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Irene Götz - boehlau-verlag.com€¦ · 2011 Irene Götz Deutsche Identitäten Die Wiederentdeckung des Nationalen nach 1989 Böhlau Verlag Köln Weimar Wien

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Irene GötzDeutsche Identitäten

alltag & kulturBand 14

Herausgegeben vom Institut fürEuropäische Ethnologieund von der Landesstelle fürBerlin-Brandenburgische Volkskundeder Humboldt-Universität zu Berlin

durchStefan Beck, Beate Binder, Alexa Färber, Wolfgang Kaschuba, Rolf Lindner, Leonore Scholze-Irrlitz

2011

Irene Götz

Deutsche Identitäten

Die Wiederentdeckung des Nationalen nach 1989

Böhlau Verlag Köln Weimar Wien

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2011 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar WienUrsulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com

Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig.

Umschlaggestaltung: GrafikDesign M&S Hawemann, BerlinSatz und Layout: Tomislav Helebrant, MünchenDruck und Bindungsarbeiten: xPrint s.r.o., PribramGedruckt auf chlorfrei gebleichtem, säurefreiem PapierPrinted in the Czech Republic

ISBN 978-3-412-20224-8

Inhalt

I. Zielsetzungen und Untersuchungsgrundlagen . . . . . . . . . . . . . 11

1 Einführung: empirische und konzeptuelle Problemzugänge . . . . . . . . . . . . . . 11

1.1 Vignette I: Die Rückkehr der »Kulturnation« – Feier der Deutschen Einheit im Jahr 2008 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

1.2 Untersuchungsgegenstand und Entstehungskontext dieser Arbeit . . . . . . . 18

1.3 Ende des Nationalstaats in Europa – Ende der nationalen Identitäten? . . . 27

1.4 Die Leitfragen der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36

1.5 Vignette II: Flagge zeigen – Festivalisierungen und Informalisierungen . . 41Erkenntnis des Eigenen: ein Reiseerlebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41Bekenntnisse zum Eigenen: Fußballweltmeisterschaften . . . . . . . . . . . . . . . . 44Neue Bildbotschaften zur zehnten deutschen Einheitsfeier . . . . . . . . . . . . . . . 52Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54

2 Ethnologische Forschung in einer »Welt in Stücken« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57

2.1 Vielfalt als methodologisches Leitprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57

2.2 Über den Erkenntniswert von Fallstudien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63

3 Identität: Leitbegriff und Schlagwort der Zweiten Moderne . . . . . . . . . . . . . . 68

3.1 Kritik der Identitätsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68

3.2 Dimensionen nationaler Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78Das nationalkulturelle Zeichensystem. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81Nationale Identifizierung als Alltagsbewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85

II. Nation Rebuilding in der Zweiten Moderne: Diskurse und Praktiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89

1 Vorgeschichte: Nation Building in der Moderne als kultureller Prozess . . . . . . 93

1.1 Akteure und kulturelle Vermittlungsformen des Nationalen . . . . . . . . . . . 96

1.2 Nation als Zentralperspektive: Vielfalt in der Einheit . . . . . . . . . . . . . . . 104

6 Inhalt

1.3 Bedürfnisse und Triebkräfte hinter der Nationsbildung . . . . . . . . . . . . . 111Abgrenzung nach außen und Homogenisierung nach innen . . . . . . . . . . . . 111Quasi-religiöse Sinnstiftung und Gleichheit auf Erden . . . . . . . . . . . . . . . . 114

1.4 Zielvorstellungen: »Ethnos« und »Demos« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117Deutschland als Kulturnation: romantische Paradiese . . . . . . . . . . . . . . . . . 119»No Place left for Poems«: deutsche Identitätsentwürfe nach dem Holocaust 125

2 Elitendiskurse: zur Konjunktur des Nationalen im sich umbauenden Nationalstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128

2.1 Entnationalisierung nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132

2.2 Renationalisierung nach der deutsch-deutschen Vereinigung . . . . . . . . . 137

2.3 Die Essentialisierung nationaler Identität im Kontext Einwanderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145

2.4 Die Wiederentdeckung der Nation als analytischer Kategorie . . . . . . . . . 150Exkurs: die besondere Situation in der Europäischen Ethnologie . . . . . . . . . 154

3 Symbolische Repräsentationen und Veralltäglichungsprozesse . . . . . . . . . . . . 158

3.1 »Nation heißt sich erinnern«: über die symbolische Konstruktion von Gedächtnisgemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161»Erinnerung, Identität, Erbe«: ästhetische Repräsentation von Geschichte . . 161»Gedenkkalender« und Jubiläen: Verdichtung der Erinnerungsanlässe. . . . . 165Nationale Feste als Medien-Events: Lifestyle und vorgeformte Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16950 Jahre Bundesrepublik Deutschland: eine »Erfolgsgeschichte« . . . . . . . . . . 178Der Kosovo-Krieg und der Holocaust: zum öffentlichen Gebrauch der Shoah in Reaktion auf eine postnationale Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185

3.2 Zur Dialektik von De- und Renationalisierungsprozessen . . . . . . . . . . . . 196Von der D-Mark zum Euro: nationale Symbole in Umbruchzeiten . . . . . . . 197»0172 bleibt deutsch« – Globalisierung und nationale Verlustrhetorik . . . . . 204Die Nation als Marke: Spiel mit neuen Identitätsangeboten . . . . . . . . . . . . 209»Am deutschen Wesen soll Deutschland genesen« – »Leitkultur« oder »Leitwerte«? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216

3.3 Zündstoff doppelte Staatsbürgerschaft: Veralltäglichung des Nationalen als medialer Diffusionsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223Die Straße als Bekenntnisort: von schwarzrotgoldenen Schals und deutschen Gartenzwergen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224Nationales an der »APO-Theke« oder die »Ethnografie der vielen Stimmen« 231Vom Intellektuellendiskurs zur Beteiligung von »jedermann« . . . . . . . . . . . 233

7Inhalt

Ausweitung der Thematisierungskontexte: Nationales in der Popkultur . . . . 238Bild-Stereotypen in Polit-Kampagnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242Alltagsnationalismus: die Anthropologisierung der Volks- und Kulturnation 244Wer soll zukünftig Deutscher werden? Die Wirkungen der Kampagne . . . . . 248

III. Vom Bewusstsein deutsch zu sein: Biografien und Narrationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253

1 Wenn Deutsche mit Deutschen über ihr Deutschsein sprechen – methodologische Erkenntnisse über den Umgang mit einem Tabuthema . . . 256

1.1 Vorkehrungen gegen die Produktion kultureller Differenz . . . . . . . . . . . 256Offene, indirekte Fragemethodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258Multiperspektivisches Interpretationsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262Heterogenes Interviewten-Sample. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264

1.2 »Typisch deutsche« Interaktionsprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266Außensichten auf deutsche Empfindlichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271

2 Zentrale politisch-historische Ereigniszusammenhänge als Einflussfaktoren auf das nationale Bewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274

2.1 Nationalsozialismus: Gefühlsambivalenzen und geläutertes Nationalbewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275Rosa P.: Der Nationalsozialismus als »Wundstelle« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276Bier und Schnitzel: Abkehr von deutschen Verhaltensweisen . . . . . . . . . . . . 280Zithermusik und Goethe: Rückkehr in die »Kulturnation« . . . . . . . . . . . . . 282Xenophilie als Handlungsnorm der »geläuterten Deutschen« . . . . . . . . . . . . 285Ein neuer Typus deutscher Identität? Auseinandersetzungen und Ansprüche 288

2.2 Deutsch-deutsche Vereinigung: Identitäten und Solidaritäten im Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295Victoria C.: »Jetzt müsste man gegen die Westdeutschen zusammenhalten« . 299Frau Jacob: »schon immer ›gesamtdeutsch‹ gefühlt« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303Judith W.: »Ich wollt’ nicht bei den Deutschen stehen« . . . . . . . . . . . . . . . . 307Carl W: vom »Ossi« zum »besseren Wessi« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312Ostdeutsch: »Amalgam« aus Erfahrungen vor und nach der Wende . . . . . . . 319

IV. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323

1 Zusammenschau: Wiederentdeckung des Nationalen in den 1990er Jahren . 323

8 Inhalt

2 Postskriptum: von pluralisierten Identitätsdiskursen und geschichtspolitischen Neupositionierungen nach der Jahrtausendwende . . . . 328

2.1 Nation Branding: das Nationale als Aktivierungsimperativ . . . . . . . . . . . 328

2.2 Neuere Tendenzen der De- und Renationalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . 331Weltfinanzkrise und die Rückrufaktion des Nationalstaates . . . . . . . . . . . . 333Ost-West: wachsende Gegensätze statt »innerer Einheit«? –Geschichtspolitische Tendenzen der letzten Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336Erbe auf dem Prüfstand: nochmals Einwanderung und Leitkultur . . . . . . . 342

Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383

Dank

Das vorliegende Buch ist die erweiterte und aktualisierte Fassung meiner Habilitati-onsschrift, die ich 2002 an der Philosophischen Fakultät I der Humboldt-Universität zu Berlin einreichte. Die Fertigstellung der ersten Fassung des Buches wurde seiner-zeit durch ein Habilitationsstipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft und die Drucklegung jetzt durch Mittel aus der Exzellenzinitiative der Ludwig-Maximi-lians-Universität München ermöglicht.

Die Zeit zwischen Fertigstellung der Habilitationsfassung und ihrer Überarbei-tung in den letzten Jahren nach meinem Wechsel von Berlin nach München 2007 hat manche der in den 1990er Jahren in Ansätzen zu beobachtenden Formen und Funktionen der »Wiederentdeckung des Nationalen« in Deutschland und Europa zum einen deutlicher zu Tage treten lassen, weil sich einige der in der Arbeit be-schriebenen Entwicklungen seither verstärkt oder stärker konturiert haben. Zum anderen konnten sie aus einer distanzierteren Perspektive noch genauer analysiert werden, so dass die aktualisierende Endkorrektur in vielen Teilen doch entgegen meiner ursprünglichen Absicht zu einem Um- oder Neuschreiben unter gewisser Berücksichtigung der Gegenwartsperspektive geriet; andere Passagen konnten in ihrer ursprünglichen Gestalt belassen werden. Das erste Kapitel der Arbeit schreibt diese in die Gegenwart hinein, und auch ein in den Jubiläumsjahren 2009/10 ver-fasstes Postskriptum dient dazu, die sich pluralisierenden Entwicklungslinien der Neujustierung nationaler Semantiken und Bilder, die im Hauptteil meist nur bis in das Jahr 2001 verfolgt wurden, wenigstens skizzenhaft bis in die Gegenwart hinein weiterzuziehen.

Diese insgesamt über 13 Jahre mich nun beschäftigenden Forschungen, zu denen ich zunächst über ein VW-Projekt an der Ludwig-Maximilians-Universität München (»Nationale Identität und das Zusammenleben mit Fremden«) kam und die ich dann an der Humboldt-Universität Berlin in einem DFG-Projekt mit Fokus auf das »kulturelle Repertoire des Nationalen« auch aus einer europäisch verglei-chenden Perspektive ausbauen konnte, finden nun in dieser – verschiedene Einzel-studien zusammenschauenden – Monografie ihren Abschluss.

Viele Mentoren, Kollegen und Freunde haben mich auf diesem langen Weg be-gleitet, von denen wenigstens einige aus der engeren Habilitationsphase namentlich genannt seien. Wolfgang Kaschuba, dessen Arbeiten zu Geschichtspolitik, Kultu-ralismus und Nationalismus für mich besonders anregend waren, möchte ich für die vielfältige Förderung und große Unterstützung, auch im Habilitationsverfahren herzlich danken; des Weiteren auch Hartmut Kaelble, der als Sprecher der Berliner DFG-Forschergruppe »Gesellschaftsvergleich«, in der ich von 1999 bis 2001 wissen-

10 Dank

schaftliche Mitarbeiterin am Institut für Europäische Ethnologie war, ein überaus inspirierendes interdisziplinäres Umfeld bot. Dank geht auch an meine damaligen Projekthilfskräfte Andrea Kölbl und Asta Vonderau. Ihnen allen, aber auch Helge Gerndt, Harro Honolka, Birgit Huber, Eva Kuby, Andreas Kupsch und Klaus Roth verdanke ich fachliche Hilfestellungen, persönliche Ermutigungen und Herausfor-derungen wie auch meinen damaligen Berliner und Münchner Kolleginnen und Kollegen sowie in besonderer Weise meinen Studierenden, die im Rahmen von ins-gesamt drei Lernforschungsprojekten an der Forschung beteiligt waren.

Mein besonderer Dank gilt zuletzt Petra Schweiger für die gründliche Endlek-torierung des Buchmanuskriptes, Sabine Kiefer, Sarah Braun und Petra Schmidt für ihre diesbezügliche Unterstützung, Tomislav Helebrant für die professionelle Manu-skripterstellung und Harald Liehr vom Böhlau-Verlag für seine geduldige Betreuung und dem Berliner Institut für Europäische Ethnologie für die Aufnahme der Arbeit in seine Reihe.

Insbesondere half mir bei dieser Arbeit immer die ausgleichende Kraft meiner Familie, insbesondere meines Mannes Friedhelm Colell. Auch meinem gerade ver-storbenen Vater bin ich zutiefst dankbar für alles, was er mir mitgegeben hat. Ihm möchte ich diese Arbeit widmen.

München, 15. 1. 2011 Irene Götz

I. Zielsetzungen und Untersuchungsgrundlagen

1 Einführung: empirische und konzeptuelle Problemzugänge

1.1 Vignette I: Die Rückkehr der »Kulturnation« – Feier der Deutschen Einheit im Jahr 2008

Am Tag der Deutschen Einheit des Jahres 2008, als ich über eine Einleitung zu dieser Arbeit sinnierte, demonstrierte die dieses Jahr in Hamburg ausgerichtete of-fizielle Einheitsfeier exemplarisch die Veränderungen in der Repräsentation von na-tionalem Selbstbewusstsein und Selbstverständnis in Deutschland nach 1989, seit dem sich kulturelle Formen, Kontexte und Semantiken des Nationalen im Sinne eines in der Berliner Republik allmählich wandelnden Selbstdarstellungsanspruches neu zu formen begannen. »Kulturnation Deutschland« – unter dieses Motto stellte die »Hamburg Marketing GmbH« das »Bürgerfest«, das nach dem Gottesdienst und offiziellem Festakt von einer ausgewählten Event-Agentur die neue »HafenCity«, das größte innerstädtische Stadtentwicklungsprojekt in Europa, mit einem vielfältigen Kulturprogramm für einheimisches Publikum und Touristen zum Leuchten brin-gen sollte.1

Die dieses Jahr 1 400 Meter lange »Ländermeile« mit den entsprechenden Lan-desvertretungen und ein vor allem die Hamburger Kulturszene einbeziehendes Rah-menprogramm mit 250 Programmpunkten auf 33 Bühnen und öffentlichen Plätzen demonstrierten in immer neuen Varianten die »Vielfalt und Qualität der deutschen Kulturlandschaft«. Neben der deutschen »Klassik«, Oper und Film waren auch di-verse lokale popkulturelle Jugendprojekte, zum Beispiel Hip Hop inkludiert.2 Jung

1 Die folgenden Zitate und Beschreibungen entstammen der Website http://www.market ing.hamburg.de/Tag-der-Deutschen_Einheit-2008br3-510.370.0.html (letzter Zugriff 20. 10. 2009).

2 Ibid. Ein bekannter Hip Hopper studierte mit 32 Jugendlichen aus allen Bundesländern ein modernes Deutschlandlied ein, das live zusammen mit weiteren Künstlern aus allen Bundesländern am Tag der Einheit in Hamburg aufgeführt wurde. Unter dem bezeich-nenden Namen »Crossover« schloss daran ein bürgerschaftliches Projekt an Hamburger Schulen an, das unter der Führung dieses schwarzen Hip Hoppers und eines Basketball-profis Jugendliche aus verschiedenen Stadtteilen zusammenbringen und Vorurteile abbau-en helfen sollte.

12 Zielsetzungen und Untersuchungsgrundlagen

und Alt, Einwanderer und Alteingesessene, Touristen und Hamburger wurden hier als Mitgestalter der nationalen Feiergemeinschaft angerufen. Die veranstaltenden Institutionen von Bund, Ländern, der Hamburger Stadtverwaltung, Marketing-agenturen und Medienakademien, bis hin zu diversen Sponsoren von »Audi AG« bis »Carlsberg« wurden hier zusammen mit den Anliegern in der Speicherstadt und »HafenCity« als lokale und translokale Agenten des Nationalen verpflichtet. Dabei wurden auch die Festzeit und der räumliche Festrahmen merklich gegenüber frü-heren Einheitsfeiern ausgeweitet. Das nationale Event fungierte hier zweifelsohne als eine unterschiedlichsten Marketinginteressen dienende lukrative Inszenierung, die nach außen »Leichtigkeit und Verspieltheit« eines selbstbewussten Deutschland vermittelte und, wie es programmatisch hieß, dem Tag der Deutschen Einheit »neue und moderne Impulse« geben wollte.

Auch in der Festrede des Bundespräsidenten wird die hier neu auferstehende »Kulturnation« als eine junge und bunte Einwanderungsgesellschaft gezeichnet, in der selbstverständlich regionale und urbane Vielfalt der Alltagskulturen und Stile so-wie vor allem das Bekenntnis zur Zivilgesellschaft inkludiert sind. Kultur steht nach Horst Köhler dabei für einen »Speicher an Erinnerungen, Erfahrungen und Gelern-tem« gleichermaßen von Einheimischen wie Eingewanderten. Kultur sei ein »Anker« und Antrieb für die nötige Erneuerung des Landes; dieses »kulturelle Erbe« – auch die christliche Religion gehöre dazu –, biete für diese Aufgaben Orientierung; es sei das Fundament des »Einheitsgefühls« der Deutschen.3

Das Nationale wurde auf dieser Hamburger Einheitsfeier in neuen Formaten und popkulturellen Formen bearbeitet, zum Beispiel verfremdeten Studierende der Medienakademie Hamburg in schnellen Sequenzen die Leitmotive des Hymnen-textes von »Streben«, über »Brüderlichkeit«, »Herz und Hand« bis »Vaterland« und »Einigkeit und Recht und Freiheit«.4 Hymne und Flagge – diese von den Marke-tingagenturen und Künstlern kreativ umgeformten und neu inszenierten Zeichen –

3 Horst Köhler: Festrede zum Tag der Deutschen Einheit am 3. 10. 2008. Festakt zum Tag der Deutschen Einheit in Hamburg, http://www.freiheit-und-einheit.de/cln_104/ Shared Docs/Reden/FuE/bpraes_hamburg.html?nn=731682 (letzter Zugriff 20. 10. 2009). Kul-tur meint hier nicht zuletzt auch, einem weiteren tradierten Bedeutungsgehalt des Begrif-fes folgend, Zivilisiertheit, das »Gegenteil von Barbarei« als Kraftquell und Zeichen von aufgeklärter Moralität der Bürger. »Es bleibt also weiß Gott noch viel zu tun in unserem Land, doch wir sind gut vorangekommen. Und wir haben erlebt: Gegen Wandel, den wir nicht aufhalten können, hilft der Wandel, den wir gemeinsam klug und beherzt ins Werk setzen. Dafür brauchen wir weiterhin Aufbauwille, Tatkraft, Engagement, alles das, was ungezählte Menschen Tag für Tag beweisen. […] Alles das finden wir in unserer Kultur.«

4 Diese filmische und mit eingängiger Musik untermalte Umsetzung der Nationalhymne in einem 40  Sekunden dauernden Clip, finanziert durch ein mehrfaches Sponsoring, war Teil des Hamburg-Marketing-Programms, siehe Hamburg Marketing GmbH/Stu-denten der Medienakademie Hamburg/Guido Weiherrmüller: Spot für das Kulturfest

Einführung: empirische und konzeptuelle Problemzugänge 13

repräsentieren ganz offensichtlich mehr und zugleich weniger als ein ausschließlich nationales Bekenntnis. Sie fungierten vielmehr auch als Accessoires zur Stilisierung, zur Untermalung situativer und wechselnder Zugehörigkeiten – sei es während der WM 06 beziehungsweise EM 08 zur großen Fußballparty oder hier als Teil einer medial inszenierten Kulisse der schicken Hamburger »HafenCity«, die den Feier-rahmen für das nationale Ereignis abgab und dabei Imagepflege betreiben konnte.

Auch der offizielle, fünfeinhalb Minuten dauernde Film »Einheitsmelodie«, den die Stadt Hamburg für die Feierstunde zum Tag der deutschen Einheit 2008 von zahlreichen Sponsoren herstellen und den hochrangigen Gästen nach der Rede des Bundespräsidenten vorführen ließ5, inszeniert mit der Hymne als Leitmotiv einen Umbruch von alten Selbst- und Fremdbildern der Deutschen hin zu einem sich der-zeit offensichtlich erneuernden Nationalbewusstsein und wandelnden Deutschland-bild. Diese Vorführung eines mehrfachen Lern- und Vergemeinschaftungsprozesses verwebt in Anlehnung an Jim Jarmuschs berühmten Film »Night on Earth« drei gleichzeitige Taxifahrten. In selbstreferenzieller Manier fahren diese scheinbar jetzt gerade, am Tag der Einheit, durch Hamburg, für dessen neue urbane Kulissen und Wahrzeichen auch hier ganz nebenbei geworben wird. Diese Taxifahrten geraten zum humoristischen Lehrstück, selbstironisch werden hier Heterostereotypen über die ordnungsliebenden, regeltreuen und vor allem langweiligen Deutschen mit ihrer merkwürdigen Mischung aus fehlendem Patriotismus und fremdenfeindlichen Atti-tüden in Szene und dabei ein Stück weit weiter außer Kraft gesetzt. Die Taxifahrten präsentieren »neue« und zunächst auch »alte« Deutsche aus verschiedenen Generati-onen, Milieus und Regionen sowie eine »sinnliche« und patriotische Französin. Zwi-schen dieser jungen Frau, die im Heck des Wagens das »deutsche Wesen« anhand der genauen Grammatik- und Kommaregeln in der deutschen Sprache zu ergründen sucht, und einem türkischstämmigen Taxifahrer bahnt sich dann nach einem Zu-sammenstoß der beiden Taxis (kein Krieg mehr!, sondern) eine deutsch-französische Freundschaft an. Zu Beginn aber zeigt der Film den Vertreter eines überkommenen bornierten Nationalismus, der den in Hamburg geborenen jungen Taxifahrer mit türkischen Eltern stur auf seine »eigentliche« Herkunft festlegen will: »Sie sprechen aber gut deutsch!«

Wer hier mit Überlegenheitsattitüde auf die Volksnation von einst beharrt, wird als peinlicher Ewiggestriger entlarvt, aber auch die junge Französin, die sich nicht minder vorurteilsbehaftet über die in Deutschland mangelnde Begehung des Na-

zum Tag der Deutschen Einheit 2008, http://www.marketing.hamburg.de/Tag-der- Deutschen-Einheit-2008br3-510.370.0.html (letzter Zugriff 20. 10. 2009).

5 Neele L. Vollmar (Regie): Einheitsmelodie. Eine Produktion der royal pony film i. A. der Freien und Hansestadt Hamburg, http://www.freiheit-und-einheit.de/Shared Docs/ Vi deos/ FuE/Standardartikel/einheitsmelodie.html?nn=622512 (letzter Zugriff 10. 10. 2009).

14 Zielsetzungen und Untersuchungsgrundlagen

tionalfeiertages auslässt, wird dann ebenfalls im Verlauf des Films eines Besseren belehrt. Auch die grantelnde Bayerin, von der sich der feinsinnige Kulturjournalist Roger Willemsen chauffieren lässt – sie alle singen dann doch bei aller Unterschied-lichkeit der regionalen und sozialen Herkünfte zum Schluss in fröhlicher Eintracht aus ihren Taxis heraus von »Einigkeit und Recht und Freiheit«. Manche stimmen noch etwas verhalten in die »Einheitsmelodie« ein, besonders der bornierte »Einge-borene« benötigt Nachhilfe vom jungen Einwanderer, der textsicher und entspannt die Hymne schmettert. Am Ende legen sie alle, Jung und Alt, inländischer und ausländischer Abkunft, aus Nord und Süd kommend, ihre Zurückhaltung und ihr teilweise sichtbares Fremdeln ab und lassen sich von dem neuen fröhlichen Patrio-tismus anstecken, sogar ein »antinationaler« Taxifahrer, der erst unwillig durch die fröhlich-unbeschwerte Französin an den Nationalfeiertag erinnert werden musste – »den feiert man hier nicht!« – geht dann mit dem älteren, auf das Volksdeutsche pochenden Spießer »typisch deutsch« ein Bier auf diesen Tag trinken.

Dieses medial inszenierte, leicht und ironisch daher kommende Exempel einer Verbrüderung und Vergemeinschaftung spielt nicht nur mit den traditionalen Kli-schees und Stereotypen6, sondern belehrt über den (mit der Staatsbürgerschaftsre-form im Jahr 2000 offiziell besiegelten) Wandel vom »ethnos« zum »demos«: Zuge-hörigkeit hängt von Willen, aufgeklärtem Wissen und entschiedenem Bekenntnis und nicht von der Abstammung ab. Es geht nicht mehr um die überkommene »Leitkultur«, sondern um den »Verfassungspatriotismus« als Grundlage einer aktiven Bürgerkultur mit dem gemeinsamen Ziel der Integration verschiedener gesellschaft-licher Kräfte und Gruppen. Das Nationale – symbolisiert in der »Einheitsmelodie« – integriert nach innen und ist offen nach außen: Von den europäischen Nachbarn, hier verkörpert von der Französin, kann man lernen; die Deutschen sollen sich nach ihrem Vorbild zu patriotischem Einsatz, aber auch zu engen europäischen Beziehun-gen und Freundschaften aktivieren lassen.

Diese »Du bist Deutschland«-Rhetorik sowie »Einheit in der Vielfalt«-Metaphorik propagiert und legitimiert breitenwirksam den (in vielen Kontexten in den letzten Jahren schleichend vollzogenen) Paradigmenwechsel, zurück nach vorn zur »nati-onalen Kultur«, allerdings zu einem semantisch neu belegten kulturellen Erbe. Deutschland wird hier als multiethnische Bürgergesellschaft dargestellt, sowohl die alte homogenisierende Volksidee und Assimilierungsforderung als auch der antina-tionale Affekt aus der Nachkriegszeit scheinen fast überwunden, beziehungsweise es sollen diese Relikte nach dem Vorbild dieser Einheitsbilder endgültig disqualifiziert werden – der Nationalfeiertag wird hier zu einem symbolischen Ort der Erziehung: Wer beim Aufbau des Landes mitmacht, gehört dazu. Inklusion wird in der europä-

6 Siehe zur Tradierung dieser Hetero- und Fremdstereotypen über die Deutschen, insbeson-dere aus französischer Sicht Florack (2007) und auch Bausinger (2000).

Einführung: empirische und konzeptuelle Problemzugänge 15

ischen Gesellschaft tendenziell, wenigstens nach dieser offiziellen Lesart, nicht mehr primär entlang ethnischer Linien, sondern als Frage des produktiven Einsatzes für die Gemeinschaft verhandelt (siehe Münch 2008). Durch entsprechende multime-diale Offensiven eines derzeit modischen »Nation Branding«, das in verschiedenen europäischen Ländern Nationen wie Markenprodukten ein (neues) Image verleiht7, erhält diese Aktivierungsstrategie und das neue nationale Leitbild besonderes Gewicht und Strahlkraft. Dabei wird das Nationale immer in den weiteren europäischen Be-zugsrahmen eingebunden, ohne dabei selbst darin aufgelöst zu werden.

Fast zehn Jahre zuvor, anlässlich des ersten runden Jubiläums »zehn Jahre deut-sche Einheit«, fiel eine solch lockere dekonstruktivistische Auseinandersetzung mit den alten Deutschlandbildern und Stereotypen und insbesondere die künstlerische Verfremdung der offiziellen Zeichen zum Zwecke der Vermittlung neuer Bilder und Staatsideen noch als Ausnahme auf (siehe unten 1.5). Im Jahr 2008, zumindest wäh-rend der Einheitsfeier, waren diese Phänomene dagegen schon fast selbstverständli-che Praxis einer in großem Stil operativ eingesetzten Kreativindustrie. Diese trägt als Mythomotor entscheidend dazu bei, dass das von Hermann Lübbe vor einigen Jahren noch in einem Gespräch konstatierte »Repräsentationsdefizit« der alten Bun-desrepublik immer mehr zu schwinden scheint – es sei hier dahin gestellt, ob es sich bei diesem, wie er weiter ausführte, um eine »Schwäche« gehandelt habe oder ob moderne Demokratien weniger der »äußeren Bestätigung« durch Rituale bedürfen als zum Beispiel die symbolreichen Diktaturen.8 Auf jeden Fall ist Lübbe recht zu geben, wenn er weiter feststellt, dass Rituale und Feiern »im Zeitalter massenmedi-aler Vollintegration moderner Gesellschaften noch an Bedeutung« gewinnen und sich diese dabei in ihrem nationalen Selbstverständnis und Verständnis von (Zivil-)Gesellschaft und Staatlichkeit dabei zugleich ganz selbstverständlich transformie-ren. Wie dieses aktuelle Beispiel hier zeigen sollte, ist jedenfalls der »politische Aus-

7 Siehe Meyer (2005), Dinnie (2008), Olins (2004) und unten IV.2.1.8 Siehe zu dieser Diskussion und der Berufung auf Lübbes Zitat vom »Repräsentationsde-

fizit« Johan Schloemann: Republikjubiläum. Die unbeholfene Selbstfeier der deutschen Demokratie. In: Süddeutsche Zeitung, 31. 1./1. 2. 2009, 13. Hier lässt sich der Autor an-lässlich der Planungen zum 60. Jahrestag der Bundesrepublik rund um den Verfassungstag (23. Mai) über die noch immer bemerkbare »symbolische und rituelle Zurückhaltung« der Bundesrepublik der Nachkriegszeit aus, die sich mit der Neuerfindung von Ritualen, die »erhaben« seien, ohne »peinlich« zu werden, weiterhin schwer tue. Anstatt hier einen passenden Feierrahmen zu kreieren, feiere man – angesichts der Wirtschaftskrise vielleicht als besondere Aktivierungsstrategie gedacht – das »Wirtschaftswunderland«, wenn eine Event-Agentur zum Republikjubiläum mit einer Autoschau (»Car Walk«) die Berliner Prachtstraße in einen »Boulevard der Marken« verwandeln sollte. Siehe zu politischen Mythen auch Münkler (2009).

16 Zielsetzungen und Untersuchungsgrundlagen

druckswert« solcher multimedial operierenden Inszenierungen des »Nation Bran-ding« tatsächlich inzwischen wieder »beträchtlich«.9

Diese 18. Einheitsfeier in Hamburg machte hier ein sich in den 1990er Jahren entwickelndes Narrativ des »normalisierten«, »supranational gezähmten«, bei sich und in Europa angekommenen Nationalstaats begreifbar.10 Solche Festivalisierun-gen des Nationalen, bei denen eine neue politische »Kultur«, die Einwanderer inte-grierende und überdies föderale Bürgernation mit universalistisch-demokratischen Werten, inszeniert wird, verdeutlichen, wie weit sich das offiziöse Selbstbild von der »traumatisierten Nation« oder der »ironischen Nation«11 der weiteren Nachkriegszeit entfernt hat. Hatte sich doch bis in die 1980er Jahre die feierliche Herausstellung der Leistungen der »Kulturnation« der »Dichter und Denker« von ehedem durch die Barbarei des Holocaust ad absurdum geführt. Und, abgesehen von den Multikultu-ralismus-Utopien der linksliberalen Eliten, schien die Vorstellung von Deutschland als einem Einwanderungsland lange Zeit ebenfalls nicht Teil eines gewandelten na-tionalen Leitbildes gewesen zu sein.

Man trug, vor allem in den linksliberalen westdeutschen Elitenmilieus »seit den internationalen und nationalen Prozessen gegen nationalsozialistische Gewalt-verbrechen seit dem Beginn der 1960er Jahre« (Wolfrum 2009, 49) »die Last der Geschichte wie ein moralisches Kapital«, begriff die deutsche Teilung als eine Art Sühne und favorisierte als Konsequenz daraus die postnationale Identität und ei-nen Vernunft getragenen »Verfassungspatriotismus« als Absage an jedwede gefühlige Form nationalen Bekundens.12 Hier überließ man – ganz vorbildlicher Europäer –

9 Ibid. Lübbe, zitiert nach Schloemann.10 Siehe Wolfrum (2009, 59) zu dieser vor allem von führenden Historikern erzählten »An-

kunftsgeschichte« der deutschen Nation, die mit der deutschen Einheit endlich im »Wes-ten« angekommen sei und ihren »Sonderweg« wie auch die »deutsche Frage« beendet habe. Siehe hierzu vor allem Winklers (2000) zweibändige Nationalgeschichte, die auf dieses Narrativ der »Ankunft« in der Berliner Republik hin ausgerichtet ist. 1989/90 wird nach dieser Geschichtserzählung neben 1945 ein neuer »Fluchtpunkt« der deutschen Geschich-te, die jetzt nicht mehr wie in der Nachkriegszeit als »Verlustgeschichte«, sondern, so Wolf-rum, als Modernisierungs- und Erfolgsgeschichte (insbesondere bezüglich der »geglückten Demokratie« in der BRD) vermittelt wird (siehe auch Wolfrum 2006). Entsprechende aus der Volkskunde/Europäischen Ethnologie angestellte Überlegungen zu den Narrati-ven und geschichtspolitischen Inszenierungen der Berliner Republik stellen ein absolutes Desiderat dar, siehe hier zum Beispiel Binder (2009).

11 Bude (1992, 49) attestierte den Deutschen, nur ein ironisches Gefühl gegenüber der Na-tion ausdrücken zu können in Folge des noch immer wirkenden Nationalsozialismus als »emotionale Bremse«.

12 Der hier zuletzt zitierte Eckhard Fuhr (2007, 3) bezieht sich in seinem Essay über die Entwicklung eines neuen deutschen Nationalbewusstseins, geschrieben als Analyse des sich zur WM 06 für viele unerwartet zeigenden »Party-Patriotismus«, auf eine von Dolf Sternberger in den 1970er Jahren losgetretene und dann von Jürgen Habermas in den

Einführung: empirische und konzeptuelle Problemzugänge 17

den heiklen Bereich nationaler Gefühle den Stammtischen, den Vertriebenenver-bänden und dem politischen Lager rechts außen, oder man warf seinen Patriotismus auf die Region, und dies galt auch für weniger »Intellektuelle«, wie entsprechende Interviews in dieser Arbeit zeigen. Dort, auf der anderen Seite der Mauer, propagier-te man zunehmend seit den 1970er Jahren die sozialistische »Klassennation« und ein der historisch-materialistischen Theorie gemäßes kulturelles Erbe (Wolfrum 2009).

Wäre diese auf offizieller staatlicher Ebene wie im Alltag einstmals bis in die Vorwende-Zeit hinein einvernehmlich gepflegte (in beiden deutschen Staaten erst seit den späten 1970er Jahren langsam modifizierte) antinationale Haltung in den letzten Jahren nach dem fröhlichen deutschen »Party-Patriotismus« des Fußballsom-mers 06 nicht fast in Vergessenheit geraten, hätte es jetzt geradezu revolutionär an-gemutet, wie sich sowohl die Festrede des Bundespräsidenten Horst Köhler als auch das »Bürgerfest« in der »HafenCity« stolz und selbstverständlich auf die »Kultur-nation« beriefen, so als sei diese viel gespielte Grundmelodie eines bis 1945 Über-legenheitsgefühle vermittelnden und danach tabuisierten nationalen Habitus13 zu keiner Zeit desavouiert gewesen.14 Angesichts der beiden eigens für das Einheitsfest 2008 von Marketingagenturen komponierten Werbefilme mit der Nationalhymne als in Bild und Ton fröhlich verfremdetem Leitmotiv, angesichts der Verpoppung des nationalen Zeichenreservoires durch die Agenturen, könnte fast in Vergessenheit geraten, wie vor kurzer Zeit die seinerzeit sakrosankte Hymne höchstens bei offiziel-len Staatsakten oder Fußballspielen erklang und nicht einmal die Nationalelf sie im antinationalen Zeitalter einer an offizieller Staatssymbolik wie politischen Mythen

1980er Jahren vorangetriebene Debatte, siehe auch Müller (2001). Auch in der »Berliner Republik« steht dieser Begriff, wie Jan-Werner Müller (2009) zeigt, weiterhin im Zentrum der Diskussion um Integrationsbegriffe eines neuen »Deutschlandbewusstseins«, siehe dazu zum Beispiel auch Fuhr (2005), in einer endlich von den Parteien anerkannten Ein-wanderungsgesellschaft.

13 Siehe zu diesem habituell bei den Deutschen verankerten Konzept der Kulturnation (seit dem 18. Jahrhundert aufgebaut als Gegenidentität gegen die französische Zivilisiertheit) Elias (1989), siehe zur weiteren Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik auch Wolfrum (2006).

14 Wolfrum (1999 und 2009, 50 ff.) zeigt jedoch, dass in mancherlei Hinsicht die Vorstellung einer »Kulturnation« – in den Debatten der Historiker und politischen Eliten wie auch im Alltagsbewusstsein – gerade als Folge der deutschen Teilung als Paradigma weiterlebte, auch wenn der Begriff nicht mehr mit Stolz verbunden war, doch erhielt diese Vorstellung der Kulturnation oder auch der Willensnation ja gerade seine besondere Relevanz ange-sichts der realen Situation der durch die Teilung entstandenen »Nation ohne Staat«. Der Rückgriff auf das kulturelle Erbe und die Vermittlung von Geschichte als identifikatori-sches Moment nahm in beiden deutschen Staaten seit Ende der 1970er Jahre im Übrigen wieder zu (Stichwort Staufer-Ausstellung im Westen oder »Preußen-Renaissance« in bei-den Teilstaaten).

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