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Journalistenpreis Osteuropa 2012 Beiträge der Preisträgerinnen

Journalistenpreis Osteuropa 2012 - Brot für die Welt …...Im Jahr 2010 gab es ein neues Rendezvous mit meiner verlassenen Heimat. Und neue Entdeckungen. Wenn man in ein verlassenes

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Journalistenpreis Osteuropa 2012

Beiträge der Preisträgerinnen

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Pfarrerin Cornelia Füllkrug-WeitzelDirektorin von „Brot für die Welt“

Pater Stefan Dartmann SJHauptgeschäftsführer von „Renovabis“

Unser Dank gilt auch der Laudatorin Ina Ruck sowie den Jurorinnen und Juroren:

„Brot für die Welt“, das evangelische Hilfswerk, und Renovabis, die Solidaritätsaktion der deutschen Katholiken mit den Menschen in Mittel- und Osteuropa, verleihen im Jahr 2012 erneut gemeinsam den

Journalistenpreis Osteuropa.

Der „Journalistenpreis Osteuropa“ möchte Journalistinnen und Journalisten fördern, die sich mit der sozialen Situation und den Lebensumständen in Mittel- und Osteuropa auseinandersetzen. Teilnahmeberechtigt sind sowohl mittel- und osteuropäische als auch deutschsprachige Journalistinnen und Journalisten.

Die festliche Preisverleihung findet am 18. Juli 2012 im „Haus der Katholischen Kirche“ in Stuttgart statt.

Wir gratulieren den Preisträgerinnen Nicola Abé aus Deutschland und Nina Rybik aus Weißrussland.

Dr. Christiane FlorinRedaktionsleiterin der ZEIT-Beilage »Christ & Welt« und Dozentin für Politische Wissenschaft an der Universität Bonn

Burkhard Haneke Geschäftsführer und Leiter der Abteilung Kommunikation und Kooperation bei Renovabis

Dieter PoolLeiter der Abteilung Öffent-lichkeitsarbeit von „Brot für die Welt“

Ludwig Ring-EifelChefredakteur der katholischen Nachrichtenagentur KNA

Bernhard RudeStudienleiter des Instituts zur Förderung publizistischen Nachwuchses (ifp)

Dr. Thomas SchillerChefredakteur des Evangeli-schen Pressedienstes (epd)

Elisabeth Zoll Politikredakteurin der Südwest Presse

Burkhard Haneke, Elisabeth Zoll, Dieter Pool, Ludwig Ring-Eifel, Dr. Thomas Schiller, Dr. Christiane Florin.

Ina Ruck, Korrespondentin und Leiterin im ARD Studio Moskau

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Die prämierten Beiträge des Journalistenpreises Osteuropa 2012

 Tschernobyl, eine kleine alte Stadt im Norden der Ukraine, erlebte im April 1986, was für manche die größte Katastrophe in der Geschichte der Men-schen ist, für andere ein Verbrechen der sowjetischen Führung an den Menschen und für Dritte das Hel-dentum von Menschen, die mit bloßen Händen den Planeten vor der nuklearen Katastrophe zu schützen versuchten. Es gibt auch die Leute, für die das Wort Tschernobyl eine persönliche Tragödie und zerbroche-nes Leben bedeutet. Ich gehöre zu dieser Gruppe. Nach dem Unfall von Tschernobyl bin ich wie Tausende mei-ner Landsleute als Bewohnerin der südlichen Regionen von Belarus zu einem Menschen ohne Heimat gewor-den. Die EinwohnerInnen meines Heimatdorfes Ulasy im Gebiet Gomel wurden in den ersten Tagen nach dem Unfall evakuiert. Mein Heimatdorf ist am 3. Mai 1986 gestorben. Jetzt können meine DorfgenossInnen nur einmal im Jahr zu den Gräbern ihrer Verwandten und ihren verlassenen Häusern kommen. Am Fest Raduni-tsa, für die Christlich-Orthodoxen das Ostern der Toten, öffnet sich das Sperrgebiet, das von Stacheldraht und Checkpoints umgeben ist, um die Menschen vom ha-varierten Reaktorblock 4 fernzuhalten.

VERLORENES HEIMATDORF. Seit dem Unfall von Tschernobyl und der Evakuierung kam ich bisher

drei Mal zurück. Das erste Mal 1987. Der stärkste Ein-druck war die Stille. Sie war körperlich spürbar. Diese tote, absolute Stille, die nicht durch das Wort von Men-schen oder das Weinen von Kindern, von Schreien oder Vogelgezwitscher, vom Hämmern oder vom Knarren einer Tür unterbrochen wird. Der schalldichte Sarko-phag über dem havarierten Atommeiler bedrückte mich so stark, dass mir schien, im nächsten Augenblick wür-de auch ich zum Schweigen gebracht, würde auch ich zu einem kleinen Mo lekül in diesem Monolithen. Dann hat mich ein Rabe gerettet, der in der Ferne krächzte, er hat mich zurück in die Realität gebracht, als ob er sagen wollte, die Welt lebt noch, auch in dem toten Dorf.

Das nächste Mal kam ich mit meiner Schwester im Jahr 2000. Meine stärkste Entdeckung war, dass der Raum komprimiert werden kann. Körperlich, im wahrsten Sinne des Wortes. Der hohe Hügel, wo wir in der Kindheit rodelten, war verschwunden. Die lange Straße war zur kürzesten Gasse geworden. Ein kleines Wäldchen, wo wir im Sommer jeden Tag die duftenden Himbeeren gesammelt hatten, war jetzt zum Greifen nahe.

Dann erkannte ich auch, dass es keine Grenzen für menschliche Gier gibt. Man hat aus den verlas sen en Häusern und Wohnungen alles, was Wert hatte, gestoh-len: Haushaltsgeräte, Möbel, Kleidung. Was nicht ge-

Strahlende Geschäfte25 Jahre Super-Gau in Tschernobyl

Seit 25 Jahren ist die Zone von dreißig Kilometern rund um das havarierte Atomkraftwerk in Tschernobyl verwaist. Doch ein Lokal-augenschein beweist anderes. Die Autorin, die selbst aus einem der verlassenen Dörfer in der Sperrzone stammt, traut ihren Augen nicht. Havarie-Tourismus und Strahlungsignoranz allenthalben.

von Nina Rybik

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nommen wurde, wurde zerstört. Zum Glück habe ich etwas für mich Wertvolles gefun den – Familienfotos.

Im Jahr 2010 gab es ein neues Rendezvous mit meiner verlassenen Heimat. Und neue Entdeckungen. Wenn man in ein verlassenes Dorf gerät, fühlt man, dass es im Reich der Toten liegt. Die Straße ist mit Gras bewachsen, die Einzigen, die einen Weg anlegen, sind Wildschweine und Elche. Die Häuser wer den von der Zeit oder den unersättlichen Plünderern zerstört. Die Zäune sind gefallen. In dieser Ver wüstung ist der Friedhof auf dem sandigen Hügel der einzige Ort, wo man Leben treffen kann. Neu lackierte Kreuze, bunte Kränze und Sträuße auf den Gräbern sind das einzige Zeichen menschlicher Existenz.

TSCHERNOBYL ALS TOURISMUSZIEL. Einen Monat nach diesem Treffen mit der Heimat wurde mir eine Fahrt nach Tschernobyl angeboten. Sollte ich mir wünschen, dieses Monster zu besuchen, das so viele gebrochene Schicksale verursachte?

Einige Reisefirmen in Kiew verkaufen Führungen für neugierige Abenteurer. Man muss einfach Geld bezahlen, um den verhängnisvollen vierten Block der Station zu sehen und mit einem Führer durch die tote Stadt Prypjat zu spazieren. Für eine zusätzliche Ge-bühr kann man einen Hubschrauber bestellen und sich in die Lage der Hubschrauberpiloten versetzen, die den Reaktor nach dem Unfall gelöscht haben. Die Touren werden nachgefragt, vor allem von TouristInnen.

Bevor ich nach Tschernobyl ging, meinte ich viel über die Stadt, die Atomstation und den Unfall zu wis-sen. Wie sich herausstellte, saß ich vor dieser Reise vielen Mythen über das Leben in der Tscherno byl-Zone auf.

Welche Assoziationen ruft bei den Uneingeweihten das Wort »Tschernobyl« hervor? Ein mit radio aktiver Asche verseuchtes Land, wo es keine Leute gibt, und falls doch, sind sie ausschließlich mit Schutzkleidung und Strahlenmessgeräten unterwegs? So habe ich mir

das auch vorgestellt. Aber nach dem Checkpoint, wo unsere Dokumente und das Recht zu passieren geprüft wurden, wartete eine Überraschung. Das Leben in Tschernobyl braust: Die Arbeiter reparieren die Stra-ßen, die Geschäfte sind geöffnet. Menschen gehen und Autos fahren.

BESSER HIER ALS IM RUHIGEN KIEW. Unser Führer Denis Zabaryn von der Reisefirma »Tscherno-byl-Info« erklärt uns: »Tschernobyl ist eine normale lebendige Stadt, nur geschlossen. Hier gibt es etwa zwanzig Organisationen, fünf Geschäfte und drei Ca-fés. Jeden Morgen gehen etwa viertausend Men schen zur Arbeit. Manche arbeiten wie ich: zwei Wochen in Tschernobyl, zwei zu Hause in Kiew. Manche arbeiten von Montag bis Donnerstag und gehen fürs Wochen-ende nach Hause.«

Die nächste Überraschung für uns war, dass die Arbeit in Tschernobyl als sehr prestigeträchtig gilt. Laut Denis ist es überall in der Ukraine schwer, ei-nen auskömmlichen Job mit einem guten Lohn zu finden. In Tschernobyl bekommt man 100 US-Dollar extra pro Monat wegen der widrigen Bedingung en. Darüber hinaus gibt es Vorteile bei der Rente. Denis, der 25-jährige Mann mit Fremdsprachen kenntnissen, findet es in Tschernobyl einfach »interessant«. Des-wegen hat er die gute, ruhige Arbeit in Kiew gegen diese gesundheitlich ziemlich riskante in Tschernobyl getauscht. »Jeden Tag kann ich neue Leute kennen-lernen. Heute führe ich Sie, morgen Engländer, über-morgen Schweden. Dasbringt mir neue Erfahrungen, Informationen, Kontakte. Eine Familie? Nein, noch nicht, nicht mit dieser Arbeit.«

DAUERWOHNSITZ TSCHERNOBYL. Es gibt aber auch 250 Menschen, die immer in Tschernobyl le-ben. Sie sind die Einheimischen, die nach der Evakuie-rung im Jahr 1986 zurückgekehrt sind, einige nach eini-gen Monaten, andere nach ein paar Jahren. Die Straßen

Nina Rybik wurde 1962 im südlichen Weißrussland geboren. Nach

dem Studium der Journalistik in Minsk lebte und arbeitete sie in ihrem Ge-

burtsort, bis sie die Region nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl 1986

verlassen musste. Heute arbeitet sie als Chefredakteurin der weißrussischen

Regionalzeitung „Ostrowieckaja Prawda“. Ihre Reportage „Strahlende Ge-

schäfte“, in der sie über das Sperrgebiet von Tschernobyl berichtet, erschien

2011 in der österreichischen Zeitschrift „Welt der Frau“. Nina Rybik erhält

den „Journalistenpreis Osteuropa 2012“ in der Kategorie der Teilnehmerin-

nen und Teilnehmer aus Mittel- und Osteuropa.

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sind vor privaten Gebäuden, die ver lassen wurden, durch hohes Gras und Unkraut unpassierbar. Dazwi-schen allerdings stehen ge pfleg te, neu gestrichene, sau-bere Häuser mit fröhlichen Vorhängen an den Fenstern. Darin findet man merk würdige Schilder: »Hier wohnt der Besitzer.« Das sei wegen der Obdachlosen, von de-nen es hier sehr viele gibt, erklärt Denis.

Er macht uns mit den BewohnerInnen der Stadt vertraut. Es gibt sogar ein Kind in Tschernobyl, ein Mädchen von dreizehn Jahren, obwohl es per Gesetz verboten ist, dass Kinder die 30-km-Zone um Tscher-nobyl betreten. Dieses Mädchen wurde in Tschernobyl geboren und lebt hier mit seinen Eltern. Sie geht in das nächstgelegene Dorf zur Schule. Nach dem Unfall im Kernkraftwerk Tschernobyl wur den alle Einwohne-rInnen der 30-km-Zone in saubere Gebiete evakuiert. Nach einiger Zeit sind viele von ihnen – wie die Eltern dieses Mädchens –, die sich nicht an die Umsiedelung gewöhnen wollten, in ihre Häuser zurückgekehrt. Vie-le wohnen in den umliegenden Dörfern. Die Behörden behandeln diese Leute mit Toleranz, vielleicht sogar mit Verständnis, sie versuchen, ihnen ihre Existenz zu erleich tern. Jede Woche kommt ein fahrender La-den, nicht nur in das Dorf, das sich in der Nähe des Kraft werks befindet. Dort wohnt ein neunzigjähriges Paar. Wie ist sein Gesundheitszustand? Der alte Mann kommt mit dem Fahrrad fünfzehn Kilometer nach Tschernobyl, um Lebensmittel zu kaufen.

KEINE ANGST VOR SCHÄDEN. »Eingeborene« behandeln die Tschernobyl-Radioaktivität und ihre Auswirkungen mit Verachtung. Diese zeigen sie auch jenen TouristInnen gegenüber, die mit ihrer Neu gier, aber noch viel mehr mit Angst zu kämpfen haben. Es sei einfach unmöglich, 24 Stunden pro Tag, Tag für Tag, Monat für Monat mit Angst im Herzen zu leben. Niemand weiß, was mehr Schaden bringt: Strahlung oder ständiger Stress. Ich habe bis 1989 in Khoiniki, einer der am meisten ver schmutzten Städte in Belarus gewohnt. Ich weiß, man kann unmöglich immer Angst haben, einen Apfel aus dem Garten zu essen oder die Kinder auf die Straße zu lassen.

Als ob Denis meine Gedanken lesen könnte, er-zählt er: »Das ist der Fluss, wo ich mit meinen Freun-den schwimmen gehe. Hier angle ich auch. Die Fische lass ich nicht prüfen, denn ich selbst wurde ständig geprüft.« Denis packt ein Dosimeter aus. Er klickt es an. Es stoppt bei 15 Mikroröntgen pro Stunde. »Glauben Sie mir, in Kiew ist das Niveau höher. In der Ukraine gilt es als normal, weniger als 45 Mikro-röntgen zu haben. Das Strahlungsniveau ist seit 1986

um das Hundertfache zurückgegangen. Die radio-aktiven Elemente zerfallen und setzen sich in tieferen Bodenschichten ab.«

DAS KERNKRAFTWERK STRAHLT IM SARG. Wir nähern uns dem Unfallsreaktor von Tschernobyl. Das Erste, was wir sehen, sind turmhohe Kräne. Hier wurden, sagt Denis, der fünfte und sechste Kraft-werksreaktor errichtet. Dann kam das Jahr 1986. Die Kräne blieben seit jenem schwarzen 26. April stehen. Aber es wird auch gebaut. Die Hauptaufgabe zurzeit ist, den zweiten Sarkophag, die »Abdeckung 2«, zu bauen. Der erste, der direkt nach dem Unfall gebaut wurde, ist in einem unsicher en Zustand. Letztes Jahr wurde er stabilisiert: Das Dach und die Westmauer wurden verstärkt. Aber jetzt wird eine neue, zuver-lässigere Abdeckung gebraucht. Außerdem muss ein Lager für die Kern brennstoffe gebaut werden. Der letzte Reaktor des Kernkraftwerks Tschernobyl wur-de im Dezember 2009 gestoppt. Es ist geplant, das ganze Kraftwerk bis 2016 zu schließen. Heute sind rund 3.500 Menschen in diesem Kraftwerk beschäf-tigt. Das leidenschaftslose Dosimeter zeigt: Der radioaktive Untergrund strahlt mit mehr als zwei-hundert Mikroröntgen pro Stunde.

HELDEN DES UNFALLS. Wir gehen zum Denk-mal für die heroischen Feuerwehrmänner, die das Feu-er in jener verhängnisvollen Nacht des 26. April 1986 gelöscht haben. Sie wussten nicht, was passiert war. Sie ahnten das Ausmaß der Tragödie und des Risikos nicht. An der »Mauer der Erinnerung« steht die la-konische Aufschrift: »Leben für Leben«. Wir sehen dreißig Granitplatten, dreißig Namen, dreißig Tage im Leben von jungen Männern, zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt. Nach dem Unfall lebten sie noch ein paar Tage, maximal drei Wochen. Sie starben unter schrecklichen Qualen. Ihre Kleidung und Verbands-stoffe wurden als radioaktive Abfälle entsorgt.

Diese dreißig Männer werden nicht vergessen. Wer kennt die Namen der Hubschrauberpiloten, die im April und Mai 1986 den zerstörten Reaktor ge-löscht haben, indem sie mit bloßen Händen Sandsä-cke in den Reaktor geworfen haben? Sie haben 30 bis 35 Flüge pro Tag gemacht. Sie alle haben sechs bis acht Röntgen abbekommen (heute liegt die Norm für das Dienstpersonal des Kraftwerks bei zwei Röntgen pro Jahr). Viele von ihnen sind verschwunden. Eini-ge leben und kämpfen mit Krankheiten, sie kämpfen um ihr Recht, Vorteile bei der Rente oder kostenlose medizinische Behandlung. Wer kennt die Namen jener

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Soldaten, Reservisten, die auf dem Areal des zerstör-ten vierten Reaktors die Grafit stücke mit fast bloßen Händen gesammelt haben?

Nach offiziellen Statistiken starben in der Zeit nach der Katastrophe von Tschernobyl 300.000 Men-schen. Tatsächlich waren es viel mehr. Zum Beispiel jene Leute aus meinem Heimatdorf, die nicht an-Strahlenkrankheit starben, sondern an Krebs, einem Herzinfarkt oder Schlaganfall. Niemand ver knüpft ihren Tod damit, dass sie eine Woche nach dem Unfall in dem Dorf – sieben Kilometer von dem lodernden Reaktor entfernt – wohnten und Lebensmittel aus ih-ren Gärten aßen.

DIE TOTE STADT MAHNT. Es ist schrecklich, eine tote Stadt zu sehen. In einer Nacht wurde die grüne Stadt Prypjat für immer unbewohnbar. Nun kommt man wegen des übermäßigen Wachstums von Bäumen und Sträuchern nicht mehr bis zu den riesigen 9- und 16-stöckigen Gebäuden. Ich konnte nicht glau-ben, dass dieser Wald einmal das Zentrum der Stadt war. Zerbrochene Schaufenster, rostige Attraktionen mitunrealistisch hellen Farben im Park: Vor dem Un-fall des Kraftwerks war die Stadt Prypjat eine der jüngsten und schönsten in der Ukraine. Hier wohnten fast 50.000 Menschen. Am 27. April 1986 wurden alle EinwohnerInnen von Prypjat evakuiert. Für immer.

 Ein Kreuz aus Neonröhren prangt auf dem Hü-gel. Ein kaltes, einsames Licht. Aus der Ferne dringt das Bellen der wilden Hunde, in Rudeln streunen sie durch die rumänische Nacht. Still liegt das Dorf, um-geben von Wald und Kartoffelfeldern. Das Zigeuner-dorf. So nennen sie es. Ihre Häuser liegen im Schutz der Hänge unten im Tal, dicht an dicht wie Läuse auf einem Blatt. Dort schlafen die Jungs. Das ist das eine Leben.

„Eldorado“, „Blue Boy“ und „Blond“ steht in Ne-onschrift über den Bars im Berliner Schwulenviertel unweit des Bahnhof Zoo. Autos fahren vor, Porsche, BMW, Jaguar. Im Tabasco übertüncht der süße Pat-schuliduft den Rauch der Zigaretten. „Lets do it, riding my pony ...“, dröhnt es aus den Boxen. Der Billard-tisch ist die Bühne: Hier drängen sich die Jungs, wer-fen Kusshände, massieren ihre Queues wie Schwänze. Das ist das andere Leben.

Ionel kam nach Berlin, um Akkordeon zu spielen. „Schön und dick“ sei er damals gewesen, fünf Jahre ist das her. Von alten Fotos lächelt ein pausbäckiger Jun-ge, eine Bibel in der Hand. Heute ist Ionel 29 und ein professioneller Lächler. Sein Lächeln ist wie ein Ver-sprechen.

Das erste Mal fährt er mit Odila nach Berlin, dem wahrscheinlich mächtigsten Mann im Roma-Dorf, rund 300 Kilometer östlich von Bukarest. Denn Odila besitzt einen Kleinbus, einen weißen Mercedes, der neun Sitze hat. Das Gute ist, dass man Odila nicht sofort bezahlen muss. Man kann ihm das Geld auch später geben, wenn man etwas verdient hat. Der Preis variiert.

Sie fahren zu dreizehnt, vorbei an Orten wie Cleja und Faraoani. Wenn Ionel aus dem Fenster blickt, sieht er verfallene Häuser, rissige Straßen, mal eine Tankstelle und an vielen Gebäuden das Schild „De

Endstation Bahnhof ZooIn Rumänien haben sie Familie, in Berlin gehen sie auf den Strich. Mit einem Bus fahren die Roma-Jungs aus ihrem Heimatdorf in die Hauptstadt. Wer nicht einsteigt, hat keine Zukunft

von Nicola Abé

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Ionel führt ein Doppelleben. In dem einen ist er Bauernsohn in einem rumänischen Dorf. In dem anderen ist er Stricher in Berlin

Vanzare“, zu verkaufen. Schon für einen Rumänen gibt es kaum Arbeit hier. Noch weniger Arbeit gibt es für einen Roma. Ionel ging fünf Jahre lang zur Schule, dann fing er auf den Feldern der Großbauern an: Er erntete Trauben, sechs Tage die Woche, 150 Euro im Monat, keine Perspektive.

Der Bus fährt von Rumänien über Ungarn und Österreich nach Berlin. Kurz vor jeder Grenze wartet ein Auto. Ein paar Jungs müssen umsteigen, damit der überfüllte Bus durch die Kontrolle kommt. Ein paar Kilometer hinter der Grenze steigen sie wieder zu. Tausende Roma kommen so jedes Jahr nach Deutsch-land, seit der EU-Osterweiterung 2007 sind es noch mehr geworden.

Als Ionel nach etwa zwanzig Stunden Berlin zum ersten Mal erreicht, bringt ihn ein Bekannter zu einer Wohnung in Friedrichshain. Für fünf Euro pro Nacht kann er hier schlafen, in einem Zimmer zusammen mit vielen anderen Jungs. In den Matratzen am Boden wimmelt es von Wanzen. Das Haus gilt offiziell als Bau- stelle, Strom gibt es nicht.

Ionel hat seine Bibel mitgenommen. Vor dem Ein-schlafen liest er darin ein paar Sätze. Jeden Abschnitt muss er drei- oder viermal wiederholen, bis er ihn ver-steht. Er sagt: „Gott ist immer bei mir.“

Tagsüber zieht Ionel mit seinem Akkordeon los, er spielt vor Supermärkten und in S-Bahnhöfen. Er ver-dient rund dreißig Euro am Tag. Ein paar Monate läuft alles gut.

Dann verliert er seinen Pass. Er traut sich nicht mehr, mit den anderen Musik zu machen, zu oft wer-

den sie von der Polizei kontrolliert. „Ionel, du musst keine Musik machen“, sagt einer seiner Mitbewohner, „du bist schön und hast einen großen Schwanz. Komm mit!“

Bei Beate Uhse am Bahnhof Zoo steht „Sex“ oder „Kino“ in Neonschrift, es gibt Plakate, auf denen blonde Frauen posieren und eine Bar, in der grauhaa-rige Männer verkehren. Ionel trinkt eine Cola.

Weil Ionel kein Deutsch kann, schreibt der Mann eine Siebzig auf einen Bierdeckel. Ionel streicht die Zahl durch und schreibt 150. Wie man handelt, weiß Ionel. Früher verkaufte er Wassermelonen auf einem Markt. Ionel wundert sich, dass der Mann sofort einver-standen ist. Sie gehen in eine Video kabine. Erst wenn bezahlt ist, lässt sich die Schiebetür aus Sperrholz ver-schließen. Zwei Euro pro Minute. Ein Bildschirm, ein zerschlissener Plastiksitz, ein winziger Raum. Hier lutscht der Mann Ionels Schwanz. An diesem Tag macht Ionel fünf Kun- den. Abspritzen kostet extra.

„800 Euro an einem Abend“, sagt Ionel. „Ich war so glücklich.“ Von da an ist er fast täglich bei Beate Uhse oder im Schwulenviertel Schöneberg. Manchmal geht er auf den Straßenstrich hinter dem Bahnhof Zoo, auf diesen Laufsteg des Elends, wo früher hauptsächlich Drogensüchtige anschafften und heute viele osteuro-päische Jungs ihre Körper verkaufen. Im letzten Jahr dokumentierte die Berliner Stricherhilfe „Subway“ Gespräche mit 2000 Roma-Stricherjungs. Viele pen-deln zwischen deutschen Städten und ihren Heimat-dörfern in Rumänien oder Bulgarien. Alle paar Mo-nate kehren sie nach Hause zurück.

Die Monate, die Ionel in seinem Heimatdorf verbringt, sind trostlos und öde. Aber er muss sich für niemanden ausziehen.

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Ionels Dorf hat sich verändert in den letzten Jahren. Neben den morschen Pferdekarren fahren jetzt Autos mit deutschen Kennzeichen auf den unbefestigten Straßen, Berlin, Hamburg, Düsseldorf. Neben den Lehmhäuschen, gestrichen in Türkis, Pink oder Gelb, gibt es ein paar neue, größere Häuser. Vor allem aber sind da viele Baustellen, halb fertige Gebäude, die auf die nächste Geldspritze aus Deutschland oder aus einem anderen, reicheren EU-Land warten.

Ionels Mutter, 77, bestellt den Acker vor ihrem Haus. Mit beiden Händen holt sie aus, rammt einen Spaten in den Boden und gräbt die Erde um. Sie trägt ein rotes Kopftuch, die Haut runzelig wie ein Apfel vom letzten Winter. Sie weint. Ionel war schon lange nicht mehr hier. Die Mutter wohnt in einer Hütte aus Lehm, ein Raum, ausgelegt mit Teppichen, an den Wänden Ikonen, in der Mitte eine Feuerstelle. Die Küche ist ein überdachtes Feuer vor dem Haus, das Bad ein Holzverschlag, mit einem Loch im Boden da-hinter. „Wie in Afrika“, sagt Ionel und schämt sich.

Auch er baut zusammen mit seinem Bruder ein Haus. Er will eine Toilette, fließendes Wasser, eine richtige Dusche, „wie in Deutschland“. Bisher fehlen Innenwände, Türen und Putz. „Sobald das Haus fertig ist, reiße ich das alte ab“, sagt Ionel. Die Mutter solle endlich umziehen, ein besseres Leben haben.

Die Alte schüttelt den Kopf. Sie will zu Hause sterben.

Rund 5000 Menschen leben hier, ihr Wasser holen sie aus Ziehbrunnen, der nächste Super- markt ist drei-ßig Kilometer entfernt. Die einzige Bar ist ein karger Raum mit zwei Tischen und ein paar Stühlen. Auf dem Boden liegen Säcke voller Kartoffeln und eine Palette Eier. Hier lungern die Jungs rum, weil es nicht viel zu tun gibt in diesem Dorf, außer rumsitzen, rauchen und Kaffee trinken. Auch Sigor Nica, 23, sitzt hier. Sigor und Ionel kennen sich, seit sie Kinder sind. Früher gingen sie oft zusammen in den Wald, um Wild-schweine zu fangen. Sie hoben Gruben aus und be-deckten sie mit Zweigen. Einmal verirrte sich eine Wildkatze in ihre Falle. Sie ließen sie laufen.

Sigor kaut auf seinen Nägeln. Bald muss er wie- der nach Berlin. Seine Frau hat ein Kind geboren. Das Baby ist krank, sie brauchen Geld. Er hat sich ihre bei-den Namen auf die Unterarme tätowieren lassen: Ramy, so heißt seine Frau, und Antonio. Seit Tagen trägt Sigor ein rosafarbenes T-Shirt, er ist ein junger Mann mit arabischen Zügen, sein Haar ist gegelt.

Auch Sigors Vater torkelt an diesem Morgen schon aus der Bar, eine Bierflasche in der Hand. Früher ging er selbst nach Berlin, um auf dem Bau zu arbeiten. Aber seit dieser Sache traut er sich nicht mehr. Der Vater zeigt einen Brief, eine Rechnung des Urban-Krankenhauses in Kreuzberg, 2621 Euro soll er be-zahlen, für die Behandlung einer akuten, alkoholindu-zierten Leberzirrhose. Er reißt die Augen auf und legt seine Handgelenke übereinander, so als trüge er Hand-schellen. Er ist überzeugt, sie werden ihn verhaften und ins Gefängnis stecken, sobald sie ihn erwischen.

Sigor hat die gleichen, tiefen Falten auf der Stirn wie sein Vater. Wenn er sein Akkordeon in den Armen hält, schließt er die Augen und lauscht den Tönen nach. Sigor spielt eine fröhliche Melodie, die auch ein bisschen traurig ist, wie eine gute Komödie, in der im-mer auch ein wenig Tragik steckt.

So verdient er sein Geld in Deutschland, denkt Si-gors Frau Ramy. Im Dorf gilt das Gebot des Schwei-gens. Im Namen der Familie, der Ehre und des heiligen Geldes.

Seit vier Tagen ist Sigor in Berlin. Ein Gewitter wütet über der Stadt. Sigor trägt eine glänzen- de Kunstleder-jacke. Er sagt, er wohne jetzt bei Freunden in Neukölln. Er habe ein Gewerbe angemeldet. Er sieht müde aus.

„Läuft nicht gut“, sagt er. In seinem Portemonnaie ist kein Geld, auf seinem Handy kein Guthaben. Er kennt das Tabasco. Doch er schwört, er gehe da nur hin, um Billard zu spielen. Er schwört es drei Mal. Er

Dass ihr Sohn Ionel und viele andere junge Männer aus ihrem Dorf in Berlin anschaffen gehen, weiß die 77-Jährige nicht. Keiner im Dorf weiß es. Außer den Jungs selbst.

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kaut auf seinen Nägeln. Dann verschwindet er in die Nacht. Am nächsten Morgen will er mit Freunden nach Düsseldorf fahren. Er sagt, dort erwarte ihn ein Job auf dem Bau.

Ungefähr zwei Drittel der Jungs aus dem Dorf rund dreißig Kilometer südlich von Bacau, aus dem Ionel und Sigor stammen, gehen anschaffen, schätzt Sozial-arbeiter Sergiu Grimalschi, der bei Subway Stricher betreute. Die meisten von ihnen sind heterosexuell. Vor fünf Jahren tauchten die ersten in Berlin auf. Mittlerweile kommen die Jungs auch aus vielen Nachbardörfern. Mit eigenen Bussen. Das Modell hat Schule gemacht.

Bei Subway können sie sich beraten lassen. Sie be-kommen ein warmes Mittagessen, können duschen, tags- über schlafen oder einfach nur abhängen, Tisch-tennis spielen oder kickern. Ionel sieht gern fern. Am liebsten „Richterin Barbara Salesch“. Die strenge Frau mit den kurzen, rot gefärbten Haaren und dieses geordnete Gerichtsverfahren mit Zeugen, Anwälten

und Urteilsverkündung faszinieren ihn. Aber sie ma-chen ihm auch Angst. Nichts fürchtet er mehr, als dass es eines Tages in Deutschland ein Gesetz geben könn-te, das alle Rumänen des Landes verweist.

Ionel liebt Deutschland. Ein paar Jahre lang ver-dient er gut als Stricher. Doch die Prostitution ist ein Gewerbe, in dem der Wert eines Jungen mit seiner Er-fahrung sinkt. Andere Jungs rücken nach. Einer davon ist Mirel (Name von der Redaktion geändert), einer aus dem Dorf, der seine Karriere mit siebzehn beginnt.

Mirel, ein schmaler Bursche, heller als die anderen und mit den langen Wimpern eines Mädchens. Als er das erste Mal mitgeht, weiß er nicht, dass Männer auch Männer begehren. Als er begreift, was sie von ihm wollen, flüchtet er in seinen Berliner Unter-schlupf. Aber schon am nächsten Abend kommt er wieder. „Ich habe gelernt“, sagt er. Was wohl so viel heißt, wie: „Ich habe gelernt, das alles wegzu-schieben.“ In den Pornokinos sei es leicht gewesen, da habe er sich auf die Filme konzentriert. „Ich mache die Augen zu und denke an meine Freundin“, sagt er, „oder an Angelina Jolie“.

Heute ist er zwanzig. Zweimal am Tag geht er in eine Telefonzelle und ruft seine Freundin an. Er ver-kauft Zeitungen, erzählt er. Für sie und den gemein-samen Sohn überweist er monatlich rund 300 Euro, ein Drittel seines Verdienstes. Vor vier Wochen ist er nach Berlin gekommen. Wenn es gut läuft, will er in zwei Monaten zurück.

An diesem Sommerabend sind die Tische draußen vor dem Tabasco voll besetzt. An der Straßenecke befindet sich ein kleiner Platz mit Bänken, hier stehen die Jungs in Gruppen und warten. Ein Mann um die fünfzig schlendert vorbei. Mal wartet er an der Stra-ßenlaterne, mal steht er auf der anderen Seite der Kreuzung, seit etwa einer Stunde. Die herumstehen-den Jungs beachtet er gar nicht.

Später stellt sich heraus: Er wartet auf den Einen. Den Einen hat er gestern Abend kennen gelernt. Er

Nicola Abé wurde 1979 in München geboren. Sie hat Politik-

wissenschaft, Kommunikationswissenschaft und Wirtschaftsgeografie in

München studiert und arbeitet als Redakteurin im Ressort Gesellschaft/

Multimedia des „Spiegel“. Ihre Reportage „Endstation Bahnhof Zoo“

über rumänische Sex arbeiter in Berlin erschien 2011 im „NEON Magazin“.

Nicola Abé erhält den „Journalistenpreis Osteuropa 2012“ in der Katego-

rie der deutschen Teilnehmerinnen und Teilnehmer.

Sigor Nico ist Ionels Freund. Einer, der das Geheimnis teilt. Auch er fährt regelmäßig nach Berlin – um auf den Straße Akkordeon zu spielen, wie er seiner Frau sagt.

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und der Eine haben die Nacht zusammen verbracht. Und nun waren sie um zehn hier verabredet. Von dem Jungen keine Spur. „Es hat sich aber herausgestellt, dass er gar nicht so gut Deutsch kann“, sagt der Mann entschuldigend, „vieles versteht er nicht.“

Gegen halb zwölf taucht Mirel auf. Seine Augen sind glasig, der Blick starr, die Bewegungen fahrig. Er steigt in einen vorbeifahrenden Mini Cooper. Fünf Minuten später ist er wieder da. Man habe sich nicht auf einen Preis einigen können.

Die Konkurrenz ist hart. Die Jungs werben um die Freier, locken sie mit Satzfetzen, die sie irgendwo aufgeschnappt haben: „Je veux jouer avec toi“, „You are beautiful“ oder einfach nur „geil“. Sie ziehen die Männer auf Toiletten oder hinter einen Baum. „Die meisten Schwulen sind gute Menschen“, sagt Mirel. Einmal musste er sich Handschuhe und eine Polizei-mütze anziehen und den Freier in den Bauch schlagen. Ein anderes Mal sei er nicht bezahlt worden, stattdes-sen habe man ihn mit Hunden verjagt. Beim Sex wür-den sie die aktive Rolle übernehmen, sagen die Jungs. Ficken lassen sie sich nicht. Der Sozialarbeiter fasst es anders zusammen: „Das Geld bestimmt, was passiert.“ Es gibt nur eine Regel: „Niemals“, sagen die Jungs, dürfe eine Frau aus dem Dorf auf den Strich gehen. „Kein anderer Mann darf meine Frau berühren.“

Die Afterhour verbringt Mirel im Prostituierten- und Transvestitenviertel. Eine schwangere Drogen-

süchtige bietet sich den vorbeifahrenden Autos an, indem sie ihr Becken rhythmisch gegen einen Stra-ßenpfosten stößt. Der Besitzer einer gammeligen Bar verkauft Koks, fünfzig Euro das Gramm, wissen die Gäste. In der Ecke stehen zwei Spielautomaten.

Über den Bildschirm rasen Kirschen, Wassermelo-nen und Zitronen. Mirel hofft, dass endlich drei glei-che Früchte in einer Reihe stehen bleiben. Doch der Automat schluckt ungerührt seine Fünfeuroscheine.

Der frühe Morgen ist die gefährlichste Zeit. Am 31. Oktober 2009 um kurz nach sieben rasen Polizei und Krankenwagen in die Eisenacherstraße 1. Ein paar Minuten zuvor wird Ionel von einem psychisch kranken, obdachlosen Rumänen niedergestochen und durch die Fensterscheiben einer Bäckerei geworfen. Schwer verletzt bringen sie ihn in die Charité. Die Ärzte retten ihn in einer Notoperation.

Seither zieht sich eine Narbe über Ionels linke Wange. Er hat auch Narben von den Einstichen in Hals, Schultern und Brustkorb. „Gott hat mir ein zwei-tes Leben geschenkt“, sagt er.

In die Bars am Nollendorfplatz geht er seitdem viel seltener. „Ich bin kein Hund“, sagt er. „Ich bin ein Mensch.“ Er arbeitet jetzt als Kellner in einem italie-nischen Restaurant. Er mag den Kaffee dort. Am liebsten aber isst er immer noch Suppe, wie sie die Frauen in Rumänien zubereiten: eine säuerliche Brü-he, darin Kräuter und ein mächtiger Knochen vom Schwein, an dem dicke Fettbrocken hängen. Er schlingt, als habe er gehungert. Sein Bruder beobach-tet ihn und lacht. Sie sitzen auf der Schwelle zu sei-nem Haus. Die Frau des Bruders kocht Kaffee über dem Feuer, die Tochter hilft. Die zwei Söhne spielen mit dem Hündchen Bonita.

Die Familie des Bruders wird bald nach Berlin gehen. Sie werden zu fünft in einem Zimmer wohnen. Der Bruder hofft auf einen Job als Bauarbeiter für 800 Euro im Monat.

Ionel will weiter in der Gastronomie arbeiten. Für seine Zukunft wünscht er sich einen Job als Teller-wäscher. Weil er dann nicht immer lächeln muss, wenn er traurig ist.

Seine Bibel hat er auch diesmal dabei. Am liebsten redet er über Adam und Eva und die Vertreibung aus dem Paradies. Dabei schlüpft er abwechselnd in die Rollen von Adam und Gott.

„Adam, hast du bissi Scheiße gebaut.“ „Tschuldi-gung Gott.“ „Zwei Männer ist verboten.“ Ionel ent-schuldigt sich oft bei Gott.!

Der Friedhof des kleinen Dorfes, in das die Jungs nach einer Weile in Berlin wieder zurückkehren. Mit etwas Geld. Manche sogar mit einem eigenem Auto.

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Partnerschaft mit Osteuropa

Als „Solidaritätsaktion der deutschen Katholiken mit den Menschen in Mittel- und Osteuropa“ rief die Deutsche Bi-schofskonferenz Renovabis im März 1993 ins Leben. Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) hatte die Gründung des Osteuropa-Hilfswerks angeregt. Die Aktion sollte „eine Antwort der deutschen Katholiken auf den ge-sellschaftlichen und religiösen Neuanfang in den Staaten des ehemaligen Ostblocks nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Systeme“ sein. Leitgedanken des ange-strebten Engagements sind bis heute die Prinzipien Solidari-tät, Subsidiarität und Partnerschaft.

In den 19 Jahren seines Bestehens half Renovabis benach-teiligten Menschen in 29 Staaten Mittel-, Ost- und Südost-europas. Für rund 18.400 Projekte stellte Renovabis seinen Partnern vor Ort mehr als 545 Millionen Euro bereit. Die-ses Geld stammt wesentlich von deutschen Katholiken, im Entwicklungsbereich zum Teil von der deutschen Bundes-regierung. Es kommt kirchlich-pastoralen, sozial-caritativen sowie Bildungs- und Medienprojekten zugute. Dabei steht der Grundsatz „Hilfe zur Selbsthilfe“ im Mittelpunkt.Das Geld fließt über Renovabis unter anderem in den Bau von Kirchen und Gemeindezentren, in die Ausstattung von Familien-, Frauen- und Jugendzentren, in den Unterhalt von Heimen für Waisen- und Straßenkinder, in die Ausbildung von Priestern, Ordensleuten und in der Seelsorge tätigen Laien. Außerdem fördert Renovabis den journalistischen Nachwuchs und unterstützt Osteuropa-Freiwilligendienste.

Die Solidaritätsaktion Renovabis initiiert und begleitet vie-le hundert Partnerschaften zwischen West und Ost in Eu-ropa und fördert so Erfahrungsaustausch, menschliche Be-gegnung und gemeinsames Lernen. Mit ihrem überwiegend ehrenamtlichen Engagement bauen diese Gruppen leben-dige Brücken der Verständigung zu den Menschen in Mit-tel-, Ost- und Südosteuropa, die in vielfältigen Traditionen leben und über ein reiches spirituelles Erbe verfügen. Eine große Herausforderung für Renovabis stellt die europäische Integration dar: Wenn Europa nach einer langen Phase der Trennung des Kontinents nun wieder zusammenwächst, soll die geistige, kulturelle und religiöse Dimension dabei nicht zu kurz kommen. Europa soll sich nicht allein als eine Wirtschafts- und Währungsunion begreifen, sondern auch als eine Werte gemeinschaft.

www.renovabis.de

Den Armen Gerechtigkeit

„Brot für die Welt“ unterstützt seit 1959 im Auftrag der evangelischen Kirchen in Deutschland die Armen in Afrika, Asien, Lateinamerika und Osteuropa, ihr Leben in Würde zu gestalten. In fast 1.000 Projekten leistet die Aktion gemein-sam mit einheimischen Kirchen und Partnerorganisationen in Afrika, Asien, Lateinamerika und Osteuropa Hilfe zur Selbsthilfe.

Ziele von „Brot für die Welt sind:

Ernährung sichernGrundnahrungsmittel sollen dauerhaft in ausreichender Men-ge vorhanden sein, damit alle Menschen aktiv und gesund leben können. „Brot für die Welt“ setzt sich deshalb für eine nachhaltige Ernährungssicherung und den Klimaschutz ein.

Bildung und Gesundheit fördernBildungseinrichtungen und Gesundheitsversorgung müssen allen Menschen zugänglich gemacht werden. „Brot für die Welt“ fördert deshalb die schulische und handwerkliche Ausbildung von Frauen, Kindern und Jugendlichen. Die Aktion unterstützt Gesundheitsdienste, die Menschen in ab-gelegenen Gebieten erreichen.

HIV/Aids bekämpfenFür „Brot für die Welt“ gehört der Kampf gegen HIV/Aids zu den größten entwicklungspolitischen Herausforderungen weltweit. Die Krankheit bedroht das Leben von Millionen von Menschen, zerstört Familien und macht Entwicklungs-fortschritte zunichte.

Gewalt überwinden, Demokratie fördern„Brot für die Welt“ und seine Partner setzen sich aktiv für eine Kultur des Friedens ein. Denn Kriege, Gewalt und Menschenrechtsverletzungen verhindern und zerstören Ent-wicklung.

Den Armen eine Stimme geben„Brot für die Welt“ versteht sich als Anwalt der Benachtei-ligten in den Ländern des Südens. Diese Aufgabe wird an-gesichts der Globalisierung immer wichtiger, die häufig zu Lasten der Armen geht.

Mit ihrer Öffentlichkeitsarbeit und durch Kampagnen macht die Aktion auf Ungerechtigkeiten und Missstände in dieser Welt aufmerksam.

www.brot-fuer-die-welt.de

Herausgegeben von Renovabis und Brot für die Welt, Juli 2012Redaktion: Konstantin Francke, Helmut Pestner, Thomas Sandner (verantwortlich)

Gestaltung und Druck: Vollnhals Fotosatz, Neustadt a. d. DonauFotos: Brot für die Welt, Renovabis, WDR/Sachs (Seite 2) Nina Rybik (Seite 4), Tobias Kruse (Seite 7-10), Nicola Abé (Seite 9)

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Kardinal-Döpfner-HausDomberg 27D-85354 Freisingwww.renovabis.de

„Brot für die Welt“Stafflenbergstraße 7670184 Stuttgartwww.brot-fuer-die-welt.de

Mit welchen Problemen haben Menschen im östlichen Teil Europas zu kämpfen? Was unterscheidet ihre Situation von der ihrer Nachbarn im Westen des Kontinents? Wo gibt es Gemeinsamkeiten? Was treibt die Menschen im Osten Europas um? Worauf hoffen sie? Wovor fürchten sie sich? Mit diesen oder ähnlichen Fragen haben sich die Autorinnen und Autoren in ihren Beiträgen für den „Journalistenpreis Osteuropa“ auseinandergesetzt.