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KARNEVAL DER KULTUREN 2002
Hommage an Jorge Amado
Capitães de Areia – Die Herren des Strandes
“Ich träume von einer Revolution ohne Ideologie, in der das Schicksal des menschlichen Wesens, sein Recht zu essen, zu arbeiten, zu lieben, das Leben vollkommen zu leben, nicht in einem von welcher Ideologie auch immer ausgedrückten und aufgezwungenen Konzept unterworfen ist. Ein absurder Traum? Wir besitzen kein größeres und unveräußerlicheres Recht, als das Recht zu träumen. Das einzige, das kein Diktator einschränken oder
abschaffen kann.“
© Capitães de Areia Berlin 2002
Capitães de Areia Karneval der Kulturen 2002 HERREN DES STRANDES Hommage an Jorge Amado
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Capitães de Areia Karneval der Kulturen 2002 HERREN DES STRANDES Hommage an Jorge Amado
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Zeittafel
1888 Abschaffung der Sklaverei in Brasilien.
1889 Proklamation der Republik Brasilien.
1912 Geburt Jorge Amados am 10. August als Sohn eines
Kakaopflanzers in Itabuna, Bundesstaat Bahia.
1914 Zerstörung der elterlichen Fazenda durch eine
Überschwemmung und Übersiedlung der Familie nach Ilhéus.
1917 Eintritt Brasiliens in den Ersten Weltkrieg.
1922 Gründung der Brasilianischen Kommunistischen Partei.
Veranstaltung der „Woche der Modernen Kunst“ in São Paulo.
1924 Marsch der Kolonne Prestes.
1926 Kongress der Regionalisten in Recife.
1928 Kaffeekrise.
1930 Machtübernahme durch Getúlio Vargas.
Jurastudium Amados in Rio de Janeiro (Abschluss 1935).
1931 Veröffentlichung von Amados erstem Roman: „Das Land des
Karnevals“.
1933 Publikation von „Cacau“, dem ersten Roman des „Bahia-
Zyklus“.
1934 „Im Süden“ erscheint.
1935 Aufstandsversuch der Allianz der Nationalen Befreiung.
Amado publiziert „Jubiabá“.
1936 Verhaftung Amados, „Tote See” wird veröffentlicht.
1937 Putschversuch der profaschistischen Integralisten.
„Herren des Strandes“ erscheint, öffentliche Verbrennung aller
bisher von Amado publizierten Bücher.
Schaffung des profaschistischen „Estado Novo“.
1941 Publikation von „ABC de Castro Alves“.
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1942 Brasilien erklärt Achsenmächten den Krieg, Entsendung
brasilianischer Truppen nach Italien.
Beteiligung Amados an der Kampagne zur Befreiung von Luís
Carlos Prestes mit „Ritter der Hoffnung“. Inhaftierung Amados.
1943 Eröffnung des „Kakao-Zyklus“ mit dem Roman „Kakao“.
1944 Fortsetzung mit „Das Land der Goldenen Früchte“.
1945 Rücktritt von Getúlio Vargas.
Publikation von „Bahia aller Heiligen“.
Amado wird KP-Abgeordneter des Bundesparlaments.
Heirat mit Zélia Gattai.
1946 Der dritte Band des „Kakao-Zyklus“: „Die Auswanderer
vom São Francisco“ erscheint.
1948 Kassation des Abgeordneten-Mandats von Jorge Amado, Exil in
west- und osteuropäischen Ländern.
1951 Wahl Getúlio Vargas’ zum Präsidenten.
Amado veröffentlicht „Die Welt des Friedens“. Auszeichnung
mit dem Stalin-Friedenspreis.
1952 Amados Rückkehr nach Brasilien.
1954 Selbstmord von Getúlio Vargas.
Publikation der Trilogie „Katakomben der Freiheit“.
1958 Beginn der zweiten Schaffensphase mit „Gabriela, wie Zimt
und Nelken“.
1960 Brasília wird als neue Hauptstadt Brasiliens eingeweiht.
Amado veröffentlicht „Die drei Tode des Jochen
Wasserbrüller“.
1961 Wahl Amados in die „Academia Brasileira de Letras“. “Kapitän
auf großer Fahrt” erscheint.
1964 Militärputsch.
Publikation von „Hirten der Nacht“.
1966 „Dona Flor und ihre beiden Ehemänner“ wird veröffentlicht.
Capitães de Areia Karneval der Kulturen 2002 HERREN DES STRANDES Hommage an Jorge Amado
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1968 Erlass des „Institutionellen Akts Nr. 5“, eine Art
Ermächtigungsgesetz für die Generäle.
1969 Einführung der Todesstrafe für „subversive Handlungen“.
Amado veröffentlicht „Werkstatt der Wunder“.
1972 Publikation von „Viva Teresa“.
1977 Aufhebung des „Institutionellen Akts Nr. 5“.
„Tieta aus Agreste“ erscheint.
1979 Fortsetzung des zuvor eingeleiteten Prozesses der
„demokratischen Öffnung“, Teilamnestie, Rückkehr der
meisten politischen Emigranten.
Amado publiziert „Das Nachthemd und die Akademie“.
1984 Veröffentlichung von „Tocaia Grande“.
1985 Wahl des links-liberalen Tancredo Neves zum ersten zivilen
Präsidenten nach über 20 Jahren Militärdiktatur.
1986 Wiederaufnahme der seit 1964 abgebrochenen diplomatischen
Beziehungen zwischen Brasilien und Kuba.
1988 II. Gipfeltreffen der Rio-Gruppe (Argentinien, Brasilien,
Kolumbien, Mexiko, Peru, Uruguay und Venezuela) fordert
politische Lösung des Schuldenproblems.
Publikation von „Das Verschwinden der Heiligen Barbara“.
1990 Amtsantritt von Collor de Mello, dem ersten wieder direkt
gewählten Präsidenten.
Auslandsverschuldung Brasiliens erreicht 122 Milliarden USD.
1991 Erster „Iberoamerikanischer Gipfel“ (Staats- und Regierungs-
chefs von 18 spanischsprachigen Ländern Lateinamerikas,
Brasiliens, Spaniens und Portugals). Einweihung von „Itaipu“
(größtes Wasserkraftwerk der Welt) nach 18jähriger Bauzeit
1992 UNO-Weltkonferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio de
Janeiro. Achtzigster Geburtstag von Jorge Amado.
2001 Jorge Amado stirbt am 6. August in Salvador/Bahia nach
langer schwerer Krankheit.
Capitães de Areia Karneval der Kulturen 2002 HERREN DES STRANDES Hommage an Jorge Amado
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Der berühmteste brasilianische Romancier, der am 6. August 2001 im
Alter von 88 Jahren starb, war bereits zu Lebzeiten eine Legende. Als
„Magier aus Bahia“ bezauberte er mehr als sechs Jahrzehnte seine Leser
in Brasilien und in aller Welt. Seine Romane sind in 48 Sprachen übersetzt
und behaupten sich mit erstaunlicher Beständigkeit auf den
Bestsellerlisten von 52 Ländern, in denen Amado häufig bekannter ist als
die einheimischen Autoren.
Geboren wurde Amado im Jahr 1912 auf einer Kakaoplantage im
brasilianischen Staat Bahia. Er besuchte eine Jesuitenschule und begann
bereits im Alter von 15 Jahren für eine Zeitung zu schreiben. Sein erster
Roman “O País do Carnaval“ erschien 1931, als er gerade 19 war.
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Der Gegensatz zwischen Arm und Reich war das beherrschende
Thema von Amados frühen Werken. „Ich habe das Drama der
Urwalderoberung miterlebt, die Stimme der Advokaten in den
unverschämten Prozessen der Großgrundbesitzer gehört. Als Kind wurde
ich vom Blute meines Vaters überströmt, der aus dem Hinterhalt
erschossen wurde“, erinnerte er sich. Amado wurde überzeugter
Kommunist, verbrachte einige Zeit im Gefängnis. Zweimal musste er ins
Exil gehen, lebte zeitweilig in Frankreich und schloss dort Freundschaft mit
Jean-Paul Sartre, Bertolt Brecht und Anna Seghers.
Mitte der fünfziger Jahre kehrte Amado dem Kommunismus den
Rücken – desillusioniert von den Enthüllungen über die Verbrechen
Stalins. „Ich habe herausgefunden, dass ich den Menschen als
Schriftsteller nützlicher sein kann, als wenn ich meine Zeit mit Politik
verbringe“, sagte er. Seine Werke wurden leichter und humorvoller.
Kritiker warfen ihm vor, die Armut zu romantisieren – ein Vorwurf, den
Amado immer strikt von sich wies.
Als seinen Lieblingsschriftsteller bezeichnete er Mark Twain und
Charles Dickens. Deren lebendiger Stil war auch für Amado vorbildlich.
„So wie die Werke dieser Schriftsteller sind auch meine Bücher voll mit
dem Geruch, dem Geschmack und dem Blut meines Landes“, sagte er.
Und weiter: “Ich bin kein James Joyce. In meinen Büchern gewinnt
das Volk. Meine Botschaft ist Hoffnung, nicht Verzweiflung.“
Die Geschöpfe Amadoscher Phantasie leben seit langem unter uns:
Jubiabá und Antonio Balduino, Guma und Esmeralda und allen voran
Pedro Bala, der Anführer der „Herren des Strandes“, jener legendären
Bande verlassener brasilianischer Großstadtkinder, die gemeinsam ums
Überleben kämpfen und dabei ein vogelfreies und abenteuerliches Leben
führen.
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Von Amados dreißig Büchern gehört dieses neben „Gabriela wie Zimt
und Nelken“ zu den bekanntesten. Obgleich es bereits vor mehr als einem
halben Jahrhundert entstand, hat dieses Frühwerk nichts von seiner
Frische und Aktualität verloren und findet – wie die meisten Romane von
Jorge Amado – ständig neue Leser.
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Herren des Strandes
1987 erschien ein Folheto, eine Broschüre, mit dem Titel „Pedro Bala, der
Chef der Herren des Strandes“. Im Untertitel heißt es: „Dieses Folheto
beruht auf dem Roman Die Herren des Strandes von Jorge Amado und
gedenkt des 50. Jahrestages seiner Erstveröffentlichung“. Auf dem
Titelblatt ist Amado, von Kindern umringt, vor der Kulisse des endlosen
Ozeans nach einem Holzschnitt dargestellt. Das Folheto beginnt
folgendermaßen:
Gott gebe mir Inspiration,
über die Herren des Strandes zu schreiben,
über Jorge Amados Roman
und seine Publikation
heute vor fünfzig Jahren.
Damals hat alle Welt
Amados Geschichte erfahren.
Es sind die schrecklichen Dinge,
die Jorge Amado erzählt.
Er schreibt über Straßenkinder,
die verlassen, erniedrigt, gequält,
im Jahre siebenunddreißig
gelitten wie Kinder von heut’.
Sie heißen jetzt „Pivete“,
von niemand behütet, betreut.
(Folheto 1)
Capitães de Areia Karneval der Kulturen 2002 HERREN DES STRANDES Hommage an Jorge Amado
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Zunächst als Buch, später als Film, Theaterstück und schließlich als
Telenovela übertraf der Roman Capitães da Areía (Herren des Strandes,
1937/1951) alles, was Amado bis dahin publiziert hatte. Generationen
junger Menschen in Brasilien, Lateinamerika, Europa und auch in
Deutschland (hier vor allem in der ehemaligen DDR) sind mit diesem Buch
aufgewachsen. Seine Protagonisten – Hinkebein, der „Professor“, Kater,
Dora und allen voran Pedro Bala, der Anführer jenes legendären Trupps
verlassener Großstadtkinder – waren allenthalben bekannt und beliebt. An
ihren Schicksalen nahmen Kinder und Jugendliche lebhaften Anteil, und
sie erfuhren von ihnen etwas über die Geheimnisse früher Liebe, lange
bevor ihre Eltern sich zu ersten Aufklärungsgesprächen entschlossen. Die
meisten wurden durch dieses Buch erstmals mit den sozialen Problemen in
der „dritten Welt“ konfrontiert und folgten den sozialistischen
Überzeugungen des Autors.
Die Herren des Strandes hausen in der Ruine eines verlassenen
Speichers als eine Art Notgemeinschaft von obdachlosen Kindern ohne
familiäre Bindungen. „Alle suchten sie ein bisschen Zärtlichkeit,
irgendetwas außerhalb ihres elenden Lebens: der Professor in den
Büchern, die er Nacht für Nacht las; Kater im Bett einer Dirne, die ihm
Geld gab; Pirulito im Gebet, das ihn gänzlich verwandelte; Barandão und
Almiro in der Liebe am Hafenstrand.“ (Capitães 54)
Die Kinder kämpfen gemeinsam ums Überleben und führen dabei ein
abenteuerliches und vogelfreies Leben. Um jeden Tag zumindest eine
Mahlzeit zusammenzubringen, müssen sie des öfteren die Grenze zur
Kriminalität überschreiten. Das hat zu einer Kontroverse im „Jornal da
Tarde“ geführt, in der von der „berüchtigten Bande verbrecherisch
veranlagter Kinder“ die Rede ist, die schnellstens ins „Reformatório“, die
Erziehungsanstalt Bahias, gesperrt werden müssten. Schlagzeilen wie:
„Die Stadt verseucht von Kindern, die vom Diebstahl leben“, „Eingreifen
des Jugendrichters und des Polizeichefs dringend geboten“ und „Gestern
neuer Überfall“ (ebd. 16) heizen die Stimmung gegen die Herren auf.
Capitães de Areia Karneval der Kulturen 2002 HERREN DES STRANDES Hommage an Jorge Amado
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Das „Reformatório“ wird als Lösung des Problems, als Hort des friedlichen
Zusammenlebens in familiärer Atmosphäre angepriesen, wo die Kinder
bestens verpflegt und betreut, nachhaltig umerzogen und somit auf eine
Zukunft als ordentliche Bürger vorbereitet würden.
Andererseits kommen unter der Überschrift „Es mag wahr sein“ die
Näherin Maria und Pater José Pedro zu Wort, die diese Behauptungen
widerlegen. „Wenn ihre Zeitung jemanden hinschickt, im geheimen“,
schreibt Maria, „dann wird er sehen, was für ein Essen die bekommen und
die Sklavenarbeit, die sie machen müssen, die nicht einmal ein starker
Mann aushält, und die Prügel, die sie beziehen... Mir ist es lieber, mein
Sohn ist bei den Herren des Strandes als in so einer Besserungsanstalt.“
(ebd. 23)
Amado stellt diese Debatte an den Anfang des Romans und lässt den
Leser gewissermaßen selbst recherchieren, um die Wahrheit
herauszufinden.
Am Beispiel vor allem zweier Mitglieder der Gruppe, Hinkebein und
Professor, gestaltet der Autor die Tragik derer, die arm geboren werden
und fast immer vorzeitig in Armut sterben, falls sie nicht durch ein
zufälliges Erbarmen eines Reichen vor diesem Schicksal bewahrt werden.
Hinkebein – der wegen eines verkrüppelten Beines so genannt wird
– hätte auf Grund seiner Behinderung und seiner Sensibilität besonderer
Fürsorge bedurft, aber solange er zurückdenken kann, musste er sich
seiner Haut erwehren und selbst dafür sorgen, nicht Hungers zu sterben.
So war er frühzeitig gezwungen, sein Leiden zu übertreiben, um den
Reichen etwas abzujagen. Dabei erreicht er eine solche Virtuosität, dass
er sich fast mühelos in die Häuser der Wohlhabenden einschleicht, alles
auskundschaftet und seinen Kumpanen ergiebige Beute in die Hände
spielt. Ein Peachum wäre stolz auf ihn gewesen, aber Hinkebeins
Abneigung steigert sich zur Misanthropie, je länger er diesem Gewerbe
nachgeht.
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Er träumt von einer seinen Kräften und Fähigkeiten angemessenen
ehrlichen Arbeit, mit der er sich von diesem elenden Dasein befreien will.
Als ihn ein reiches Ehepaar aufnimmt und ihn an Stelle des
verstorbenen Sohnes adoptieren will, gerät er in einen Gewissenskonflikt,
den er nicht lösen kann und an dem er schließlich zerbrechen muss. Er
war es gewohnt gewesen, als Dienstbote aufgenommen zu werden und
seinen Hass gegen die Menschen von dieser Position aus zu schüren. Hier
trifft er erstmals auf ehrliche Liebe und Zuneigung, „und plötzlich packte
ihn die Angst, man könnte in diesem Hause gut zu ihm sein.“ (ebd. 141)
Endlich hat er das gefunden, von dem er und seine Freunde immer
träumten, und trotzdem ist er unglücklicher denn je. Den anderen
gegenüber fühlt er sich als Verräter, denn er bringt es nicht fertig das
Vertrauen seiner Wohltäter zu missbrauchen. Innerlich gebrochen erfüllt
er seinen Auftrag und kehrt in den Speicher zurück. Mehr als zuvor
provoziert er Streitigkeiten, und seine Spottlust steigert sich ins
Unerträgliche. „Im Grunde seines Herzens empfand er Mitleid mit dem
Unglück der anderen und konnte sich nur dadurch retten, dass er alles ins
Lächerliche zog. Es war wie eine Arznei für ihn.“ (ebd. 43)
Hinkebein macht sich als einer der wenigen Gedanken über ihr Elend:
„Wenn Hinkebein jemanden von seinem allumfassenden Hass ausnahm,
so waren es die Jungen, die zu den Herren des Strandes gehörten. Das
waren seine Gefährten, ihm gleich und wie er Opfer aller übrigen
Menschen.“ (ebd. 147)
Amado verdeutlicht die Verantwortung der Gesellschaft, die sich
ihrer Sorgepflicht für diese Kinder entzieht, ihnen weder Bildungschancen
noch die Möglichkeit eröffnet, sich auf ehrliche Art ihren Lebensunterhalt
zu verdienen, die es den Armen nicht erlaubt, gut zu sein.
Capitães de Areia Karneval der Kulturen 2002 HERREN DES STRANDES Hommage an Jorge Amado
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Nach über einem halben Jahrhundert hat sich noch immer nichts
geändert: „Manche Brasilianer fragen sich, warum die Regierung nichts
zur Lösung unternimmt. Doch die staatliche Phantasie erschöpft sich seit
25 Jahren in der FUNABEM, der Stiftung zum Wohlergehen von
Minderjährigen. Ihre Aufgabe besteht vor allem darin, die Straßen sauber
zu halten, indem sie Kinder in die sogenannte FEBEM, in geschlossene
Anstalten steckt.“ (Stührenberg)
Durch Schreckensmeldungen über eine „Endlösung“ des Problems
der Straßenkinder wurde die brasilianische und internationale
Öffentlichkeit alarmiert: „Vor ein paar Jahren verfrachtete ein
Polizeikommando in São Paulo fünfzig Insassen einer überfüllten
Kinderstrafanstalt in einen Bus und fuhr sie an eine steile Klippe. Dann
befahlen die Polizisten ihren Gefangenen zu springen und schossen den
Widerspenstigen eine Kugel in den Kopf.“ (ebd.)
Am Beispiel des „Professors“ (Spitzname für João José) kann der
Leser den mühevollen und nahezu aussichtslosen Versuch eines
künstlerisch begabten, aber armen und obdachlosen Kindes miterleben,
sein Talent trotz aller Widrigkeiten zu entfalten. Der zukünftige Maler lässt
keine Möglichkeit aus, sich autodidaktisch weiterzubilden, ohne dabei ein
Sonderling zu werden oder sich von der Gruppe zu isolieren. Im Gegenteil:
er übt einen positiven erzieherischen Einfluss auf die anderen aus.
Zwar beteiligt er sich an Aktionen, aber er bemüht sich zielstrebiger
um ehrliche Arbeit. So malt er Portraits von Straßenpassanten auf das
Pflaster, und wenn er Glück hat, werfen ihm die Leute ein paar Almosen
zu. Manche fühlen sich auch verspottet, wie zum Beispiel ein Mann in
einem großen Mantel, der ihn misshandelt und der ihm erneut bewusst
macht, dass er wie ein Straßenköter entweder etwas zugeworfen
bekommt oder mit einem Fußtritt davongejagt wird.
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Später, als er bereits ein anerkannter Maler ist, tauchen in seinen
Bildern immer wieder Männer in großen Mänteln auf, und die Kunstkritiker
ergehen sich in allerlei Spekulationen und umständlichen
pseudowissenschaftlichen Erklärungen.
Andere Straßenpassanten, die der Professor im Vorübergehen
porträtiert, erkennen sein außerordentliches Talent: „Aus dem Jungen
könnte etwas werden. Ein Jammer, dass sich die Regierung nicht um
solche Talente kümmert“... Dann wurden Beispiele von Kindern der Straße
aufgezählt, aus denen Dank der Hilfe vermögender Familien große
Dichter, Sänger oder Maler geworden waren.“ (Capitães 92)
Kompositorisch bereitet Amado damit den weiteren Lebensweg des
„Professors“ vor. Er lässt ihn einen reichen Gönner finden, der an seine
Begabung glaubt und die Ausbildung finanziert. Das mag wie eine Happy-
End-Lösung anmuten, ist jedoch die einzige Möglichkeit, die überragenden
Fähigkeiten des „Professors“ zu beweisen und die Behauptung, es handle
sich bei den Herren des Strandes um verbrecherisch veranlagte Kinder,
nachdrücklich zu widerlegen.
Ins Satirische steigert Amado sodann seine Abrechnung mit der
offiziellen Presse, als er nach der Verleumdungskampagne am Anfang nun
wiederum die Zeitung „Jornal da Tarde“ zitiert. In einander übertreffenden
Lobeshymnen auf die Werke des Professors wird auch mit Stolz vermerkt,
dass es sich bei dem genialen Maler um einen Bürger Bahias handelt.
Der „Professor“ bleibt ein Ausnahmefall. Als einer der wenigen aus
der Gruppe findet er den ihm gemäßen Platz im Leben.
Wiederum sind Parallelen zur Situation bis in die Gegenwart
auszumachen. So berichtet ein Sozialarbeiter 1989: „Natürlich können wir
mit unseren bescheidenen Mitteln das Kinder-Problem nicht lösen. Unsere
Arbeit hier hilft einigen wenigen von der Straße wegzukommen, lesen und
schreiben zu lernen und vielleicht in einen ordentlichen Beruf zu kommen.
Das macht sie zu Privilegierten, zu vierzig oder fünfzig Auserwählten in
einem Heer von Millionen Aussichtslosen.“ (Stührenberg)
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Von den Herren des Strandes wird Volta Seca Krimineller, der als
Cangaceiro, als Bandit, raubend und mordend durchs Land zieht und
seinen Schwur erfüllt, sich an den Reichen zu rächen. Boa Vida verkommt
als Schmarotzer, Kater endet als Zuhälter, und diese Reihe lässt sich
fortsetzen. Pedro Bala, dem Chef der Kindergruppe, hat der Autor am
Schluss die Rolle eines zukünftigen Arbeiterführers und Revolutionärs
zugedacht. Der kommunistische Arbeiter João de Adago vermittelt ihm
den Zugang zum kämpfenden Proletariat.
Padre José Pedro gelingt es, Pirulito, einen der Gefährdetsten, zu
bekehren, ihn lesen und schreiben zu lehren und seinen Eintritt ins
Priesterseminar zu erwirken. Intuitiv nimmt Amado etwas vorweg, was
erst Jahrzehnte später in die öffentliche Diskussion gebracht wurde: die
Vergleichbarkeit christlich-religiöser und kommunistischer Ideale mit allen
positiven und negativen Implikationen. Er hatte das Thema bereits in „Das
Land des Karnevals“ aufgegriffen und zwei seiner heißspornigen jungen
Intellektuellen, Paulo Rigger und José Lopes, darüber streiten lassen:
„Anstatt an Gott glaube ich an die Menschheit. Ich will ihr
Glück...“
„Dann bist du Kommunist...“
„Das stimmt.“
„Aber der Kommunismus hat verdammt viele Fehler und
Schwächen, José.“
„Und wenn schon.“
„Das heißt also, du liebst die ganze Menschheit?“
„Wie Christus es tat... und auch Buddha... Und was die Fehler und
Schwächen des Kommunismus betrifft, er hat sie bestimmt. Aber
seine Tugenden überwiegen bei weitem...“ (O País 121)
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Ähnlich wie bei Dona Dulce in Tote See ihren Wunderglauben
aufgibt, beginnt auch der Pater an biblischen Grundsätzen zu zweifeln und
vom passiven christlichen Humanismus zum aktiven kommunistischen
überzugehen. „Eines Nachmittags, als der Pater und João de Adão bei
ihnen zusammentrafen, sagte der Hafenarbeiter, dass die Schuld an der
schlecht organisierten Gesellschaft bei den Reichen liege... Solange sich
die Verhältnisse nicht änderten, meinte er, könnten aus den Jungen
niemals anständige Männer werden.“ Und der Pater gesteht ein:
„Manchmal glaube ich selbst, dass er recht hat und dass alles sinnlos ist.
Doch Gott ist gut und wird Hilfe bringen...“ (ebd. 126)
Die Auseinandersetzungen zwischen dem Domherrn als Vertreter
des traditionell mit den Mächtigen verbündeten hohen Klerus’ und dem
armen Pater sind ebenfalls antizipatorisch. Sie deuten in eine Richtung,
die sich später als Theologie der Befreiung artikulierte und bis in die
Gegenwart das solidarische Miteinander der niederen Priesterschaft mit
der Arbeiterbewegung propagiert.
Im Roman bleiben die Herren des Strandes als Gruppe mit neuen
Mitgliedern erhalten. Amado macht so ein weiteres Mal darauf
aufmerksam, dass das Problem der Straßenkinder weiterhin existiert und
dringend einer Lösung bedarf.
Capitães de Areia Karneval der Kulturen 2002 HERREN DES STRANDES Hommage an Jorge Amado
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Werkverzeichnis
O País do Carnaval (Das Land des Karnevals). Roman, Rio de Janeiro
1931.
Cacau. Roman, Rio de Janeiro 1933. – Im Süden (Dt. von Johannes
Klare). In: Leute aus Bahia, Berlin-Ost 1966.
Suor. Roman, Rio de Janeiro 1934. – Das Mietshaus (Dt. von Johannes
Klare). In: Leute aus Bahia, Berlin-Ost 1966.
Jubiabá. Roman, Rio de Janeiro 1935. – Jubiabá (Dt. von Hans Wiltsch
und Herbert Bräuning), Berlin-Ost 1950. (Neuübersetzung von Andreas
Klotsch), Berlin-Ost 1983.
Mar Morto. Roman, Rio de Janeiro 1936. – Tote See (Dt. von Herbert
Bräuning), Berlin-Ost 1950. (Neuübersetzung von Erhard Engler), Berlin-
Ost 1976.
Capitães da Areia. Roman, Rio de Janeiro 1937. – Herren des Strandes
(Dt. von Ludwig Graf von Schönfeldt), Berlin-Ost 1951; Hamburg 1963.
ABC de Castro Alves. Biographie, São Paulo 1941.
O Cavaleiro da Esperança. Vida de Luís Carlos Prestes. Biographie, Buenos
Aires 1942 / São Paulo 1945. – Der Ritter der Hoffnung. Das Leben von
Luís Carlos Prestes (Dt. nach der französischen Ausgabe von Karl
Heinrich), Berlin-Ost 1952.
Terras do Sem Fim. Roman, São Paulo 1942. – Kakao (Dt. von Ludwig
Graf von Schönfeldt), Berlin-Ost 1957.
São Jorge dos Ilhéus. Roman, São Paulo 1944. – Das Land der goldenen
Früchte (Dt. von Herbert Bräuning), Berlin-Ost 1953; Wuppertal 1983.
Bahia de Todos os Santos. Literarischer Stadtführer, São Paulo 1945.
Seara Vermelha. Roman, São Paulo 1946. – Die Auswanderer vom São
Francisco (Dt. nach der französischen Ausgabe von Herbert Bräuning),
Berlin-Ost 1951; Wuppertal 1985.
O Amor do Soldado. Drama, Rio de Janeiro 1947.
Capitães de Areia Karneval der Kulturen 2002 HERREN DES STRANDES Hommage an Jorge Amado
18
O Mundo da Paz. Reisetagebuch, Rio de Janeiro 1951.
Os Subterráneos da Liberdade. Roman-Trilogie, São Paulo 1954. –
Katakomben der Freiheit (Dt. von A.T. Salutrégui), Berlin-Ost 1955.
Gabriela, Cravo e Canela. Roman, São Paulo 1958. – Gabriela, wie Zimt
und Nelken (Dt. von Gerhard Lazarus und E.-A. Nicklas. Nachdichtung der
Verse von Alfred Antkowiak), Berlin-Ost 1962, Reinbek b. Hamburg 1966.
A Morte e a Morte de Quincas Berro Dágua. Erzählung, São Paulo 1961. –
Der zweifache Tod des Quincas Berro Dágua (Dt. von S. Schmidt), Berlin-
Ost 1965; Die drei Tode des Jochen Wasserbrüller (Dt. von Johannes
Klare), in: Die Admiralsnacht. Brasilianische Erzählungen, Berlin-Ost
1972; (Dt. von Curt Meyer-Clason), München 1991.
Os Velhos Marinheiros ou o Capitão de Longo Curso. Roman, São Paulo
1961. – Kapitän auf großer Fahrt oder Die vollständige Wahrheit
über die umstrittenen Abenteuer des Kapitäns Vasco Moscoso de
Aragão (Dt. von Curt Meyer-Clason), München 1964; (Dt. von Sigurd
Schmidt), Berlin-Ost 1966.
Os Pastores da Noite. Roman, São Paulo 1964. – Nächte in Bahia, (Dt. von
Curt Meyer-Clason), München 1965; Hirten der Nacht (Dt. von Johannes
Klare), Berlin-Ost 1967
Dona Flor e seus dois Maridos. Roman, São Paulo 1966. – Dona Flor und
ihre beiden Ehemänner (Dt. von Johannes Klare und Kristina Hering),
Berlin-Ost 1970; (Dt. von Curt Meyer-Clason), München 1986.
Tenda dos Milagres. Roman, São Paulo 1969. – Werkstatt der Wunder (Dt.
von Kristina Hering), Berlin-Ost 1978. Unter dem Titel Die Geheimnisse
des Mulatten Pedro, München 1978.
Teresa Batista Cansada de Guerra. Roman, São Paulo 1972. – Viva Teresa
(Dt. von Ludwig Graf von Schönfeldt), München 1975.
O Gato Malhado e a Andorinha Sinhá. Kinderbuch, Rio de Janeiro 1976. –
Der gestiefelte Kater und die Schwalbe Sinhá (Dt. von Roland Erb), Berlin-
Ost 1979.
Capitães de Areia Karneval der Kulturen 2002 HERREN DES STRANDES Hommage an Jorge Amado
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Tieta do Agreste. Roman, Rio de Janeiro 1977. – Tieta aus Agreste (Dt.
von Ludwig Graf von Schönfeldt), München 1975; Berlin-Ost 1981.
Farda, Fardão, Camisola de Dormir. Roman, Rio de Janeiro 1979. – Das
Nachthemd und die Akademie (Dt. von Andreas Klotsch), Berlin-Ost 1982.
O Menino Grapiúna. Autobiographie, Rio de Janeiro 1981. – Der Junge aus
Bahia (Dt. von Andreas Klotsch). In: ad libitum, Nr. 1, Berlin-Ost 1985.
A Bola e o Goleiro. Erzählung, Rio de Janeiro 1984. – Bola Fura-Redes und
der Torhüter (Dt. von Margreth Wannenmacher), Göttingen 1991.
Tocaia Grande. A Face Obscura. Roman, Rio de Janeiro 1984. – Tocaia
Grande. Der Große Hinterhalt (Dt. von Andreas Klotsch), Berlin-Ost 1986;
(Dt. von Karin von Schweder-Schreiner), München 1987.
O Sumiço da Santa. Roman, Rio de Janeiro 1988. – Das Verschwinden der
Heiligen Barbara (Dt. von Kristina Hering), Berlin 1990; München 1992.
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