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Kleine Mitteilungen Eichstätt und Österreich ein kurzes Intermezzo Von Erwin Kupfer Das fränkisch-bayrische Hochstift Eichstätt und sein Bezug zu Österreich fand in der For- schung bislang nur wenig Interesse. Sieht man von Ernst Klebeis Beitrag aus dem Jahr 1954 ab', so fehlen einschlägige Untersuchungen zu dieser Thematik praktisch völlig. Nicht zuletzt diesem Mangel ist es zu verdanken, dass die traditionellen Ansichten über Eichstätts Beziehun- gen zu Österreich über längere Zeit bestimmend blieben 2 , während Modifikationen bloß als Marginalien und eher zufällig in der landeskundlichen Literatur begegnen 3 . Anders etwa als das Diözesanbistum Passau oder die Metropole Salzburg spielte Eichstätt zwar nie eine vergleichs- weise Rolle im Ostland, doch steht der Gang der Entwicklung und insbesondere das Schicksal, das Eichstätt gegen Ende des 11. Jahrhunderts zu akzeptieren hatte, für eine nicht mindere Bri- sanz. Diesen Vorgängen sei im folgenden die Aufmerksamkeit gewidmet. Das Problem Melk Schenkt man den Ausführungen der älteren Forschung Glauben, so wäre Eichstätt als Be- sitznachfolger des Klosters Herrieden Grundherr in Österreich geworden 4 . Den Ausgangs- punkt dieser Überlegung bildet ein Diplom vom 5. Jänner 831, worin König Ludwig der Deut- sche der fränkischen Abtei den Besitz der loca, quae nuncupantur Belaa, Medilica, Grunavita, bestätigte, die Herrieden ex proprisione, also durch Bifang, erworben hatte, nachdem von Karl dem Großen eine Erlaubnis dazu eingeholt worden war 5 . Die in der Karolingerzeit häufige Ent- sprechung von locus für „Dorf" lässt vermuten, dass unter den hier genannten Örtlichkeiten 1 Ernst KLEBEL, Eichstätt und Herrieden im Osten, in: DERS., Probleme der bayerischen Verfas- sungsgeschichte (Gesammelte Aufsätze. Schriften zur bayerischen Landesgeschichte 57, München 1957) 332-340. 2 Vgl. etwa Karl LECHNER, Beiträge zur älteren Besitzgeschichte des Klosters Melk. JbLKNÖ N. F. 36/1 (1964) 111-124; DERS., Die Babenberger. Markgrafen und Herzoge von Österreich 976-1246 (VIÖG 23, Wien-Köln-Weimar 5 1994) 63f., 88, 228. 3 Vgl. etwa Erwin KUPFER, Das Königsgut im mittelalterlichen Niederösterreich vom 9. bis zum 12. Jahrhundert (Studien und Forschungen aus dem Niederösterreichischen Institut fur Landeskunde 28, St. Pölten 2000) 71-77; Max WELTIN, Ascherichsbrugge - Das Werden einer Stadt an der Grenze. NÖLA 10 (1986/87) 1-42, hier 12f. 4 So etwa KLEBEL, Eichstätt (wie Anm. 1) 332f., oder LECHNER, Babenberger (wie Anm. 2) 62-64. 5 MGH D.LD. 3. MIÖG 116(2008) Brought to you by | University of Kentucky Libraries Authenticated Download Date | 10/1/14 2:49 AM

Kleine Mitteilungen

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Kleine Mitteilungen

Eichstätt und Österreich — ein kurzes Intermezzo

Von Erwin Kupfer

Das fränkisch-bayrische Hochstift Eichstätt und sein Bezug zu Österreich fand in der For-schung bislang nur wenig Interesse. Sieht man von Ernst Klebeis Beitrag aus dem Jahr 1954 ab ' , so fehlen einschlägige Untersuchungen zu dieser Thematik praktisch völlig. Nicht zuletzt diesem Mangel ist es zu verdanken, dass die traditionellen Ansichten über Eichstätts Beziehun-gen zu Österreich über längere Zeit bestimmend blieben2, während Modifikationen bloß als Marginalien und eher zufällig in der landeskundlichen Literatur begegnen3. Anders etwa als das Diözesanbistum Passau oder die Metropole Salzburg spielte Eichstätt zwar nie eine vergleichs-weise Rolle im Ostland, doch steht der G a n g der Entwicklung und insbesondere das Schicksal, das Eichstätt gegen Ende des 11. Jahrhunderts zu akzeptieren hatte, für eine nicht mindere Bri-sanz. Diesen Vorgängen sei im folgenden die Aufmerksamkeit gewidmet.

D a s Prob lem Melk

Schenkt man den Ausführungen der älteren Forschung Glauben, so wäre Eichstätt als Be-sitznachfolger des Klosters Herrieden Grundherr in Österreich geworden4. Den Ausgangs-punkt dieser Überlegung bildet ein Diplom vom 5. Jänner 831, worin König Ludwig der Deut-sche der fränkischen Abtei den Besitz der loca, quae nuncupantur Belaa, Medilica, Grunavita, bestätigte, die Herrieden ex proprisione, also durch Bifang, erworben hatte, nachdem von Karl dem Großen eine Erlaubnis dazu eingeholt worden war5. Die in der Karolingerzeit häufige Ent-sprechung von locus für „Dor f " lässt vermuten, dass unter den hier genannten Örtlichkeiten

1 Ernst KLEBEL, Eichstätt und Herrieden im Osten, in: DERS., Probleme der bayerischen Verfas-sungsgeschichte (Gesammelte Aufsätze. Schriften zur bayerischen Landesgeschichte 57, München 1957) 332-340.

2 Vgl. etwa Karl LECHNER, Beiträge zur älteren Besitzgeschichte des Klosters Melk. JbLKNÖ N. F. 36/1 (1964) 111-124; DERS., Die Babenberger. Markgrafen und Herzoge von Österreich 976-1246 (VIÖG 23, Wien-Köln-Weimar51994) 63f., 88, 228.

3 Vgl. etwa Erwin KUPFER, Das Königsgut im mittelalterlichen Niederösterreich vom 9. bis zum 12. Jahrhundert (Studien und Forschungen aus dem Niederösterreichischen Institut fur Landeskunde 28, St. Pölten 2000) 71-77; Max WELTIN, Ascherichsbrugge - Das Werden einer Stadt an der Grenze. NÖLA 10 (1986/87) 1-42, hier 12f.

4 So etwa KLEBEL, Eichstätt (wie Anm. 1) 332f., oder LECHNER, Babenberger (wie Anm. 2) 62-64. 5 M G H D.LD. 3.

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Eichstätt und Österreich - ein kurzes Intermezzo 363

keine Gegendnamen, sondern eher die gleichnamigen Dörfer Pielach, Melk u n d Gri inz zu ver-stehen sind 6 . Unter dem Einfluss der besitzgeschichtlich-genealogischen Methode versuchte die ältere Forschung fiir Melk eine Besitzabfolge Herrieden - Eichstätt zu konstruieren, u m daraus die Herrschaftsbildung Eichstätts in letzter Konsequenz aus dem Königsgut zu erklären, was ja das primäre Ziel dieser Methode war7 . Zur Untermauerung dieser Ansicht verwies man au f die Tatsache, dass König Arnulf im Jahr 8 8 8 die Abtei Herrieden an das Hochst i f t Eichstätt zur ge-genseitigen Förderung von Kloster und Bistum kommendier t hatte8 , demzufolge Eichstätt als Eigenklosterherr auch Besitznachfolger Herriedens im O s d a n d geworden wäre9 . So einleuch-tend diese These zunächst auch wirkt, so wenig lässt sie sich durch objektive Que l l en verifizie-ren, zumal an keinem der drei genannten Orte Eichstätt später als Grundherr nachweisbar ist. Eher schon scheint es, dass Herriedens Engagement im O s d a n d nur von kurzer Dauer war und es seine Besitzungen bald an die karolingischen Könige abgetreten haben dürf te 1 0 . D ie Ursa-chen dafür sind u n k l a r " , doch k o m m t es kaum von ungefähr, dass die Karolingerkönige Lud-wig der Deutsche, dessen Sohn Karl III. und Ludwigs Enkel Arnulf, zwischen 8 6 0 und 8 9 2 plötzlich über Grundbesitz in Melk und Griinz verfugten 1 2 .

Auch die angebliche Dreiteilung Melks zwischen „Reich, Salzburg und Herrieden/Eich-stätt", au f die sich die ältere Forschung immer wieder ber ie f 1 3 , beruht a u f quellenferner Dar-stellung. Die Erwähnung einer tertia pars, die das gefälschte Arnul f inum fiir Salzburg von an-geblich 8 8 5 für die civitates Melk, Hollenburg und Pettau anführt , kann hierfür nicht geltend gemacht werden 1 4 . Vielmehr hat sich gezeigt, dass zum Anlagezeitpunkt dieser Fälschung (nach 9 7 0 ) die Or te Pettau in der H a n d Salzburgs, Hol lenburg im Besitz Freisings und Melk in der H a n d des Babenberger Markgrafen Heinrich I. waren 1 5 . Kleinere Besitzanteile, eben die tertia pars, eigneten in Pettau einem gewissen Garantanus, d e m Erzstift Salzburg in Hol lenburg und Melk. Eichstätter Besitz lässt sich dabei nicht namhaf t machen u n d die postulierte Besitzab-folge Herrieden - Eichstätt ebenso wenig daraus ableiten. S o bleibt als letzte Eichstätt betref-fende Nachricht bezüglich Melk noch der Hinweis in den Melker Annalen, wonach die Beiset-zung des heiligen Kolomann in Melk (1014) durch den Eichstätter Bischof Meg ingaud er-folgte 1 6 . Nach Lechner handelte es sich „bei dieser Kulthandlung durch Bischof Meg ingaud von Eichstätt nicht u m einen Akt irgendeines gerade zufällig in Melk anwesenden Bischofs" , sondern „um eine konkrete, bisher noch nicht erkannte Beziehung des Bistums Eichstätt zu

6 Dazu Wolfgang METZ, Das karolingische Reichsgut (Berlin 1960) 108, ferner H O N B (Heinrich WEIGL, Historisches Ortsnamenbuch von Niederösterreich [Wien 1964-1975]) Β 227, Μ 163 und G 379, und Max VANCSA, Nachträgliches zum Grunzwitigau. Blätter des Vereins fiir Landeskunde von Nie-derösterreich Ν. F. 35 (1901) 91-93.

7 Ausführlich dazu Erwin KUPFER, Königsgut, Gratschaft und Herrschaftsbildung in den südösdi-chen Marken und Herzogtümern (Druck in Vorbereitung).

8 M G H D.A. 18. 9 Vgl. etwa LECHNER, Beiträge (wie Anm. 2) 112. 10 In diesem Sinne auch Herwig WOLFRAM, Grenzen und Räume (österreichische Geschichte 3 7 8 -

907, Wien 1995) 351. 11 Die große Entfernung zum Missionsland könnte hierfür ebenso entscheidend gewesen sein wie

die Verftigungspraxis König Arnulfs bzw. seiner Vorganger über die Abtei Herrieden - vgl. Margarete ADAMSKI, Herrieden. Kloster, Stift und Stadt im Mittelalter (Schriften des Instituts fiir fränkische Lan-desforschung an der Universität Erlangen, historische Reihe 5, Kallmünz 1954) bes. 15f. u. 34—40.

12 M G H D.LD. 102, D.K.III. 113 und D A 98 bzw. die folgenden Ausführungen. 13 So LECHNER, Babenberger (wie Anm. 2) 63, in Anschluss an KLEBEL, Eichstätt (wie Anm. 1)

333f. 14 M G H D A 184. 15 Dazu KUPFER, Königsgut (wie Anm. 3) 71-77. 16 Annales Mellicenses, hg. von Wilhelm WATTENBACH, in: M G H SS 9 (Hannover 1851) 480-501,

hier 497.

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3 6 4 Erwin Kupfer

Melk, allenfalls des Bischofs Megingaud" 1 7 . Ob Verwandtschaftsbeziehungen Megingauds zu den Babenbergern für diesen sakralen Akt ausschlaggebend waren, bleibt fraglich18. Bemerkt werden sollte indessen, dass der als jagdlustig charakterisierte Bischof Megingaud zu dieser Zeit offenbar schon Grundbesitzer im Ostland war, wird ihm doch der Erwerb eines Jagdgebietes bei Stöttera nahe der ungarischen Grenze (Stederach vocata prope Ungariam Sita) zugeschrie-ben1 9 . Ein hiesiger Aufenthalt des Bischofs im Jahre 1014 liegt also durchaus im Bereich des Möglichen. Nimmt man den Bericht der im 12. Jahrhundert entstandenen Passio Cholomanni wörtlich, so hätte Markgraf Heinrich I. sofort, also ohne längere Vorbereitungen, befohlen, den Körper des heiligen Mannes in seine (Burg-)Stadt (Melk) zu überführen, und zwar im Beisein einer ordo clencorum und der vornehmsten Vertreter seines markgräflichen Gefolgschaftsver-bands2 0 . Dass der Eichstätter Bischof 1014 zugleich „der Eigenkirchenherr von Melk gewesen sein muß" 2 1 , erscheint nach dem bisher Gesagten doch wenig wahrscheinlich und findet in den Quellen auch keine weitere Stütze. Mochte Megingaud als höchster geistlicher Würdenträger jenes ordo clencorum auch die Beisetzung {Colomanns vollzogen haben, so erfolgte dessen Über-führung nach Melk letztlich doch auf Betreiben des Markgrafen, dessen wichtigster Burgplatz die civitas Melk damals war.

Auffallend bleibt generell das Fehlen von direkten Nachrichten, die von einem Engage-ment Eichstätts im karolingischen Osdand zeugen. Offen bleibt daher auch die Frage, auf wel-chem Weg das Diplom in das Eichstätter Archiv gelangte, mit dem Ludwig der Deutsche dem Slawenfursten Priwina 100 Hufen am Fluss Valchau übertrug22. Die ältere Forschung nahm an, dass mit dem Diplom auch der einst an Priwina geschenkte Besitz an Eichstätt gekommen sei, doch ist ein solcher Schenkungsakt nir gends überliefert23. Der Weg des D . L D . 45 ins Eichstät-ter Archiv kann natürlich auch andere Gründe gehabt haben, wie ja die hochstiftischen Archive ganz allgemein fiir die Könige von Bedeutung waren. Gut denkbar, dass die Urkunde nach Pri-winas Tod (kurz vor dem 20. November 860) durch König Ludwig selbst nach Eichstätt ge-langte24. Zusammenkünfte des Königs mit Bischof Otgar von Eichstätt sind in den sechziger Jahren des 9. Jahrhunderts bezeugt25. Prinzipiell aber lässt der ansonsten negative Quellenbe-fund keine Eichstätter Aktivitäten im karolingischen Ostland vermuten.

Eichstätter Besitz in Österreich

Wie gezeigt, werden Eichstätter Beziehungen zum Ostland erstmals im Zusammenhang mit der Person Bischof Megingauds greifbar. Die Beisetzung des hl. Kolomann im Jahr 1014 und der Erwerb eines Jagdgutes bei Stöttera sind die frühesten Zeugnisse hierfür26. Vorenthal-

17 So Karl LECHNER, Die Anfänge des Stiftes Melk und des Sankt Koloman-Kultes. JbLKNÖ N. F. 29(1944/48) 47-81, hier 75.

18 Vgl. ebd. 19 Franz HEIDINGSFELDER, Die Regesten der Bischöfe von Eichstätt (Veröffentlichungen der Gesell-

schaft fiir fränkische Geschichte 6/1, Innsbruck 1915) Nr. 149, vgl. auch Nr. 156. 2 0 Passio s. Cholomanni, hg. von Georg WAITZ, in: MGH SS 4 (Hannover 1841) 674—677, hier

676f. 2 1 S o KLEBEL, Eichstätt (wie ANM. 1) 333 . 22 MGH D.LD. 45- Vgl. dazu Herwig WOLFRAM, Salzburg, Bayern, Österreich. Die Conversio Ba-

goariorum et Carantanorum und die Quellen ihrer Zeit (MIÖG Ergbd. 31, Wien 1995) 325-330. 2 3 So HEIDINGSFELDER, Regesten (wie Anm. 19) Nr. 61, und ihm folgend KEHR, Vorbemerkung zu

M G H D.LD. 45. 24 Zum Todeszeitpunkt Priwinas siehe Markus F. JEITLER, Das Privileg vom 20. November 860 an

die Salzburger Kirche und seine Auswirkungen (Diplomarbeit, Wien 1996) 31. 2 5 HEIDINGSFELDER, Regesten (wie A n m . 19) Nr. 57, 58, 59. 26 Vgl. oben.

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Eichstätt und Österreich - ein kurzes Intermezzo 365

ten bleiben uns freilich Motivation und Anlass, die diesen Bischof nach Österreich führten. G u t möglich, dass die Verwandtschaftsbeziehungen Megingauds zum deutschen Königshaus hierfür ausschlaggebend waren, nennt ihn der Herriedener A n o n y m u s doch einen propinquus, in parte consanguineus Heinrichs II., während er sich selbst als dessen senior cognatus und sociusgenere bezeichnet haben soll2 . Zudem mochte sich auch die zwischenzeitliche Befriedung als günstig erwiesen haben, die sich seit dem siegreichen Feldzug Heinrich des Zänkers gegen die Magyaren (991) und der allmählichen Anlehnung zwischen Ungarn u n d d e m Reich breit machte 2 8 . Alles in allem G r u n d genug für Megingaud, sich an der Herrschaftsbi ldung im Osten zu beteiligen, um seiner Kirche neue „Hoffnungsgebiete" zu erschließen. In der Tat könnte man Eichstätts Stellung in Österreich als die einer „Kolonialisationskirche" bezeichnen, zumal das Hochsti f t besitzmäßig nur im Ausbaugebiet östlich des Wienerwaldes bzw. Bisambergs fassbar wird, seine Aktivitäten also von Anfang an ganz auf dieses Gebiet konzentriert haben dürfte.

Den ersten Hinweis auf solchen Besitz entnehmen wir einer Urkunde Kaiser Konrads II. vom Juli 1033, deren Inhalt nur fragmentarisch überliefert ist 2 9 . Das Regest von 1735 berichtet von einer Schenkung an Bischof Heribert von Eichstätt, der zwanzig Königshufen zwischen dem Berg Chumberc und dem Fluß Liesing erhalten haben soll. D ie Identifizierung des Chum-berc mit dem hügeligen Gebiet des heutigen Lainzer Tiergartens dürf te mittlerweile als gesi-chert gelten, während die Gleichsetzung des flumen Lesnic mit der Reichen Liesing ohnedies nie in Frage s tand 3 0 . Hinfällig ist damit auch die gezwungene Lokalisierung dieses Schenkungsguts auf Perchtoldsdorf und Mödl ing 3 1 , ein Landstrich, in d e m die Babenberger bereits 1 0 0 2 das ge-samte Königsgut von Heinrich II. erhalten hatten 3 2 . Als nördliche Begrenzung der Schenkung von 1002 wird die Dürre Liesing, also der südliche obere Zu lau f zur Reichen Liesing, ge-nannt 3 3 . Weiter nördlich gab es aber noch Königsgut , vermutlich u m Kalksburg oder Rodaun , wo man das Eichstätter Schenkungsgut schon früher vermutete 3 * .

Ein weiterer Hinweis auf Eichstätter Besitz lässt sich einem D i p l o m Heinrichs III. v o m 15. Juli 1045 entnehmen, worin der Kaiser an Markgraf Siegfried in dessen Grafschaft u. a. 15 areae a m Flußbett der Donau neben der Besitzung des Bischofs Gebhard von Eichstätt übertrug und dahinter 3 0 Königshufen, die in Richtung auf die Ungarnstraße abzumessen waren ( . . . iuxta alveum fluminis Danubii in conterminis predio Gebehardi Eichstetensis episcopi quindecim areas in bngum prope Danubium extensas et retro has triginta regales mansos contra Ungaricam plateam mensuratos . . . ) 3 5 . Wann und wie Bischof Gebhard dieses Besitztum erworben hatte, ist nicht bekannt. Feststeht einzig, dass dieses Gut in der sog. Ungarnmark lag, einer kurzlebigen

2 / HEIDINGSFELDER, R e g e s t e n ( w i e A n m . 1 9 ) N r . 1 4 2 . 2 8 Annales sancti Rudberti Salisburgenses, hg. von Wilhelm WATTENBACH, in: M G H SS 9 (Hanno-

ver 1851) 758-810, hier 772. Vgl. Peter CSENDES, Österreich, Wien und das Reich. JbLKNÖ N . F. 62/1 (1996) 171-186, hier 173f.; Kurt REINDEL, Die politische Entwicklung, in: Handbuch der bayerischen Geschichte 1, hg. von Max SPINDLER (München 21981) 249-349, hier 310f„ und Egon BOSHOF, Das Reich und Ungarn in der Zeit der Salier. Ostbairische Grenzmarken 28 (1986) 178-194, hier 178f.

2 9 M G H D.Ko.II. 197. 3 0 Dazu KUPFER, Königsgut (wie Anm. 3) 106; Helmuth FEIGL, Bedeutung und Umfang der Kö-

nigsschenkungen von 1002 und 1035 an die Babenberger, in: Festschrift fiir Fritz POSCH (Veröffentli-chungen des steirischen Landesarchivs 12, Graz 1981) 51-63, hier 51-54 u. 56-59, und Wolfgang HIL-GER, Mödling und Melk. Zur Geschichte der Pfarre Mödling in der Babenbergerzeit. JbLKNÖ N. F. 42 (1976) 129-151, hier 134, ferner Heinrich KOLLER, Der „mons Comagenus". MIÖG7\ (1963) 2 3 7 -245, hier 237ff.

3 1 LECHNER, B e i t r ä g e ( w i e A n m . 2 ) 1 1 2 f . 3 2 Dazu KUPFER, Königsgut, Grafschaft und Herrschaftsbildung (wie Anm. 7). 3 3 M G H D.H.II. 22. 34 KLEBEL, Eichstätt (wie Anm. 1) 336f.; Erwin KUPFER, Frühe Königsschenkungen im babenber-

gischen Osten und ihre siedlungsgeschichtliche Bedeutung. UH66 (1995) 68-81 , hier 75f. 3 5 M G H D.H.III. 141.

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Grenzgrafschaft des Markgrafen Siegfried, deren Boden erst u m 1043 an das Reich zurückkam, nachdem die Salier diesen 1031 infolge einer desaströsen Militärintervention an die Ungarn verloren hatten 3 6 . Räumlich gesehen fallt die Ungarnmark ziemlich genau mit dem Zehent-sprengel des späteren Marienstifts zu Deutsch Altenburg zusammen, der nördlich der D o n a u durch die March sowie eine gedachte Linie von Strachotin (Tschechien, nördl. Nikolsburg) bis zur Fischamündung begrenzt war 3 7 . Die Angaben des betreffenden Heinricianums hinzuge-nommen, muss der Eichstätter Besitz im heutigen Marchfeld, etwa innerhalb des Vierecks March - D o n a u - Orth/Schönau - Straßhof/Gänserndorf (wo die eben erwähnte Ungarn-straße verlief) 3 8 gelegen haben. Eine nähere Festlegung erscheint nur schwer möglich, wenn-gleich verschiedene Versuche hierzu unternommen wurden. Bednar etwa suchte dieses Gut im Bereich der Regensburger Herrschaft Orth an der D o n a u , wobei er seine diesbezüglichen Uber-legungen auf eine angebliche Verschreibung gründete, derzufolge Gebhard von Regensburg statt Gebhard von Eichstätt zu lesen sei3 9 . Keine Frage, dass diese fragwürdige Emendat ion und die daraus resultierenden Schlussfolgerungen bald ihre Zweifel erweckten 4 0 . Gegen diese Ver-schreibung spricht übrigens auch die offensichtliche E inbindung Bischof Gebhards von Eich-stätt in das „Territorialkonzept" Heinrichs III. im O s d a n d . Sein diesbezügliches Engagement verrät nicht nur dessen Besitz im Marchfeld, sondern auch die Teilnahme a m Hof tag Hein-richs III. a m 16. Juli 1050 zu Nürnberg , wo die Wiederherstellung des Castrum Ha inburg be-schlossen wurde 4 1 . Aber auch für die propagierte Gleichsetzung mit Weikendorf gibt es keine quellenmäßige Fundierung 4 2 . Vielmehr weist die frühe Überlieferung der späteren Melker Pfarre Weikendorf nicht auf Eichstätt, sondern au f die Babenberger 4 3 .

Eine weitere Nachricht, die es noch zu besprechen gilt, ist die 1055 erfolgte Übertragung der Pottenburg an Eichstätt. Eine ebenfalls nur als Regest erhaltene Aufzeichnung berichtet in ihrer ausfuhrlichsten Form vom Jahre 1735, dass Kaiser Heinrich III. d e m Hochsti f t den locus Pottenburg mit allem Zubehör zu freiem Eigen überlassen hätte 4 4 . Diese Urkunde steht im Zu-sammenhang mit einer Reihe weiterer Dip lome, die Maßnahmen gegen die führenden Mitglie-der der antikaiserlichen Opposi t ion beinhalten, die seit 1052 zu einer best immenden Kraft im Reich geworden war 4 5 . Z u den Agitatoren dieser Bewegung zählte auch der Aribone Poto, des-sen parteiliche Hal tung mit Acht und Besitzentzug gestraft wurde. Aus seinem Besitz erhielt Eichstätt die bayrischen Güter zu Schelldorf und Gerol f ing 4 6 , das Erzstift Salzburg dagegen Po-tos Güter u m St. Veit im Innkreis und ein G u t in Straßgang bei Graz mitsamt der Hälf te der dortigen Martinskirche 4 7 . D a alle diese Schenkungen zwischen den 6. und 22 . März 1055 fal-len und durchwegs potonische Güter zum Inhalt haben, dürfte kein Zweifel darüber bestehen, dass auch die a m 27. März 1055 übertragene Pottenburg aus Potos Besitz s tammte, was an sich

3 6 Herwig WOLFRAM, Konrad II. 990-1039. Kaiser dreier Reiche (München 2000) 251f. 3 7 Dazu M G H D.H.III. 277 und KUPFER, Königsgut, Grafschaft und Herrschaftsbildung (wie

Anm. 7). 3 8 Peter CSENDES, Die Straßen Niederösterreichs im Früh- und Hochmittelalter (Dissertationen der

Universität Wien 33, Wien 1969) l48f. 3 9 Karl BEDNAR, Zur ältesten Besitzgeschichte des Neumarkgebietes. JbLKNÖ N . F. 21 (1928) 4 9 -

76, hier 63. 4 0 LECHNER, Beiträge (wie Anm. 2) 120f.; KLEBEL, Eichstatt (wie Anm. 1) 337f. 4 1 HEIDINGSFELDER, R e g e s t e n ( w i e A n m . 1 9 ) N r . 1 8 9 . 4 2 Anders KLEBEL, Eichstätt 338, und ihm folgend LECHNER, Beiträge 120-124. 4 3 Vgl. dazu BUB 1 Nr. 1, BUB 4/1 Nr. 613, 616, 629, FRA 2/83 Nr. 162. 4 4 M G H D.H.III. 336. 4 5 Ernst STEINDORFF, Jahrbücher des deutschen Reichs unter Heinrich III., Bd. 2 (Leipzig 1881)

218f.,228fF. 4 6 M G H D.H.III. 333. 4 7 M G H D.H.III. 332, 335.

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Eichstätt und Österreich - ein kurzes Intermezzo 3 6 7

schon der N a m e nahelegt 4 8 . Probleme ergeben sich jedoch bei der Lokalisierung dieses Besitz-tums. Die Pottenburg bei Wolfstal (südöstlich Hainburg) kommt entgegen der gängigen An-sicht kaum in Betracht4 9 . Dagegen spricht schon der alleinige Umstand, dass die Aribonen nir-gendwo als Grundbesitzer im babenbergischen Österreich bekannt s ind 5 0 . Ferner erscheint es auch unwahrscheinlich, dass der Begriff locus als Entsprechung für „Burg" Verwendung gefun-den hätte, zumal Castrum oder urbs hierfür eher zu erwarten s ind 5 1 . Allem Anschein nach dürfte unter d e m locus Pottenburg eine dörfliche Absiedlung gemeint sein, was auf die Wolfstaler Pot-tenburg, eine „typische Adelsburg" 5 2 , aber nicht zutrifft5 3 . Darüber hinaus weisen auch die be-sitzgeschichtlichen Indizien in eine andere Richtung und legen Zusammenhänge mit den sog. Potonen nahe, die man ihrerseits als „Grenzraumsippe" im östlichen Niederösterreich charak-terisiert hat 5 4 . Trauriges Fazit: Die Lokalisierung des locus Pottenburg von 1056 muss offen bleiben, der Hainburger Grenzraum k o m m t aber hierfür kaum in Frage.

Eichstätts Engagement im Ost land währte nur wenige Jahrzehnte. Doch war es nicht die große Entfernung, wie man meinen könnte, die das Hochstift schließlich zur Resignation ver-anlasste. Vielmehr waren es konkrete politische Gründe , massiver Druck, wie er von den An-hängern der gregorianischen Partei in den frühen achtziger Jahren des 11. Jahrhunderts aus-ging 5 5 . Gemeinsam mit seinem Schwiegersohn Markgraf Otakar II. von Steier und König La-dislaus von Ungarn hatte sich Herzog Leopold II. von Österreich seit 1081 /82 zu einer mäch-tigen propäpsdichen Allianz im Südosten formiert, deren Übergewicht so erdrückend war, dass die kaisertreuen Anhänger Heinrichs IV. offenbar kampflos das Feld räumten. Z u den promi-nenten „Opfern" dieses Exitus gehörten die Rapotonen-Diepoldinger, Pfalzgraf Kuno Rott, Gra f Walter von Wil f l ing-Kl ing , Gottfr ied von Wetterfeld oder Sigiboto von Parnham, wäh-rend von den geisdichen Institutionen neben Eichstätt noch Freising und Bamberg zu nennen wären. Schon Klebel hatte der Vermutung Ausdruck verliehen, dass „der Verlust der Eichstätter Besitzungen fur das Hochstifr mit d e m Investiturstreit zusammenzuhängen scheint", doch meinte er, dass es „in Bayern kein Beispiel aus d e m Investiturstreit von ähnlicher Gewaltsam-keit" gäbe 5 6 . Gerade diese Ansicht s t immt nach neueren Erkenntnissen nicht mehr 5 7 . Vielmehr wurde bekannt, dass sogar der königliche Grundbesitz in Österreich und Steiermark nach

4 8 So auch Heinz DOPSCH, Die Aribonen (Staatsprüfungsarbeit am Institut fiir österreichische Ge-schichtsforschung, Wien 1968) 113.

4 9 Die ältere Meinung bei HEIDINGSFELDER, Regesten (wie Anm. 19) Nr. 203; KEHR, Vorbemer-kung zu M G H D.H.III. 336; KLEBEL, Eichstätt (wie Anm. 1) 338; LECHNER, Beiträge (wie Anm. 2) 123f.; DERS. Babenberger (wie Anm. 2) 78; H O N B (wie Anm. 6) Β 393, zuletzt in ANB 1 (Altdeutsches Namenbuch, bearb. von Isolde HAUSNER-Elisabeth SCHUSTER [Wien 1999]) 136.

5 0 Nach DOPSCH, Aribonen (wie Anm. 48) 113, wäre die Pottenburg bei Hainburg der einzige dies-bezügliche Hinweis hierfür.

* ' KUPFER, Königsgut (wie Anm. 3) 141, vgl. auch DERS., Stadt und Adel im babenbergischen Ös-terreich, in: Die Städte und Märkte Niederösterreichs im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. (Studien und Forschungen aus dem Niederösterreichischen Institut für Landeskunde 36, St. Pölten 2005) 11-23, hier 11-14.

5 2 So LECHNER, Babenberger (wie Anm. 2) 228. 5 3 Dementsprechend findet sich anstelle der heute abgekommenen Pottenburg der Flurname „ödes

Schloß" - H O N B (wie Anm. 6) Β 393. 54 WELTIN, Ascherichsbrugge (wie Anm. 3) 13 mit Anm. 72, dort auch weitere Literatur. 5 5 Ausfuhrlich dazu KUPFER, Königsgut, Grafschaft und Herrschaftsbildung (wie Anm. 7). 56 KLEBEL, Eichstätt (wie Anm. 1) 339. 5 7 Vgl. etwa Maximilian WELTIN, Landesfiirst und Adel - Österreichs Werden, in: Heinz DOPSCH-

Karl BRUNNER-Maximilian WELTIN, Die Länder und das Reich (Österreichische Geschichte 1122— 1278, Wien 1999) 222 u. 232f.

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368 Erwin Kupfer

1081/82 praktisch gänzlich in die Hand der Gregorianer fiel58. Klebel war also durchaus auf dem richtigen Weg, als er die kaisertreue Haltung Bischof Ulrichs I. als nachteilig fur die Stel-lung seiner Kirche im Ostland einstufte59. Als Günstling Heinrichs IV. zur Bischofswürde ge-langt60, blieb Ulrich bis zuletzt ein treuer Anhänger des Königs6 1 , dem er als fideliset carus nos-« rga l t 6 2 . Seine antipäpstliche Haltung gegenüber Gregor VII. ergibt sich aus der Teilnahme an der Synode zu Worms am 24. Jänner 1076, wo er die Absetzung des Papstes unterschrieb63, weiters durch die Anwesenheit bei der Synode zu Mainz 1085, als er seine antipäpstliche Hal-tung bekräftigte und den Gegenpapst Clemens II. anerkannte64. In Österreich büßte er diese Haltung mit dem vollständigen Entzug des Kirchenguts.

Nähere Kontakte der Eichstätter Kirche zu Österreich eröffneten sich erst wieder Bischof Eberhard, der sich am Ungarnzug Heinrichs V. beteiligt hatte und am 6. September 1108 in Tulln als Zeuge in einem Königsdiplom für das Kloster Göttweig zu finden ist65. Weitere Be-gegnungen Eberhards mit dem österreichischen Markgrafen Leopold III. sind in dieser Zeit mehrfach belegt66. Man kann vermuten, dass Eberhard bei dieser Gelegenheit - wie andere 1081/82 vertriebene Herrschaftsträger auch - alte Besitzrechte im Ostland wieder geltend zu machen suchte67. Sollte dies tatsächlich der Fall gewesen sein, so war diesem Versuch kein nach-haltiger Erfolg beschieden. Die Praxis lehrte, dass die rund 25-jährige Absenz und die damit einhergehenden Veränderungen in Besitz- und Personalstruktur keine derartigen Innovationen mehr zuließen68. De facto lief alles auf die Anerkennung eines gegebenen Zustands hinaus, was in der Folgezeit in einer Reihe von (formalen) Schenkungen seitens der Vertriebenen an Klöster oder ehemalige Gefolgsleute Ausdruck fand6 9 . So gesehen signalisiert die Konfirmation Bischof Gebhards II. von Eichstätt in einer Schenkung Markgraf Heinrichs II. von Österreich an das Kloster Plankstetten am 8. Juni 1142 gewissermaßen das Einverständnis der irreversiblen Ent-wicklung im Ostland7 0 . Die Schenkung geschah just zu dem Zeitpunkt - und vielleicht auch am selben Ort, nämlich in Nürnberg, als der 1081/82 aus Österreich vertriebene Markgraf Diepold III. zugunsten seines Lehnsmannes Hugo (von Liechtenstein) auf den Ort Petronell verzichtete und damit letzte Gefolgschaftsbindungen löste71.

Zusammenfas sung

Soweit ersichtlich, gelangte Eichstätt nicht als Besitznachfolger seines Eigenklosters Herrie-den nach Österreich. Eher schon dürfte der Weg nach Österreich aus eigenständigen Interessen zu Beginn des 11. Jahrhunderts erfolgt sein, wofür die Beziehungen Bischof Megingauds zum deutschen Königshaus ursächlich gewesen sein könnten. Gegen eine karolingerzeitliche Präsenz Eichstätts in Österreich spricht außer dem negativen Quellenbefund auch die topographische

5 8 KUPFER, Königsgut (wie Anm. 3) 169-172; DERS., Königsgut, Grafschaft und Herrschaftsbil-dung (wie Anm. 7).

5 9 KLEBEL, Eichstätt (wie Anm. 1) 339. 6 0 HEIDINGSFELDER, Regesten (wie Anm. 19) Nr. 253. 61 Ebd. Nr. 267 . 62 Ebd. Nr. 259 . 6 3 Ebd. Nr. 254, 255. 6 4 Ebd. Nr. 260 . 6 5 FRA 2/51 Nr. 18. 6 6 Ebd. sowie HEIDINGSFELDER, Regesten (wie Anm. 19) Nr. 287, 291. 6 7 Zu diesen Vorgängen WELTIN, Ascherichsbrugge (wie Anm. 3) 22-25 . 6 8 Dazu KUPFER, Königsgut, Grafschaft und Herrschaftsbildung (wie Anm. 7). 6 9 Wie Anm. 67. 7 0 HEIDINGSFELDER, Regesten (wie Anm. 19) Nr. 360. 71 M G H D.Ko.III. 79. Dazu WELTIN, Landesfurst (wie Anm. 57) 230.

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Eichstätt und Österreich - ein kurzes Intermezzo 369

Verteilung der hiesigen Besitzungen, die durchwegs im östlichen Grenzgebiet, nicht aber im Altsiedeiland westlich des Wienerwaldes nachzuweisen sind. Direkt bezeugt sind Güter an der Liesing (etwa um Kalksburg bzw. Rodaun), im südöstlichen Marchfeld und im burgenländi-schen Stöttera. Als unzureichend erwiesen sich jene Indizien, die Eichstätter Beziehungen zur Hainburger Pottenburg oder Melk vermuten ließen, und ebenso der von der älteren Forschung postulierte Zusammenhang zwischen Eichstätter und Melker Gut. Eine Besitzabfolge Eichstätt - Melk konnte nicht verifiziert werden. Eichstätts Engagement im Ostland dürfte kaum 100 Jahre gedauert haben. Die Auswirkungen des Investiturstreits, nicht zuletzt geprägt durch die unversöhnliche Haltung des kaisertreuen Bischofs Ulrich I. und des gregorianischen Markgra-fen Leopold II., brachte Eichstätt ab 1081/82 um seinen gesamten österreichischen Besitz. Die-ses Faktum war auch späterhin irreversibel, mochte Bischof Eberhard vielleicht auch kurzzeitig mit einer Revindikation seines Kirchenguts spekuliert haben, als er im Gefolge Heinrichs V. 1108 in die Mark kam. Von etwaigen Erfolgen berichten die Quellen allerdings nichts. Eich-stätts Auftritt in Österreich war ein kurzes Intermezzo geblieben.

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Vergessen und verstellt

Die älteste Handschrift des Haus-, Hof- und Staatsarchivs in Wien (R 139)

Von Martin Haitrich und Marianne Pollheimer

Im Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv (HHStA) befindet sich eine bisher nur wenig be-achtete Handschrift Salzburger Provenienz1, die unter dem Namen des Hieronymus zwölf Ho-milien zum Hohelied überliefert und im Handschriftenkatalog von Böhm2 fälschlich dem 11. Jahrhundert zugeordnet wurde. Tatsächlich stammt der Codex aus dem ersten Viertel des 9. Jahrhunderts, ist paläographisch der Arn-Gruppe in Saint-Amand zuzuweisen und kann als älteste Handschrift des HHStA zeitlich und räumlich neben die ebenfalls aus Salzburg stam-menden ältesten Urkunden3 des Archivs gestellt werden4.

Der Codex mit der Signatur HHStA, Hs. R 139 (olim Böhm 1095) ist als Nr. 109 erstmals im 1433 bis 1435 von Johannes Holveld erstellten Katalog der Salzburger Dombibliothek5 un-ter dem Titel Ieronimus super cantica canticorum omelie xii nachzuweisen6. Zu dieser Zeit wurde die Handschrift neu gebunden und zusätzlich ein Blatt eines ebenfalls aus dem 9. Jahrhundert stammenden Salzburger Sakramentars auf den Spiegel des Hinterdeckels geklebt.

Infolge des Preßburger Friedens von Dezember 1805 wurde Salzburg dem neuen Kaiser-tum Österreich zugesprochen und die Übersiedelung der verschiedenen Salzburger Archive und Bibliotheken nach Wien vereinbart. Das Staatsarchiv - später (Geheimes) Haus-, Hof-und Staatsarchiv - war für die Organisation der Transporte, die Übernahme der Archivalien und deren inhaltliche Aufteilung auf die entsprechenden kaiserlichen Institutionen in Wien zu-ständig. Insgesamt wurden von den ca. 390 Handschriften der Domkapitelbibliothek 350 bis

' Herzlichen Dank an Franz Lackner (ÖAW) fiir die Unterstützung bei der „Auffindung" und Iden-tifizierung der Handschrift. - Abkürzung: MBKÖ = Mittelalterliche Bibliothekskataloge Österreichs (s. Anm. 5).

2 Constantin Edler von BÖHM, Die Handschriften des k. u. k. Haus-, Hof- und Staatsarchivs 1 (Wien 1873) Nr. 1095.

' Eine Übersicht über die ältesten Urkunden des HHStA findet sich auf den Seiten des Österrei-chischen Staatsarchivs (www.oesta.gv.at) oder direkt unter http://www.archivinformationssystem.at/ar-chivplan.aspx (Haus-, Hof- und Staatsarchiv - Urkundereihen).

4 Dem Referenten der Handschriftenabteilung im HHStA, Thomas Just, sei fiir die hervorragende Zusammenarbeit und so manches weiter fuhrende Fachgespräch sehr herzlich gedankt.

5 Vgl . Salzburg, bearb. von Ger l inde MÖSER-MERSKY-Melanie MIHAUUK ( M B K Ö 4, G r a z - W i e n -

Köln 1966) 25-55; Otto MAZAL, Die Salzburger Dom- und Klosterbibliothek in karolingischer Zeit. Codices mamtscripti 3/2 ( 1 9 7 7 ) 4 4 - 6 4 ; Karl FORSTNER, Die karolingischen Handschriften und Frag-mente in den Salzburger Bibliotheken (Ende des 8. Jh. bis Ende des 9. Jh.) (MGSL Ergbd. 3, Salzburg 1 9 6 2 ) .

6 MBKÖ 4 34 mit Anm. 77a.

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Vergessen und verstellt 371

360 nach Wien gebracht, darunter auch R 1397. Der bis dahin in Salzburg tätige Archivar Josef Knechtl8 begleitete den zweiten Bücher- und Archivalientransport, mit dem der Codex am 23. Oktober 1806 im Staatsarchiv eintraf9 . Er ist im Salzburger Übergabeverzeichnis in der Abteilung Specificatio codicum manusariptorum membranaceorum (bzw. librorum) in Archivo Ca-pituli Metropolici Salisburgensis hucusque asservatorum10 als Nr. 244 ausgewiesen. Am 13. De-zember des gleichen Jahres wurden die literarischen und theologischen Handschriften aus Salz-burg an die Wiener Hofbibliothek übergeben", allerdings ohne Codex R 1391 2 . Schon im Jahr 1858 befand sich der Archivar Franz Ritter von Erb bei Anfragen über den Verbleib der Hand-schriften der ehemaligen fiirsterzbischöflichen Bibliothek zu Salzburg „in Ermangelung gehöri-ger Nachweisungsbehelfe ganz im Unklaren"1 3 . Ottokar Lorenz schließlich stellte die Salzbur-ger Handschrift Anfang der 1860er Jahre zu den geistlichen Manuskripten belgischer Prove-

14

nienz . Ein weiteres Missverständnis schuf Constantin Edler von Böhm, der diese Handschrift in

seinem 1873 gedruckten Katalog der Handschriften des k. u. k. Haus-, Hof- und Staatsarchive in das 11. Jahrhundert datierte und als Nr. 1095 wie folgt beschrieb:

Sancti Hieronymi presbiteri Uber canticum canricorum. PergXI. 84 Bl. 8°. Von BL 27ist ein Stück weggerissen. Diese Datierung wurde wiederum sowohl für das 1938 erschienene Gesamtinventar des

H H S t A 1 5 als auch fiir die Mittelalterlichen Bibliothekskataloge Österreichs ( M B K Ö ) über-nommen 1 6 . In der von Vregille und Neyrand 1986 veröffendichten Edition des Hohelied-Kommentars von Apponius, die den in R 139 überlieferten Text als Expositio brevis I wieder-gibt1 7 , ist die Handschrift summarisch beschrieben und unter Berufung auf Bernhard Bischoff in das erste oder zweite Jahrzehnt des 9. Jahrhunderts datiert18. Die Editoren zitieren zwei Briefe Bischoßs vom November 1983, in denen er den Codex nachträglich der Handschriften-

7 Paul KLETLER, Die Urkundenabteilung, in: Gesamtinventar des Wiener Haus-, Hof- und Staats-archivs 3, hg. von Ludwig BITTNER (Inventare österreichischer staadicher Archive V. Inventare des Wie-ner Haus-, Hof- und Staatsarchivs 6, Wien 1938) 1-134, hier 89f.; Fritz ANTONIUS, Die Handschriften-abteilung, in: ebd. 135-291, hier 21 lf.; Friedrich PIRCKMAYER, Salzburgs Kunstschätze und Alterthü-mer. MGSL 12 (1872) 352-386, hier 354-356; Andreas MUDRICH, Das Salzburger Archivwesen. Mit-teilungen des k. k Archivrates 2 (1916) 1-32; MBKÖ 4 16; Ingonda HANNESSCHLÄGER, Die „geraubten" Salzburger Kunstschätze, in: Die Säkularisation Salzburgs 1803. Voraussetzungen, Ereignisse, Folgen. Protokoll der Salzburger Tagung von 19.-21. Juni 2003, hg. von Gerhard AMMERER-Alfred WEISS (Ws-senschafc und Religion 11, Frankfurt/Main u. a. 2005) 242-281, hier 251, 267.

8 Franz HUTER, Biographien der Archivbeamten seit 1749, in: Gesamtinventar des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs 1, hg. von Ludwig BITTNER (Inventare österreichischer staadicher Archive V. In-ventare des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs 4, Wien 1936) 1-166, hier 70-73.

9 ANTONIUS, Handschriftenabteilung (wie Anm. 7) 21 l f . 10 Ebd. 11 Friedrich SIMADER, Die Handschriften der Vorsignaturengruppe „Salisburgenses" und ihre Her-

kunft, auf den Internet-Seiten der österreichischen Nationalbibliothek unter der URL http:// www2.onb.ac.at/sammlungen/hschrift/bibIiographie/salisburgenses.him (letzter Zugriff 9. 2. 2008).

12 Laut ANTONIUS, Handschriftenabteilung (wie Anm. 7) 21 lf., stimmen die verschiedenen Ab-, Über- und Ausgabeverzeichnisse in manchen Fällen nicht überein; auch ein Pergament-Rotulus (Sum-maria decretalium) aus dem 13. Jahrhunden (R 297) ist bei dieser Gelegenheit ins Archiv gekommen.

13 Zit. nach ANTONIUS, Handschriftenabteilung 210. 14 Ebd. 199-202, 212. 15 Ebd. 212. 16 MBKÖ 4 16. 17 Apponii in Canticvm canticorvm expositio, hg. von Bernard DE VREGILLE-LOUIS NEYRAND

(CCSL 19, Turnhout 1986) 315-390; die Ausgabe wird im Folgenden als Apponius, Expositio zitiert. 18 Apponius, Expositio XIXf.

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3 7 2 Martin HaJtrich und Marianne Pollheimer

gruppe um die Nr. 90 (S. 126) im zweiten Band seiner Südostdeutschen Schreibschulen zuord-nete, nachdem ihm die Handschrift R 139 bis dahin nicht bekannt gewesen war19.

Der Codex besteht aus 86 ca. 225/235 mm hohen und 145/150 mm breiten Blättern aus grobem, gelblichen Schafspergament von nicht besonders hoher Qualität und setzt sich aus elf Lagen zusammen, deren Doppelblätter jeweils mit ihren Fleisch- und Haarseiten (FHHF) auf-einander gelegt sind. Die Lagenformel ergibt l1 + 4.IV3 2 + V4 2 + 5.IV8 2 + 2 8 4 + l 8 5 . Die ehe-maligen Spiegelblätter wurden bei der letzten Restaurierung von den Buchdeckeln abgelöst -ihr Abklatsch ist auf den bloßliegenden Deckeln sichtbar - und als Blatt I und 85 an einem neuen Pergamentstreifen eingebunden. Im Gegensatz zu den neun Quaternionen und dem ei-nen Quinio, deren Blindlinierung jeweils vor dem Zusammenfalten der Lagen vom innersten zum äußersten Doppelblatt gedrückt wurde (die Einstiche sind nur am innersten Blatt sichtbar, die Druckstärke nimmt von innen nach außen ab), korrelieren die Blindlinien der Blätter 83 und 84 nicht miteinander; daraus folgt, dass es sich immer schon um Einzelblätter gehandelt haben muss.

Die Bleistiftfoliierung /, 1-85 stammt aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Am Ende jeder Lage befinden sich die Kustoden l-X, der lerne auf Blatt 82v. Der Buchblock ist in gutem Zustand, lediglich von Blatt 27 ist die untere Ecke herausgerissen, wenige Worte fehlen.

Der gebräunte, ehemals weiße Schweinsledereinband über Eichenholzdeckeln misst ca. 245 x 150 mm und wurde in den 1430er Jahren angefertigt20. Hinter- und Vorderdeckel sind auf gleiche Weise durch je drei, von einfach gestrichenen Linien begrenzten, diagonale Doppel-linien (Abstand ca. 10 mm) in Rautenfelder geteilt. Das Kapital ist mit Spagat umstochen, der ursprünglich deckende Lederüberzug wurde weggeschnitten. Die drei Doppelbünde am Rü-cken des Einbandes sind gut sichtbar, der Verschluss der Metallschließe am Lederband ist un-vollständig erhalten.

Der Salzburger Dompropst und spätere Erzbischof Johannes von Reisberg ließ im 15. Jahr-hundert die Bibliotheksräumlichkeiten renovieren und gab dem Magister Johannes Holveld den Auftrag, die Bücher der Dombibliothek neu zu ordnen, zu katalogisieren und mit neuen verzierten Einbänden zu versehen (recollegerunt, refbrmaverunt, ordinaverunt, intitulaverunt et registraverunt Volumina liberane)2]. Diese Tätigkeiten wurden in den Jahren 1433 bis 1435 durchgeführt. Jede Handschrift erhielt ein Titelschild aus Pergament auf dem Vorderdeckel, das oft mit einer durch Eisenleisten befestigten Hornabdeckung geschützt wurde, sowie ein kleines Schildchen mit einer rot geschriebenen Zahl, die dem Eintrag im Katalog entsprach.

Die obere Leiste der Eiseneinfassung, die als Halterung fur die mittlerweile verlorene Hornabdeckung diente, ist bei R 139 entfernt; vermutlich war das Titelschild unter dem trüb gewordenen Horn nicht mehr zu lesen. Der zweizeilige Titel Ieronimus super Cantica cantico-rum omelie xii ist in Textualis mit roter Linierung auf das Pergamentschild (87 X 35 mm) ge-schrieben und stimmt mit dem Eintrag Nr. 109 im Holveldschen Bibliothekskatalog überein22. Uber dem Schild ist noch der Abdruck jenes typischen Pergamentschildchens mit der roten Ka-talognummer zu sehen, welches in den M B K Ö beschrieben ist und somit erst nach 1966 ab-handen gekommen sein kann23. Links oben auf dem Vorderdeckel sind die beiden Signatur-schilder des HHStA angebracht: auf einem weißen Schild die von Böhm vergebene Nummer 1095 und auf einem roten Schild die aktuelle Signatur 139. In diesem Zusammenhang ist auch

19 Zitiert nach ebd. XVlI l f . Anm. 61 und 65 : „Ce manuscrit, nous indique le Prof. B. Bischoff, au-rait du etre recensif dans Südostdeutschen Schreibschulen und Bibliotheken, II, oü il prendrait place vers la p. 126 et le n° 9 0 . "

2 0 M B K Ö 4 I4f . 21 Ebd. 25 . 2 2 Ebd. 34 . 2 3 V g l . SIMADER, „ S a l i s b u r g e n s e s " ( w i e A n m . 1 1 ) .

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Vergessen und verstellt 3 7 3

der Eintrag I In no (oder ro, die beiden Buchstaben sind beinahe ausradiert) D auf Blatt 1r a m oberen Freirand zu erwähnen. Es wäre möglich, dass es sich dabei um eine alte (Standort-)Sig-natur handelt. Vergleiche mit einigen Alt-Salzburger Handschriften in der Nationalbibliothek brachten bisher jedoch keine Ergebnisse.

Während die Kettenbefestigungen der Alt-Salzburger Handschriften in der Hofbibliothek im 19. Jahrhunden entfernt wurden, ist an der Oberkante des Hinterdeckels der Eisenhaken ei-ner Catena-Befestigung erhalten. Es finden sich Abdrücke des identischen Musters auf weite-ren, sowohl karolingischen, als auch spätmittelalterlichen Einbänden der ehemaligen Salzbur-ger Domkapitelbibliothek2 4 .

Im Zuge einer Restaurierung im 20. Jahrhundert wurde der Einband von R 139 am Rü-cken ergänzt, etwas zu stark geglättet sowie die Heftung erneuert. Dabei wurde wahrscheinlich das für die Salzburger Domkapitelbibliothek typische Rückenschild aus dem 16./17. Jahrhun-dert entfernt2 5 . Die Spiegelblätter wurden, wie oben beschrieben, abgelöst und als Vor- und Nachsatzblatt in die Handschrift eingebunden. An den nun bloßliegenden Innenseiten der Buchdeckel ist erkennbar, dass offensichtlich die Holzdeckel des karolingischen Einbände* wie-der verwendet wurden2 6 . Am äußeren Rand sind die Bohrungen sichtbar, die ursprünglich an der dem Buchblock zugewandten Seite lagen und zur Fixierung der Hanfschnüre dienten. Im Zuge der Neubindung im 15. Jahrhundert wurden die alten karolingischen Eichenholzdeckel um 180° gedreht und mit neuen Bohrungen zur Fixierung der Bindefaden versehen. In diesen neuen Löchern wurden schließlich nach späteren Gepflogenheiten die Heftfaden mit Pflöcken fixiert. In den alten Löchern sind immer noch die mittlerweile funktionslosen Hanfschnüre zu sehen.

Das vordere Spiegelblatt (Γ) ist ein Pergament-Rest aus dem 15. Jahrhundert, auf dessen oberen Rand sich einige in einer Bastarda geschriebene Zeilen finden:

Sermo Augustini de Symboto contra ludeos (Ps. Augustinus) et ego Chunratus etc. Nolite iudicare ut non iudicemini (Mt 7,1). In qua mensura mensi fuentis in eodem remetietur et vobis (Mt 7,2). Auf der Rückseite sind die Majuskeln RIPIERUICI ß gekritzelt. Als Hinterdeckel-Spiegel wurde ein Blatt aus einem Salzburger Sakramentar des 9. Jahr-

hunderts verwendet, das Klaus Gamber bekannt gemacht hat2 7 . Es handelt sich dabei um ein weiteres Blatt einer Handschrift, von der Gamber gemeinsam mit Alban Dold bereits 19 Blät-ter auffinden konnte. Von diesen konnten 15 Blätter aus ehemals Salzburger Handschriften in Ö N B Cod. Ser. nov. 4225 der Österreichischen Nationalbibliothek wieder vereinigt wer-den 2 8 .

2 4 Ζ. B. in UB Salzburg, Cod. Μ III 18 (Abb. unter http://www.ubs.sbg.ac.at/sosa/handschriften/ MIII18.htm, letzter Zugriff am 9. 2. 2008), oder auch in den Handschriften der ÖNB, Cod. 994, Cod. 997 und Cod. 940 (karolingische Einbände) und ÖNB, Cod. 939 und Cod. 964 (Einbände des 15. Jh.); vgl. Franz UNTERKIRCHER, Die karolingischen Salzburger Einbände in der österreichischen Na-tionalbibliothek in Wien. Libri 5 (1954/55) 41-54.

2 5 UNTERKIRCHER, Einbände 42; Abb. bei SIMADER, „Salisburgenses" (wie Anm. 11). 2 6 Vgl. Karl CHRIST, Karolingische Bibliothekseinbände, in: Festschrift Georg LEYH. Aufsätze zum

Bibliothekswesen und zur Forschungsgeschichte dargebracht zum 60. Geburtstage am 6. Juni 1937 von Freunden und Fachgenossen (Leipzig 1937) 82-104, hier 86f.

2 7 Klaus GAMBER. Codices liturgici latini antiquiores. Supplementum (Spicilegii Friburgensis Sub-sidia la, Freiburg/Schweiz 1988) 99 Nr. 883; auf die Trägerhandschrift R 139 geht Gamber nicht näher ein.

2 8 Das Sakramentar von Salzburg seinem Typus nach auf Grund der erhaltenen Fragmente rekon-struiert in seinem Verhältnis zum Paduanum untersucht, hg. von Alban Dou>-Klaus GAMBER (Texte und Arbeiten 1, Beih. 4, Beuren 1960).

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3 7 4 Martin Haltrich und Marianne Pollheimer

Die Ausstattung der in Saint-Amand geschriebenen Handschriften der Arn-Gruppe spielt eine eher untergeordnete Rolle29. Auch R 139 ist nur mit einfachen, tintenfarbenen Initialen ausgeschmückt. Die Binnenfelder der sieben dreizeiligen und vier zweizeiligen Zierinitialen zu Beginn der einzelnen Homilien sind - abgesehen von Kauf Blatt 34r - gelb (ocker) und grün gefüllt. Die erste Initiale ist zusatzlich mit Achtern, /auf Blatt 6V mit einer Punktreihe ge-füllt. Ein an einem Faden hängendes Herzblatt findet sich in der Initiale Q auf Blatt 72r. Die Initialen am linken Textrand sowie die Versalien zu Satzbeginn sind einfach gehaltene Majus-keln.

In der zweiten Zeile der Uberschrift ( l r) wurde in das erste Odes Wortes expositio nachträg-lich ein Gesicht eingefügt30, im zweiten Ο ist ein Auge sichtbar, in die Buchstaben Ο von libro und canticorum sind jeweils zwei Punkte gemalt.

Am Ende des Codex, anschließend an die zwölfte Homilie, befinden sich drei zum Teil kaum sichtbare Federzeichnungen von niedrigem Niveau: auf Blatt 84r eine schemenhafte Fi-gur mit Saiteninstrument, auf Blatt 84v rechts eine antikisierend dargestellte Dreiviertelfigur ei-nes leicht nach rechts gedreht stehenden Mannes mit Toga sowie links der Oberkörper eines Knaben, der ein Rebec-artiges Musikinstrument mit einem Bogen spielt31. Überhaupt ist das Blatt übersät mit zahlreichen Federproben, darunter einige Verse von Horaz:

Nox erat et catlo fiilgebat Luna sereno (Horaz, Carmen 15, 1). Silvis deducti caveant, me iudice, Fauni (Horaz, Ars Poetica 244). Non missura cutem nisi plena cruoris hirudo (Horaz, Ars Poetica 476). Prima dicte mihi, summa dicende Camena (Horaz, Epist. 1, 1, 1). Veni desiderator bone veni / suscipiant te angeli mei / quoniam assatus non negasti me mortus / probatus confessus est me (Antiphon CAO32 5319). Ibi olim positifuimus (Antiphon CAO 3159). Zahlreiche einzelne Wörter wie sol iusticie (840, pater oder Lazarus dormiens, sind mehr-

mals vorzufinden, teilweise aber sehr schlecht lesbar33. Einige Teile sind radiert und weder un-ter UV-Licht noch unter Einsatz von digitalen Bildbearbeitungsmethoden lesbar. Auffällig sind auch immer wieder blinde Ritzungen und Druckstellen im Pergament, darunter zwischen den Zeilen des Titels (10 etliche Majuskel-Buchstaben und ein Fuß (unter dem Wort libro) oder auch Andeutungen von floralem Buchschmuck (4Γ) und Palmetten (in Rot und Grün auf 52' und 820.

Der Schriftraum umfasst ca. 175 X 90 mm in 20 Langzeilen und ist von bis zum Rand des Codex durchgezogenen, doppelten Vertikallinien flankiert. Die karolingische Minuskel gehört

29 Vgl. Bernhard BISCHOFF, Die südostdeutschen Schreibschulen der Karolingerzeit 2: Die vorwie-gend österreichischen Diözesen (Wiesbaden 1980) 67f.; Katharina BIERBRAUER, Die Ornamentik früh-karolingischer Handschriften aus Bayern (Abh. der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Philoso-phisch-Historische Klasse, N. F. 84, München 1979) 63f.; Kurt HOLTER, Über einige Salzburger Hand-schriften des 9. Jahrhunderts in der Österreichischen Nationalbibliothek, in: Beiträge zur Kunstge-schichte und Archäologie des Frühmittelalters. Akten zum VII. Internationalen Kongreß fur Frühmittel-a l t e r f o r s c h u n g 1 9 5 8 , r e d . v o n H e r m a n n FILLITZ ( G r a z - K ö l n 1 9 6 1 ) 2 0 8 - 2 1 5 , N a c h d r . i n : K u r t HOLTER,

Buchkunst - Handschriften - Bibliotheken. Beiträge zur mittelalterlichen Buchkultur vom Frühmittel-alter bis zur Renaissance 1, hg. von Georg HEILINGSETZER-Winfried STELZER (Schriftenreihe des Ober-österreichischen Musealvereins - Gesellschaft für Landeskunde 15/16) 10-20.

30 Nachträglich in Leerräume eingefugte Gesichter erwähnt auch BISCHOFF, Schreibschulen 2 68; FORSTNER , H a n d s c h r i f t e n ( w i e A n m . 5 ) 1 5 .

31 Ahnliche Zeichnungen finden sich ζ. B. am hinteren Spiegelblatt des Cod. 28 der Stiftsbibliothek St. Gallen (Abb. auf http://www.cesg.unifr.ch/virt bib/handschriften.htm - letzter Zugriff am 9. 2. 2008).

32 Corpus antiphonalium officii 3: Invitatoria et antiphonae, ed. Reni-Jean HESBERT (Rerum eccle-siasticarum documenta, Series maior, Fontes 9, Roma 1968).

33 Ähnliche Federproben finden sich ζ. B. am Vorsatzblatt in Clm 14391.

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Vergessen und verstellt 375

demnach dem Erzbischof von Salzburg Arn benannten Schreibstil an und wurde im ersten Viertel des 9. Jahrhunderts von mehreren, sehr ähnlichen Händen im westfränkischen Kloster Saint-Amand geschrieben34. Der gesamte Text wurde von einer Korrekturhand überarbeitet, die sowohl Einzelbuchstaben (ζ. B. Nachtragen der Cauda des e) sowie inhaldiche Fehler aus-besserte, aber auch Worttrennungen und Betonungszeichen zur besseren Lesbarkeit einfügte. Der Codex ist sorgfältig ausgeführt, der kalligraphische Anspruch unterschiedlich, in der ersten Hälfte sicherlich höher als in der zweiten, in der weniger geübte Hände am Werk waren.

An Einzelformen weist die Schrift keine über die von Bernhard Bischoff fur den Arn-Stil in Saint-Amand bestimmten Eigenheiten hinausgehenden Besonderheiten auf. Das α ist - abgese-hen von der rcr-Ligatur (geschlossen) - konsequent karolingisch, y (mit Punkt) ist kurz und steht auf der Zeile, der obere und untere Strich des ζ ist horizontal und bleibt im Bereich des Mittelbandes. Vor allem in der zweiten Hälfte der Handschrift finden sich Majuskel Ν inner-halb der Wörter (ζ. B. In), die auch Verbindungen mit Τ und langem s innerhalb des Wortes eingehen (etwa auf 58v folgern) und auch von der Korrekturhand verwendet werden. Das r li-giert mit nahezu allen möglichen Buchstaben - am auffälligsten natürlich bei rcc, wobei das a sehr in Richtung des α tendiert. Ansonsten sind die üblichen von Bischoff angeführten Ligatu-ren gebräuchlich, die Verbindung von ο mit rundem r ist in der zweiten Hälfte signifikant35.

Der Text ist durchschnittlich stark gekürzt, neben den in Saint-Amand üblichen Kürzun-gen dürften die in der zweiten Hälfte der Handschrift vermehrt auftretenden Kürzungen von vel(ui) und reliqua ( r l ) aus einer insularen Vorlage abgeschrieben worden sein36. E-caudata wird, mit Ausnahme derjenigen Fälle, in denen die Cauda durch den Korrektor ergänzt wurde (ζ. B. 8*), erst ab Blatt 64' verwendet, vorher wird konsequent at geschrieben.

Die Unterscheidung der verschiedenen Hände bereitet einige Schwierigkeiten. Nicht nur die unterschiedliche Qualität des Pergaments beeinträchtigt die Beurteilung des Gesamtein-drucks, vor allem die sehr geringe Varianz in den Einzelformen macht eine Abgrenzung schwie-rig. Obwohl sicherlich mehr als zwei Schreiber am Werk waren, ist ein deutlicher Handwechsel nur zwischen Blatt 43' und 43v erkennbar. Die Schrift ist bis inklusive Blatt 43' aufrecht und breit, das Mittelband dominiert. Die Oberlängen heben sich nur wenig ab, und die Schäfte von f , langem s, aber auch von ρ und q reichen nur wenig unter das Mittelband. Einzig der Haar-strich des Λ: geht tiefer in die Unterlänge. Die Schäfte des Mittelbandes sind nahezu gleich hoch, unten angeschnitten und stehen aufrecht auf der Zeile. Auch die Großbuchstaben sind sorgfäl-tig ausgeführt und fugen sich in einem wohl dimensionierten Verhältnis ins Mittelband.

Ab Blatt 43v ist die Schrift rechtsgeneigt, die Abstände der Schäfte des Mittelbandes sind nicht mehr gleichmäßig, die Buchstaben „tänzeln" auf der Zeile, und die Wortabstände werden so groß, dass die Wörter oft mit nachträglich eingefügten Strichen wieder verbunden wurden. Die Majuskeln im Text sind unverhältnismäßig größer als die Minuskeln und weniger sorgfäl-tig gearbeitet als im ersten Teil. Am deutlichsten unterscheidet sich das unziale f d e s ersten Tei-les der Handschrift von dem nun auftretenden Ε mit langer nach oben ausschlagender Zunge, welche die obere Öse schließt. Im Gegensatz zu dem vor Blatt 43v nahezu konsequent oben ge-schlossenen g ist der Kopf danach offen. Abgesehen von einer wechselnden Struktur der et-Li-gatur ist jedoch in den Einzelformen der Minuskeln kein signifikanter Unterschied zu den Händen vor Folio 43v festzustellen. Einige Seiten später beruhigt sich das Schriftbild wieder und das Niveau der Schrift steigt an. Eine klare Grenze ist hier nicht erkennbar.

Bernhard Bischoff schreibt bezüglich der Interpunktion: „Zu den Eigenheiten der Schule gehört es auch, daß die recht unklar gesetzte Interpunktion (der einfache Punkt ist neben .,

34 Vielen Dank an Herrad Spilling für die Unterstützung bei der Datierung. Vgl. BISCHOFF, Schreibschulen 2 (wie ANM. 29) 53-140; FORSTNER, Handschriften (wieAnm. 5) 12-17.

3 5 BISCHOFF, Schreibschulen 2 64f. 3 6 Ebd. 67.

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3 7 6 Martin Haltrich und Marianne Pollheimer

oder ; fiir große, neben dem umgekehrten Semikolon auch fur die schwache Pause verwendet) sehr oft durch ungewöhnlich breite Zwischenräume verstärkt wird (vgl. z. B. CLA X, Taf. IIb aus Nr. 36); dies wiederum gab späteren Lesern häufig den Anlaß, den Zusammenhang des Textes durch Striche wiederherzustellen (vgl. ζ. B. C L A X. i 4 8 6 und 1489 aus Nr. 86 und 71). Eine besondere Form erhielt in Saint-Amand das Fragezeichen, das als graphische Hilfe zum Verständnis eben erst erfunden war: man kann den Schnörkel mit einem doppelt gebrochenen Anhang oder, vereinfacht, mit einem Abstrich mit Tironischem .retinet' (vgl. CLA VI. 758 aus Nr. 42) oder ,rei' vergleichen, ohne daß eine solche Bedeutung damit verbunden wäre."3 In Bezug auf R 139 ist dem nichts hinzuzufügen.

Auch die verwendeten Auszeichnungsschriften fügen sich bezüglich ihrer Einzelformen in das von Bernhard Bischoff gezeichnete Bild. Für die sieben Zeilen des Titels ( l r ) wird eine ab-wechselnd in roter und brauner Tinte geschriebene Monumentalkapitalis verwendet, die weite-ren Incipit und Explicit sind in roter und brauner Unziale geschrieben. Ihre Buchstaben sind teilweise grün und ocker ausgemalt (55r, 60v, 72'), die Textinitialen sind in den Freiraum links des Schriftblocks ausgerückt38.

Die Handschrift überliefert unter dem Namen des Hieronymus einen exegetischen Text, der als Kurzfassung eines Kommentars zum Hohelied bekannt ist, dessen Entstehungszeit um-stritten ist39. Es handelt sich um eine Umarbeitung der Expositio in canticum canticorum des Apponius, wobei aus Textbausteinen der ursprünglich zwölf Bücher ebenso viele Homilien zu-sammengestellt wurden'40.

Der Autor Apponius ist ausschließlich durch seinen Kommentar zum Hohelied bekannt, es gibt keine Informationen aus anderen Quellen über seine Person oder die Entstehung der Ex-positio. Spuren der Benützung seines Werkes finden sich mit hoher Wahrscheinlichkeit schon bei Gregor dem Großen und definitiv bei Beda Venerabilis41. Spätestens im 9. Jahrhundert er-fuhr der Kommentar des Apponius nicht nur im insularen Bereich, sondern auch auf dem Kon-tinent, besonders in Italien, Bayern und Lothringen, eine gewisse, wenn auch vermutlich nicht allzu große Verbreitung. Es finden sich ζ. B. in den Bibliothekskatalogen aus Fulda, Lorsch und Murbach Hinweise, dass sich in diesen Klöstern Exemplare der Expositio in 12 Büchern befun-den haben42. Außerdem können manche heute verlorene Handschriften aus späteren Abschrif-ten erschlossen werden43. Während offenbar keine direkte Abhängigkeit von Apponius in den

37 Ebd. 38 Eine genauere Beschreibung der Einzelformen gibt BISCHOFF, Schreibschulen 2 (wie Anra. 29)

64. 39 Vgl. unten S. 378. 4 0 Paulino BELLET, La forma homi^tica del comentario de Aponio al Cantar de los Cantares. Estu-

dios biblicos 12 (1953) 29-38. 41 Vgl. Gregoire le Grand, Commentaire sur le Cantique des Cantiques, hg. von Rodrigue BELAN-

GER (Sources Chretiennes 314, Paris 1984) 35—41; Apponius, Commentaire sur le Cantique des Canti-ques 1, hg . von Bernard DE VREGILLE-LOUIS NEYRAND (Sources C h r e t i e n n e s 4 2 0 , Paris 1 9 9 7 ) 3 6 3 - 3 6 5 ; Bedae Venerabilis opera 2. Opera exegetica 2B. In cantica canticorum libri IV, lib. I, c. 2 und lib. III, c. 5, ed. D a v i d HURST ( C C S L 1 1 9 B , T u r n h o u t 1 9 8 3 ) 1 6 5 - 3 7 5 , hier 2 2 3 Z . 4 7 0 - 4 7 2 , u n d 2 8 5 Z . 5 3 4 - 5 3 8 .

42 Wolfgang MILDE, Der Bibliothekskatalog des Klosters Murbach aus dem 9. Jahrhundert (Eupho-rion Beih. 4, Heidelberg 1968) 58 Nr. 230; Angelika HÄSE, Mittelalterliche Bücherverzeichnisse aus Kloster Lorsch. Einleitung, Edition und Kommentar (Beiträge zum Buch- und Bibliothekswesen 42, Wiesbaden 2002) 265 Nr. 207b; Karl CHRIST, Die Bibliothek des Klosters Fulda im 16. Jahrhunden. Die Handschriften-Verzeichnisse (Beiheft zum Zentralblatt fiir Bibliothekswesen 64, Leipzig 1933) 111 Nr. 225; Mittelalterliche Bücherverzeichnisse des Klosters Fulda und andere Beiträge zur Geschichte der Bibliothek des Klosters Fulda im Mittelalter, hg. von Gangolf ScHRiMPF-Josef LEINWEBER-Thomas MARTIN (Fuldaer Studien 4, Frankfurt am Main 1992) 132 Nr. 323; vgl. auch ebd. 88f. Nr. 8: „Exposi-tio in cantica canticorum", die jedoch nicht näher identifiziert werden kann.

4 3 Vgl. Apponius, Expositio (wie Anm. 17) XVf.

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Vergessen und verstellt 377

exegetischen Werken Haimos von Auxerre und Alcuins vorhanden ist44, lässt sich Mitte des 9. Jahrhunderts bei Angelomus von Luxeuil die Verwendung der ersten sechs Bücher des Ap-ponius für seinen Kommentar, den er im Auftrag Lothan I. um 851 anfertigte, nachweisen45.

In die erste Hälfte des 9. Jahrhunderts wird auch die älteste erhaltene Handschrift datiert, die die Bücher 1 - 6 der Expositio enthält (£pinal, Bibliotheque Municipale 78) 4 0 . Johannes Fa-ber, der 1538 in Freiburg im Breisgau die Editio princeps veröffentlichte, kannte aus seinen handschriftlichen Vorlagen der Langfassung ebenfalls nur die Bücher 1 - 6 . Wahrscheinlich war von einem zeitlich relativ früh (vor Mitte des 9. Jahrhunderts) einzustufenden Exemplar des Hohelied-Kommentars, das als Ausgangspunkt ftir eine weitere Verbreitung diente, ein zweiter Band mit den Büchern 7 - 1 2 verloren gegangen, sodass einer der Uberlieferungszweige nur den ersten Teil tradierte4 .

Die erste vollständige Handschrift stammt aus dem frühen oder der Mitte des 11. Jahrhun-derts aus Nonantola4 8 . Sie diente wahrscheinlich im 15. Jahrhunden als Vorlage fiir eine wei-tere, alle zwölf Bücher umfassende Handschrift49. Schließlich findet sich heute in Selestat/ Schlettstadt jene Handschrift, die den vollständigsten Text überliefert und zwei Datierungen aufweist: Tours, 30 . August 1506, und Blois, 4 . Dezember 1506 5 0 . Über ihre mögliche Vorlage sind keine näheren Informationen vorhanden.

Eine ausfuhrliche Auseinandersetzung mit der Uberlieferungsgeschichte sowie einer mög-lichen sozialen Positionierung des Autors und den theologischen Inhalten seines exegetischen Kommentars fand seit Johannes Witte 5 1 , dessen Arbeit für jüngere Religionswissenschafter, Philologen und Patristiker grundlegend war, besonders in den beiden Editionen, die von Ber-nard de Vregille und Louis Neyrand vorgenommen wurden, und in den dadurch ausgelösten Diskussionen ihren Niederschlag52.

Aufgrund der dürftigen Überlieferungslage und mangels zusätzlicher Informationen kann aus dem Text selbst nur vorsichtig auf den Autor, den Zeitraum und das Umfeld, in dem die

44 Ebd. XXX-XXXII . 45 Siehe ebd. XXXII—XXXIV; Friedrich OHLY, Hohelied-Studien. Grundzüge einer Geschichte der

Hoheliedauslegung des Abendlandes bis um 1200 (Schriften der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/Main, Geisteswissenschaftliche Reihe 1, Wiesbaden 1958) 77-86 .

4 6 Für einen Überblick über die Überliefetungslage siehe Apponius, Expositio (wie Anm. 17) VI— XVI.

47 Apponius, Commentaire 1 (wie Anm. 41) 17: wahrscheinlich schon Ende des 6. Jahrhunderts. 4 8 Rom, Biblioteca Nazionale Centrale Vittorio Emanuele, Sessorianus 12; vgl. Apponius, Expositio

(wie Anm. 17) X mit Anm. 19. 4 9 Mailand, Biblioteca Ambrosiana D 37 sup. 50 Selestat, Bibliotheque Humaniste Municipale 77, Blatt 132V: Scripsit vero Ioannes Solidus in Regia

civitate Blesis anno 1506. Finivit ipso die dive Barbare; Blatt 156": Exscriptum ex bibliotheca divi Martini turonensis anno 1506penultima augusti. Zit. nach Apponius, Expositio (wie Anm. 17) VII.

51 Johannes WITTE, Der Kommentar des Aponius zum Hoheliede. Untersuchung über die Zeit und den Ort seiner Auffassung, über die Persönlichkeit des Verfassers und über die Stellung des Kommentars in der Geschichte der Auslegung des Hoheliedes, unter Zugrundelegung der ersten Ausgabe des ganzen Kommentars vom Jahre 1843 (Inaugural-Dissertation, Erlangen 1903).

52 Apponius, Expositio (wie Anm. 17); Apponius, Commentaire sur le Cantique des Cantiques 1 -3, ed. Bernard DE VREGILLE-LOUIS NEYRAND (Sources Chr&iennes 420, 421, 430, Paris 1997, 1998); Bertram STUBENRAUCH, Der heilige Geist bei Apponius. Zum theologischen Gehalt einer spätantiken Hoheliedauslegung (RömQua, Suppl. 46, Rom-Freiburg-Wien 1991); Hildegard KÖNIG, Apponius. Die Auslegung zum Lied der Lieder. Die einfuhrenden Bücher I—III und das christologisch bedeutsame Buch IX (Vetus Latina. Aus der Geschichte der lateinischen Bibel 21, Freiburg im Breisgau 1992); Pierre HAMBLENNE, Le monde d'Apponius I. Euphrosyne 20 (1992) 211-230; DERS., Le monde d'Apponius II. Euphrosyne 25 (1997) 171-205; DERS., Le monde d'Apponius III. Euphrosyne 19 (2001) 355-388.

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378 Martin Haltrich und Marianne Pollheimer

Expositio entstanden ist, geschlossen werden. Dass der Text in seiner Art und Weise, bestimmte theologische Themen anzusprechen und zu behandeln, die besonders im frühen 5. Jahrhundert debattiert wurden, einen relativ großen Spielraum für seine Datierung und Situierung offen lässt, haben die unterschiedlichen Einschätzungen und Diskussionen seit Wirte gezeigt. Pierre Hamblenne hat 1990 die verschiedenen Einordnungen zusammengestellt und ihre Argumente analysiert, wobei er zu dem Schluss kommt, dass eine nähere Eingrenzung innerhalb des Zeit-raumes 404 /5 -680 /735 nicht möglich sei53. Die Editoren Vregille und Neyrand revidierten ih-ren Standpunkt von 1986 in der Edition fiir die Sources Chri t iennes 1997 und siedelten Ap-ponius mit größerer Wahrscheinlichkeit in (Nord-)Italien zwischen 420 und 430 an5 4 . Roger Gryson hingegen gibt unter Bezugnahme auf Eva Schulz-Flügel, die wiederum eine Abhängig-keit des Apponius von Gregor dem Großen und Justus von Urgel annimmt, als Entstehungszeit den Anfang des 7. Jahrhunderts an5 5 .

Der Name Apponius ist erstmals in einer Kurzfassung des Kommentars überliefert, die in einer einzigen Handschrift erhalten ist (Boulogne-sur-Mer, Bibliotheque Municipale 74)5 6 . Im Epilog spricht eine gewisse Burginda einen inclite iuveniszn, dem sie das Werk widmet5 . Die Handschrift entstand Anfang oder Mitte des 8. Jahrhunderts in England, der Text setzt aller-dings erst mit dem Ende des 3. Buches ein, da die ersten beiden Lagen verloren sind58 .

Eine andere Kurzfassung war jedoch im frühen Mittelalter viel weiter verbreitet als die der Burginda, und zwar jene, die auch in R 139 zu finden ist. Sie beginnt mit den Worten Veri amo-ris und ist meist unter dem Namen des Hieronymus überliefert.

Die Assoziation des Werkes mit diesem Kirchenvater, dessen Bibelkommentare für alle Exegeten im Mittelalter eine wichtige Rolle spielten, mag nicht verwundern. Ein eigener Kom-mentar zum Hohelied ist von ihm nicht bekannt, doch hat er einen wichtigen Beitrag zu dessen Exegese geleistet, indem er die Homilien des Origenes zu diesem Buch ins Lateinische übertra-gen hatte. Durch diese Zuschreibung wurde die Autorität der Apponius-Kurzfassung deutlich erhöht, in einigen Fällen werden auch andere (echte) Hieronymus-Werke in denselben Hand-schriften überliefert59.

Die Kurzfassung Veri amoris fasst die zwölf Kommentarbücher in zwölf Homilien zusam-men, wobei sich der Text ausschließlich aus Passagen der Langfassung zusammensetzt, die wört-

53 Pierre HAMBLENNE, Peut-on dater Apponius? Recherches de Theolope ancienne et medievale 57 (1990) 5-33. 404/5: Übersetzung der Historia Eeclesiastica des Eusebius durch Rufinus, die Apponius kannte; 680/735: Beda behandelt Apponius als anerkannten Exegeten, woraus man auf seine Tätigkeit zumindest kurze Zeit vor Beda schließt, spätester terminus ante quem ist Bedas Tod.

54 Apponius, Expositio (wie Anm. 17) CV1-CXIII; Rezension von Basil STUDER, Augustinianum 27 (1987) 635-639; Apponius, Commentaire 1 (wie Anm. 41) 113-120: nach dem Konzil von Karthago (Verurteilung Pelagius) 418 und vor dem Konzil von Ephesos (Verurteilung des Nestorianismus) 431.

55 Roger GRYSON, Repertoire g£nöral des auteurs ecclisiastiques latins de l'antiquite et du haut moyen äge 1 (Vetus Latina. Die Reste der altlateinischen Bibel 1/1, Freiburg/Breisgau 52007) 200; Can· ticum canticorum, ed. Eva SCHULZ-FLÜGEL (Vetus Latina. Die Reste der altlateinischen Bibel 10/3, Frei-burg/Breisgau 1992) 75f.

56 Edition in Apponius, Expositio (wie Anm. 17) 391-463, hier 462: Explicit liber XII breviter de-cerptimque expositionis apponi sancti abbatis in canticum canticorum.

57 Apponius, Expositio (wie Anm. 17) 463. 58 Ebd. XXVIIf. Zu einer möglichen Herkunft der Handschrift aus Worcester vgl. Patrick SIMS-

WILLIAMS, Religion and Literature in Western England 600-800 (Cambridge Studies in Anglo-Saxor England 3, Cambridge 1990) 199-210.

59 Ζ. B. Boulogne 42: gemeinsam mit Hieronymus, Commentarius in Mattheum, München Clin 14417: gemeinsam mit Beda, Expositio in parabolas Salomonis, und Hieronymus, Commentarius in Eccle-siasten.

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Vergessen und verstellt 3 7 9

lieh übernommen wurden. Dadurch wurden die Aussagen des Apponius zugespitzt und auf das Wesentliche reduziert, was offensichdich für den praktischen Gebrauch passender schien60.

Die Uberlieferungslage dieser Kurzversion ist im Vergleich zur Langfassung des Hohelied-kommentars sehr erfreulich. Von insgesamt 15 Handschriften stammen sechs aus dem 8. und 9. Jahrhunden. Vregille und Neyrand, die sowohl Veri amoris als auch die Fassung der Burginda gemeinsam mit der Langfässung herausgaben, stellten ihrer Edition eine summarische Be-schreibung der Handschriften voran61. Die ältesten Handschriften befinden sich heute in Würzburg (Universitätsbibliothek, M.p.th.q. 26; Ende 8., Anfang 9. Jahrhunden) und Boulo-gne-sur-Mer (Bibliotheque Municipale 42; Ende 8. Jahrhundert), wobei in diesen Codices keine Unterteilung des Textes in einzelne Homilien vorgenommen wurde. Die Wiener Hand-schrift bildet gemeinsam mit Valenciennes, Bibliotheque Municipale 51 (geschrieben in Saint-Amand vor 828), und München, Bayerische Staatsbibliothek Clm 14417 (geschrieben in Re-gensburg ca. zur Zeit Baturichs), eine eigene Gruppe6 2 . Für sie ist - neben den gemeinsamen Textvarianten - eine Textverwerfung in den Homilien VII und VIII, die nur in diesen drei Co-dices auftritt, besonders signifikant. Offenbar war diese Verschiebung eines großen Teils von Homilie VII schon in einer früheren Vorlage aufgetreten und betraf mehrere Blätter, eventuell eine ganze Lage, die an die falsche Stelle gereiht worden war63.

Die beiden Gruppen von Veri amoris unterscheiden sich also einerseits in der Organisation des Textes in Homilien, andererseits durch diese markante Textverwerfung. Sie weisen unter-schiedliche Lesarten auf, wobei sich in der Regel die Handschriften aus Valenciennes, Wien und München näher an den Schreibweisen der Langfassung orientierten64, während es in jenen aus Würzburg und Boulogne stärkere Abweichungen gibt. Andererseits überliefern diese bei-den einen größeren Textumfang, während sich in der zweiten Gruppe eine sehr große Zahl von Auslassungen, allerdings auch einzelne Zusätze finden, die von einzelnen Wörtern bis zu gan-zen Sätzen reichen können.

Vregille und Neyrand beobachteten jedoch, dass sowohl die Handschrift aus Valenciennes als auch jene aus Boulogne durch Lesarten der jeweils anderen Gruppe ergänzt und korrigiert worden sind, was auch an manchen anderen Codices zu bemerken sei . Ein frühes Beispiel da-für ist Paris, Bibliotheque Nationale, lat. 13196, eine Handschrift des 9. Jahrhunderts, die der zweiten Gruppe nahesteht, allerdings keine Textverwerfungen aufweist. Bei diesen Kollations-arbeiten spielte Saint-Amand eine wichtige Rolle, wo sowohl die Handschriften Valenciennes

60 Vgl. zur Beziehung zwischen exegetischem Kommentar und homiletischer Form in Bezug auf Apponius: BELLET, La forma homiletica (wie Anm. 40).

61 Apponius, Expositio (wie Anm. 17) XVII-XXVII; vgl. auch Bernard de VREGILLE, Un nouveau temoin de l'abrige pseudo-hiironymien du commentaire d'Apponius sur le Cantique des Cantiques. Le ms. La Haye, Meermann-Westreenen 10 Β 10. Revue Benedictine 109 (1999) 272-277.

6 2 Vgl. Bernhard BISCHOFF, Katalog der festländischen Handschriften des neunten Jahrhunderts (mit Ausnahme der wisigotischen). Teil 2: Laon-Paderborn, hg. von Birgit EBERSPERGER (Bayerische Akademie der Wissenschaften. Veröffendichungen der Kommission fur die Herausgabe der mittelalter-lichen Bibliothekskataloge Deutschlands und der Schweiz, Wiesbaden 2004) 256 Nr. 3183; DERS., Die südostdeutschen Schreibschulen und Bibliotheken der Karolingerzeit. Bd. 1: Die bayrischen Diözesen (Wiesbaden 1974) 207 Nr. 41; DERS., Schreibschulen 2 (wie Anm. 29) 99 Nr. 33.

63 Der Text von Homilie VII wird in R 139 auf Blatt 33", Z. 6, nach devorantpraedam et ut pardi se-rr«ii(simos) mitten im Wort unterbrochen und mit verbo caelesti saturantur Christi amicifortgesetzt. Der ca. 9,5 Blätter umfassende hier fehlende Text findet sich in Homilie VIII wieder. Auf Blatt 42", Z. 8, wird nach non sunt polluti mit (secret is) «mus montes, ubi animalia fortgesetzt; der Einschub endet auf Blatt 5 1 Ζ . 11, mit per talem ergo doctrinam, ab Z. 12 wird Homilie VIII mit crura illius columnae marmoreae fortgesetzt. Die Textverwerfung ist nicht gekennzeichnet, allein auf Blatt 42v wurde der Anfangsbuch-stabe von -simus offenbar von dem Korrektor als Majuskelbuchstabe nachgezogen.

64 Im Speziellen am Text der Handschrift fipinal 78, vgl. Apponius, Expositio (wie Anm. 17) LVII. 6 5 Ebd. LVlIf.

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380 Martin Haltrich und Marianne Pollheimer

51 und jene fur Salzburg entstanden sind, als auch später, im 12. Jahrhundert, eine Reihe wei-terer Handschriften angefertigt wurden. Die beiden Editoren sprechen sogar von „veritables editions", speziell im Falle der Handschriften Paris, Bibliotheque Nationale, lat. 1808, und Toulouse, Bibliotheque Municipale 158, in denen die Textüberlieferungen beider Gruppen schon bei der Niederschrift der Texte zusammenflössen66.

Der Textbestand von R 139, der zwar sehr eng mit Valenciennes 51 zusammenhängt, wurde von den beiden Editoren, die sich fur die Texterstellung an den Handschriften aus Va-lenciennes, Würzburg und Boulogne orientierten, nur in wenigen Ausnahmefällen berücksich-tigt. Der in der Wiener Handschrift überlieferte Text enthält allerdings auch einzelne Zusätze und Varianten, die über orthographische und syntaktische Eigenheiten hinausgehen6 . Immer wieder ist zu beobachten, dass Distinktionszeichen über den betonten Silben hinzugefügt wur-den, was das laute Vorlesen im monastischen und liturgischen Rahmen erleichterte.

Anhand der handschriftlichen Überlieferung des Hohelied-Kommentars des Apponius und der davon angefertigten Kurzfassungen ist es interessant zu beobachten, in welcher Weise Texte umgestaltet und für den jeweiligen praktischen Gebrauch adaptiert werden konnten, sei es, dass Burginda für ihren iuvenis die Inhalte des Kommentars in knapper Form zusammen-fasste oder dass kurze, prägnante Formulierungen und Textbausteine zu zwölf Homilien zusam-mengestellt wurden. Die sorgfältige Ausführung der Handschrift R 139 zeigt einerseits die Wertschätzung, die dem Text entgegengebracht wurde, und weist andererseits auf die komple-xen literarischen Praktiken hin, die fiir die Erstellung von exegetischen und homiletischen Wer-ken angewendet wurden.

Die Handschrift R 139 ist der älteste Codex des Österreichischen Staatsarchivs. Wegen ih-res ungewöhnlichen Standortes inmitten von Verwaltungsschriftgut wurde sie bisher kaum in ihren historischen, theologischen und kulturgeschichtlichen Dimensionen wahrgenommen. Die Untersuchung des Umfelds ihrer Entstehung und der an ihr vorgenommenen Verände-rungen, ihre Situierung in einem breiteren Kontext von Handschriften- und Textproduktion sowie die Erforschung ihrer Provenienz ermöglichen Einblicke in die Erstellung, Rezeption und Adaption von Texten, aber auch in die verschiedenen Zugänge zum physischen Objekt Buch, die nicht zuletzt dessen Relevanz als Kulturgut in historisch-politischen Diskussionen zeigen.

6 6 Ebd. LV1I. 67 Ζ. B. Blatt 17': Spiritus pro ecclesiae custodia et securitate monies transilit et colles... (Apponius, Ex-

positio 330 Z. 29: Christus pro Ecclesiae . . .) ; Blatt 18': . . . sicut ianuis clausis ingressus ait: Pax vobiscum. Nolite timere (Valenciennes 51 und Würzburg M.p.th.q. 26: . . . sicut ianuis clausis ingressus Christus: Pax vobiscum. Nolite timere; vgl. Apponius, Expositio 331 Z. 58: . . . sicut ianuis clausis ingressus Christus mag-num gaudium apportavit, dicendo: Pax vobiscum. Nolite timere.) ·, Blatt 18v-19r: Congrue satis huius castis-simae avis vox per beatam Mariam primum audita est... (Apponius, Expositio 332 Z. 76-77 : . . . vox per beatam Mariam audita est.. .)·, Blatt 21': Nam vita nostra [floruit] (Apponius, Expositio 334 Z. 139-140: Nam vinea nostra floruit); Blatt 22': . . . dum apostoli lugent. Sed amplius haec ad moralem referenda sunt sensum. Nam sicut supra... (Apponius, Expositio 335 Z. 28: . . . dum apostoli lugent. Nam, sicut supra ...)•, Blatt 23v: Hie namque illius plebis persona videtur induci ... (Apponius, Expositio 337 Z. 66-67 : Hie namque illius persona videtur induci ...)·, Blatt 28": . . . Domini nostri operibus ostendit imitatricem esse vir-ginitatem (Apponius, Expositio 341 Z. 38-39: . . . Domini nostri ostendit imitatricem esse virginitatem)·, Blatt 29v: . . . nisi ille qui pro scuto cruce dominica protectus vinci dicit (Apponius, Expositio 342 Z. 67: ... nisi ille qui pro scuto cruce dominica protectus incedit}, Blatt 31": Mortem earn nominando potissimam in maliciae supercilio demonstravit (Apponius, Expositio 343 Z. 96: Montem earn nominando, potentissimam in malitiae supercilio demonstravit)·, Blatt 43v: Sicut igitur ecclesiae singularem oculum in eisdem oneravit... (Apponius, Expositio 346 Z. 81-θ2: Sicut igitur ecclesiae singularem oculum in eis demonstravit ...)·, Blatt 47": In qua utique apostolicus proficit labor ut magnf delectationes hortus regni caelorum nfecta sit... (Ap-ponius, Expositio 349 Z. 173—175: In qua utique apostolicus proficit labor ut magnae delectationis hortus regisaeculorum effecta sit...).

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