischstämmiger Migranten, gesamt und nach Generationszugehörigkeit in Prozent (bis auf letzte Zeile), (Hayen et al. 2005: 85)
4
DISKUSSIONS-PAPIER
klärungsansatz für die geringe Erwerbsbeteiligung der Frauen liefern: Über die Hälfte der Migranten
kam nicht auf eigene Initiative nach Deutschland, sondern als Familienmit- oder -nachzug. So geben
nur 33,4 Prozent der türkischstämmigen Befragten als Grund für die Migration die berufliche Per-
spektive an. Beim überwiegenden Teil liegt hingegen kein eigenständiges Wanderungsmotiv vor
(ebd.).
Türkischstämmige Bildungsinländerinnen sind kaum häufiger erwerbstätig oder in Ausbildung als die
Frauen der ersten Generation. Demnach verbessert sich das Haushaltaufkommen der jungen Genera-
tion nicht entscheidend durch Doppelverdiener. Die einzige Ausnahme bilden Frauen mit Hochschul-
reife, sie weisen eine besonders hohe Erwerbsneigung auf. Bei dem zweiten Armutsfaktor spielt Bil-
dung damit gleichfalls eine zentrale Rolle, um das Haushaltseinkommen zu steigern.
Anlagepotential - Sparquote abhängig von Bleibeperspektive
Da das Einkommen muslimischer Haushalte wesentlich geringer ist als das Durchschnittseinkommen,
überrascht die Annahme eines hohen Anlagepotentials für Islamic Finance in diesem Segment. Um
trotz des Einkommensniveaus ein signifikantes, für Investoren interessantes Volumen zu realisieren,
müsste die Sparquote überdurchschnittlich hoch sein.
In einer Studie zum Sparverhalten von Migranten finden die Ökonomen Bauer und Sinning (2005) re-
levante Unterschiede in Abhängigkeit von der Bleibeperspektive in Deutschland. Ist die Entscheidung
gefallen, dauerhaft im Gastland zu bleiben, ist die Sparquote deutlich niedriger als bei einer perspek-
tivischen Rückkehr in die Heimat. Werden Geldtransfers in das Herkunftsland mit einbezogen, liegt
die Sparquote von temporären Migranten mit 11,8 Prozent klar über dem Durchschnitt. Deutsche
ohne Migrationshintergrund sparten in dem betrachteten Zeitraum von 1996 bis 2003 durchschnitt-
lich 8,6 Prozent. Dauerhaft in Deutschland bleibende Migranten sparen hingegen noch weniger, näm-
lich nur 7,2 Prozent.
Die Schwierigkeit liegt nun darin, dass es sich bei den Geldtransfers ins Ausland sowohl um in der
Heimat investiertes Geld (Sparanlagen), als auch um Unterstützung der in der Heimat verbliebenen
Verwandten handelt (Konsum). Auslandsüberweisungen können also nicht per se als Sparanlagen
gewertet werden. Werden die Auslandtransfers nicht berücksichtigt, liegt die Sparquote beider un-
tersuchten Migrantengruppen erkennbar unter dem Durchschnitt, statt bei 11,8 Prozent nur bei 7
Prozent für Rückkehrer und statt 7,2 Prozent bei nur 5,4 Prozent für sesshaft gewordene türkisch-
stämmige Migranten.
Somit lässt sich das tatsächliche Sparvolumen schwer abschätzen und ein großes verfügbares Anla-
gepotential in Frage stellen. Die Studienergebnisse suggerieren ein beachtliches Sparpotential, aller-
dings nur für diejenigen, die eine Rückkehr in die Türkei planen. Dass die Rückkehrabsicht auch die
Anlagenziele beeinflusst und damit das Anlagepotential in Deutschland weiter schmälert, zeigt eine
weitere Untersuchung.
Anlagenziele
Die oben bereits erwähnte Untersuchung zu Migranten und Finanzdienstleistungen (Hayen et al.
2005) bildet die Länderorientierung als Index beruhend auf den Indikatoren Staatsbürgerschaft, Ab-
sicht auf Rückkehr in die Türkei und der heimatlichen Verbundenheit zu Deutschland und/oder der
Türkei ab und analysiert ihre Bedeutung bei Anlageentscheidungen. Über die Verwendung des Er-
sparten gibt die Untersuchung einen detaillierten Überblick. Bei der Befragung von über 1.000 Haus-
5
DISKUSSIONS-PAPIER
20,2
2,7
3,4
0,4
0,4
1,1
1,2
1,4
1,6
1,6
1,7
1,7
2
2,4
3,7
4,8
6,2
9,2
19,4
22,1
67,9
Keine Angabe
Privatwirtsch. Invstitionen in D
Sparkonto in TR
Zinslose Geldanlagen in der Türkei
Investmentfonds in der TR
Staatsanleihen bei dt. Banken
Wertpapiere/Aktien in TR
Staatsanleihen bei türk. Banken
Bewahre mein Geld zuhause auf
Baugenossenschaft in TR
Sparkonto bei der türk. Zentralbank
Privatwirtsch. Investitionen in TR
Gold/Schmuck
Wertpapiere/Aktien in D
Investmentfonds in D
Private Rentenversicherung in D
Bausparvertrag in D
Lebensversicherung in D
Sparkonto in D
Immobilien in D
Immobilien in TR
Abb. 1: Art der derzeitigen Geldanlagen in % (Mehrfachnennungen) (Hayen et al. 2005)
halten ergibt sich folgende Verteilung nach Art und Ort der getätigten Geldanlagen:
Wie Abbildung 1 zu entnehmen ist, investiert ein Großteil der Befragten in Immobilien in der Türkei.
Werden nur diejenigen berücksichtigt, die Auskunft über ihre Anlagen gegeben haben, sind es sogar
88 Prozent. Immobilien in der Türkei dominieren als Anlageform also eindeutig. Weiterhin besitzt cir-
ca ein Viertel der Befragten Immobilien in Deutschland und fast genauso viele verfügen über ein
Sparbuch. Damit sind die drei Hauptanlageformen der türkischstämmigen Gemeinschaft genannt.
Generell streuen die Anleger ihr Geld kaum auf mehr als zwei verschiedene Anlageformen.
Mehrere Faktoren
spielen bei der Wahl
der Anlageform und
des Landes eine Rol-
le. Zum einen ist es
die schon erwähnte
Länderorientierung:
55,6 Prozent der Be-
fragten sind ganz
oder eher türkeiori-
entiert, von diesen
legt mehr als die
Hälfte ihr Geld aus-
schließlich in der
Türkei an. Deutsch-
landorientierte
(30,2% der Befrag-
ten) konzentrieren
ihre Anlagen jedoch
nur zu einem gerin-
gen Teil ausschließ-
lich in Deutschland,
die meisten legen in
beiden Ländern an.
Insgesamt verändert
sich die Länderorien-
tierung über die Generationen: Bei der dritten Generation beziehen sich nur noch 32,7 Prozent ganz
auf die Türkei. Fokusgruppengespräche der Studie ergaben: »Eine kategorische Ablehnung einer
Rückkehr wurde in erster Linie von Frauen der 2. und 3. Generation betont und mit größeren Freihei-
ten in der deutschen Gesellschaft begründet.« (ebd.: 50) Allerdings bilden die Heiratsmigranten eine
Ausnahme, sie sind zu über zwei Dritteln auf die alte Heimat ausgerichtet. Diese Veränderung der
Länderorientierung bildet sich auch in den Immobilienanlagen ab, bereits in der zweiten Generation
steigt der Anteil der Immobilien in Deutschland.
6
DISKUSSIONS-PAPIER
Weitere Ergebnisse zeigen folgende Trends und Zusammenhänge bei der Verteilung der Anlagen auf,
die für eine Einschätzung des Anlagepotentials in Deutschland bedeutsam sein könnten:
Je höher die Schulbildung ist, desto höher ist der Anteil derjenigen, die in beiden Ländern an-
legen, und desto geringer der Anteil der nur in der Türkei Investierenden. Dementsprechend
verfügen die Haushalte seltener über Wertanlagen ausschließlich in der Türkei, je höher ihr
Einkommen ist. Bei hohem Einkommen werden die Ersparnisse besonders häufig auf beide
Länder verteilt.
Die Religiosität macht sich ebenfalls bemerkbar, »sehr Religiöse« und »eher Religiöse« nei-
gen zu einer Anlage ausschließlich in der Türkei, wenig oder gar nicht Religiöse investieren
eher in beiden Ländern.
Das Haushaltseinkommen wirkt sich vor allem auf den Immobilienbesitz in Deutschland aus.
Der Anteil der Eigentümer steigt mit dem Haushaltseinkommen stetig an. Die hingegen
schwache Auswirkung des Haushaltseinkommens auf den Immobilienbesitz in der Türkei ist
damit zu erklären, dass die Kosten dort wesentlich geringer sind, als für Immobilien in
Deutschland und kleine Häuser oder Wohnungen auch bereits mit einem vergleichsweise
niedrigen deutschen Einkommen erworben werden können.
Wie gezeigt, verteilt sich auch das Anlageverhalten in Deutschland im Wesentlichen auf Immobilien
und Sparbücher. Eine breite Streuung der Anlagen ist nicht feststellbar. So wird in der Untersuchung
konstatiert: »Alle anderen Investitionsformen, wie Investmentfonds, Aktien, Wertpapiere, aber auch
Staatsanleihen sowie privatwirtschaftliche Geschäftsbeteiligungen spielen nur eine untergeordnete
Rolle und werden jeweils von weniger als 3 % genutzt. Auch die Beteiligung an Baugenossenschaften
und die zinslosen Geldanlagen (Islamic Banking) haben keine wesentliche Bedeutung.« (ebd.: 103) Er-
folgversprechende Angebote im Scharia-konformen Investitionsgeschäft lassen sich demzufolge
wahrscheinlich eher im Bereich der Immobilienfinanzierung als in breit gestreuten Anlagefonds er-
öffnen.
Aussichten
Ob das resultierende Sparvolumen der Gläubigen ausreicht, um dem neuen islamischen Fond von
CIMB zum Erfolg zu verhelfen, sollte nach den vorliegenden Indikatoren skeptisch bewertet werden.
Zu den vergleichsweise niedrigen Einkommen kommt bei der türkischstämmigen Gemeinschaft eine
unterdurchschnittliche Sparquote und die augenscheinliche Abneigung gegen alle Anlageformen ab-
seits von Immobilien und Sparbuch hinzu. Ob es dem Scharia-konformen Fond gelingt, das Anlage-
verhalten der »Religiösen« zu verändern, die in eine »neue« Anlageform investieren und zudem die
klassische Türkeiorientierung, zumindest in finanzieller Hinsicht, aufgeben müssten, wird von Interes-
se für die gesamte Branche des islamischen Finanzwesens sein und deren weitere Entwicklung mit-
bestimmen. Erfolg oder Misserfolg werden jedenfalls nicht durch äußere Gegebenheiten diktiert, da
der Fond offiziell auf dem deutschen Markt angeboten wird.
Die Grundlage für Wohlstand und damit Anlagepotential hängt jedoch von der weiteren Entwicklung
der Bildungsabschlüsse und den daraus resultierenden Erfolgschancen am Arbeitsmarkt ab. Letztlich
führt nur die verbesserte Qualifikation der muslimischen Migranten, insbesondere der Frauen, zu ei-
nem besseren Einkommen und damit der Eliminierung der relativen Armut. Dies ist keine neue Er-
kenntnis, doch eine Neuausrichtung der muslimischen Gemeinschaft ist bisher nicht zu erkennen. Es
liegt in ihrer Hand, mit der Bildungsarmut nicht nur ein intrinsisches Hindernis für Islamic Finance,
sondern für jegliche Vermögensbildung in bedeutsamem Maßstab zu beseitigen.
7
DISKUSSIONS-PAPIER
Teil II: Scharia-Gelehrte
Einen Tag nach der Vorstellung des islamischen Fond von CIMB am 9. Mai 2012 richtete die deutsche
Finanzaufsicht BaFin ihre zweite Konferenz zum Thema Islamic Finance aus. Diesmal lag der Schwer-
punkt auf Scharia-konformen Kapitalmarktprodukten. Wie auch ihr Vorgänger Jochen Sanio, betonte
die neue Präsidentin Dr. Elke König die Offenheit der BaFin gegenüber dem islamischen Finanzwesen
und unterstrich zudem die Herausforderung, die die ungewohnten Finanzierungsformen für die Ban-
kenaufsicht darstellen. Eine der Herausforderungen, der sie sich sicherlich wird stellen müssen, ist
die Rolle der Scharia-Räte.
Bei islamischen Finanzierungsformen ist es üblich, alle Transaktionen von sogenannten Scharia-
Gelehrten bewerten zu lassen. Diese sollen feststellen, was »halal« (erlaubt) oder »haram« (verbo-
ten) ist. In der Regel besteht der Scharia-Rat aus mindestens drei Scharia-Gelehrten, die sich über die
zu beurteilenden Produkte einig sein müssen, wenn sie ihre Bewertung abgeben. Die Fatwa (Rechts-
gutachten) gilt nur für das jeweilige Produkt, so dass die Finanzinstitutionen jedes neue Produkt und
jede neue Transaktion bewerten lassen müssen. Zudem sollte die Einhaltung der Scharia fortlaufend
durch den Rat geprüft werden.
Die zentrale Rolle der Scharia-Räte stellt europäische Finanzaufsichten vor ein Problem: Haben die
Scharia-Räte reine Beratungsfunktion, spielen sie für die Bankenaufsicht keine Rolle und werden ein-
fach nicht weiter betrachtet. Haben sie jedoch eine Führungsrolle, können sie also die Entscheidun-
gen des Finanzinstitutes maßgeblich beeinflussen, müssen sie eine fachliche Eignung im Finanzge-
schäft vorweisen. Dieses Governance-Problem ist in Islamic Finance-Kreisen bekannt, aber bisher un-
gelöst (Ünal 2011). Die englische und französische Bankenaufsicht haben sich entschlossen, die Rolle
der Scharia-Räte zu ignorieren, also höchstens eine beratende Funktion zu unterstellen. Dementspre-
chend wurden ihre Regularien hauptsächlich im Hinblick auf die handelsbasierte Struktur der islami-
schen Finanzierungsformen hin angepasst und der Einfluss der Scharia-Regeln als nicht ausschlagge-
bend bewertet.
In der Praxis geht die Befugnis der Scharia-Gelehrten ohne Zweifel über die reine Beratung hinaus.
Dies liegt im islamischen Finanzwesen selbst begründet, denn sein Sinn und Zweck ist es eben, isla-
misch zu sein und damit eine tatsächliche Alternative zum konventionellen Finanzwesen darzustel-
len. Die Authentizität der Glaubensausrichtung bestätigen die Scharia-Gelehrten. Um dies sicherzu-
stellen, sind sie bereits am Entwurf neuer Finanzprodukte beteiligt, am Aufbau der Institutionen, bei
sämtlichen Investitionsentscheidungen, samt Refinanzierung usw. Wird ein Anteil als unislamisch
eingestuft, muss er verändert werden (Hegazy 2005).
Wie weitreichend Entscheidungen von Scharia-Gelehrten sein können, zeigt das bekannte Beispiel
eines Gutachtens zu Sukuk (islamische Wertpapiere) von 2007. Mufti Taqi Usmani aus Pakistan er-
klärte damals mehr als 80 Prozent der bestehenden Sukuk als nicht islamisch, obwohl sie vorher wie
heute üblich von Scharia-Räten zertifiziert worden waren. Ihre Struktur spiegele die konventionellen
fremdkapitalbasierten Instrumente mit garantierten Zahlungen wieder und beachtete nicht das isla-
mische Gebot der Verlust- und Gewinnbeteiligung, so Usmani (2007). Tatsächlich hätten die von ihm
geforderten Änderungen zum Beispiel den 2004 von Sachsen-Anhalt herausgegebenen Sukuk die
Scharia-Konformität aberkannt. Dieser wurde zwar noch 2009 erfolgreich zu Ende geführt, der Sukuk-
Markt in den Golfstaaten aber brach nach dem pakistanischen Gutachten massiv ein (Benham 2008).
Ein anderes Beispiel ist die geplante Herausgabe eines Sukuk durch die Bank Goldman Sachs in Höhe
8
DISKUSSIONS-PAPIER
von zwei Milliarden Euro im Frühjahr 2012. Nachdem ein eher unbekannter Scharia-Aspirant die
Struktur der Transaktion kritisierte, brach ein wahrer Pressesturm über Goldman Sachs herein. Wäh-
rend ein paar der im Prospekt genannten Scharia-Gelehrten angaben, nie befragt worden zu sein,
verteidigten andere die Struktur als marktüblich. Es folgte eine Debatte, bei der nicht nur die Details
der Struktur in Frage gestellt wurden, sondern auch grundsätzlich die Berechtigung einer konventio-
nellen Institution, Überschüsse aus Scharia-konformen Transaktionen für ihre zinsbasierten Geschäf-
te nutzen zu dürfen (Davies 2012). Goldman Sachs verschob daraufhin die Ausgabe des Sukuk.
Die beiden Beispiele zeigen die konkreten, auch finanziellen und rechtlichen Auswirkungen der Aus-
sagen von Scharia-Gelehrten und weisen gleichzeitig auf verschiedene Dilemmata in der Praxis hin.
Fatwas – Verbindlichkeit und Gültigkeit?
Fatwas können nicht nur voneinander abweichend, sondern auch gegensätzlicher Aussage sein, wie
im Falle der oben genannten Sukuk. Dies wird oft mit der Diversität des Islam begründet und als Be-
reicherung gelobt.
Tatsächlich sind Fatwas im sunnitischen Mehrheitsislam außer für den Autor der Fatwa selbst nicht
bindend (Shaukat 2009), während sie dies im schiitischen Islam durchaus sein können.3 In den mehr-
heitlich sunnitischen Golfstaaten gibt es daher auch keine einheitlichen Regelungen. Voraussetzung
für einen Scharia-Gelehrten sollte eine Ausbildung in Fiqh, klassischer islamischer Rechtslehre, sein,
sie ist aber nicht zwingend notwendig. Das Gewicht einer Fatwa hängt von Renommee und Be-
kanntheitsgrad des ausstellenden Scharia-Gelehrten ab. Je bekannter und geschätzter er ist, desto
eher wird auf das Urteil vertraut. Abweichende Urteile sind dabei nicht unüblich, die Unterschiede
aber in der Regel minimal (Abdulaziz al-Gharyani, undatiert).
Im islamischen Finanzwesen jedoch stehen die Scharia-Gelehrten vor der Aufgabe, völlig neue Pro-
dukte mit vor 1.400 Jahren aufgestellten Regeln in Einklang zu bringen. Da sich kaum Präzedenzen
finden, kommt es zwangsläufig zu Meinungsänderungen, die für die Finanzinstitute kostspielig sein
können. Schweigen bei Kenntnisnahme einer Fatwa, wird allgemein als Zustimmung gewertet, daher
engagieren die Finanzinstitute die bekanntesten Scharia-Gelehrten, weil hier das Risiko von Wider-
spruch am geringsten scheint. Das Urteil eines hoch angesehenen Gelehrten anzuzweifeln, wird oft
als Angriff auf dessen persönliche Integrität gewertet, daher ist dieser Vorgang selten. Damit steigt
für die Finanzinstitute mit dem Ansehen des Scharia-Gelehrten die Wahrscheinlichkeit eine Beurtei-
lung erhalten zu haben, die Bestand hat. Eine Garantie für die Verbindlichkeit und Gültigkeit des er-
haltenen Gutachtens jedoch ist nicht möglich (Shaukat 2009).
Interessenkonflikte
In der Praxis teilt sich eine Gruppe von etwa 200 Scharia-Gelehrten den gesamten Markt, wobei die
bekanntesten zehn etwa in der Hälfte der Räte eine Position innehaben - und zwar nicht nur Positio-
nen in verschiedenen Finanzinstitutionen, sondern auch bei Organisationen wie AAOIFI (Accounting
and Auditing Organisation for Islamic Financial Institutions, Bahrein), welche Richtlinien für das isla-
mische Finanzwesen herausgeben und damit großen Einfluss auf die Industrie haben. Ein Scharia-
Gelehrter kann also in Konflikt mit dem jeweiligen Interesse der verschiedenen Institutionen geraten,
die er vertritt, abhängig von dem jeweils kommerziellen oder »rein« Scharia-rechtlichen Standpunkt.
Die unter Liquiditätsproblemen leidende Industrie imitiert mehr oder weniger konventionelle Fi-
3 Eine Voraussetzung hierfür ist, dass sie schriftlich niedergelegt werden. Die durch die Presse gegeisterte Fatwa des Ayatollah Ali Khamenei,
dass Nuklearwaffen »haram« seien, ist nicht schriftlich veröffentlicht worden und daher nicht bindend.
9
DISKUSSIONS-PAPIER
nanzprodukte, um sich bei Engpässen zu behelfen (Hegazy 2005). Diese Praxis wird öffentlich oft an-
geprangert, aber den Instituten doch erlaubt, da notwendig. So kommt es zu der skurrilen Situation,
dass die »reine« Anwendung der Scharia-Regeln von »Aufsichtsinstituten« eingefordert wird, aber in
der wirtschaftlichen Praxis Kompromisse von den gleichen Gelehrten durchaus toleriert werden.
Unabhängigkeit
Weiterhin wird als Voraussetzung für klassische Scharia-Gelehrte genannt, dass diese unabhängig
und unvoreingenommen zu urteilen hätten, also keinerlei finanzielle oder sonstige, persönliche Vor-
teile aus ihren eigenen Urteilen ziehen dürfen (Shaukat 2009). Scharia-Gelehrte im islamischen Fi-
nanzwesen werden jedoch für ihre Tätigkeit bezahlt, anders als Muftis in klassischen Texten. Die Be-
zahlung für die Urteile richtet sich nach dem Wert der einzuschätzenden Finanztransaktionen und
kann siebenstellige Beträge annehmen. Die Bezahlung, so wird argumentiert, verhindere den gefor-
derten, kritischen Blick und führt zur Ratifizierung von sehr umstrittenen Produkten. Mit anderen
Worten: die Scharia-Gelehrten seien mitnichten unabhängig. Trotz des eher kleinen Marktes für is-
lamische Finanzierungsformen ist die Zugehörigkeit zu einem Scharia-Rat also eine lukrative Position
für einen Scharia-Gelehrten.
Fehlende wirtschaftliche Kenntnisse
Neben der Ausbildung in Fiqh und einem unabhängigen Urteilsvermögen, ist die Vertrautheit mit
dem Tatbestand der zu beurteilenden Sache eine Voraussetzung für ein Rechtsgutachten. Hier setzt
ein weiterer Kritikpunkt der Finanzindustrie an. Die meisten bekannten Scharia-Gelehrten weisen
keinerlei fundierte Kenntnisse der Ökonomie auf, so dass es schwierig sein dürfte, ihnen die kompli-
zierten Strukturen des Kapitalmarktes verständlich zu machen. Hinzu kommt die ungeheure Arbeits-
belastung der »Top Ten« Scharia-Gelehrten, die eine genaue Beschäftigung mit der Materie verhin-
dere (Wigglesworth 2009). Die einzelnen Schritte einer Transaktion könnten unter diesen Umständen
gar nicht im Detail betrachtet werden. Tatsächlich bestehen die Urteile oft nur aus der Bekanntgabe
des Verdiktes »halal« oder »haram«, begründet werden die Fatwas meist nicht. Dies bedeutet für die
Produktentwickler islamischer Finanztransaktionen eine große Schwierigkeit, denn diese verfügen in
der Regel zwar über das Finanzwissen, nicht jedoch über Kenntnisse der Scharia. Sie können also
nicht erkennen, welche Bestandteile im Falle einer Ablehnung zu ändern wären.
Ausblick & Diskussion
Die oben beschriebenen Faktoren werden von Finanzentwicklern auch zusammenfassend als »Scha-
ria-Falle« bezeichnet, ein nicht unerhebliches Risiko bei der Entwicklung und Herausgabe islamischer
Finanzprodukte.
Die Probleme sind in der Industrie bekannt und längst wurden Vorschläge zur Behebung gemacht. Ei-
nerseits wird die Einbeziehung junger, sowohl in Wirtschaft als auch in Fiqh ausgebildeter Gelehrter
in den Räten gefordert. Um die Akzeptanz der Kunden sicherzustellen, die die Authentizität des Fi-
nanzinstituts nach der Bekanntheit des Scharia-Gelehrten beurteilen, wurde zunächst eine »Nach-
wuchsquote« in den Räten vorgeschlagen. Dies würde das Nadelöhr-Problem der wenigen bekannten
und daher sehr mächtigen Gelehrten lösen, aber auch langfristig das Machtmonopol derselben bre-
chen, womit die meisten dieser Scharia-Gelehrten naturgemäß bislang nicht einverstanden sind.
Ein noch radikalerer Vorschlag aus akademischen Kreisen möchte das traditionelle System wieder be-
leben, nach dem Scharia-Gelehrte ihr Amt unabhängig ausüben und die Fatwas von ihnen selbst oder
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DISKUSSIONS-PAPIER
von ihren Instituten mit schriftlicher Begründung herausgegeben würden. Jeder Fragesteller hätte
das Recht auf ein Urteil des von ihm gewählten Gelehrten. Die Gutachten wären allen zugänglich und
könnten ähnlich wie westliche Forschungsarbeiten diskutiert werden. Durch den Fragesteller bezahl-
te Fatwas würden hierdurch abgeschafft.
In der Tat ist die zentrale Stellung der Scharia-Gelehrten im Rahmen des Islamic Finance neu. Sie liegt
in der Entwicklung der Industrie begründet, die selbst erst ca. 50 Jahre alt ist, sich aber auf 1.400 Jah-
re alte Regeln beruft. Bis zum Aufstieg des Islamic Finance wurden eher einzelne Aspekte des tägli-
chen wirtschaftlichen Handelns als »halal« oder »haram« abgefragt, wie auch sonst der Rat der Kleri-
ker in alltäglichen Dingen eingeholt wird. Die Ökonomie als eigenständigen Bereich mit auf dem
Glauben basierenden Regeln war kein Thema des klassischen Fiqh. Es wurde erst von Vordenkern des
»Islamic Awakening« als notwendiger Gegenpol zur nicht-muslimischen Welt gefordert. Dieses Sys-
tem musste also erst erdacht und die Grundlagen dafür gefunden werden. Die ursprünglichen Versu-
che islamischer Banken in Ägypten und Malaysia fanden noch ohne Scharia-Gelehrte statt, aber zu
Marketingzwecken unter Einbeziehung der lokalen Imame. Auch die 1973 von der OIC (Organisation
für islamische Zusammenarbeit) gegründete Islamic Development Bank kam zunächst ohne eigenen
Scharia-Rat aus (erst 2003 wurde ein Rat berufen), genauso wie die 1974 privat gegründete Dubai Is-
lamic Bank, eines der ersten kommerziellen islamischen Finanzinstitute (Kahf 2004).
Wichtig wurden Scharia-Gelehrte neben der Legitimation der Idee einer islamischen Ökonomie aus
hauptsächlich zwei Gründen (ebd.):
Die staatlich anerkannten Muftis sollten zum einen die jeweilige Regierung davon überzeu-
gen, Gesetzesänderungen des entsprechenden Staates zugunsten des Islamic Finance durch-
zuführen. So habe zum Beispiel der Großmufti in Ägypten geholfen, Präsident Sadat für die
neue Faisal Islamic Bank of Egypt zu gewinnen, eine unter dem damaligen politischen Klima
schwierige Aufgabe.
Zum anderen stellten die Scharia-Gelehrten das Bindeglied zum Kunden dar, da sie direkten
Kontakt mit der gläubigen Mittelschicht in den muslimischen Ländern hatten, die konventio-
nellen Bankmanagern eher misstrauisch begegnete.
Die neue Allianz hatte also Vorteile für beide Seiten: Die Banken wurden durch die Scharia-Gelehrten
legitimiert und die Scharia-Gelehrten wurden von einer eher marginalen in eine zentrale Rolle in der
politisch-religiös-finanziellen Allianz gebracht, die zudem ihr Einkommen wesentlich aufbesserte.
Was in der muslimischen Welt zu einer Win-Win-Situation führte, könnte in der westlichen Welt zu
einem starken Hindernis bei der Entwicklung des islamischen Finanzwesens werden, da die Rolle der
Scharia-Gelehrten eher Fragen aufwirft. Auch die muslimischen Kunden in der westlichen Welt sind
verwundert, bei der türkischen Gemeinschaft in Deutschland etwa spielen Muftis aus den Golfstaa-
ten als Autoritäten keine große Rolle.
Omar Selim, Vorsitzender der Barclays Bank in Saudi-Arabien, der neben Frau Dr. König die eingangs
erwähnte BaFin-Tagung einleitete, begann seine Rede denn auch mit einer Provokation. Er bezeich-
nete die Fatwas bei Scharia-konformen Anlagen als überflüssig, da islamische Werte als solche be-
kannt und erkennbar seien und die Kunden sich bei transparenter Auswahl selbst eine Meinung bil-
den könnten. Konsequenterweise hat seine Bank einen Fond aufgelegt, der auf die Gutachten von
Scharia-Gelehrten verzichtet. Ob sich das Modell in der Praxis durchsetzt, bleibt abzuwarten. Die
Forderung nach Transparenz aber wird bestehen bleiben, sowohl hinsichtlich der Urteile der Scharia-
Gelehrten als auch bei deren Auswirkungen auf die Finanzinstitute. Solange sich beides intransparent
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DISKUSSIONS-PAPIER
darstellt, dürfte es der BaFin schwerfallen, die tatsächliche Rolle der Scharia-Räte zu definieren und
in ihre Entscheidung über die Erteilung von Zertifizierungen mit einzubeziehen. Ignorieren sollte und
kann sie deren Bedeutung aber nicht.
Transparenz würde auch bedeuten, dass die intrinsischen Werte, die das islamische Finanzwesen
ausmachen, mit einem breiten, auch nicht-muslimischen, Publikum offen diskutiert würden. Das wä-
re in der Tat Neuland für die Ulema, die Gemeinschaft der Scharia-Gelehrten, und könnte sogar über
das islamischen Finanzwesen hinaus Bedeutung erhalten.
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Über die Stresemann Stiftung
Die jahrzehntelange Dominanz linker Ideologie und des Multikulturalismus haben Gleichheit und
vermeintliche Gerechtigkeit über alles andere gestellt. Die Stresemann Stiftung stellt sich diesem
Zeitgeist entgegen und betont den Wert der Freiheit. Publizistisch und durch Veranstaltungen setzt
sie sich für den Erhalt und die Förderung bürgerlich-liberaler Werte ein. Im Sinne ihres Namensge-
bers Gustav Stresemann vertritt die Stiftung einen Liberalismus, der sich seiner Geschichte und damit
der Bedingungen, die ihn erst ermöglichten, immer bewusst ist. Wir nennen dies realliberal.
Die Experten der Stresemann Stiftung beraten politische Akteure und Organisati-
onen des bürgerlich-liberalen Lagers bei ihrer Arbeit. Dies betrifft insbesondere
Aspekte der politischen Strategie, aber auch die strukturelle und organisatorische
Ausrichtung.
Mehr Informationen: www.stresemann-stiftung.de