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Arthur Gordon Jeder Tag ist voller Wunder Geschichten zum Staunen

Jeder Tag ist voller Wunder - 9783865915672

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Arthur Gordon sagt, der Schlüssel zu wahrer Lebensfreude sei es, das Geschenk kindlichen Staunens wiederzuentdecken. Seine mehr als 40 handverlesenen Geschichten, Anekdoten und Begebenheiten sprühen nur so vor kindlicher Freude und dem Staunen über die glücklichen Momente des Lebens - wunderschön, voller Poesie und Herzenswärme. Dabei offenbaren sie eine tiefe Lebensweisheit, die uns dazu inspiriert, die Erfahrungsschätze des eigenen Lebens dankbar zu betrachten. Genießen Sie diese stimmungsvollen Geschichten, die Ihren Alltag wie Sonnenstrahlen erhellen werden. Auch bestens zum Verschenken geeignet.

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Arthur Gordon

Jeder Tag ist voller Wunder

Geschichten zum Staunen

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Über den Autor

Arthur Gordon (1912–2002), Vater von fünf Kindern, ist als Autor mehrerer Bücher bekannt geworden (unter anderem des Bestsellers „Geschenke des Himmels“) und hat als Herausgeber und Autor für verschiedene Magazine wie Cosmopolitan und Reader’s Digest gearbeitet.

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Einleitung

Im Süden der Vereinigten Staaten, in Georgia, wo wir le-ben, gibt es ganz in der Nähe unseres Hauses einen Gezei-tenpriel, an dem sich ein Bootssteg befindet. Ich gehe dort gern angeln oder sitze einfach nur da und beobachte, wie die Wolken ziehen und sich dabei verändern und wie der Wind über die Marschen weht.

Einmal ging ich früh morgens, kurz vor Sonnenaufgang, den schmalen Pfad zu dem Steg entlang. Der Weg war an beiden Seiten von dicht stehenden Bäumen und Gebüsch gesäumt. Abrupt blieb ich stehen, als ich direkt vor mir ein riesiges Spinnennetz erblickte. Es war silbergrau und fast unsichtbar zwischen zwei Bäumen quer über den Pfad ge-spannt, sodass es mir den Weg versperrte.

Meine erste Reaktion war Ratlosigkeit. Durch ein so großes Spinnennetz konnte ich doch nicht einfach so hin-durchgehen; ich musste etwas suchen, womit ich es entfer-nen konnte. Ich suchte nach einem Stock und fand schließ-lich auch einen. Aber genau in dem Moment, als ich mich wieder umdrehte, kam die aufgehende Sonne auf der ande-ren Seite des Priels über den Marschen hervor, und ihre Strahlen fielen auf den Pfad vor mir, so dass dort jetzt kein schattenhaftes Spinnennetz mehr gespannt war, sondern sich ein tautropfenübersätes Konstruktionswunder absolut symmetrisch und wie mit Diamanten besetzt glitzernd sanft im Wind wiegte. Es war verblüffend, ja mehr als ver-blüffend; es war einfach wunderbar. Konnte so etwas Schö-nes wirklich das Werk eines Insekts ohne nennenswertes Gehirn sein? Und war es möglich, dass dieses Wesen das

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Geschöpf eines grenzenlosen Geistes war, der beschlossen hatte, sich auf diese außergewöhnliche Weise zu offenba-ren?

Ich zerstörte das Netz nicht, sondern schlängelte mich darum herum, und als ich beim Steg ankam – den Stock, mit dem ich das Netz hatte zerstören wollen, immer noch in der Hand –, war der Eindruck immer noch intensiv. Mir war, als ob ich durch dieses unerwartete Erlebnis mehr in-nere Weite gewonnen hatte, und ich war erfüllt von einer Mischung aus Überraschung und Ehrfurcht, wie ich sie schon lange nicht mehr empfunden hatte. Dieses Gefühl hatte einen Namen: Staunen.

Ein paar Jahre zuvor – na ja, ein paar Jahrzehnte zuvor, um genau zu sein –, hatte ich ein Buch mit dem Titel „Ge-schenke des Himmels“ geschrieben. Die Aussage der ge-sammelten Geschichten dieses Buches war eigentlich recht simpel. Es ging um den Grundgedanken, dass das Leben aus einer endlosen Reihe von Wundern besteht, dass selbst ganz normale Ereignisse und Begebenheiten Wunder sein können, die sich denen offenbaren, die sich die Mühe ma-chen, innezuhalten, bewusst hinzuschauen und zu emp-finden und sich einfach ein bisschen mehr auf den Augen-blick einzulassen als gewöhnlich.

Ein Teil dieser Gedanken stammte von einem Freund, einem bärbeißigen alten Psychiater namens Smiley Blan-ton. Smiley war davon überzeugt, dass die Fähigkeit zum Staunen eine grundlegende Voraussetzung für seelische Gesundheit ist. „Staunen ist nicht nur etwas Gutes“, sag-te er immer, „sondern es gehört zu den Grundlagen des menschlichen Selbstverständnisses und des Verständnis-ses der eigenen Stellung im Universum. Man soll sich also nach allem ausstrecken, was einen zum Staunen

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bringt, es festhalten, pflegen und nicht wieder herge-ben!“

Das also sprach mein Freund Smiley. Und als ich jetzt auf den verwitterten Planken des alten Bootsstegs stand, fragte ich mich, ob ich nicht in den zurückliegenden Mona-ten und Jahren den schweren Fehler begangen hatte, nichts dagegen zu unternehmen, dass ich immer seltener ins Staunen geriet. Ich sah den Stock an, mit dem ich das Wunder auf dem Wege beinah beiseite gewischt hätte, ließ ihn ins Wasser fallen und schaute ihm nach, wie er im grünlichen Wasser des Priels davontrieb.

In dem besagten Buch „Geschenke des Himmels“ geht es sehr viel darum, wie wichtig Staunen ist. Ich konnte mich allerdings nicht erinnern, dass darin auch etwas für Menschen steht, die merken, dass ihr Bewusstsein für die alltäglichen Wunder und auch das Staunen immer mehr abstumpft. Ist auch solchen Leuten zu helfen? Und gibt es auch für mich selbst einen Rat? Was kann ich und was kann jeder Mensch tun, um wieder ein Gespür für das Staunenswerte im Leben zu wecken?

„Geh noch einmal dorthin zurück“, sagte eine leise Stimme irgendwo in meinem Kopf. „In Geschenke des Him-mels hast du dich überwiegend mit Erlebnissen und Bege-benheiten in der Gegenwart beschäftigt. Inzwischen hast du ja ein ganzes Stück Weg zurückgelegt, mit unzähligen Erinnerungen, Hunderten von Gelegenheiten, bei denen das Staunen ein Gegengewicht zu den Problemen, dem Kummer, den Widrigkeiten oder Enttäuschungen des Le-bens gebildet hat. Diese kleinen, leuchtenden Momente hat es doch unterwegs die ganze Zeit immer wieder gege-ben. Versuch ein paar davon noch einmal zurückzuholen. Vielleicht wird dir durch das Staunen, an das du dich dabei

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dann auch erinnerst, noch einmal neu klar, wie wesentlich es ist. Fang ganz vorn am Anfang an und geh dann immer weiter zurück bis fast zum Ende. Noch hast du Zeit ...“

Es war, wie gesagt, eine leise Stimme, aber auch eine hartnäckige. Kehr zurück zum Staunen. Auf den folgenden Seiten möchte ich genau das versuchen.

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Aus dem Nebel

Das Schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnisvolle. Wer es nicht kennt und nicht mehr staunen kann, ist so gut wie tot, und sein Blick ist getrübt.

Albert Einstein

In der Einleitung zu seinem Buch Alice hinter den Spiegeln spricht Lewis Carroll liebevoll von dem kleinen Mädchen mit den staunenden Augen, dessen Lächeln der Lohn für seine „Liebesgabe eines Märchens“ ist. Mehr als dieses Lä-cheln braucht Carroll nicht. Es ist ihm genug. Wie lange ist es her, dass wir selbst ein solches Staunen erlebt haben? Sehr lange – wahrscheinlich war es irgendwann in der Kindheit, oder?

Wenn Sie noch einmal zu ihren allerfrühesten Erinne-rungen zurückkehren, dann kann es gut sein, dass Ihnen dabei eine Begebenheit einfällt, bei der genau dieser As-pekt – das Element des Staunens – im Vordergrund steht. Genau das ist nämlich wahrscheinlich der Grund, weshalb Sie sich noch daran erinnern.

Wenn ich versuche, mich möglichst weit zurückzuerin-nern, dann sehe ich einen kleinen, etwa dreijährigen Jun-gen vor mir, mit dunklem Haar, grünen Augen und einem schmalen, sonnengebräunten Gesicht. Ich weiß, dass ich das bin, aber in gewisser Weise ist es auch so, als würde ich aus einiger Entfernung ein Wesen betrachten, dessen Be-wusstsein für die Welt um es her erst gerade erwacht.

Den Sommer verbrachte der kleine Junge immer am Meer in dem kleinen Häuschen mit dem spitzen Dach.

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Dort, direkt am Strand, fühlte er sich immer zu Hause, vielleicht weil das Haus und er genau gleich alt waren. Sein Vater und seine Mutter hatten es nämlich in dem Sommer, in dem er geboren wurde, als Zufluchtsort vor der gnaden-losen Sommerhitze in Georgia gebaut. Sie hatten ihn schon auf die sandige, fast völlig baumlose Halbinsel mitgenom-men, als er erst ein paar Tage alt war, sodass seine ersten, prägenden Eindrücke der Anblick von Dünen und Meer, das Rauschen der Wellen und der Geruch des Salzwassers waren. Und so war dieses Haus sein Freund und Beschüt-zer geworden, von dem er viel lernen konnte, wenn er es zuließ.

Von all diesen ganz frühen Eindrücken war der inten-sivste das Rauschen des Meeres, manchmal ein hohles Brüllen und dann wieder rhythmisches Flüstern. Alles war davon umgeben und wurde davon überlagert, und es hörte nie auf.

Das Haus war dunkelgrün gestrichen und mit Weiß ab-gesetzt. An drei Seiten war es von breiten Veranden umge-ben. Von der Veranda aus, die zum Meer hinausging, ver-lief eine Holztreppe zu einem sandigen Fußpfad zum Strand. Dort boten rosa und weiße Oleanderbüsche den Nachtigallen und bunten Faltern und manchmal auch ei-ner geschmeidigen Schwarznatter Schutz. Diese Schlan-genart raubte Vogelnester aus, war aber ansonsten völlig harmlos.

An der Westseite des Hauses führte eine ganz ähnliche Treppe zu einem Netz von Plankenwegen, durch das die verstreuten Häuser miteinander verbunden waren und das an der Endhaltestelle der Bahn endete, mit der die Pendler in die Stadt und wieder zurückfuhren.

Wenn ich zurückdenke, dann steigen zwei Szenen aus

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dem Nebel meiner frühesten Kindheitserinnerungen auf, von denen eine mit Eis und Kälte zu tun hat, die andere mit Eisen und Hitze.

Ungefähr zu dieser Zeit ging der kleine Junge jeden Morgen hinaus und setzte sich auf die oberste Stufe der Treppe an der Westveranda. Dort wartete er geduldig und schaute durch eine Lücke zwischen zwei Dünen hindurch genau auf die Stelle, von der er wusste, dass dort der Eiswa-gen auftauchen würde. Wenn der Wagen sich dann auf der anderen Seite der Dünen näherte, sah man als Erstes die Ohren der beiden Maultiere, die den Wagen zogen, dann das Nicken ihrer großen Köpfe und dann die Umrisse der beiden Gestalten, die nebeneinander auf dem hölzernen Kutschbock des Wagens saßen. Der eine, der das Gespann lenkte, war weiß, der andere, ein riesiger Schwarzer, saß reglos neben ihm. Die Räder des Fuhrwerks quietschten und zermalmten den Seehafer und die Prachtwinden, die darunter gerieten, und warfen Wolken von Sand auf, der so fein und weiß war, dass er aussah wie Puderzucker.

Der Junge wusste, dass sich auf der Ladefläche des Wa-gens große Eisblöcke befanden. Sie waren zwar durch eine zerschlissene Abdeckplane notdürftig geschützt, aber auch so schrumpften sie unter der gnadenlos herunterbrennen-den Sonne stetig dahin, und es sickerte Wasser zwischen den Planken des Wagenbodens hindurch und hinterließ unregelmäßige Spuren auf dem Weg.

Wenn der Wagen dann näher kam, konnte man sehen, dass die beiden Männer auf dem Kutschbock sich in Zei-chensprache miteinander verständigten. Sie waren näm-lich beide taubstumm und wurden deshalb unfreundli-cherweise beide Dummy genannt. Der „weiße Dummy“ war ein blasser, nervöser Mann mit einem Raubvogelge-

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sicht. Am Fuße der Verandatreppe angekommen sprang er vom Kutschbock, winkte dem Jungen und verschwand im Kellergeschoss des Hauses, wo die Köchin aus ihrem Schlupfwinkel in der Küche auftauchte und ihm einen Zet-tel aushändigte, auf dem stand, wie viel Eis für die beiden mit Zink ausgekleideten Eiskisten benötigt wurde.

Wenn der weiße Dummy wieder zum Fuhrwerk zurück-kam und ein Zeichen gab, nahm der schwarze Dummy die riesigen Eiszangen zur Hand, hob einen Zentnereisblock so locker hoch, als wäre es eine Schachtel Zigaretten, und platzierte ihn am Fuß der Treppe. Dort spaltete dann der weiße Dummy den Eisblock mit einem spitzen Eispickel exakt in der Mitte in zwei Hälften.

Der Junge beugte sich vor und beobachtete das Ganze aufmerksam. Mit einem weiteren Hieb schlug der weiße Dummy dann noch ein Stück von dem Eis ab, das etwa 30 Zentimeter lang und drei Zentimeter breit war. Er tat so, als untersuche er dieses Eisstück sorgfältig, während der schwarze Dummy die beiden Halbzentnerblöcke bei der Köchin ablieferte. Wenn er zurückkam, überreichte der weiße Dummy seinem Helfer den kleinen Eiszapfen, den dieser die Treppen hinaufbrachte, wo er sich mit ver-schmitztem Grinsen tief verbeugte und dem Jungen den Eiszapfen schenkte. Daraufhin stand der Beschenkte auf und verbeugte sich ebenfalls. Einen Moment lang sahen sich die beiden in die Augen, und dann sprang der schwar-ze Dummy wie ein Panther wieder die Treppe hinunter und zurück auf den Wagen. Der weiße Dummy klatschte mit den Zügeln, und die Maultiere trotteten wieder los.

Der Junge setzte sich wieder auf die Verandatreppe, nahm die Spitze des Eisstücks in den Mund, schmeckte die klare und köstliche Kälte, merkte, wie seine Hand langsam

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taub wurde von der Kälte des Eisstückes, war aber gleich-zeitig fest entschlossen, das Geschenk nicht loszulassen, bis es entweder geschmolzen oder verzehrt war. Dabei sah er dem Eiswagen nach, bis er zwischen den Dünen ver-schwunden war. Heute würde ich gern glauben – auch wenn ich weiß, dass es Unsinn ist –, dass irgendein verbor-gener Instinkt in mir schon damals gespürt hat, wie er-staunlich und für die Zeit auch ungewöhnlich diese schwei-gende Partnerschaft zwischen den beiden „Eismännern“ war. Einer war schwarz, einer weiß, aber sie saßen ein-trächtig nebeneinander und arbeiteten als Team und sie sprachen ihre eigene geheimnisvolle Sprache. Sie lebten gemeinsam im Haus der Bedrängnis, aber es gefiel ihnen, durch dessen Gitterstäbe hindurch dem kleinen Jungen eine kleine Freude zu bereiten. Wahrscheinlich hat ihm ge-nau das dieses warme und angenehme Gefühl vermittelt, dass man vor Fremden keine Angst zu haben und auch nicht abweisend zu ihnen zu sein braucht, dass überall Freundschaften nur darauf warteten, geschlossen zu wer-den, dass Freundlichkeit sich wie eine unsichtbare Strö-mung durch das gesamte Universum zieht, ebenso wie Großzügigkeit und Staunen.

Das war eine sehr zarte und zerbrechliche Wahrneh-mung, aber wer will schon beurteilen, ob nicht auch sie ihre Spuren hinterlassen hat?

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Das zweite große Ereignis des Tages war immer die spät-nachmittägliche Ankunft des Pendlerzuges aus der Stadt. Die kleine Dampflokomotive schnaufte nach der knapp dreißig Kilometer langen Fahrt durch das von Prielen

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durchzogene sumpfige Marschland zwischen dem Fest-land und der Halbinsel. Wenn der Zug die Endstation er-reicht hatte, wurde die Lok abgekuppelt und zu einer von Hand betriebenen Drehweiche gefahren, dort gewendet, und dann dampfte sie in umgekehrter Richtung langsam einen kurzen Gleisabschnitt mit Doppelgleisen entlang, an den inzwischen leeren Personenwagen vorbei, kuppelte sich an den Zug an und war wieder bereit für die Rückfahrt in die Stadt.

Für den kleinen Jungen war die Ankunft des Zuges je-des Mal ein Moment purer Magie. Er wusste, dass sein Va-ter unter den Pendlern sein würde, die mit ihren gelben Strohhüten und den zerknitterten Seersucker-Anzügen müde und abgekämpft von der Hitze in der Stadt aus dem Zug stiegen. Trotzdem galt seine ganze Aufmerksamkeit der Lokomotive und besonders dem Feuerungswagen mit den großen Zahlen darauf. Er konnte zwar noch keine Worte lesen, aber Zahlen schon. Wenn die Nummer darauf die 1560 war, dann hieß das, dass der Lokführer sein Freund war, ein drahtiger Mann mit sonnengebräuntem Gesicht und einem Mund voller Goldzähne. Sein Name war Hoops. Manchmal, wenn Hoops sah, wie der Junge fast ehrfürchtig beim Abkuppeln der Lok zuschaute, sprang er von seinem Führerhaus herunter, nahm den kleinen Jungen auf den Arm und hob ihn hoch zu dem schwarzen Heizer, der ihn wiederum auf den Platz des Lokführers im Führerhaus setzte.

Wenn er dort oben saß, die verwirrende Menge von An-zeigen und Schaltern und Knöpfen fast in Reichweite, das Donnern des ölbetriebenen Feuerraums und das Zischen des Dampfs in den Ohren, den Geruch von ölgetränkten Tüchern, die in den Taschen von Hoops’ Overall steckten,

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in der Nase, wenn ihn die starken Arme des Zugführers von hinten festhielten, eine Hand an der massiven Drossel-klappe, die andere an der glänzenden Messingbremse, dann war es dem Jungen, als wäre er in eine Sphäre der Glückseligkeit versetzt worden.

Wundersamerweise tauchten nie irgendwelche offiziel-len Vertreter von der Bahn auf, um diesen Verstoß gegen die Richtlinien zu beanstanden. Es gab keine Versiche-rungsleute, die sich die Haare rauften, und auch keine überängstlichen Eltern, die eingriffen. Die Lokomotive bebte wie ein angeleinter Hund und rollte dann langsam auf die Drehweiche zu, wo sie anhielt. Der Heizer und ein Bremser stellten sich jeweils vor und hinter der Lok auf und setzten langsam die Drehweiche in Gang, indem sie an beiden Seiten gegen die herausragenden Eisengriffe drückten. Langsam und schwerfällig, ja beinahe majestä-tisch, begann die Lok nun, sich gegen den Uhrzeigersinn zu drehen. Dabei hatte der Junge das Gefühl, dass nicht die Lok, sondern die Erde sich drehte. Die Lokomotive war der Mittelpunkt des Universums, die Quelle grenzenloser Macht unter der Kontrolle und dem Befehl seines Freun-des mit den goldenen Zähnen.

Aus dem Fenster des Führerhauses konnte der Junge Palmen und Oleandersträucher sehen, und dann die Som-merhäuschen, die im Schwenk am Priel entlang an ihm vorbeizogen, bis die Lok schließlich in der anderen Rich-tung stand und wieder mit den Gleisen verbunden war.

Und dann kam der großartigste Augenblick überhaupt: Wenn die Lok mit einer Reihe kräftiger Schnaufer anfing, sich zu bewegen, durfte der Junge an der ölverschmierten Kordel der tollen Messingglocke ziehen, die sich zwischen Führerhausfenster und Schornstein befand, um ein Warn-

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läuten abzugeben, falls jemand (natürlich war da nie wirk-lich jemand) möglicherweise tagträumend auf den Gleisen herumspazierte.

Sie kamen an der Reihe leerer Abteilwagen vorbei, in de-nen der Schaffner dabei war, angemessen geräuschvoll die Sitze in den Zugabteilen in die neue Fahrtrichtung zu dre-hen, vorbei an dem großen Wassertank mit seinem Aus-guss, der aussah wie ein Elefantenrüssel und nur selten benutzt wurde, aber immer tropfend bereitstand. Und zu-letzt dann an die Stelle, wo die Lok wieder angekuppelt wurde und die Begleitperson des Jungen, manchmal seine Mutter, manchmal auch jemand vom Personal, geduldig auf ihn wartete, um ihn dann den langen grauen Holzsteg entlang in die Eintönigkeit und Vertrautheit seines Zuhau-ses zurückzubegleiten.

Wenn er dort dann nach dem Abendessen beim beruhi-genden Gemurmel der Brandung im Bett lag, schaute er hinauf in das zeltartige Moskitonetz über sich und durch-lebte noch einmal das Staunen des Nachmittags.

Eines Tages würde er selbst Lokführer sein, und zwar egal, ob mit Goldzähnen oder ohne. Er sah sich selbst in einer Lokomotive von ungeheurer Kraft auf blitzenden Schienen fahren, und dabei pulsierte ein Stückchen aus ei-nem alten Eisenbahnerlied, das Hoops ihm beigebracht hatte, in seinem Kopf:

Wir fahren nach Augusta, Schwarz und rußigAlles, was ich brauche, ist Öl und WasserÖl und Wasser, Öl und Wasser ...