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Johanna Bade Ohnmächtig gegen Schwarz und Weiß

Johanna Bade Ohnmächtig gegen Schwarz und Weiß · Ärztepfusch ohne Grenzen 62 III. Wenn Experten versagen Vertuschung und Enthüllung 72 Von Pontius zu Pilatus 95 IV. Wenn Gutachter

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Johanna BadeOhnmächtig gegen Schwarz und Weiß

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ISBN 978-3-89969-091-0

Copyright © 2010 by PRINCIPAL Verlag, Münster/Westf.www.principal.de

Alle Rechte vorbehaltenPrinted in Germany

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation inder Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliographische Datensind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

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PRINCIPAL VERLAG

Johanna Bade

Ohnmächtig gegenSchwarz und Weiß

Eine Ärztin im Kampf gegenMedizinerpfusch, Gutachtergehilfen

und Willkürurteile

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Die Autorin: JOHANNA BADE war 25 Jahre lang in Klinikenund eigener Facharztpraxis tätig. Während dieser Zeit vertratsie häufig den Chefarzt einer Privatklinik, leitete einige Jahrelang eine Niederlassung von Pro Familia und unterrichteteAngehörige der Berufsfeuerwehr in Geburtshilfe.

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Wer die Wahrheit nicht kennt,ist nur ein Dummkopf,wer sie aber kennt und gleichwohl verleugnet,ist ein Verbrecher.Bert Brecht

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Inhalt

Vorwort 9

I. Wenn Ärzte pfuschenAbgewimmelt trotz schwerer Sepsis 12Abgefertigt ohne Therapie 24

II. Wenn Patienten zu Opfern werdenAbgehakt und im Stich gelassen 41Ärztepfusch ohne Grenzen 62

III. Wenn Experten versagenVertuschung und Enthüllung 72Von Pontius zu Pilatus 95

IV. Wenn Gutachter lügenDer Fall Winter 113Die Gerechten und die Scharlatane 134

V. Wenn Anwälte hintergehenTatort Gerichtssaal 151Die Akademikerseilschaft 166

VI. Wenn Mandanten verschaukelt werdenSpuren des Verrats 183Intrige und Falschheit 192

VII. Wenn Richter betrügenDer Juristenbeistandspakt 208Im Namen des Volkes 226

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VIII. Wenn Juristen zu Tätern werden 246

IX. Wenn Mediziner zu Verbrechern werden 261

X. Wenn man den Finger in die Wunde legt 270

Quellenverzeichnis 273

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Vorwort

In diesem Buch geht es um schwerwiegendes Unrecht, dasin Deutschland längst selbstverständlich zu sein scheint undfast an der Tagesordnung ist. Dieses Unrecht wird sowohlvon Medizinern als auch von Juristen begangen und hat dasLeben von Menschen in zahllosen Fällen gesundheitlich undfinanziell total ruiniert und ruiniert es weiter. Trotz alledemwird das Problem von der Öffentlichkeit, von Politikern understaunlicherweise selbst von den Medien kaum zur Kenntnisgenommen. Im Gegenteil: Nicht nur alle Beteiligten, sondernüberdies alle Mitwisser sind fast so verschwiegen wie ein Grab.

Ich spreche von ärztlichen Behandlungsfehlern, manchmalverharmlosend Kunstfehler, manchmal deutlicher Ärztepfuschgenannt, und ich spreche außerdem von Anwaltshaftpflicht-fehlern, von Verfahrensfehlern und von grotesken Willkürur-teilen vermeintlich neutraler Richter. In diesem Zusammenhangsollten die skandalösen Vertuschungsgutachten gehorsamerGutachter keineswegs vergessen werden. Für die Geschädig-ten ist es fast unmöglich, ihr gutes Recht zu bekommen, selbstwenn sie - wie ich - Mediziner sind. Denn bis heute gilt nichtnur für Ärzte, sondern ebenfalls für Juristen das bekannteMotto: Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus (auch keinejuristische einer medizinischen)!

Das Schicksal eines Passauer Kollegen, der nach einer Routine-operation für den Rest seines Lebens im Rollstuhl landete,ist nur ein Drama unter Tausenden. In Kenntnis des fragwür-digen deutschen Gutachterwesens besorgte er sich klugerwei-se von vornherein ein Privatgutachten in der Schweiz, wel-ches den Behandlungsfehler bei ihm erwartungsgemäß vollbestätigte. Trotzdem weigerte sich der zuständige Oberstaats-anwalt, die Anklageschrift gegen den Operateur zu unter-schreiben. Stattdessen gab derselbe Oberstaatsanwalt einzweites Gutachten, diesmal vorsichtshalber in Deutschland, inAuftrag. Dieses Gutachten war, wie später bewiesen werdensollte, ein Falschgutachten. Letztlich wurden insgesamt sieben

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Gutachten erstellt, und der Fall ging durch die Presse. Dasbetroffene Bundesland und der Haftpflichtversicherer desChirurgen, der den Behandlungsfehler begangen hatte, botendem Kollegen gemeinsam eine hohe Abfindungssumme an,unter der Bedingung, dass er den Strafantrag zurückzog undder Verursacher nicht vor Gericht erscheinen musste. Derbis an sein Lebensende an den Rollstuhl gefesselte Arzt willig-te schließlich aus finanziellen Gründen ein. Er musste sichzudem verpflichten, keine weiteren Vorwürfe mehr gegenden behandelnden Chirurgen zu erheben.

Wie ich bei späteren Recherchen zu meinem Buch feststell-te, wird diese Methode gar nicht so selten angewandt.

Ähnlich erging es einem vielfachen deutschen Meister, derbei einer einfachen Sehnenoperation das Opfer eines ungeklär-ten Herzstillstandes wurde. Nach mehrwöchiger Bewusst-losigkeit und der Erkenntnis, dass er niemals mehr gesundwerden würde, machte man den Patienten, der zuvor Ange-stellter in einer Konservenfabrik war, kurzerhand auf Staats-kosten zum Pensionär - immerhin mit dem Ruhegehalt einesOberamtsrats.

Das Zurückziehen der Strafanzeige war natürlich in beidenFällen Voraussetzung für den Vergleich, und die Opfer oderderen Vertreter willigten natürlich nur deshalb ein, weil siesich einerseits im Würgegriff der Justiz mit ihren unseriösenGutachtern und andererseits in einer existenziellen Notlagebefanden.

Die offizielle Begründung für die Presse lautete hier wieso häufig (z. B. im Contergan-Prozess): Es liegt kein öffentli-ches Interesse zur weiteren Strafverfolgung vor. Diese Be-gründung für die Einstellung beider Verfahren war jedochblanker Unsinn. Das öffentliche Interesse wäre gewaltig ge-wesen. Und selbst wenn nicht: Für die Opfer hätte der Prozessschließlich existenzielle Bedeutung gehabt.

Das sträfliche Versagen meiner ärztlichen Kollegen hatmich insgesamt 14 Operationen1 und ein Bein gekostet, vonmeiner Lebensqualität ganz zu schweigen. Juristische Willkür

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hat mich um Schmerzensgeld und viele Jahre Verdienstausfallgebracht.²

Es gibt inzwischen eine Reihe von guten Veröffentlichungenüber Ärztepfusch und andere über Rechtsbeugung. Was istnun das Besondere an dieser Publikation? Dieses Buch zeich-net sich durch zwei hervorstechende Dinge aus: Sowohl Medi-ziner- als auch Juristenpfusch treffen in extremer Form dassel-be Opfer - nämlich mich und ich bin selbst Medizinerin, alsoInsiderin - und ich bin als Fachärztin für Frauenheilkundeund Geburtshilfe bei Beginn des Geschehens immerhin 25Jahre in Klinik und eigener Praxis ununterbrochen beruflichtätig gewesen. Dennoch ist es mir trotz aller Bemühungennicht gelungen, mich der hier beschriebenen massiven medizi-nischen und juristischen Machenschaften zu erwehren.

Für die absolute Richtigkeit und Korrektheit aller meinerAussagen und Zitate verbürge ich mich. Sämtliche im Quellen-verzeichnis genannten Briefe, Gutachten, Artikel, Befunde,Literaturstellen und Protokolle sind im Original vorhandenund stehen gegebenenfalls selbstverständlich zur Verfügung.

Die Namen aller beteiligten Personen und die Orte desGeschehens habe ich aus rechtlichen Gründen weitgehendanonymisiert.

Das Hauptanliegen dieses Buches soll nicht sein, meine Lei-densgeschichte zu veröffentlichen. Meine Biografie dient nurals roter Faden, um katastrophale Missstände in unsererGesellschaft zu beschreiben und Lösungen aus dieser Misereaufzuzeigen.

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I. Wenn Ärzte pfuschen

Abgewimmelt trotz schwerer Sepsis

15. Juni 1994, 13.00 Uhr - zunächst ein Mittwoch wie jederandere. Soeben habe ich meine Praxis abgeschlossen und stei-ge die Treppe ins Obergeschoss hinauf. Ich öffne die Türund betrete meine geräumige, behagliche Wohnung. Endlichwieder ein freier Nachmittag. Ich atme tief durch, falle inmeinen Lieblingssessel und lasse die stürmische Begrüßungmeines Hundes gern über mich ergehen. Neben meiner Toch-ter, die sich nach dem gerade bestandenen Abitur ein Jahr inParis aufhält, ist die schöne, kluge Pudelhündin mein Ein undAlles. Es macht mir nichts aus, von früh bis spät in meinergynäkologischen Praxis zu arbeiten, denn ich liebe meinenBeruf. Dennoch brauche ich diese freien Nachmittage, umaufzutanken und mich zu entspannen. Diesen Tag werde icheinmal so richtig genießen.

Plötzlich sind die Schmerzen da, wie aus heiterem Himmel.Sie beginnen im rechten Knie und breiten sich stetig über dasganze Bein aus. Zusehends werden die Qualen stärker - unddas Knie immer dicker. So ein verfluchter Mist! So hatte ichmir meinen freien Nachmittag wirklich nicht vorgestellt.

Nach zwei, drei Stunden kann ich nicht mehr problemlosauftreten. Nicht nur das Knie, sondern auch die knienahenTeile von Ober- und Unterschenkel schwellen rasant an, wer-den rot und heiß. Als Medizinerin behalte ich in solchen Situa-tionen, wie üblich, einen kühlen Kopf. Offensichtlich entzün-det, sage ich mir. Aber das ist ja kein Drama, das gibt sichsicher bald. Doch diese Annahme sollte sich als folgenschwe-rer Irrtum erweisen.

Zunächst versuche ich es probeweise nach alter Hausfrau-enart mit kalten Umschlägen. Das bringt natürlich gar nichts.Bereits nach wenigen Stunden dämmert es mir allmählich,dass die Angelegenheit ernst ist. Also rufe ich als Erstes Ibra-him an, einen befreundeten libanesischen Orthopäden. Schließ-

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lich ist Mittwochnachmittag, und die meisten Praxen sindgeschlossen.

»Bin schon auf dem Weg in die Praxis!«, ruft er ins Telefon,nachdem ich ihm in knappen Worten meinen Fall geschilderthabe.

Eine Stunde später treffen wir uns in seiner Praxis. Eruntersucht das Bein, nimmt Blut ab und punktiert das Knie.Nachdem er eine erste Blutprobe in seinem kleinen Laboruntersucht hat, macht er eine bedenkliche Miene.

»Leider keine gute Nachricht, Hanne. Du hast vermutlicheine akute Entzündung im Knie. Die BSG (Blutkörperchen-senkungsgeschwindigkeit) ist massiv erhöht, und du weißtja selbst, dass wir auf die anderen Laborwerte erst wartenmüssen.«

Später wird sich herausstellen, dass ich es bereits ab diesemAbend mit einer besonders gefährlichen Infektion, nämlichmit MRSA (Multi Resistent Staphylococcus Aureus) zu tunhabe.3 Der Name ergibt sich aus der Tatsache, dass es sichum ein Bakterium handelt, das gegen viele Antibiotika resis-tent ist. Der Erreger Staphylococcus aureus, im Mediziner-jargon Killerkeim genannt, ist der am meisten nachgewieseneErreger bei Krankenhausinfektionen überhaupt und - nomenest omen - kostet gemeinsam mit anderen Bakterien, Pilzen,Viren und sogar Protozoen (Einzellern) in Deutschland jähr-lich mindestens 40.000 Menschen das Leben (NotgemeinschaftMedizingeschädigter).36, 72

• Die Zahl der jährlichen Opfer wird aber auch mit 55.000Toten (Dr. B. Wegener, Dr. M. Miklus und Dr. A. Berg-mann in Life-Sciences-Industrie),144

• mit 60.000 Toten (Dr. M. Lehmann im MDR-Fernse-hen)145

• oder mit 100.000 Toten (Prof. K. Reinhart, Präsidentder Deutschen Sepsis-Gesellschaft) angegeben.142

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Dabei ist gleichbleibend mit etwa der doppelten bis dreifa-chen Menge an Erkrankungen zu rechnen.128, 136 Nach offizi-ellen Angaben fordert die Sepsis aber erstaunlicherweise nur1.800 Tote jährlich.137 Allein diese Zahlen sollten alle Politikerzum sofortigen Handeln zwingen, denn der Unterschied istdermaßen haarsträubend, dass man ihn nicht glauben kann.

Ich habe folglich das, was man im Volksmund eine Blutver-giftung nennt. Auch andere Blutwerte, die auf eine beson-ders schwere Infektion hinweisen, sind bereits an diesemMittwochabend deutlich erhöht,4 wie etwa das C-reaktiveProtein (spezieller Eiweißkörper) und die Leukozyten (weißeBlutkörperchen). Nach jahrelanger Erfahrung in Klinik undPraxis bin ich so leicht durch nichts aus der Fassung zu brin-gen, ebenso wenig oder erst recht nicht, wenn es um meineeigene Gesundheit geht. Diese rasante Entwicklung machtmir allerdings mulmige Gefühle in der Magengegend. Hater mich doch wieder eingeholt, der Verkehrsunfall auf Sylt,der schon so lange zurückliegt und durch den mein rechterUnterschenkel vor 33 Jahren zertrümmert wurde?

Sepsis - Ursachen und Folgen

Die Ursache einer Sepsis ist immer ein Herd im Körper,von dem die Infektion ausgeht und der innerhalb von Stun-den und Tagen den Körper mit Krankheitserregern undderen Toxinen (giftigen Stoffwechselprodukten) über-schwemmt. Toxine sitzen in den Bakterienhüllen und geratenbei deren Zerfall in die Blutbahn. Sie bringen besondersdas Gerinnungssystem durcheinander. Zusätzlich ist dasgesamte Immunsystem überfordert.

Es kommt zu einer Unterversorgung der Organe mit Sauer-stoff, und letztlich führt ein Multiorganversagen zum Tod.

Man unterscheidet zwischen Sepsis, schwerer Sepsis undseptischem Schock.

Sepsis: Eiterherd, Fieber über 38,3 °C, Blutwerte patholo-gisch (krankhaft verändert)

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Schwere Sepsis: zusätzliche Organdysfunktion

Septischer Schock: zusätzliche Schocksymptome

Die Durchseuchung der Bevölkerung mit dem KillerkeimStaphylococcus aureus liegt in deutschen Kliniken bei etwa30%. Das ist eine extrem hohe Zahl.

Patienten aus Deutschland, die etwa in den Niederlandenstationär aufgenommen werden wollen, müssen zunächstauf eine Quarantänestation. Der Erreger Staphylococcusaureus besiedelt nämlich die Nasenschleimhaut und kanndort ganz einfach nachgewiesen werden, auch ohne dasssubjektiv eine Erkrankung vorliegt. Erst nachdem anhandmehrerer Nasen-Rachen-Abstriche festgestellt worden ist,dass diese Patienten hinsichtlich des Killerkeims steril sind,können sie dann auf eine reguläre Station verlegt werden.

Neuerdings geht man genauso an der Uni-Klinik Münsterund in einigen anderen Häusern auf diese Weise vor.

Welche Klinik würde wohl zugeben, dass im Zeitalter desPenicillins massenhaft Patienten dort an einer Infektion er-kranken und sogar sterben? Daher existiert diese Proble-matik offiziell fast überhaupt nicht. Wenn ein Patient an einerSepsis stirbt, lautet die amtliche Todesursache durchwegHerz- und Kreislaufversagen. Und das ist nicht einmal eineLüge. Es ist aber bloß die halbe Wahrheit. Denn wenn dieSepsis erst einmal den ganzen Organismus vergiftet hat,versagen nach und nach alle wichtigen Organe. Am Endebringt der Kollaps von Herz und Kreislauf den Tod.

»Du bist doch nicht erst seit gestern Patientin in der Sepius-klinik, also pack deine Sachen und fahr gleich morgen frühdorthin. So etwas muss selbstverständlich stationär behandeltwerden«, unterbricht Ibrahim meine Grübeleien.

In dieser Klinik hatte man mir vor drei Jahren wegen einerArthrose (Verschleiß des Gelenkknorpels) eine Schlittenpro-these in das rechte Knie eingesetzt. Dabei handelt es sich umeine besonders kleine Gelenkprothese, die Ähnlichkeit miteinem Schlitten hat.

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Die Sepiusklinik am westlichen Stadtrand von Berlin isteine über Deutschlands Grenzen hinaus bekannte Klinik fürKnochen- und Gelenkchirurgie und verfügt sogar über eineeigene Infektionsabteilung. Somit brauche ich wohl keineBedenken hinsichtlich der Auswahl des Krankenhauses zuhaben, denn diese Spezialklinik ist mit Sicherheit eine guteWahl - denke ich damals. Ich werde eine erstklassige Behand-lung bekommen, und mein Problem wird bald vergessen sein.

Erleichtert, weil ich jetzt zwar weiß, wie es weitergehensoll, aber dennoch mit unguten Gefühlen wegen der Proble-matik, die nun insgesamt auf mich zukommt - besonders dieSuche nach einer zügigen Vertretung für meine Praxis machtmir Sorgen -, verlasse ich Ibrahim. Die Schmerzen beim Auf-treten sind inzwischen so stark, dass ich mich nur mit Unter-armgehstützen, die Ibrahim mir vorsorglich mitgibt, vor-wärtsbewegen kann.

Während meine Praxishelferinnen am nächsten Morgen inten-siv versuchen, über die Ärztekammer eine sofortige Vertre-tung für mich zu organisieren, mache ich mich mit einem Taxiallein auf den Weg. Der großzügige und moderne Gebäude-komplex der Sepiusklinik flößt mir auch diesmal Vertrauenein. Leicht benommen vom Fieber und etlichen Aspirin hum-pele ich an meinen Krücken zur Rezeption und versuche derjungen, etwas gelangweilt aussehenden Empfangsdame, dieÄhnlichkeit mit einer Barbie-Puppe hat, zu erklären, wieschlecht es mir geht.

»Nehmen Sie bitte in der Wartezone Platz«, flötet sie eben-so routinemäßig wie desinteressiert. »Ihr behandelnder Chi-rurg, Dr. Schneider, ist seit gestern im Urlaub. Sein Vertretersieht sich Ihr Knie gleich an, sobald er aus dem Operationssaalzurück ist. Das kann leider ein Weilchen dauern.«

Sie seufzt gekonnt. Man merkt ihr an, dass es sich um eineeinstudierte Routine-Antwort handelt. Es ist erst acht Uhrmorgens, und mir schwinden jetzt schon die Kräfte. Nochahne ich nicht, was mir bevorsteht. Ich weiß nur, dass ichdringend Hilfe brauche, nicht irgendwann, sondern gleich,

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sofort! Ich überlege kurz, ob ich wieder gehen und ein anderesKrankenhaus aufsuchen soll. Aber momentan überwiegt wohldie Apathie in mir und ich bin froh, dass ich mich erst einmalhinsetzen kann. Wäre ich doch meiner inneren Stimme gefolgtund auf der Stelle in die nächste Klinik gefahren! Allein ichbleibe - leider - und meine Entschlussfreudigkeit, aufzustehenund einfach wegzugehen, nimmt von Minute zu Minute ab.

Diese Fehlentscheidung, nicht augenblicklich gegangen zusein, gehört zu den Dingen, die ich später eindringlich bereu-en werde. Doch erst lange Zeit nach diesem Ereignis ist mirklar geworden, warum ich damals kaum in der Lage war,irgendeine sinnvolle Entscheidung zu treffen.

Ein routiniert ablaufender Medizinbetrieb hat seine eige-nen Gesetzmäßigkeiten, in dem der Patient nur ein kleinesRädchen im gesamten Getriebe darstellt. Und dieses Rädchensoll bitte schön möglichst problemlos funktionieren und bloßkeine Schwierigkeiten machen. Heute denke ich manchmal,ich hätte irgendetwas Extremes tun müssen, einfach völligaus der Rolle fallen, um das Unheil abzuwenden. Vielleichthätte ich laut schreien oder mich vom Stuhl fallen lassen sollen.Stattdessen mache ich das Verkehrteste, was man in dieserSituation überhaupt machen kann: Ich verhalte mich still, dis-zipliniert angepasst und unauffällig, wie es leider häufig meineArt ist. Genau diese Charaktereigenschaften sollen mir jetztzum Verhängnis werden.

Nach endlos langer Zeit, inzwischen sind es bereits dreiStunden, und im Wartezimmer sitzen mittlerweile außer mirvier weitere Patienten, steckt eine Schwester den Kopf durchdie Tür und ruft: »Dr. Schmidt ist noch etwa eine Stunde imOP (Operationssaal). Gehen Sie doch einstweilen in die Cafe-teria.«

Während sich die anderen Patienten erheben, bleibe ichals Einzige sitzen. Die Schwester kommt nicht auf den Ge-danken, dass ich körperlich nicht einmal mehr in der Lagebin, auch nur ein paar Schritte sicher zu gehen. Wie denn?Bestimmt meint sie es gut, aber gut gemeint ist fast immerdas Gegenteil von gut. Wieso hilft mir denn keiner? Ich kann

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nicht mehr. Warum merkt das hier bloß niemand? Ich habeschrecklichen Durst. Ich wage allerdings nicht aufzustehen,aus Angst hinzufallen. Also bleibe ich mit pelziger Zungesitzen. Gegessen habe ich heute natürlich auch noch nichts -Blutzucker und Blutdruck sind bestimmt im Keller. Trotz-dem bleibe ich weiter wie gelähmt sitzen und überlasse michmeinem Schicksal. Ausgerechnet ich, die sonst von anderennormalerweise wegen ihrer Entschlossenheit und Willens-stärke geschätzt wird, verhalte mich, als könne ich nicht bisdrei zählen. Nicht genug damit, dass sich Dr. Schneider, derArzt, der vor drei Jahren meine Schlittenprothese implantierthat, im Urlaub befindet. Sein Vertreter operiert darüber hi-naus stundenlang, und sonst scheint es in dieser großen Kliniküberdies keinen weiteren Kollegen zu geben, der mich anse-hen könnte. Ist das nur einfach Pech, oder soll das der Beginneines vorbestimmten Schicksals sein? Alles nur purer Zufalloder geplante Vorsehung? Diese Frage werde ich mir imweiteren Verlauf sehr oft stellen.

Ich soll also nach wie vor warten. Es ist bei Weitem nichtdas erste Mal, dass ich den medizinischen Alltag aus Patienten-sicht erlebe. Aber so hilflos wie jetzt habe ich mich bisher niegefühlt. Diese Infektion hat aus einer starken Frau ein hilflo-ses Bündel Schmerz ohne jegliche Initiative gemacht. Ich willmir nichts anmerken lassen, mich nicht gehen lassen. So vielKraft besitze ich - leider - noch. Warum eigentlich? Zähnezusammenbeißen, durchhalten, bloß keine Schwäche zeigen!Es erscheint wie ein unsinniger Zwang.

Aus dem Weilchen sind inzwischen vier unerträglich langeStunden geworden. Im Rückblick denke ich, ich muss verrücktgewesen sein, an diesem Ort willenlos und untätig zu war-ten - und genau das war ich in gewissem Sinne auch. Als ichendlich aufgerufen werde, bin ich total am Ende: Schwerkrank, mit starken Schmerzen und hohem Fieber schleppeich mich an meinen beiden Krücken ins Behandlungszimmer.Endlich bekomme ich die Hilfe, die ich so dringend brauche.

Dr. Schmidt, der Vertreter von Dr. Schneider, begrüßtmich knapp, geschäftsmäßig und befehlsgewohnt, ohne mich

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überhaupt anzusehen, etwa so, als wäre er der Chef und ichsein Untergebener. Er mag wohl um die fünfzig sein, einwohlgenährter Mann mit einem leicht geröteten Gesicht. Ichhabe ihn nie zuvor gesehen und finde ihn nicht besonderssympathisch. Immerhin ist er einer der leitenden Oberärzte.Er wird ohne Frage das Richtige tun. Nur sein Verhaltenfinde ich etwas merkwürdig. Ohne mich eines Blickes ge-würdigt zu haben, wendet er mir sofort seinen Rücken zuund begutachtet am Röntgenfilmbetrachter Aufnahmen vonmeinem Knie, die bereits über ein Jahr alt sein müssen unddaher momentan völlig nebensächlich sind.

Und er bietet mir nicht einmal einen Platz zum Sitzen an,obwohl ich mich auf zwei Gehhilfen stütze. Ich muss die ganzeZeit über stehen! Es handelt sich zwar nur um wenige Minu-ten, aber auch die können ganz schön lang werden. Wie konn-te ich mir so etwas Beleidigendes nur gefallen lassen? Ichmuss nicht alle Tassen im Schrank gehabt haben! Wäre ichbloß umgekippt!

»Ich habe wahnsinnige Schmerzen«, versuche ich ihm zuerklären.

»Das kann ich mir durchaus vorstellen, Frau Kollegin«,fällt er mir abrupt ins Wort. »Sie leiden seit Jahren an einerArthrose und haben deshalb eine Schlittenprothese im rechtenKnie.«

Wortreich setzt er mir die Details meiner Arthrose undmeiner ganzen Krankengeschichte auseinander. Als wenn ichdas nicht selber wüsste. Kollege Schmidt doziert selbstver-gessen immer weiter und weiter und lässt mich gar nicht zuWort kommen. Er erwähnt sogar meine Arthrose im anderen,linken Knie, die augenblicklich vollkommen unwichtig ist.

Inzwischen bin ich so benommen, dass ich ihm kaum folgenkann. »Sehen Sie, daher rühren Ihre jetzigen Beschwerden«,beschließt er - sichtlich mit sich zufrieden - seine Ausführun-gen. Von Selbstzweifeln ist dieser Mensch offenbar nicht ge-plagt.

Schließlich halte ich es nicht mehr länger aus. »Herr Kol-lege, verstehen Sie doch, ich habe wahnsinnige Schmerzen.

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Ich weiß nicht mehr, wie ich stehen, geschweige denn gehensoll.«

»Das ist mir schon klar«, meint er mit einer wegwerfendenHandbewegung. »So eine Arthrose kann ohne Frage eine sehrschmerzhafte Angelegenheit sein.«

Jetzt bin ich mir ganz sicher: Das hier muss ein Albtraumsein! Gleich werde ich aufwachen und mich in meinem war-men Bett wiederfinden. Es ist so ein absurdes Gefühl, wiewenn man im Traum versucht, durch einen See von klebri-gem Honig hindurchzuwaten. Leider wache ich nicht auf.Ich bleibe Hauptdarstellerin in diesem Horrorfilm. Halb ohn-mächtig vor Fieber und Schmerzen lasse ich mich von einemarroganten und ignoranten Schnösel abfertigen wie ein dum-mes Schulmädchen.

»Herr Kollege«, versuche ich es erneut, »ich habe hohesFieber, mein Knie ist geschwollen und heiß, ganz sicher eineInfektion«, krächze ich gerade noch flüsternd heraus.

Die Antwort ist erneut eine wegwerfende Handbewe-gung. Ich kann nicht mehr! Wäre ich doch nur Herr meinerselbst gewesen. Ich hätte einfach die Hose heruntergezogenund ihn gezwungen, mein ballonartig geschwollenes Knieanzusehen. Aber vielleicht hätte selbst das nicht viel bewirkt?Nein, das ist ja totaler Quatsch, es hätte meine Zukunft mitabsoluter Sicherheit radikal verändert.

Wie der weitere Verlauf zeigen wird, ist ärztliche Überheb-lichkeit, gepaart mit Gleichgültigkeit und Egoismus, sogar inoffensichtlichen Notfällen wie diesem, durchaus in der Lage,das Notwendige und Naheliegende zu unterlassen. Ich selbstbin momentan nicht mehr fähig, die Situation an mich zu rei-ßen und in die richtige Bahn zu lenken. Daher ist es auchdringend geboten, bei schweren Erkrankungen möglichst eineBegleitperson mitzunehmen. Je dramatischer das Krankheits-geschehen, desto unverzichtbarer ist die Vertrauensperson.Zum einen kann die Begleitung die Gesamtsituation besserdurchschauen als der Patient selbst, etwa bei einer Bewusst-seinsstörung, zum anderen ist später, falls nötig, ein Zeugezur Hand.

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Dr. Schmidt denkt gar nicht daran, mich zu untersuchen.Die Jeans bleibt an! Er veranlasst keine Kniepunktion, keineRöntgenaufnahme und keine Blutentnahme, obwohl alle dieseMaßnahmen, ebenso wie die notfallmäßige sofortige statio-näre Aufnahme, nach allen Regeln der ärztlichen Kunst zudiesem Zeitpunkt zwingend erforderlich gewesen wären. Fürjeden halbwegs verantwortungsbewussten Arzt wäre esselbstverständlich gewesen, einen Patienten, der wie ich überstarke Schmerzen klagt, zumindest genau körperlich zu unter-suchen - und zwar sofort!

Ich bin am Ende. So erschöpft bin ich, dass ich nichts da-gegen hätte, auf der Stelle zu sterben. An Widerspruch istnicht mehr zu denken. Fieber und Schmerzen haben meineKämpfernatur zu Brei zerkocht.

Sepsis - die heimliche Gefahr

Eine Sepsis - gemeinhin unter der Bezeichnung Blutvergif-tung bekannt - wird als mögliche Todesursache weltweitunterschätzt. So erlag der Schauspieler und Superman-Darsteller Christopher Reeve, der seit 1995 nach einemReitunfall im Rollstuhl saß und in bewundernswerter Weisedarum kämpfte, irgendwann wieder laufen zu können, eben-so einer Sepsis wie die Frau des inzwischen verstorbenenJournalisten und Regierungssprechers Peter Boenisch.Nicht zu vergessen die Hunderttausende von Soldaten allerKriege der Menschheitsgeschichte, die nach schweren Ver-wundungen wegen einer Sepsis ihr Leben lassen mussten.

›Sepsis ist die gefährlichste und aggressivste Infektion, dieein Mensch erleiden kann. Sepsis ist die Invasion von Mi-kroorganismen und/oder ihrer Toxine (Giftstoffe) in den Blut-strom zusammen mit der Reaktion des Organismus auf die-se Invasion‹ (bis heute gültige Definition von R.C. Boone,1941-1997). Der vermeintlich dazu gehörende rote Streifenan Arm oder Bein tritt nur verhältnismäßig selten auf.

Man geht davon aus, dass in Deutschland 200.000 Men-schen im Jahr an einer Sepsis erkranken und immer noch

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die Hälfte bis ein Drittel von ihnen daran sterben. DiesesErgebnis ist also mit der Sterblichkeitsrate beim akutenHerzinfarkt vergleichbar und höher als bei Brustkrebs undDarmkrebs zusammen.

Es handelt sich somit schlicht und einfach um die dritthäu-figste Todesursache in Deutschland. Dabei ist dieDunkelziffer extrem hoch, weil die Diagnose selbst im Kran-kenhaus - unbewusst oder oft leider sogar bewusst - nichtgestellt wird. Es ist ja im Übrigen für eine Klinik nicht geradeerfreulich, wenn in ihren Mauern Patienten an einer Infektionsterben, die diese vorher nicht hatten. Allein das Vorhan-densein eines Eiterherdes verbunden mit Fieber sollte allemedizinischen Alarmglocken läuten lassen.

Während meiner eigenen Klinikzeit habe ich derart schwe-re Infektionen durchaus manchmal zu sehen bekommen.Meistens traten sie als Folge von illegalen Abtreibungenauf, denn der § 218, der Abtreibung unter Strafe stellte, wardamals noch voll wirksam. Die Frauen gingen in ihrer Notzu sogenannten Engelmacherinnen. Diese arbeiteten mitSeifenlösungen und unsterilen Instrumenten, und die Frauenstarben dann häufig an einer Lungenembolie und/oderSepsis.

* * *

Zusammenfassung:

Bei einer Sepsis (Blutvergiftung) geht man nach Schätzungender Notgemeinschaft Medizingeschädigter von 40.000 Todes-fällen und nach Schätzungen der Deutschen Sepsis-Gesell-schaft von 100.000 Todesfällen im Jahr aus, denn eine offizielleStatistik gibt es nicht. Die hohe Sterblichkeitsrate ist mindes-tens vergleichbar mit der Sterblichkeitsrate beim akutenHerzinfarkt und steht gemeinsam mit diesem an dritter Stellealler Todesursachen. Die entscheidende Ursache einer Sepsisist immer mangelnde (Krankenhaus-) Hygiene.

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Es ist falsch, jedem Arzt grundsätzlich und von vornhereinein zu großes Vertrauen entgegenzubringen, denn das musskeineswegs gerechtfertigt sein. Nicht alle Angehörigen diesesBerufsstandes haben das ihnen entgegengebrachte Vertrauenverdient. Ärztliche Arroganz, gepaart mit Verantwortungslo-sigkeit und Gleichgültigkeit gibt es leider häufiger, als vielePatienten annehmen.Bei schweren Erkrankungen sollte man möglichst eine Be-gleitung zum Arzt oder in die Klinik mitnehmen. Diese kanndie Gesamtsituation meistens objektiver einschätzen undeventuell später als Zeuge dienen.

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Abgefertigt ohne Therapie

»Schwester Beate, reservieren Sie für Dr. Bade Ende nächsterWoche ein Bett. Sie hat eine akute Arthrose im rechten Knieund Kollege Schneider wird sie gleich übernächste Wocheoperieren, wenn er aus dem Urlaub zurück ist.«

Die derbe, kräftige Stimme des Oberarztes reißt mich un-vermittelt aus meinen fieberschweren Träumen. Dr. Schmidthat soeben eine fatale und folgenschwere Fehldiagnose ge-stellt und veranlasst nun meine stationäre Aufnahme undeine Operation zur Behandlung einer falsch diagnostiziertenArthrose - irgendwann - Ende nächster Woche.

Während ich zunehmend weniger begreife, was hier ge-schieht, nämlich dass es um meine Gesundheit, mein Beinund um mein Leben geht, drückt die Arzthelferin mir etwasin die Hand. Verwirrt starre ich das weiße Ding an, das einStück Papier zu sein scheint. Die Buchstaben verschwimmen,sie fangen an zu tanzen und formen sich zu immer neuenMustern. Der ganze Raum scheint sich allmählich in einenwabernden Nebel aufzulösen. Mit letzter Kraft reiße ich michzusammen und lese: Stationäre Aufnahme, Freitag, 24.6.1994,9 Uhr, nüchtern. Ich kann nicht mehr erfassen, was ich dalese. Es ist mir außerdem egal. Alles ist scheinbar völlig gleich-gültig geworden. Leben oder sterben - in diesem Zustandscheint das kaum einen Unterschied zu machen. Ich habe nurden einzigen Wunsch, mich hinzulegen - und nicht mehr auf-stehen zu müssen - irgendwo! Wäre ich ohne Freunde gewe-sen, ich hätte mich zu Hause ins Bett gelegt und wäre binnenKurzem gestorben.

Später habe ich mir die schlimmsten Vorwürfe gemacht.Ich konnte die höhnische Stimme in meinem Kopf kaum nochabschalten: Du lässt anscheinend alles mit dir machen! Dabeibist du normalerweise nicht nur eine starke Frau, sonderndarüber hinaus eine erfahrene Medizinerin. Das hier soll wohlein Witz sein. So quälte ich mich selbst - immer und immerwieder -, bis mir schließlich, Monate später, die Ursache

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meines Versagens als Patientin klar wurde. Eigentlich lag esja mehr als deutlich auf der Hand. Nur Krankenhäuser igno-rieren und vertuschen dieses Problem, wo sie nur können.Das Problem heißt Sepsis - wie bereits erwähnt - ursprüng-lich eine ganz banale Infektion, das, was man gemeinhin alsBlutvergiftung bezeichnet. Nichts weiter. Und doch ein me-dizinisches Drama sondergleichen, dem selbst 150 Jahre nachdem Wirken eines Robert Koch allein in Deutschland jährlichZehntausende von Menschen zum Opfer fallen. Aber es warnicht allein die Infektion, die mich so willenlos machte.

Meine nachherige Analyse der Symptome in den erstenTagen der Erkrankung förderte etwas ganz Ungewöhnlicheszutage: Eine schwere Sepsis geht mit einer Bewusstseins-trübung einher! Deshalb hatte ich mich also nicht wehrenkönnen. Was für ein Wahnsinn, einen Patienten in so einemdramatischen Zustand sich selbst zu überlassen, anstatt ihnaufzufangen und zu betreuen. Der Kranke ist in dieser Situa-tion einfach nicht mehr in der Lage, verantwortungsvoll zuhandeln. Diese schwere Infektion bringt nämlich außerSchmerzen, hohem Fieber, Mangeldurchblutung der Organeund Bewusstseinsveränderungen zusätzlich lang anhaltendeFehlreaktionen mit sich. Die Fachliteratur berichtet einhellig,dass die Wachheit durchaus erhalten bleiben kann, sodassdem Außenstehenden zunächst nichts auffällt. Die eigene Lagewird nicht mehr real, sondern nur noch traumhaft verschwom-men wahrgenommen. Genauso habe ich es selbst erlebt. Esist ein Gefühl, als wäre man in einer irrealen Wirklichkeit,die nichts mit dem eigenen Leben zu tun hat. Das Geschehenum mich herum war zwar greifbar nahe, jedoch mein subjekti-ver Zustand war benebelt, als wäre ich sturzbetrunken. Ichwar völlig passiv. Alles geschah wie von selbst. Ich war keinehandelnde Person mehr. Wie gefährlich, ja lebensgefährlichdas Geschehen wirklich war, drang nicht mehr in mein Be-wusstsein vor.

Heute frage ich mich: Was bewegt einen Spezialisten dazu,sich so zu verhalten, wie es Dr. Schmidt tat? Letztlich kannich darüber nur spekulieren. War er längst mit seinen Gedan-

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ken im Wochenende, auf dem Golfplatz, oder war er nurmüde nach wahrscheinlich mehreren Operationen und dach-te: Jetzt auch noch die Patienten von dem Schneider, den ichvertreten muss? Egal, was es war, für mich war es die Katas-trophe schlechthin. Alles, wirklich alles, was in meinem Fallnotwendig gewesen wäre, wurde unterlassen! Es wurde keinBlutbild gemacht, keine Blutkultur (direkter Keimnachweisim Blut) angesetzt, kein Gerinnungsstatus erhoben, keineKniepunktion (direkter Keimnachweis in der Gelenkflüssig-keit) vorgenommen, keine Röntgenaufnahme geschossen usw.Und ich wurde nicht auf die Intensivstation gelegt, wo ichhingehört hätte. Kann man so etwas überhaupt als Behand-lung bezeichnen? Mit Sicherheit nicht! Mir scheint es einefurchtbare Misshandlung gewesen zu sein, ein besondersschwerer Fall von unterlassener Hilfeleistung!

Was genau ist in Schmidt vorgegangen? Hat er sich gedacht:Die Bade ist ja selbst Medizinerin, dann soll sie doch selberfür die geeignete Medikation sorgen? Wohl kaum. Ich wareine Patientin wie jede andere. Hat er nicht befürchtet, eskönnte für ihn gefährlich werden, wenn er mich einfach sonach Hause schickt? Hat er nicht damit gerechnet, dass ichirgendwann wieder klar bin und er dann vielleicht Problemebekommt? Schließlich habe ich ja selbst sieben Jahre auf kli-nischen Stationen gearbeitet und weiß normalerweise ganzgenau, wie und was so alles abläuft. - Nur in dieser für michüberaus entscheidenden Situation wusste ich es aufgrund mei-ner ausgeprägten Bewusstseinstrübung eben leider nicht. UndKollege Schmidt? Offenbar haben Behandlungsfehler, die ermit Sicherheit bereits früher begangen hatte, niemals zuirgendwelchen Konsequenzen geführt, sodass ihm tiefere Ge-danken über sein unärztliches Verhalten allem Anschein nachmehr als fremd waren.

Oberarzt Schmidt muss meinen Fall vermutlich in derSchublade mit der Aufschrift Nicht weiter schlimm, ist mir egal,abgelegt haben, weil ich ja ohnehin die Arthrose mit einerlangen Vorgeschichte hatte.

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Wenn Patienten an chronischen Erkrankungen leiden, be-steht aus ärztlicher Sicht ständig der diagnostische Stolper-stein, neu auftretende Symptome der bereits bekanntenKrankheit zuzuordnen, aber das ist natürlich keine Entschul-digung. Offenbar dachte Schmidt an eine akute Arthrose,weil diese ebenfalls schmerzhaft ist. Das ist im Übrigen wirk-lich das Einzige, was eine akute Arthrose und eine schwereSepsis gemeinsam haben.

Bei einer akuten Arthrose ist der Knorpel zwischen zweikorrespondierenden Knochen total aufgebraucht, sodass dieKnochenflächen aufeinanderreiben. Ein kurzer Blick auf meinKnie und das Ernstnehmen meiner Beschwerden hätten die-sen Irrtum garantiert sofort aufgedeckt. Eine akute Arthrosehat mit einer akuten schweren Entzündung überhauptnichts zu tun und kann normalerweise unter keinen Um-ständen mit dieser verwechselt werden.

Die Einschätzung meiner Symptome durch Dr. Schmidtwar nach allen geltenden Regeln der ärztlichen Kunst eben-so falsch wie für mich fatal. Allein, wie sollte ich später bloßmeine eigene Reaktion erklären? Das glaubt dir kein Mensch,sagte ich mir nachher immer und immer wieder, dass eineaktive und durchsetzungsfähige Frau wie du - dazu eine er-fahrene Ärztin - nicht in der Lage sein soll, ihren eigenenZustand zu diagnostizieren. Ich hätte dem Kollegen, der sichallem Anschein nach die Schlamperei zum Prinzip gemachthatte, selbstverständlich gehörig den Marsch blasen müssen.

Im Rückblick kann ich es selbst kaum fassen, dass ich nichtmehr darum kämpfen konnte, sofort die richtige Behandlungzu erhalten, sondern zuließ, dass sogar die allernotwendigsteHilfe unterlassen wurde. Aber ist ein schwer kranker Patientdenn selbst dafür zuständig, die richtige Therapie einzuleiten?Sicher nicht. Und wenn der Patient Mediziner oder Medizine-rin ist wie ich? Hätte ich vielleicht selbst die Diagnose stellenund die geeigneten Maßnahmen veranlassen müssen? Wohlkaum. Eine kranke Ärztin ist natürlich eine Patientin wie jedeandere und auf ärztliche Kompetenz und Hilfe angewiesen.Je bedrohlicher die Sache ist, umso mehr. Deshalb muss

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Schmidt in meinem Fall eine grobe, ja skandalöse und sogarlebensbedrohliche Vernachlässigung seiner ärztlichen Pflich-ten vorgeworfen werden.

Erst viel später wurde mir klar, warum ich nicht fähigwar, mich durchzusetzen und um sofortige Hilfe zu kämpfen:Ich litt schon am Tag des ambulanten Besuchs an einer quali-tativen Bewusstseinsstörung, wie sie oft mit einer schwerenSepsis einhergeht.

Bereits bei Beginn des ganzen Dramas, am Mittwoch, dem15. Juni, lag eine Sepsis mit hohem Fieber, Staphylococcusaureus im Kniepunktat und pathologischen, entzündlich ver-änderten Blutwerten vor. Man kann mit an Sicherheit gren-zender Wahrscheinlichkeit zusätzlich davon ausgehen, dassebenso eine Organdysfunktion mit Minderdurchblutung auchdes Gehirns bestand.

Sepsis und Bewusstseinsstörung

Es ist selbst unter Ärzten zu wenig bekannt, dass ein Patientmit einer schweren Sepsis nicht mehr im Vollbesitz seinergeistigen Kräfte ist. Er leidet durch Mangeldurchblutung desGehirns durchgehend ebenfalls an einer qualitativen und/oder quantitativen Bewusstseinsstörung.

Eine qualitative Bewusstseinsstörung ist einem Patientennicht unbedingt anzumerken. Er erscheint nämlich nach au-ßen total unauffällig, kann allerdings nicht mehr klar denkenund darf auf keinen Fall sich selbst überlassen bleiben.

Bei der quantitativen Bewusstseinsstörung dagegen ist eineBeeinträchtigung dem Patienten deutlich anzumerken. Erwirkt benommen und im Extremfall fällt er ins Koma.

Ein Patient mit einer schweren Sepsis ist im wahrsten Sinnedes Wortes nicht mehr zurechnungsfähig. Und selbst diebedeutendsten Menschen sind nicht vor folgenschwerenFehlleistungen aufgrund hohen Fiebers gefeit. Ein charak-teristischer Fall ist Altkanzler Helmut Schmidt, eigentlich ein

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Paradebeispiel eines entschlussfreudigen und tatkräftigenMannes.

Während seiner Amtszeit als Bundeskanzler wurde der Ber-liner CDU-Politiker Peter Lorenz von Terroristen entführt. Beiextrem hohem Fieber entschied sich Schmidt damals, denForderungen der RAF (Rote Armee Fraktion) nachzugebenund im Austausch für Lorenz einige Terroristen freizulassen.Eine Entscheidung, die seiner eigenen Meinung nach untergesunden Bedingungen mit Sicherheit anders ausgefallenwäre.

Die fatalen Folgen dieser Entscheidung ließen nicht langeauf sich warten, denn die RAF legte sie auf ihre Weise aus.Bekanntlich markierte der Austausch von Lorenz den Be-ginn einer beispiellosen Entführungs- und Tötungsserie. Sohätte möglicherweise der Tod des Industriellen Hans-MartinSchleyer und die Entführung der Lufthansamaschine nachMogadischu verhindert werden können.

Auf meine zwei Krücken gestützt und schweißgebadet quäleich mich nach draußen zum Taxi. Wie ich letztlich nach Hausegekommen bin und wie ich bezahlt habe, weiß ich bis heutenicht. Ein anderes Krankenhaus aufzusuchen fällt mir nichtein.

Übrigens sollte sich später herausstellen, dass es für diesenambulanten Klinikbesuch nicht einmal (mehr?) eine Doku-mentation gibt! Die renommierte Sepiusklinik war sich nichtzu schade dafür, den Beweis für ihre Glanzleistung einfachverschwinden zu lassen. Das Fehlen der Dokumentation wirdspäter vom Gericht als schwerwiegender Mangel gewertetwerden. Mit diesem billigen Trick soll dem Patienten die Mög-lichkeit genommen werden, die Einzelheiten der Behandlungnachzuvollziehen.

Sepsis, eine lange Geschichte

Aufgrund des bis ins 19. Jahrhundert hinein mangelndenWissens um hygienische Maßnahmen und vor der Entde-

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ckung der Antibiotika (Mitte des 20. Jahrhunderts) warenWundinfektionen lange eine gefürchtete und häufige Kom-plikation in der Chirurgie.

Das Wort ›Sepsis‹ wurde bereits von dem griechischenArzt Hippokrates (ca. 460 bis 370 v. Chr.) eingeführt und be-deutet Wundfäule. Der Gynäkologe Ignaz Semmelweis(1818-1865) war als Erster auf der richtigen Spur und konntedas gefürchtete Kindbettfieber auf seinen Stationen massivsenken. Er führte das Händewaschen mit Chlorkalklösungfür Ärzte und Studenten ein, obwohl er nicht wusste, warumauf diese Weise die Sterblichkeit der Mütter sank.

Louis Pasteur (1822-1895) entdeckte, dass kleinste einzel-lige Lebewesen für die Sepsis verantwortlich waren unddurch Erhitzen abgetötet werden konnten (Sterilisation).Robert Koch (1843-1910) führte die Sterilisation mit Was-serdampf ein und Hugo Schottmüller (1867-1936) definiertevon der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf aus einensehr modernen Sepsis-Begriff: ›Eine Sepsis liegt dann vor,wenn sich innerhalb des Körpers ein Herd gebildet hat, vondem konstant oder periodisch pathogene Keime in den Blut-kreislauf gelangen und zwar derart, dass durch diese Inva-sion subjektive und objektive Krankheitserscheinungenausgelöst werden.‹

Erst die Entdeckung des Penicillins durch den Schotten Ale-xander Fleming (1881-1955) führte in der ersten Hälfte des20. Jahrhunderts dazu, dass die Sepsis-Sterblichkeit etwaab dem 2. Weltkrieg signifikant gesenkt werden konnte.

Am nächsten Tag, es ist Freitag, wache ich mit schweremKopf auf. Ich schwitze und friere gleichzeitig. Irgendwie istmir alles völlig egal. Also bleibe ich liegen und döse bis mittagsvor mich hin. Das, was an klarem Bewusstsein übrig ist - unddas ist erschreckend wenig -, sagt mir, wenn ich heute nichtsunternehme, ist es vielleicht zu spät. Probleme lösen sich nuneinmal nicht dadurch, dass man sie ignoriert. Das dämmertmir noch so gerade. Mühsam raffe ich mich auf. Das Einzige,

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was mir momentan einfällt, ist, einen weiteren Orthopädenaufzusuchen. Warum habe ich mich nicht telefonisch anIbrahim gewandt? Er hätte mit Sicherheit alles Nötige in dieWege geleitet. Er hatte schließlich das Bein gesehen und kann-te inzwischen alle Laborwerte. Oder warum bin ich nichtunverzüglich in die nächste Klinik gefahren?

Im Rückblick ist die Antwort leicht: Ich war nicht mehrzurechnungsfähig - das Naheliegende fiel mir nicht ein. Späterwurde mir klar, warum Ibrahim sich nicht bei mir gemeldethatte. Er dachte selbstverständlich, ich sei ohne Frage längstin irgendeinem Krankenhaus. Ich schleppe mich stattdessenmit meinem stark schmerzenden Bein in die nächstbeste Praxis.

Genau wie für meinen Kollegen Ibrahim vor zwei Tagenist es für diesen Orthopäden, Dr. Paulsen, eine Selbstverständ-lichkeit, mein Bein als Erstes zu untersuchen. Er nimmt mirBlut ab und punktiert das Knie, indem er einen Einstich machtund eine Probe der Entzündungsflüssigkeit entnimmt: Esentleeren sich jetzt 120 ml (!) dickflüssiger Eiter.5 Bei Ibrahimwaren es nur etwa 15 ml gewesen.

»Sieht generell nicht gut aus, Frau Kollegin«, fängt Paulsenan zu erklären. »Die BSG6 ist um das Zehnfache erhöht, unddas Kniepunktat haben Sie ja eben selbst gesehen.«

Später erfuhr ich, dass ebenfalls alle anderen Entzündungs-werte massiv verändert waren, noch viel deutlicher als vorzwei Tagen.

»Sie müssen sich schleunigst in stationäre Behandlungbegeben«, lautet sein wohlmeinender Rat.

Doch leider überschätzt auch dieser Kollege meine men-tale und psychische Verfassung. Er kennt mich als beherzte,aktive Kollegin, und es kommt ihm nicht in den Sinn, dassich der Lage nicht mehr gewachsen sein könnte und dass ichdringend von ihm weitere Hilfe gebraucht hätte.

»Informieren Sie schnellstens telefonisch die Sepiusklinikund kündigen Sie Ihr sofortiges Kommen an«, schlägt er vor.

Nun müsste ich ihm eigentlich erzählen, was ich dort erlebthabe, aber ich schaffe es nicht. Mechanisch folge ich seinerEmpfehlung, lasse mich im Taxi nach Hause fahren und rufe

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die Sepiusklinik an. Ich verlange den diensthabenden Ober-arzt. Ein weiteres Mal geht alles schief, und ich erreiche nichts.Auch jetzt kann ich mich nicht durchsetzen und werde nurabgewimmelt. Erneut lande ich in einer Sackgasse, abermalsgescheitert! Soll das nun wiederum Zufall sein oder ist viel-leicht doch alles Bestimmung?

»Es ist ja bereits Freitagnachmittag, Frau Kollegin, heuteAbend wird sowieso nichts mehr passieren. Bitte kommenSie gleich morgen früh.«

Konnte dieser Oberarzt die Diagnose ebenfalls ohne Un-tersuchung stellen, diesmal sogar durchs Telefon? Wiederabgewimmelt! Mir wird schwindelig. Ich komme mir allmäh-lich vor wie eine Versuchsratte, die der Willkür der Forscherausgeliefert ist. Hätte sich nur irgendjemand für mich einge-setzt! Aber alle glauben natürlich, ich würde das schon irgend-wie allein erledigen. Und genau das kann ich eben nicht! Meindesolater Zustand sorgt dafür, dass das Verhängnis weiterseinen Lauf nimmt. Am Ende meiner Kräfte lasse ich michteilnahmslos auf mein Bett fallen und versinke in schwereTräume. Am Abend wage ich einen erneuten verzweifeltenVersuch, Hilfe zu bekommen. Bleib liegen, raunt mir eineteuflische innere Stimme zu, ist sowieso alles egal, ruh dichaus.

Nein, ich darf dieser gefährlichen Stimme nicht gehorchen.Mühsam raffe ich mich auf und rufe meine Kollegin undFreundin Gerlinde an. Wenigstens bin ich in der Lage, einenso banalen Entschluss selbst zu fassen, anstatt mich der Resig-nation und Selbstaufgabe hinzugeben. Gerlinde ist vorerstmeine Rettung. Sie verspricht, mich am nächsten Morgen indie Sepiusklinik zu fahren.

Nach einer grauenvollen Nacht voll von Schmerzen, Fieberund Verzweiflung komme ich am nächsten Morgen, nach zweiverlorenen Tagen, erneut in der Klinik an. Inzwischen hatsich mein Zustand weiter verschlechtert. Als ich in der Ein-gangshalle zufällig in einen Spiegel blicke, zucke ich erschro-cken zusammen. Das bin ich? Aschfahl im Gesicht, mit aus-

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druckslosen gelben Augen, ein Schatten meiner selbst. Michschaudert. Ich scheine in zwei Tagen um zehn Jahre gealtertzu sein. Unwillkürlich frage ich mich, ob jetzt mein Ende ge-kommen ist. Bin ich vielleicht nur noch einmal an diesen grau-envollen Ort zurückgekommen, um hier zu sterben? Hätteich geahnt, wie nah dieser kurze Gedankenblitz der Wahrheitkommen sollte, es wäre mir - trotz meiner Situation - gelun-gen, auf der Stelle die Flucht zu ergreifen.

Zwei Tage sind nutzlos verstrichen, zwei Tage, in denen dieheimtückische Infektion sich durch mein Knie gefressen hat:Knorpel, Bänder, Muskeln, Faszien (Muskelhüllen aus Binde-gewebe), alle Weichteile fallen ihr zum Opfer. Die Killerkeimezerstören aber nicht nur mein Knie, sondern rasen durchmeinen gesamten Körper, wo sie sich jederzeit an jeder Stelle,in jedem Organ festsetzen können oder schon festgesetzthaben, um ihr mörderisches Werk der Zerstörung zu begin-nen, dessen Ende häufig der Tod ist.

Diesmal ist mein Zustand wirklich von niemandem mehrzu verkennen. Plötzlich lässt man mich keine fünf Minutenmehr warten. Dann werde ich von einer jungen Kollegin un-tersucht. Sie schaut sich mein Knie an und sagt: »Wir müssenSie gleich hierbehalten. Mit diesem Knie lasse ich Sie auf garkeinen Fall nochmals nach Hause.«

Endlich! Ich muss fast weinen vor Erleichterung. Endlichpassiert etwas. Endlich helfen sie mir! Diese junge Frau machtsich überhaupt keine Vorstellung davon, wie gering meinVerlangen ist, ihrer ärztlichen Fürsorge zu entfliehen. Ichwerde endlich stationär aufgenommen. Jetzt wird alles gut!Die Assistenzärztin greift zum Telefonhörer. Doch als ichhöre, wen sie anruft, zucke ich zusammen. Nein, das darfnicht sein, nicht noch einmal Dr. Schmidt! Wie in Trance höreich sie sagen: »Guten Morgen, Herr Oberarzt, wir haben eineKollegin als Notfall in der Ambulanz, eine hochakute Infek-tion bei liegender Schlittenprothese. Wir brauchen Sie hierdringend, Herr Schmidt.«

Das kann nicht möglich sein, dass ausgerechnet dieser

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Mensch auch noch Wochenenddienst hat! Verfluchte Sch...!Jetzt heule ich tatsächlich, diesmal nicht vor Schmerz oderErleichterung, sondern vor Wut. Nach kurzer Zeit habe ichmich - wie (leider) meistens - im Griff. Egal, was in den letztenTagen passiert ist, nun wird er mich umso besser behandeln.Wenn er seine Fehldiagnose von Donnerstag bemerkt, wirder sich ganz besonders ins Zeug legen, um mir zu helfen.Mein kindlich-naives, eigentlich durch nichts begründetesVertrauen scheint trotz allem ungebrochen! Bin ich inzwi-schen total meschugge? Doch der aufopfernde Einsatz vonOberarzt Schmidt beginnt damit, dass er trotz Sepsis erstaun-licherweise gar nicht erst erscheint, sondern nur telefonischzwei Kniepunktionen, eine sofort und eine abends, sowieeine Blutentnahme anordnet. Für den morgigen Tag, das istSonntag, der 19. Juni, ordnet er nochmals zwei Kniepunk-tionen zur Entlastung - wie es heißt - an. Obwohl er nunsicher von seiner Assistentin weiß, um wen und worum essich handelt und dass die Sache wohl mehr als ernst ist,kommt er am Sonntag nicht und ordnet auch kein Antibioti-kum an.

Die Kollegin nimmt Blut ab und lässt ein EKG machen.7, 8

Auf dem EKG-Zettel steht: tiefe Infektion, Samstag, 18.06.94.Die Blutwerte zeigen hochpathologische, massiv entzündlicheErgebnisse. Da die Leberwerte darüber hinaus deutlich er-höht sind, ist somit bewiesen, dass die Infektion bereits streutund dass es sich spätestens ab jetzt nicht nur um eine Sepsis,sondern sogar um eine schwere Sepsis handelt!

Am folgenden Tag, es ist Sonntag (!), soll ich nüchtern blei-ben. Ich kann vor Schmerzen nicht einmal mehr aufstehen,um zur Toilette zu gehen. Zusätzlich ist mir beim Aufrichtendes Oberkörpers durchgängig schwindlig, weil mein Blut-druck im Keller ist. Die Körpertemperaturen bewegen sichständig um 39 °C. Bei jeder Kniepunktion entleert sich mas-senweise Eiter. Seltsamerweise scheint das niemanden hierzu stören. Ein Antibiotikum erhalte ich trotzdem nicht!

Vormittags erscheint ein Anästhesist und klärt mich über

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eine Spül-Saug-Drainage auf, die heute durchgeführt werdensoll.9 Über einen Schlauch soll eine sterile Elektrolytlösung(in Wasser gelöste Mineralstoffe) in das Knie hineinfließenund mit einem zweiten Schlauch wird dann diese Lösungmit dem sich ständig neu gebildeten Eiter mittels eines Va-kuums abgesaugt. Ich soll ab jetzt nüchtern bleiben. Nach-mittags kommt eine Schwester mit Kaffee und Kuchen underöffnet mir so nebenbei, dass die Operation, warum weißsie nicht, wieder abgesetzt worden sei.

Erst Sonntagabend, etwa 34 Stunden nach meiner stationä-ren Aufnahme, betritt der diensthabende Oberarzt Dr. Schmidtdie Privatstation, aber nicht etwa meinetwegen - immerhinwar schließlich Wochenende und herrlichstes Wetter - son-dern zur routinemäßigen Visite bei den Privaten. Obwohl erbei dieser Visite mein ballonartig geschwollenes, heißes undrotes Knie zum ersten Mal überhaupt sieht, scheint ihn dasnicht besonders zu beeindrucken. Denn selbst in dieser fata-len Situation wird keine wirkungsvolle Therapie eingeleitet.Mir wird weiterhin kein Antibiotikum gegeben, und nichteinmal provisorisch wird das Knie gespült oder der Eiterkontinuierlich abgesaugt.

Später lese ich im Aufnahmebogen, den der Stationsarzterst am Montag ausgefüllt hat: Noch kein Antibiotikum genom-men... tiefe Infektion!10

Dieses Zitat des Assistenzarztes ist sogar mit einem Aus-rufezeichen versehen. Fast meine ich, die ungläubig hochge-zogenen Augenbrauen des Kollegen zu erkennen, als hätteich mich selbst geweigert, das Medikament einzunehmen.Selbst dieser Mediziner hat keine Konsequenzen gezogen.Ich bekomme auch von ihm kein Antibiotikum! Oder wagter es nicht, den Oberarzt zu fragen, warum ich bislang ohneTherapie bin?

Ein internistischer Oberarzt, der erst am Montagmittagerscheint, hält ebenfalls auf seinem Untersuchungsbogen fest:Sepsis...11 Und trotzdem bringt mir keiner ein Antibiotikum.Stattdessen ordnet der Internist eine Spirometrie (Untersu-chung der Lungenfunktion) an. Dabei soll festgestellt werden,

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wie weit die Funktion der Lunge inzwischen vermindert ist.Natürlich ist meine Lungenfunktion deutlich vermindert!12

Ein Antibiotikum, das diese Situation hätte entschärfen kön-nen, erhalte ich trotz allem nicht. Und nicht einmal heutewird nicht mindestens eine Spül-Saug-Drainage angeschlos-sen, um das Knie wenigstens wirkungsvoll zu entlasten. Au-ßer den üblichen beiden Punktionen geschieht nichts. Diesebewirken übrigens nur, dass das Knie nicht aufplatzt, thera-peutisch sind sie sonst ohne Belang.

Wahrscheinlich müssen alle Kollegen zum Wochenbeginnbeim gemütlichen Nachmittagskaffee erst einmal in Ruhe be-raten, was denn irgendwann mit mir zu geschehen habe. Oderhaben mich alle Ärzte ganz plötzlich in meinem Einzelzimmer,wo ich statt auf einer Intensivstation allein liege, vergessen?Will mich vielleicht jemand töten? Oder bin ich versehentlichin der Aufführung eines absurden Theaterstücks gelandet?

Ich habe mindestens seit Mittwoch eine Sepsis und spätes-tens seit Samstag eine schwere Sepsis, denn die Blutwertevon diesem Samstag zeigen eine hochgradig pathologischeStörung der Leberfunktion und ebenso ist die Lungenfunk-tion bereits eingeschränkt! Möglicherweise hat die Dysfunk-tion der Leber oder eines anderen Organs lange vor Samstagbestanden, aber es wurde ja bis dahin fast keine Diagnostik,womit eine korrekte Aussage hätte getroffen werden können,betrieben. Und was total unglaublich ist: Der alarmierendeBefund meines ballonartig geschwollenen und trotz der Punk-tionen völlig vereiterten Knies schreckt offenbar die Ärzteund Schwestern der gesamten Station - seit jetzt über zweiTagen - nicht auf? Wichtige zusätzliche Laboruntersuchungensind offenbar lieber nicht gemacht worden, nach dem Motto:Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Aber warum? DieAntwort auf diese Frage wird unglaublich sein! Und meineBewusstseinsstörung ist jetzt nicht mehr nur qualitativ, son-dern inzwischen sogar quantitativ mit durchgehender Be-nommenheit. Auch dieses Symptom kann nun wirklich vonniemandem mehr übersehen werden, trotzdem schieben alleweiter ihre ruhige Kugel.

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Erst Jahre später wird mir die Ursache für diese überausdramatische unterlassene Hilfeleistung klar werden.

Was für jeden Mediziner eigentlich unfassbar sein sollte:Es wird keine Blutkultur entnommen, der Gerinnungsstatuswird nicht überprüft, es werden keine Werte für Blutzucker,für Serumlactat (Hinweis auf drohendes Organversagen) undkeine Nierenwerte gemessen. Ich erhalte keine Infusionenund die Ausscheidung wird ebenfalls nicht ermittelt. Einekaum zu glaubende Fülle von lebensgefährlichen Versäumnis-sen! Die medizinische Versorgung, die man mir angedeihenlässt, befindet sich auf dem Niveau eines Urwaldhospitalsder Kolonialzeit. Selbst in einem der Spitäler von AlbertSchweitzer wäre ich fraglos besser aufgehoben gewesen alsin der Infektionsabteilung der auf Knocheninfektionen spezia-lisierten Sepiusklinik.

Handelt es sich in meinem Fall nur um einen unglaubli-chen, bodenlosen Schlendrian? Oder steckt eventuell mehrdahinter? Schließlich weiß jeder auf der Station - und wohlauch darüber hinaus -, dass ich mit einer schweren Sepsiszumindest seit Samstag, dem 18.6. ohne jegliche Therapie binund dass die Situation jederzeit in einen tödlichen septischenSchock abgleiten kann - nur ich weiß es nicht.

In meinen unruhigen Träumen finde ich mich in menschen-leeren Schneelandschaften wieder, verlassen und einsam. Ichfühle mich wie in dem Film Schnee am Kilimandscharo nach dergleichnamigen Erzählung von Ernest Hemingway. Dort stirbtder Protagonist an einer unbehandelten Sepsis. Gleichzeitigfühle ich mich in die Romane Franz Kafkas versetzt, mit ihrenHelden, die durch absurd-albtraumhafte Situationen irren,um am Ende zu scheitern. Nur zeitweise bin ich in der Lage,ein paar klare Gedanken zu fassen: Sie hätten mir längst einAntibiotikum geben müssen, oder muss man tagelang aufdie Keimtestung warten? Was ist bloß los? Zudem hätten sielängst das Knie operieren müssen. Oder etwa nicht? Hierwimmelt es doch nur so von hervorragenden Fachleuten.Oder irre ich mich? Aber bevor ich weiter über die Konse-quenzen meiner Behandlung oder Nicht-Behandlung nach-

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denken kann, bin ich aufs Neue in einen bleischweren Däm-merzustand versunken.

Haben nicht alle Ärzte und Schwestern auf der Stationlängst bemerkt, welche unglaublich gefährliche Schlampereisich gerade abspielt, und kein Einziger hat die Zivilcourage,die Wochenendruhe des diensthabenden Oberarztes zu stö-ren? Oder hat es sogar jemand versucht und ist dabei kläglichgescheitert? Diese Vermutungen sind auf jeden Fall plausi-bler, als dass dieser lebensgefährliche Wahnsinn, der sichmomentan ereignet, allen Beteiligten entgangen sein sollte.Das ist ausgeschlossen und eine blödsinnige Annahme, dennjeder Arzt, jede Schwester und jeder Pfleger hat gewusst,dass gerade mit meinem Leben gepokert wird. Wenn bis-lang kein Antibiotikum gegeben wurde, dann kann es sichnatürlich nur um Absicht handeln, oder? Was ist der Grund?Vielleicht bin ich jetzt doch nur einfach das Opfer einer immernoch hierarchischen Krankenhausstruktur aus dem 19. Jahr-hundert? Es sieht ganz danach aus. Aber das ist nicht dieWahrheit!

Krankenhaushierarchie

Im Frühling 2006 kommt es zu einem seit Jahrzehnten über-fälligen Ärztestreik. Es geht dabei nicht nur um Geld undArbeitszeiten - es geht nicht zuletzt auch um eine unmöglicheKlinikhierarchie, nach der Ärzte und Schwestern bis heute,gemäß dem alten preußischen militärischen Drill von vor100 Jahren erzogen werden.

Wer sich diesem System nicht unterordnet, hat seine Auf-stiegschancen ein für allemal verspielt. Nur absoluter Ge-horsam ist gefragt, fachliches Können erst in zweiter Linie.Jede Eigeninitiative und jede abweichende Meinung be-deuten oft das berufliche Ende. Nur so ist es zu verstehen,dass die meisten Krankenhausärzte bislang schweigendund ergeben Unterbezahlung und Überstunden in unvor-stellbarem Ausmaß erduldet haben.

Ich selbst habe Ende der Sechzigerjahre Dienste ableis-ten müssen, die von Samstagmorgen bis Montagabend

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gingen - fast ohne Schlaf, denn Kinder werden nicht nur amTag geboren. Zwar sind die Dienste inzwischen erträglichergeworden, aber immer noch so lang, dass Außenstehendees nicht glauben können. Deshalb war der jetzige Sklaven-aufstand durchaus berechtigt und mehr als überfällig!

Seit Mittwoch benötige ich mit allergrößter Dringlichkeit ärzt-liche Hilfe in einer Situation, in der es um Leben und Todgeht - nicht in der mongolischen Steppe, sondern in einereuropäischen Großstadt mit allen medizinischen Möglichkei-ten - und heute ist bereits wiederum Montag. Hätte mir voreiner Woche jemand dieses Märchen erzählt, ich hätte ihmnicht nur nicht geglaubt, sondern ihn zusätzlich für verrücktgehalten. In meiner schweren, narkoseähnlichen Benommen-heit, welche die Sepsis in mir ausgelöst hat, fühle ich michhilflos wie eine Schiffbrüchige, die sich verzweifelt nach ei-nem Stück Treibholz oder einem Rettungsring umschaut, umsich daran festzuklammern. Meine Stimmung schwankt zwi-schen ungläubigem Staunen und abgrundtiefer Verzweiflung.Gibt es so etwas tatsächlich? Mitten in Deutschland, Endedes 20. Jahrhunderts? Oder liege ich vielleicht doch fiebernd,aber gut versorgt, im Bett und meine Fantasie geht gerademit mir durch? Es ist alles so verdammt unecht und ver-schwommen, als würde ich halb schlafend einen Film anschau-en. Wenn ein Arzt oder eine Schwester mit mir spricht, höreich ihre Stimmen wie von Weitem. Nur mühsam erfasse ichden Sinn dessen, was sie mir sagen.

Wäre ich nur halbwegs bei klarem Bewusstsein gewesen,ich hätte mir schon längst selbst das lebensnotwendige Anti-biotikum besorgt oder besorgen lassen. Und wahrscheinlichhätte ich mich bereits vor Tagen in eine andere Klinik verle-gen lassen. Ausgerechnet in dieser kritischen Phase bin ichaußerstande, angemessen zu reagieren. Mir ist, als wäre ichgelähmt. So treibe ich mit meiner schweren unbehandeltenSepsis ungebremst von irgendeiner Therapie immer schnellerauf einen septischen Schock mit Multiorganversagen zu. Nurein Schutzengel oder ein Wunder kann mich jetzt noch retten.

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Zusammenfassung:

Mangelnde Dokumentation oder sogar das Fehlen jeglicherärztlicher Aufzeichnungen ist ein schweres Vergehen.

Im Krankenhaus existiert unter Ärzten bis heute - im 21. Jahr-hundert - eine Hierarchie ähnlich dem preußischen Militärdrillvon vor über 100 Jahren. Was der Chef sagt, ist absolutesGesetz. Widerspruch oder Eigeninitiative können das berufli-che Aus bedeuten. Wer sich nicht unterordnet oder mögli-cherweise sogar Zivilcourage zeigt, hat seine Aufstiegschan-cen oft für alle Zeiten verspielt.

Es ist nicht einmal ausgeschlossen, dass das Leben eines Pa-tienten der eigenen Interessen wegen aufs Spiel gesetzt wird!