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Kapitel 2 Lagrangesche Mechanik Hier entwickeln wir eine elegante und einfache Betrachtungsweise der New- tontheorie, die eine Verallgemeinerung f¨ ur quantenmechanische und relati- vistische Systeme erm¨oglicht. 2.1 Einleitung/Motivation Wir haben bis jetzt den Zugang zur Mechanik ¨ uber die Newtontheorie gew¨ ahlt. Im Wesentlichen erfasst man die Bewegung eines zusammengesetzten Sys- tems durch die Bewegung seiner Bestandteile (meist “Teilchen”) und derer Wechselwirkung, also der Kr¨ afte die zwischen ihnen wirken. Da wir wissen, dass die Materie atomistisch ist, erscheint dieser Zugang f¨ ur eine große An- zahl an Ph¨ anomenen realistisch. Aber sehr oft sind die Ortskoordinaten und Impulse der Teilchen nicht wirklich zweckm¨ aßig, um ein System zu analysie- ren, es gibt besser geeignete Koordinaten, um das System zu beschreiben. Betrachten wir zum Beispiel das ebene Pendel (siehe Fig. 2.1(a)), dann gibt es eine einzige Koordinate, die sich ¨ andert, der Winkel. Es ist also ei- gentlich ein 1–dimensionales Problem, die Bewegung erfolgt zwar in 2 Dimen- sionen, ist aber auf einen Kreis gezwungen. Daher ist es sicher dem Problem besser angepasst, wenn man den Winkel als Koordinate auffasst. Bei dem Lagrange–Hamiltonschen Zugang zur Mechanik werden daher im Allgemeinen nicht die Teilchenkoordinaten als dynamische Variable ver- wendet, sondern so genannte “generalisierte” Koordinaten q α (t), wobei α = 1, 2,...,f die f verschiedenen Freiheitsgrade bezeichnet. Im obigen Beispiel “Pendel” w¨ are q = φ. F¨ ur ein Doppelpendel haben wir 2 Freiheitsgrade (siehe Fig. 2.1(b)), q 1 = φ 1 ,q 2 = φ 2 . Man versucht also wirklich nur die relevanten und unabh¨ angigen Variablen f¨ ur die Beschreibung zu verwenden. Im Allgemeinen stellen wir uns vor, dass es prinzipiell m¨ oglich sein sollte, 49

Kapitel 2 Lagrangesche Mechanik - univie.ac.at · nicht schwer diese zu beschreiben, aber denkt man an das Doppelpendel, dann ist es gar nicht mehr einfach, zu erkennen, wo welche

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Page 1: Kapitel 2 Lagrangesche Mechanik - univie.ac.at · nicht schwer diese zu beschreiben, aber denkt man an das Doppelpendel, dann ist es gar nicht mehr einfach, zu erkennen, wo welche

Kapitel 2

Lagrangesche Mechanik

Hier entwickeln wir eine elegante und einfache Betrachtungsweise der New-tontheorie, die eine Verallgemeinerung fur quantenmechanische und relati-vistische Systeme ermoglicht.

2.1 Einleitung/Motivation

Wir haben bis jetzt den Zugang zur Mechanik uber die Newtontheorie gewahlt.Im Wesentlichen erfasst man die Bewegung eines zusammengesetzten Sys-tems durch die Bewegung seiner Bestandteile (meist “Teilchen”) und dererWechselwirkung, also der Krafte die zwischen ihnen wirken. Da wir wissen,dass die Materie atomistisch ist, erscheint dieser Zugang fur eine große An-zahl an Phanomenen realistisch. Aber sehr oft sind die Ortskoordinaten undImpulse der Teilchen nicht wirklich zweckmaßig, um ein System zu analysie-ren, es gibt besser geeignete Koordinaten, um das System zu beschreiben.

Betrachten wir zum Beispiel das ebene Pendel (siehe Fig. 2.1(a)), danngibt es eine einzige Koordinate, die sich andert, der Winkel. Es ist also ei-gentlich ein 1–dimensionales Problem, die Bewegung erfolgt zwar in 2 Dimen-sionen, ist aber auf einen Kreis gezwungen. Daher ist es sicher dem Problembesser angepasst, wenn man den Winkel als Koordinate auffasst.

Bei dem Lagrange–Hamiltonschen Zugang zur Mechanik werden daherim Allgemeinen nicht die Teilchenkoordinaten als dynamische Variable ver-wendet, sondern so genannte “generalisierte” Koordinaten qα(t), wobei α =1, 2, . . . , f die f verschiedenen Freiheitsgrade bezeichnet. Im obigen Beispiel“Pendel” ware q = φ. Fur ein Doppelpendel haben wir 2 Freiheitsgrade (sieheFig. 2.1(b)), q1 = φ1, q2 = φ2. Man versucht also wirklich nur die relevantenund unabhangigen Variablen fur die Beschreibung zu verwenden.

Im Allgemeinen stellen wir uns vor, dass es prinzipiell moglich sein sollte,

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Kapitel 2. Lagrangesche Mechanik

(a) (b)

Abbildung 2.1: (a) Zeigt die generalisierte Koordinate des Pendel und (b) diegeneralisierten Koordinaten eines Doppelpendels.

die Teilchenkoordinaten aus den generalisierten Koordinaten und umgekehrtberechnen zu konnen

qα = qα(~r (1), ~r (2), . . . , ~r (N), t) α = 1, 2, . . . , f (2.1)

~r (n) = ~r (n)(q1, q2, . . . , qf , t) n = 1, 2, . . . , N (f ≤ 3N) . (2.2)

Nun versucht man nicht die Bewegungsgleichungen der generalisiertenKoordinaten durch Einsetzen der Transformationen der Teilchenkoordinatenzu gewinnen (das haben wir ja zum Beispiel beim Pendel gemacht φ = −g

lφ),

damit wurden wir nichts Neues gewinnen, sondern man wahlt einen anderenAusgangspunkt, das Hamiltonsche Wirkungsprinzip, das Prinzip der kleins-ten Wirkung. Mathematisch ist es ein Variationsproblem. Die Bewegungs-gleichungen sind die Euler–Langrangeschen Gleichungen dieses Variations-problems. D.h. an die Stelle von Ansatzen fur Krafte tritt ein Ansatz fureine Funktion der generalisierten Koordinaten, d.h. wir mussen eine solcheFunktion “erraten” und nicht mehr “Krafte”. Wir werden sehen, dass diesoft viel einfacher ist.

Aber es gibt noch viel mehr Vorteile durch diese Methode. Der Formalis-mus kann weit uber die Mechanik hinaus verwendet werden, er gestattet eineallgemeine Formulierung von “Dynamik” eines Systems im Laufe der Zeit.D.h. so konnen z.B. quantenmechanische Systeme behandelt werden, aberauch Systeme mit kontinuierlich unendlich vielen Freiheitsgraden (Feldtheo-rien) und relativistische Systeme. Alle 4 fundamentalen Wechselwirkungen(schwache, starke, elektromagnetisch, gravitative) konnen mit diesem For-malismus behandelt werden!

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2.2. Generalisierte Koordinaten und deren Geschwindigkeiten

Auch die großere Einfachheit bei einer sehr großen Klasse von Problemenist ein Vorteil. Weiters –wie wir sehen werden– erkennt man viel besser dieZusammenhange zwischen Geometrie und Physik (Symmetrien und Erhal-tungssatze,. . . ).

Fur manche Probleme ist aber dieser Zugang auch Newtonstheorie unter-legen. Reibungskrafte sind schwer zu behandeln.

Historisch hat sich der Hamiltonsche–Lagrangesche Formalismus durchdas Problem der Zwangskrafte ergeben. Bei einem Pendel ubt der Faden dieZwangskraft auf die Masse aus, die im Gleichgewicht mit der entsprechendenKomponente der Gravitationskraft steht. Beim ebenen Pendel ist es nochnicht schwer diese zu beschreiben, aber denkt man an das Doppelpendel,dann ist es gar nicht mehr einfach, zu erkennen, wo welche Zwangskraft, diesich ja auch noch zeitlich andert, angreift. Also schon das Doppelpendel ista la Newton schwer zu losen, mit Lagrange ist es ganz einfach (wie wir sehenwerden). Mehr noch, es ist ganz klar, wie eine Verallgemeinerung zu einemDreifach–, Vierfach–,. . . Pendel auszuschauen hat. Zwangskrafte treten sehroft auf, man denke nur an mechanische Maschinen.

Zusammenfassend ist der Hamiltonsche–Lagrangesche Zugang das Torzur Modernen Physik und daher denke ich, sollte eine zukunftige Lehrkraftdie Grundideen verstehen, obwohl man diesen Zugang in dieser Form in derSchule nicht unterrichten kann. Und wenn man sich in die Materie ein wenig“reingetigert” hat, wir man auch feststellen, dass es gar nicht so schwer istund vielleicht auch ihre Schonheit bewundern. :-)

2.2 Generalisierte Koordinaten und deren Ge-

schwindigkeiten

Prinzipiell sollten generalisierte Koordinaten qα, die Lage eines Systems zumZeitpunkt t festlegen, stetig und mindestens 2 mal nach der Zeit t ableitbarsein. Die erste Ableitung nach der Zeit qα nennt man generalisierte Geschwin-digkeit. Wie wir von Newton wissen, braucht man zur Losung seiner Diffe-rentialgleichungen die Anfangsbedingungen r(n)(t0) und r(n)(t0). Genauso istes fur die generalisierte Koordinate, wir mussen qα(t0) und qα(t0) kennen. DieAngabe von 2f Zahlen qα(t0), qα(t0) soll damit ausreichen, das “Schicksal”des betrachteten Systems fur alle t ≥ t0 vorauszusagen, d.h. auszurechnen.Das bedeutet, dass man die qα berechnen kann und die entsprechende Dif-ferentialgleichung 2. Ordnung werden wir die “Euler–Lagrangeschen” Bewe-gungsgleichungen nennen. Ihre Integration gibt dann die “Bahnkurven” desSystems, wobei hier Bahnkurve oft in einem sehr abstrakten Sinne zu ver-

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Kapitel 2. Lagrangesche Mechanik

Abbildung 2.2: Spharisches Pendel

stehen ist. Denken wir an das Pendel, erhalten wir eine Bahnkurve fur einenWinkel.

Der Lagrangeformalismus liefert Differentialgleichungen 2. Ordnung furdie f Variablen qα(t). Der Hamiltonformalismus ist dazu eine Alternative,bei der man anstatt der generalisierten Geschwindigkeiten qα sich geeignetegeneralisierte Impuls pα definiert (haben normalerweise nichts mit dem kine-tischen Impuls zu tun). Die entsprechenden Hamiltonschen Bewegungsglei-chungen bilden ein System 1. Ordnung fur die 2f (kein Vorteil ohne Nachteil)Variablen (qα, pα) (graphisch konnen diese im Phasenraum veranschaulichtwerden, den wir beim harmonischen Oszillator kennen gelernt haben). Bei-de Formalism beruhen auf dem gleichen Prinzip, sind also das Gleich nurunterschiedlich betrachtet.

2.3 Wie erfolgt eine Bewegung?

Der Lagrange–Hamiltonsche Zugang basiert auf einem Extremalprinzip, kon-kret geht es um ein Minimum eines Integrals, das die Wirkung ist. DiesesIntegral uber eine gewisse Funktion L, die Lagrangefunktion heißt, ist derAusgangspunkt, d.h. er ist nicht zu beweisen, und es gilt diese Funktion zu“erraten”. Analog muss auch ein Kraftansatz fur die Newtonsche Mechanikerraten werden. Um eine Formulierung des Prinzips zu erhalten, gehen wirdavon aus, dass das betrachtete System durch die folgende Lagrangefunktiongegeben ist

L(qα(t), qα(t), t) = L(q1(t), q2(t), . . . , qf (t), q1(t), q2(t), . . . , qf (t), t) . (2.3)

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2.3. Wie erfolgt eine Bewegung?

Physiker neigen dazu sich das Leben so leicht wie moglich zu machen, daherwerden wir in Zukunft nur noch q schreiben, aber qα(t) meinen, analog q;d.h. die obige Funktion schreiben wir auch so

L(q, q, t) . (2.4)

Wir werden auch sehen, dass das Grundkonzept unabhangig von der Anzahlder Freiheitsgrade f und damit Anzahl von den generalisierten Koordinatenist.

Das Wirkungsprinzip (Hamiltonsches Prinzip der kleinsten Wir-kung) lautet dann: Die Bewegung eines Systems verlauft fur Zeitent0 ≤ t ≤ t1 so, dass das Integral, die Wirkung,

S =

∫ t2

t1

L(q, q, t) dt

ein Minimum annimmt.

Schauen wir uns mal ein konkretes Beispiel an, den senktrechten Wurf. Wiewir wissen ist die Bewegungsgleichung a la Newton gegeben durch

F = m z = −m g (2.5)

und einmal integrieren gibt

z = −g t + v0 . (2.6)

Damit ist die Losung der Bewegungsgleichung durch die Bahnkurve

z(t) = −g

2t2 + v0t + z0 (2.7)

gegeben. Die generalisierte Koordinate ist hier also einfach die Hohe, q = z.Die graphische Bahn fur die Bewegung sieht dann so aus:

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Kapitel 2. Lagrangesche Mechanik

Stellen wir uns folgendes vor, wir mussen die obige Bahn errechnen, kennenaber nur den Wert von z fur t = t0, also q(t0), und fur t = t1, also q(t1).Wir konnen man uns viele verschiedene Bahnen vorstellen, wie wir diese zweiPunkte verbinden konnen:

Fur jeden Weg berechnen wir jetzt das Integral, also den Zahlenwert S. Ma-thematisch ist es gar nicht so schwer, das Minimum zu finden, wie es vielleichtzunachst aussieht. Wir suchen ja nicht einen Punkt (bzw. eine Zahl), sonderneine Kurve, die Funktion q(t), also eine Differentialgleichung. Nennen wir diewirkliche Bahn q(t), jede andere, “falsche” Bahn, konnen wir durch

qF (t) = q(t) + δq(t) (2.8)

bezeichnen. Klarerweise muss die Funktion δq(t) fur t0 und t1 verschwinden,also

δq(t0) = δq(t1) = 0 , (2.9)

da wir ja wollen, dass alle betrachteten Bahnen durch den betrachtetenAnfangs- bzw. Endpunkt gehen sollen. Unser Ziel ist es also, dass δq(t) im-mer kleiner wird, hier ein Beispiel (die Werte von δq(t) sind in der unterenKurve dargestellt):

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2.3. Wie erfolgt eine Bewegung?

und hier ein besseres Beispiel:

Wenn man qF einigermaßen gut “erraten” hat, wird δq(t) im ganzen Intervallklein gegen q(t). Und wie sieht es mit der Ableitung aus:

qF = q + δq =d

dtq +

d

dtδq . (2.10)

Auch δq wird klein gegen q, falls qF nicht zu “eckig” ist. Betrachten wir jetztden Unterschied der Wirkung

δS =

∫ t1

t0

L(q + δq, q + δq, t) dt−∫ t1

t0

L(q, q, t) dt (2.11)

und machen eine Taylorentwicklung zur 1. Ordnung (Trick: ξ = q + δq):

δS =

∫ t1

t0

{L(q, q, t) +

∂L(q, q, t)

∂qδq +

∂L(q, q, t)

∂qδq + O(2)

}dt

−∫ t1

t0

L(q, q, t) dt

=

∫ t1

t0

{∂L(q, q, t)

∂qδq +

∂L(q, q, t)

∂q

dδq

dt+ O(2)

}dt . (2.12)

Durch partielle Integration im letzten Term erhalten wir (O[2] wir ab jetztweggelassen)

δS =

∫ t1

t0

{∂L(q, q, t)

∂qδq +

d

dt

(∂L(q, q, t)

∂qδq

)−

(d

dt

∂L(q, q, t)

∂q

)δq

}dt

=

∫ t1

t0

{∂L(q, q, t)

∂qδq − d

dt

∂L(q, q, t)

∂q

}δq · dt +

∂L(q, q, t)

∂qδq

∣∣∣∣t1

t0

(2.13)

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Kapitel 2. Lagrangesche Mechanik

Der letzte Term verschwindet, da wir δq(t0) = δq(t1) vorausgesetzt haben.Wir verlangen jetzt laut Wirkungsprinzip

δS = 0 (2.14)

und da δq zwar klein, aber willkurlich ist, muss der Integrand verschwinden

∂L(q, q, t)

∂q− d

dt

∂L(q, q, t)

∂q= 0 . (2.15)

Das ist die Euler–Lagrange Bewegungsgleichung fur unser Problem! Da wiralles ganz allgemein gehalten haben, gilt diese Differentialgleichung fur q(t)fur beliebige Probleme.

Falls wir mehrere Freiheitsgrade f haben, gilt fur jeden Freiheitsgradeinzeln die obige Herleitung und damit folgt

δS =

f∑α=1

∫ t1

t0

{∂L(qα, qα, t)

∂qα

− d

dt

∂L(qα, qα, t)

∂qα

}δqα · dt + O[2] .

(2.16)

und wir sehen, dass in jedem Summanden alle q außer qα als gegeben aufge-fasst werden mussen (partielle Ableitung).

Damit haben wir das Ziel erreicht: Fur ein beliebiges Problemmit f Freiheitsgraden gilt die folgende Bewegungsgleichung furdie verallgemeinerten Koordinaten:

∂L(qα, qα, t)

∂qα

− d

dt

∂L(qα, qα, t)

∂qα

= 0 α = 1, 2, . . . , f . (2.17)

Ihre Losungen bestimmen damit die Dynamik, also die zeitlicheEntwicklung des Systems. Aber wie “errat” man die FunktionL?

2.4 Wie “errat” man die Lagrangefunktion?

Kommen wir zuruck zu unserem Beispiel, dem senktrechten Wurf. Die Be-wegungsgleichung lautet (siehe Gleichung 2.5)

m q = −m g . (2.18)

Diese soll sich ergeben durch

d

dt

∂L(q, q, t)

∂q=

∂L(q, q, t)

∂q. (2.19)

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2.4. Wie “errat” man die Lagrangefunktion?

Setzen wir mal die Lagrangefunktion durch L = c1q + c2q an, dann ergibt diefolgende Gleichung

0 = c1 . (2.20)

Die rechte Seite ware ja schon mal ok, falls wir die Konstant c1 = −mgsetzen. Aber die linke Seite fuhrt sicher zu keiner Bewegungsgleichung. Wirmussen also fur L immer Potenzen in q ansetzen, die mindestens großer 1sind. Machen wir den folgenden Ansatz fur

L = −mg q + c2 qk mit k ≥ 2 , (2.21)

Dann ergibt die Euler–Lagrangesche Bewegungsgleichung

k(k − 1) c2 qk−2 q = −mg . (2.22)

Diese Gleichung stimmt mit Gleichung (2.18) uberein, falls wir k = 2 (nurdann verschwindet q) und c2 = m/2. Damit haben wir die Euler–LagrangescheBewegungsgleichung fur den senktrechten Wurf gefunden

L(q, q, t) =m q2

2−mg q . (2.23)

Das kommt uns aber sehr bekannt vor, zur Erinnerung q = z! Der erste Termist nichts anderes als die kinetische Energie und der zweite Term ist die po-tentielle Energie!! Also die Lagrangefunktion ist die Differenz der kinetischenEnergie und der Potentiellen Energie L = Ekin − U !!

Gilt das Allgemein? Wir haben ja ein sehr spezielles Beispiel behandelt.Aber die Antwort ist ja, im Falle von konservativen Krafte (und nicht rela-tivistisch), ist die obige Aussage richtig. Fur nicht konservative oder relati-vistische Krafte kann man aber auch den Lagrangeformalismus verwenden,man muss das entsprechende U , das nicht (nur) die potentielle Energie ist,erraten.

Man sieht hier gleich einen Vorteil dieses Formalismuses, man muss nichtdie 3N Kraftkomponenten fur N Teilchen erraten, sondern nur die FunktionU fur die f Freiheitsgrade. Weiters ist der Formalismus so allgemein, dassman auch fur quantenmechanische und relativistische Systeme das richtigeMittel zur Hand hat.

Bevor wir weitere allgemeine Eigenschaften von L betrachten, diskutierenwir noch weitere Bespiele a la Lagrange.

Das ebene Pendel: Wie bereits diskutiert, kann man als generalisierteKoordinate einfach den Winkel φ nehmen (siehe Abbildung 2.1 (a)). Die Be-wegungsgleichung ml2 φ = −mg l sin φ lautet (a la Newton Ruckstellkraft

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Kapitel 2. Lagrangesche Mechanik

oder uber Potential (Energieerhaltung)). Schauen wir mal, ob wir das mit deroben erworbenen Strategie hinbekommen. Die kinetische Energie ist gegebendurch

Ekin =m x2

2+

m y2

2+

m z2

2=

ml2 φ2

2, (2.24)

wobei wir furs letzte Gleichheitszeichen die Polarkoordinaten eingesetzt ha-ben. Die potentielle Energie ist durch

U(z) = mg l + mg z = mg l(1− cos φ) (2.25)

und damit haben wir die folgende Lagrangefunktion

L = m l φ2 + mg l cos φ (2.26)

und wir berechnen den zu φ kanonisch konjugierten Impuls zu

pφ =∂L

∂φ= ml2 φ , (2.27)

das ist naturlich der Drehimpuls!Mit ∂L

∂φ= −mg l sin φ folgt die Bewegungsgleichung

d

dt

∂L

∂φ=

∂L

∂φ−→ m l2 φ = −mg l sin φ . (2.28)

Das Doppelpendel: Diesen Fall haben wir noch nicht diskutiert under ware auch sehr schwer a la Newton. Aber mit dem Lagrangeformalismusist es ein Kinderspiel! Zunachst ist klar, wir haben jetzt 2 Freiheitsgrade,also 2 generalisierte Koordinaten haben, φ1, φ2 (siehe Abbildung 2.1 (b)).Die Polarkoordinaten fur die zwei Massen m1,m2 lauten

x1(t) = l1 sin φ1

y1(t) = 0

z1(t) = −l1 cos φ1

x2(t) = l1 sin φ1 + l2 sin φ2

y2(t) = 0

z2(t) = −l1 cos φ1 − l2 cos φ2 . (2.29)

Die kinetische Energie ist gegeben durch

Ekin =m1

2(x2

1 + y21 + z2

1) +m2

2(x2

2 + y22 + z2

2) (2.30)

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2.4. Wie “errat” man die Lagrangefunktion?

und die potentielle Energie durch

U = m1 g z1(t) + m2 g z2(t) . (2.31)

Und damit nach Einsetzen haben wir bereits die Lagrangefunktion

L =m1 + m2

2l21 φ2

1 +m2

2l22 φ2

2 + m2 l1 l2 φ1 φ2 cos(φ1 − φ2)

+(m1 + m2) g l1 cos φ1 + m2 g l2 cos φ2 . (2.32)

Aus dieser folgt durch simples Differenzieren die Bewegungsgleichung (sieheUbungen). Nach dem gleichen Rezept folgt die Bewegungsgleichung fur einDreifach–, Vierfach–,. . . Pendel.

Spharisches Pendel: Dieses kann durch 2 verallgemeinerte Koordinatenφ, θ beschrieben werden (siehe Abbildung 2.2)

x = l sin θ cos φ

y = l sin θ sin φ

z = −l cos θ l = const. (2.33)

Dann ergibt sich die Lagrangefunktion zu

L =ml2

2(θ2 + sin2 θ φ2)−mg l(1− cos θ) (2.34)

Fur die Bewegungsgleichung brauchen wir die verallgemeinerten Impulse

pθ =∂L

∂θ= ml2 θ

pφ =∂L

∂φ= ml2 sin2 θ φ (2.35)

und

∂L

∂θ= ml2 sin θ cos θφ2 −mg l sin θ

∂L

∂φ= 0 . (2.36)

Bei der letzen Gleichung haben wir 0 erhalten, da diese verallgemeinerteKoordinate nicht in L vorkommt, diese nennt man zyklisch und ist von phy-sikalischer Bedeutung (siehe auch nachsten Abschnitt).

Die zwei Bewegungsgleichungen lauten damit

ml2 θ = ml2 sin θ cos θ φ2 −mg l sin θd

dt(ml2 sin2 θ φ) = 0 −→ pφ = ml2 sin2 θ φ = const.

(2.37)

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Kapitel 2. Lagrangesche Mechanik

Das spharische Pendel dreht sich immer im gleichen Sinn um die z–Achse,schneller fur kleines θ. Der zu φ konjugierte Impuls ist also eine Erhaltungs-große. Das tritt immer auf, wenn die dazugehorige verallgemeinerte Koordi-nate nicht explizit in der Lagrangefunktion vorkommt, also eine so genanntezyklische Koordinate ist. Wir werden sehen, dass allgemein gilt, dass auseiner Symmetrie eine Erhaltungsgroße folgt (hier haben wir es mit einer Ro-tationssymmetrie bezuglich z–Achse zu tun). Ein weiter Vorteil des LagrangeFormalismuses.

Ein Massenpunkt im außeren konservativen Kraftfeld: Hier sinddie kartesischen Koordinaten die besten generalisierten Koordinaten. Die La-grangefunktion ist

L(x1, x2, x3, x1, x2, x3) =m

2(x2

1 + x22 + x2

3)− U(x1, x2, x3) (2.38)

gegeben. Folglich haben wir 3 Euler–Langrange Bewegungsgleichungen

d

dt

∂L

∂xi

=∂L

∂xi

i = 1, 2, 3 . (2.39)

Und die verallgemeinerte Impulse sind

∂L

∂xi

= m xi = pi (2.40)

und die rechte Seite der Euler–Langrange Bewegungsgleichungen ist

∂L

∂xi

= −∂U

∂xi

= Fi , (2.41)

naturlich nichts anderes als die Kraft, damit haben wir die NewtonschenBewegungsgleichungen wie wir sie kennen

d

dt(mxi) = Fi . (2.42)

Perle entlang starrem Stab: Eine Perle (Kugel mit Loch) sei reibungs-frei an einem Stab gefadelt. Der Stab rotiert um eine Achse unter dem Win-kel β. Um festzustellen wie viele Freiheitsgrade es gibt, betrachten wir dieZwangsbedingungen an die Perle. Der Winkel mit der Drehachse β ist kon-stant, daher:

cos β =z√

x2 + y2 + z2

−→ z −√

x2 + y2 + z2 cos β = 0 . (2.43)

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2.5. Erhaltungssatze und Symmetrien

Die Winkelgeschwindigkeit ist auch konstant, daher lautet die 2. Zwangsbe-dingung:

tan(ωt) =y

x

−→ y

x− tan(ωt) = 0 . (2.44)

Wir brauchen 3 Koordinaten, um die Perle zu lokalisieren, und haben 2Zwangsbedingungen, daher haben wir einen Freiheitsgrad. Als verallgemei-nerte Koordinate bietet sich der Abstand vom Ursprung an, r(t), und wirwahlen daher die folgenden Koordinaten fur unser Problem

x = r(t) sin β cos(ωt)

y = r(t) sin β sin(ωt)

z = r(t) cos β . (2.45)

Diese Koordinaten erfullen die zwei Zwangsbedingungen identisch (einfacheinsetzen), daher haben wir die richtigen Koordinaten fur das Problem gewahlt.Damit errechnet sich die Lagrangefunktion zu

L =m

2(r2 + r2ω2 sin2 β)−mg r cos β (2.46)

und damit die Euler–Lagrange Bewegungsgleichung zu

r = r ω2 sin2 β − g cos β . (2.47)

Diese Differentialgleichung ist vom Typ q = q und uns bereits bekannt, dieLosung ist

r(t) = Aeω sin βt +g cos β

ω2 sin2 β. (2.48)

Wer glaubt, dass dieses Beispiel a la Newton leicht ist, soll es probieren.

2.5 Erhaltungssatze und Symmetrien

Betrachten wir ein freies Teilchen in einem Inertialsystem, dessen Lagrange-funktion besteht nur aus dem kinetischen Anteil

L =m ~r 2

2. (2.49)

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Kapitel 2. Lagrangesche Mechanik

Wenn man nun ein Inertialsystem wahlt, dass um einen konstanten Vektorν ~n mit |~n| = 1, ν ∈ R verschoben ist (Translation)

~r ′(t) = Tν ~r (t) = ~r (t) + ν ~n (2.50)

dann lautet die Lagrangefunktion in dem neuen Koordinatensystem

L′ =m ~r ′ 2

2=

m ~r 2

2= L . (2.51)

Die Lagrangefunktionen L, L′ sind identisch, daher invariant unter der Trans-formation Tν und damit andern sich naturlich auch nicht die Bewegungsglei-chungen.

Die Lagrangefunktion eines freien Teilchens ist auch rotationssymme-trisch, da diese nur vom Betrag der Geschwindigkeit abhangt; die Transfor-mationsvorschrift ist in diesem Fall fur kleine Winkeln ν, um die Drehachse~n (ganz analog zu Abschnitt 1.13.2)

~r′

= Tν~r = ~r + ν ~n× ~r + O(ν2) . (2.52)

Ganz allgemein kann man einen Zusammenhang zwischen einer Invarianz derLagrangefunktion unter einer Symmetrietransformation herstellen. Nehmenwir an wir haben eine solche Invarianzeigenschaft fur die LagrangefunktionL(q, q, t), also

L(Tν q,d

dt(Tν q), t) = L(q,

d

dtq, t) (2.53)

unter einer kontinuierlichen Transformation q → Tν q; Tν=0 q = q. Nun diffe-

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2.5. Erhaltungssatze und Symmetrien

renzieren wir beide Seiten der obigen Gleichung nach ν, wir erhalten

∂νL(Tν q,

d

dt(Tν q), t)

∣∣∣∣ν=0

= 0

−→ ∂L

∂q︸︷︷︸ddt

∂L∂q

∂ν(Tν q)

∣∣∣∣ν=0

+∂L

∂q

∂ν

d

dt(Tνq)

∣∣∣∣ν=0

= 0

=⇒ d

dt

{∂L

∂q

∂ν(Tν q)

}∣∣∣∣ν=0

= 0

=⇒ ∂L

∂q

∂ν(Tν q)

∣∣∣∣ν=0

= const (2.54)

Wenn wir mehrere verallgemeinerte Koordinaten haben, dann haben wir ein-fach die Summe uber alle Freiheitsgrade zu nehmen.

Kommen wir zu unserem ersten Beispiel, ein freies Teilchen unter raumli-cher Translation, Gl. (2.50), zuruck und wenden die obige Gleichung an (hiergilt ~q = ~r):

∂ν(Tν ~q)

∣∣∣∣ν=0

= ~n

=⇒ ∂L

∂xi

ni = m~r · ~n = m~v · ~n = const . (2.55)

Da der Vektor ~n beliebig ist, folgt daraus, dass der Impuls m~v zeitlich kon-stant ist. Damit haben wir aus der raumlichen Translationsinvarianz die Im-pulserhaltung (3 Parameter) hergeleitet!

Somit haben wir das Noether–Theorem gefunden, das die MathematikerinAmalie Emmy Noether (1882-1935) im Jahre 1918 (in allgemeinerer Form)gefunden hat:

Aus der Invarianz von der Lagrangefunktion L unter einer konti-nuierlichen Symmetrietransformation q → Tν q; Tν=0 q = q folgt

=⇒f∑

α=1

∂L

∂qα

∂ν(Tν q)α

∣∣∣∣ν=0

= const (2.56)

und damit aus L eine Erhaltungsgroße.

Das tolle daran ist, dass dieses Theorem im Wesentlichen genauso in derQuantenmechanik, in der klassischen Feldtheorie und in der Quantenfeldtheo-rie (QFT) gilt (in der Quantentheorie gibt es zusatzlich noch diskrete Sym-metrien). Dass eine Symmetrie mit einer Erhaltungsgroße verknupftist, ist eine grundlegende Erkenntnis der Theoretischen Physik!

63

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Kapitel 2. Lagrangesche Mechanik

Außerdem ist es ein wesentliches Hilfsmittel bei der Formulierung derLagrangefunktion der fundamentalen Wechselwirkungen!

Betrachten wir als weiteres Beispiel, dass L invariant unter raumlichenDrehungen, Gl. (2.52), ist:

∂ν(Tν q)

∣∣∣∣ν=0

= ~n× ~r

=⇒ ∂L

∂xi

(~n× ~r)i = ~p · (~n× ~r) = ~n · (~r × ~p) = ~n · ~L = const .

(2.57)

Wir erhalten damit die Komponente des Drehimpulses, ~n · ~L, in ~n–Richtung.Da wieder ~n beliebig ist, folgt, dass der Drehimpuls zeitlich konstant ist. Da-mit folgt aus der Rotationsinvarianz die Drehimpulserhaltung (3 Parameter).

Beim spharischen Pendel hatten wir gesehen, dass die Koordinate φ nichtin L vorkommt, also eine zyklische Koordinate ist. Aus ihr folgt pφ konstantist. Das sieht man, auch mit Hilfe des Noether–Theorems. Wahlen wir ~nin Richtung der z–Achse und variieren φ, erkennt man das L, Gl. (2.34),invariant bleibt und das Noether–Theorem ergibt Lz konstant.

Betrachten wir eine zeitliche Translation

Tν q(t) = q(t + ν) (2.58)

und nehmen wir den Fall an, dass L nicht explizit von der Zeit t abhangt,d.h.

∂L

∂t= 0 , (2.59)

dann gilt

∂ν(Tν q(t))

∣∣∣∣ν=0

=∂

∂νq(t + ν)

∣∣∣∣ν=0

= q(t)

∂L

∂qq = const (2.60)

und weiters

∂νL(q(t + ν),

d

dtq(t + ν))

∣∣∣∣ν=0

=∑

α

∂L

∂qα

qα +∂L

∂qα

=d

dtL(q(t), q(t)) = 0 , (2.61)

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2.5. Erhaltungssatze und Symmetrien

das nichts anderes bedeutet, als dass L(q(t), q(t)) konstant sein muss. Damitkann man die folgende Konstante E definieren

E =∑

α

∂L

∂qα

qα − L(q(t), q(t)) (2.62)

Welche physikalische Große ist E? Wir konnen zunachst mal ein Beispielbetrachten. Die Lagrangefunktion von einem Teilchen in einem Potential Uist gegeben durch

L =m ~r 2

2− U(|~r|) . (2.63)

Damit ergibt sich E zu

E := m~r 2 − m~r 2

2+ U(|~r|) =

m~r 2

2+ U(|~r|) (2.64)

und damit nichts anderes als die Energie!Das war naturlich ein spezielles Beispiel. Um es allgemein zeigen zu

konnen, betrachten wir die Ableitung nach der Zeit und nach einer kurz-en Rechnung sieht man (UE)

d

dtE = −∂L

∂t. (2.65)

Damit haben wir gezeigt, dass falls die Lagrangefunktion nicht explizit vonder Zeit t abhangt, die Energieerhaltung gilt! Wir werden diese Fragestellungnoch mal im Abschnitt 2.7 aufwerfen.

Jetzt haben wir fast alle Moglichkeiten der 10 verschiedenen Galileitrans-formationen verwendet. Es fehlt noch der Galileiboost. Dazu muss das Noethertheo-rem ein wenig verallgemeinert werden. Wir haben dies bereits fur die Zeitrans-lationssymmetrie gemacht.

Erweitertes Nother–Theorem: Falls die Lagrangefunktion unterder Transformation sich durch eine totale Funktion der Zeitandert, also:

∂νL(Tνq(t),

d

dt(Tνq(t)), t)

∣∣∣∣ν=0

=d

dtf(q(t), q(t), t) ,(2.66)

dann gibt es die folgende Erhaltungsgroße:

f∑α=1

∂L

∂qα

∂ν(Tνq)α

∣∣∣∣ν=0

− f(q, q, t) = const. (2.67)

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Kapitel 2. Lagrangesche Mechanik

Genau dieses haben wir bei der Zeitranslationssymmetrie benutzt bzw. her-geleitet.

Betrachten wir die folgende spezielle Galileitransformation

Tν~r = ~r + ν ~n t , (2.68)

wobei ~n ein beliebiger Einheitsvektor ist und damit ~n t := ~v die Geschwindig-keit, mit der sich ein anderes Inertialsystem bewegt. Betrachten wir weitersN Teilchen unter dem Einfluss einer Kraft, die nur vom Abstand der Teilchenuntereinander abhangt. Es gilt fur den Ortsvektor des n-ten Teilchens

Tν~r(n) = ~r (n) + ν ~n t . (2.69)

Die Lagrangefunktion L andert sich bei dieser Transformation

L(. . . , Tν~r(n), . . . ) =

N∑n=1

m(n)(~r (n) + ν ~n

)2

2− 1

2

n 6=m

U(|~r (n) − ~r (m)|)︸ ︷︷ ︸

unabhangig von ν

(2.70)

nur um eine totale Zeitableitung (es gilt also das erweiterte Nother–Theorem):

⇒ ∂L

∂ν

∣∣∣∣ν=0

=N∑

n=1

m(n)(~r (n) + ν ~n) · ~n∣∣∣∣ν=0

=N∑

n=1

m(n) ~r (n) · ~n

=d

dt~n ·

N∑n=1

m(n) ~r (n) . (2.71)

Nun brauchen wir nur noch

∂νTν~r

(n)

∣∣∣∣ν=0

= ~n t fur alle n = 1, . . . , N (2.72)

zu berechnen und erhalten

−→N∑

n=1

~p (n) · ~n t− ~n ·N∑

n=1

m(n) ~r (n) = ~n · (~P t−M ~R(t)) = const, (2.73)

wobei wir die Massenmittelpunktskoordinate ~R wie zuvor definiert haben,also durch

~R(t) =1

M

N∑n=1

m(n) ~r (n)(t) . (2.74)

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2.6. Welche Eigenschaften erleichtern das Erraten von L noch?

Da ~n beliebig war, folgt, dass aus der Geschwindigkeitstransformation dieErhaltung des Massenmittelpunktsbewegung (3 Parameter)

~R(t) = ~R0 +1

M~Pt (2.75)

fuhrt.Bemerkung: Da die raumliche Translationsinvarianz der potentiellen Ener-

gie die Galileiinvarianz der potentiellen Energie impliziert, ist es nicht ver-wunderlich, dass die Massenmittelpunktsbewegung aus der Impulserhaltungfolgt.

Zusammenfassend haben wir gezeigt, dass fur die Galileigruppe mit 10unabhangigen Parametern durch das Nother–Theorem 10 Erhaltungsgroßenfolgen:

Invarianz Erhaltungsgroße

zeitliche Translation Energieerhaltung (1 Parameter)

raumliche Translation Impulserhaltung (3 Parameter)

Drehungen Drehimpulserhaltung (3 Parameter)

Geschwindigkeittransformation Massenmittelpunktsbewegung (3 Parameter)

2.6 Welche Eigenschaften erleichtern das Er-

raten von L noch?

Hier eine Zusammenfassung:

• Wir haben bereits erkannt, damit eine Bewegungsgleichung resultiert,qα in L mindestens quadratisch vorkommen muss.

• Multipliziert man L mit einer Konstanten, so andert sich die Bewe-gungsgleichung nicht. Das kann man zum Skalieren verwenden.

• Addiert man zu L eine Konstante, dann andert sich die Bewegungsglei-chung nicht.

• Addiert man zu L ein totale Zeitableitung, so andert sich die Bewe-gungsgleichung nicht (siehe UE):

L −→ L′ = L(q, q, t) +d

dtF (q, q, t) . (2.76)

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Kapitel 2. Lagrangesche Mechanik

• Besteht ein System aus zwei Teilsystemen A und B, die jeweils abge-schlossen sind und damit in keiner Wechselwirkung stehen, dann setztsich die Lagrangefunktion des Gesamtsystems additiv aus denen derTeilsystem zusammen: LA+B = LA + LB .

• Hat man zwei Teilsystemen A und B, die miteinander wechselwirken,dann kann man folgenden Ansatz wahlen:

LA+B = LA(qA, qA, t) + LB(qB, qB, t) + LW (qA, qB, qA, qB, t) . (2.77)

Damit muss man “nur” LW erraten.

Oft kommt es vor, dass zwar System A von System B beeinflusst wird,dass aber die Ruckwirkung von A auf B vernachlassigbar ist (Beispiel:Satellit/Erde). Aber Achtung, das bedeutet keinen Widerspruch zu ac-tio = reactio; naturlich sind die entsprechenden Krafte entgegengesetzt,aber die Massen der System konnen sich stark voneinander unterschei-den. Daher kann man als niedrigste Losung die Bewegung in B durchLosen von

∂LB

∂qB

=d

dt

∂LB

∂qB

(2.78)

erhalten und die Losung qB = q(0)B (t) in LA+B einsetzen. Zur Herleitung

der Bewegungsgleichung von A kann man dann

L(0)A+B = LA(qA, qA, t) + LW (qA, q

(0)B , qA, q

(0)B , t) , (2.79)

da LB nicht mehr zur Bewegungsgleichung beitragt. Das System Abewegt sich daher unter dem Einfluss der Krafte, die B “von außen”(d.h. bei vorgegebener Bewegung q

(0)B ) auf A ausubt. Man nennt diese

Naherung eine “Bewegung im außeren Feld”, wobei man hier schonerkennt, dass das Wort “Feld” sich auf das von B erzeugt Potentialbzw. die zugehorigen Krafte bezieht (siehe auch Abschnitt 1.4).

• Wie wir im vorigen Abschnitt gesehen haben, ist naturlich jede Symme-trietransformation, bei der die Bewegungsgleichungen ihre Form behal-ten, eine Einschrankung an L und hilft beim “Erraten” der Funktion.

2.7 Der Lagrange– und Hamiltonformalismus

Wie wir gesehen haben, sind die Lagrangegleichungen das Analogon zu denNewtongleichungen 2. Ordnung. Wir konnen uns also die Frage stellen, ob esauch ein Gegenstuck zu den Newtonschen Gleichungen 1. Ordnung gibt?

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2.7. Der Lagrange– und Hamiltonformalismus

Dazu brauchen wir ein Gegenstuck zu der generalisierten Koordinate qα,hier bietet sich der generalisierte Impuls an

pα =∂L

∂qα

. (2.80)

Diese Große nennt man auch kanonischen Impuls, die Variablen qα, pα heißenzueinander kanonisch konjugiert.

Als nachsten Punkt beschaftigen wir uns nochmals mit der Frage, wel-cher Ausdruck im kanonischen Formalismus der Energie entspricht und unterwelchen Umstanden diese erhalten ist (vergleich auch mit Abschnitt 2.5). Lselbst kommt als Energie sich nicht in Frage, fur ein konservatives Systemist sie ja L = Ekin − U und nicht L = Ekin + U , ist aber doch nahe an derEnergie dran. Betrachten wir einmal die Zeitableitung von L

dL

dt=

∂L

∂t+

∑α

(∂L

∂qα

qα +∂L

∂qα

)

=∂L

∂t+

∑α

(∂L

∂qα

qα + pα qα

)

=∂L

∂t+

∑α

(pα qα + pα qα) , (2.81)

wobei wir bei letzten Gleichheitszeichen die Bewegungsgleichung genutzt ha-ben.

Der letzte Term ist nichts anderes als die Zeitableitung von∑α pα qα, d.h wir haben

dL

dt=

∂L

∂t+

d

dt

∑α

pα qα

=⇒ dH

dt= −∂L

∂t(2.82)

mit H(qα, pα, t) =∑

α

pα qα − L(qα, qα, t) .

Die Große H heißt Hamiltonian (wir haben sie bereits beim har-monischen Oszillator kennengelernt).

Wir sehen hier auch sehr schon, dass Ergebnis aus Abschnitt 2.5, falls Lnicht explizit von der Zeit abhangt, ist die rechte Seite gleich Null und damitH erhalten und naturlich umgekehrt, falls H zeitlich konstant ist, dann hangtL nicht explizit von der Zeit ab.

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Kapitel 2. Lagrangesche Mechanik

Nun konnen wir auch die Bewegungsgleichungen 1. Ordnung an-schreiben, die Hamiltonschen Gleichungen:

qα =∂H

∂pα

(2.83)

pα = −∂H

∂qα

(2.84)

Die Hamiltonschen Gleichungen erfullen wie L auch das Wirkungsprinzip.Man erkennt sofort die Symmetrie von q und p (bis auf ein Vorzeichen)in den Bewegungsgleichungen. Sie kann formal (und das kann man auch inder Quantenmechanik) soweit getrieben werden, dass es letztlich willkurlicherscheint, was man “Impuls” oder was man “Koordinate” nennt.

Wie wir schon beim harmonischen Oszillator gesehen haben, kann manq und p in einem 2f–dimensionale Raum zusammenfassen, der so genanntePhasenraum des betrachteten Systems. Er ist zum Beispiel in der statisti-schen Mechanik ein gutes Konzept, wo der Limes von einem mikroskopischenSystem, das den Quantengesetzen gehorcht, zu einem System mit vielen Teil-chen vollzogen werden soll.

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