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Kommunikaze 36: Briefe

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Kommunikaze, die studentische Zeitschrift für facts & fiction, Ausgabe 26: Briefe

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Was ist eigentlich, wenn ich im Studijob mal krank bin?! Und was muss ich beachten, wenn ich ein Praktikummachen möchte?

Für jobbende Studierende gibt`s bei unskostenlos Tipps, Beratung und Infos zu

Kranken- und Rentenversicherung Minijob, Studijob, Honorarjob

Praktika

Unsere Sprechzeitenfindest du hier:

www.hib-os.deDu erreichst uns unter:

[email protected]

Arbeitsvertrag, Lohn, Urlaub, Befristung, Kündigung Steuern

Hochschulinformationsbüro der Osnbabrücker Gewerkschaften, August-Bebel-Platz 1, 49074 Osnabrück

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Mai2010

Fr 28.05., 13:00 Uhr

Tagung & PodiumsdiskussionFußball bewegt. Kontakt und Kultur im globalen Spiel„Zehn kleine Negerlein“ oder „Elf Freunde“?Fußball zwischen Rassismus und Integration

Sa 01.05. 16:00 Rainbow DanceStandard Latein - Tanzparty

Tanz

Fr 07.05. 21:00 Band Stand MeetingLest we die, You Left me Breathless & Special Guest

KonzertSaalBocksmauer

So 09.05. 16:00 Osnabrücker Dixieland- und Swing-FestivalHasetown–Jazzband, Greenhouse-Jazzband, Big Claes Swing Band, JazzKammerGut, Happy-Jazz-Society, Hot Jazz Daddies

Konzert

Fr 14.05. 21:00 Café Caliente Salsa Disco

Sa 15.05. 17:00 Deutsch Französischer Chor Osnabrück,Leitung Thomas Hitzemann

Chor „ La Chorentine“ (Angers),Leitung Philippe Boutin

Konzert

Fr 28.05. 20:00 Chra Fuhl CD Release PartySupport: Heiße Projektile & Special Guest

KonzertSaalBocksmauer

InhaltAusgabe 36 / Zweites Quartal 2010 / „Briefe“

5: INTROvon Stefan Berendes

6: SCHMALZGESPRÄCHEvon Urs Ruben Kersten

10: BRIEf AuS PASAdENAvon Anna Groß

12: ZIRkuLAR AN dEN ABSTIEGvon Olker Maria Varnke & Sebastian Bracke

14: LETTERS TOuR GOd von Finn Kirchner

17: EIN BRIEf AN HARTMuTvon Frederik Vogel

18: BRIEf ANS LEBENvon Tobias Nehren

20: LOST & BROkEN, fOLGE 20von Steffen Elbing

22: SCHöNER wOHNENvon Tobias Nehren

25: TwITTERN IN SPARGELvon Finn Kirchner

26: SPüLEN uNd vERGESSENvon Urs Ruben Kersten

28: TORTOuRvon Tobias Nehren

30: dIE LETZTE SEITE

dANkSAGuNG:überhaupt nur möglich

durch einen Druckkostenzuschussdes Studentenwerks Osnabrück

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MIt BEItRÄGEn VOn: Stefan Berendes, Urs Ruben Kersten, anna Groß, Olker Maria Varnke,

Sebastian Bracke, Finn Kirchner, Frederik Vogel & tobias nehren

IllUStRatIOnEn VOn:Mia hague, Christian Reinken & Stefan Berendes

Introvon Stefan Berendes

Wer das Schaffen der K o m m u n i k a z e - R e d a k t i o n aufmerksam verfolgt, der wird in uns schon lange den ernsthaftesten Bewahrer von

alten Werten und liebgewonnenem Kulturgut diesseits des Manufactum-Kataloges erkannt haben. Andere mögen die geistig politische Wende ausrufen oder ihre Kinder Friedrich oder Heinrich nennen und das schon für die Rettung der abendländischen Kultur halten; wir hingegen gehen schon seit Jahren dahin, wo es weh tut und kämpfen den Kampf gehen Geistlosigkeit und Verrohung der Gesellschaft und der Kultur an vorderster Front: das Reisen per Postkutsche, Super 8-Filme oder Wanderungen durch die Mark Brandenburg – all diese traditionellen Dinge wären heute nicht wieder so erfolgreich, wenn wir sie nicht dem Vergessen entrissen hätten.

Dieses Mal ist der Brief dran: Als Kommunikationsmittel etwas in die Jahre ge-kommen und - völlig zu unrecht - als unmodern und

langsam verschrien, ist er unserer Meinung nach heute wie schon seit eh und je vor allem eines: ein unverzichtbares Medium!

Und so nimmt es nicht Wunder, dass in ferner und naher Vergangenheit immer wieder Briefwechsel bekannter Persönlichkeiten für Aufsehen sorgten: Goethe/Eckermann, Gudrun Ensslin/der Ex-Mann von Gudrun Ensslin und Olker Maria Varnke/das Kreiswehrersatzamt Hannover – all dies sind mitrei-ßende Zeitdokumente, die wohl nur in der litera-rischen Form des Briefes ihre ganze Gravitas entfal-ten konnten. Undenkbar, dass diese Gespräche auch über eine eilig hingeferkelte Email oder schmallip-piges Telegramm hätten stattfinden können!

Manchmal werden Briefe geschrieben und ändern doch nichts. Manchmal werden Briefe nicht ge-schrieben und ändern alles. Und manchmal kom-men Briefe nicht an oder gehen wegen mangelnder Frankierung oder wegen zwischenmenschlicher Ver-werfungen ungeöffnet zurück an den Absender

Kommunikaze versammelt in dieser Ausgabe die Briefe, die heute dringend geschrieben werden müssten. Brechen Sie, lieber Leser, gemeinsam mit unseren Autoren das Postgeheimnis! Wir wünschen spannende Lektüre!

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Schmalzgesprächevon Urs Ruben Kersten | Illustration: Stefan Berendes

Hamburg, 20.03.2010

Wie die meisten Bundesbürger erfuhr ich aus den Medien (taz, SZ, BILD, Fernsehen, usw., usf.) von dem Skandal, der Ihr von mir hochverehrtes Magazin erschütterte. Und erschüttert bin auch ich! Als trend-

bewusster Endzwanziger sehe ich es als meine höchste Bürgerpflicht, regelmäßig NEON zu kaufen, mir die Bil-der anzuschauen und ab und zu auch ein wenig darin zu lesen. Sie merken es bereits, ich bin auf Ihrer Seite! Es ist einfach nicht fair, wie hier eines der großartigsten Erzeugnisse der deutschen Presse zu Grunde gerichtet wird, fuck no!

Mir ist bewusst, dass Sie nach der Pleite mit dem Mo-cek vorsichtiger geworden sind, ja geworden sein müs-sen. Und wenn jetzt der Max Dax auch noch sagt, dass man so ein Interview schon ein wenig frisieren, sprich „Gedanken zusammenfassen, Sätze zu Ende denken, In-terviews aus dramatischen Gründen umbauen“ dürfe, dann fragt man sich schon, was für eine Scheißbranche das überhaupt ist, in der wir hier operieren. Mit einem Wort und auf die Gefahr hin mich slightly zu wieder-holen: Ich fühle mit Ihnen! Aber das ist nicht der Grund meines Schreibens. Viel mehr halte ich hier etwas in Händen, das Ihnen helfen könnte, die angekratzte Re-putation Ihres Magazins wieder auf Hochglanz zu po-lieren. Na, interessiert? Dachte ich mir!

Also, reden wir nicht lange um den heißen Brei herum, let’s get to the fucking point! Ich möchte Ihnen ein An-gebot unterbreiten, das sie unmöglich ablehnen kön-nen. Seit Jahren arbeite ich als freier Musikjournalist, als freelancer sozusagen. Meine Artikel und Interviews werden in vielen renommierten Musik-, Szene- und Trendzeitschriften veröffentlicht, in zu vielen um hier auch nur eine zu nennen. Sie sehen, ich bin hochqua-lifiziert, ein Tausendsassa, ein crazy Typ mit Talent und Erfahrung. Und ich möchte nur eines: Geben sie mir Ingo Moceks Job! Ich garantiere Ihnen Top-Storys, gepfefferte Kommentare und total gute Interviews. Garantiert echt und beschissfrei, aus erlesenen Zutaten und fein abgeschmeckt! Sie denken jetzt vermutlich: „Quasseln kann jeder, was steckt hinter dieser fantas-tisch aussehenden, mit Gold, Edelsteinen und feinstem Geschmeide verzierten Fassade?“ Ich verzeihe Ihnen diese Frage, auch wenn sie ziemlich frech ist. Skepsis liegt in der menschlichen Natur, vor allem bei einem hochqualifizierten Tausendsassa von Chefredakteur, wie Sie einer sind. An dieser Stelle soll meine Arbeit für mich sprechen, lassen wir Worten weitere Worte folgen. Ich biete Ihnen, als kleines Einstandsgeschenk meinerseits, ein weltexklusives, hochbrisantes, garan-tiert fakefreies Interview mit Beyoncé Knowles! Da hab‘ ich doch nicht zu viel versprochen, das haut Sie um, wie? Bereiten sie schon mal meinen Arbeitsvertrag vor, weitere Spitzenartikel werden folgen, das verspre-che ich Ihnen. Aber genießen sie erstmal das Beyon-cé-Interview, welches ich diesem Schreiben als Anlage beigefügt habe. Sie werden nicht enttäuscht sein, das verspreche ich Ihnen!

Mit freundlichsten Grüßen

Anlagen

Sehr geehrter Herr Ebert,

Andreas S. Dühring-Föhr

ASdf: Hallo Beyoncé!

BEYONCÉ: Hallo!

A: Sie haben es bestimmt selbst mitbekommen, in der deutschen Zeitschrift NEON sind gefälschte Interviews mit ihnen, ihrem Mann Jay-Z, Christi-na Aguilera und Anderen veröffentlicht worden. Ein Skandal, möchte man meinen. wie hat das die amerikanische Medienöffentlichkeit aufgenom-men? und wie geht es ihnen damit?

B: Ja, ich habe in der Tat von diesen unglaublichen Vorgängen gehört. Um ihre Frage zu beantworten: Die amerikanische Medienöffentlichkeit interessiert sich überhaupt nicht für solche Albernheiten, wir haben hier bedeutsamere Probleme, wie die Reform des Ge-sundheitssystems, religiöse Fanatiker, den Bartwuchs von Robert Pattinson, etc. Und auch mir persönlich geht das ganze meilenweit an meinem wohlgeformten Arsch vorbei. NEON? Was soll das sein? Deutschland? Wo liegt das, in Kleinasien? Da fällt mir ein, darf man das Wort „Arsch“ in den deutschen Medien über-haupt benutzen?

A: Aber natürlich, sie dürfen hier alles! der deut-sche wirft ohnehin pausenlos mit unflat um sich, ohne kraftausdrücke weiß der deutsche gar nicht wohin mit sich.

B: Oh, das ist schön, danke sehr!

A: Gerne. kommen wir zurück zu dem so called Interview. Es scheint sie überhaupt nicht zu stö-ren, dass da ein kleiner Hanswurst ihren Namen benutzt, um Geld und Prestige zu erwerben. Ei-ner, der von Tuten und Blasen keine Ahnung hat, verkauft sein eigenes Gewürge als ihre innersten und wahrsten Gedanken. Macht sie das nicht wü-tend? Haben sie keine Angst, dass das ihrem Ruf und ihrer karriere schaden könnte?

B: Geschadet hat es ja in erster Linie ihm und seiner Karriere, HAHAHA! (lacht) Aber Spaß beiseite, natür-lich war ich anfangs verärgert. Doch nachdem ich das Interview selbst gelesen hatte wurde mir schlagrahmar-tig klar, dass keiner auf diesen Schwindel hereinfallen würde. Seien wir ehrlich, jeder der mich kennt weiß, dass die Aussage, Butter sei „in meinem Leben nicht unbedingt von zentraler Bedeutung“, nicht von mir stammen kann. Denn in der Tat ist Butter in meinem Leben von zentraler Bedeutung. Ich ernähre mich, ge-

nau wie meine Familie sowie weite Teile der US-ame-rikanischen Bevölkerung fast ausschließlich von Butter. „Butter ist Leben“, weiß der Volksmund. Ohne Butter wäre ich nicht der Mensch, der ich bin.

A: Starke worte von einer starken frau! Aller-dings ist mir ihr starker Butterbezug bisher weder in ihren Interviews noch in ihren Songs aufgefal-len. war ich zu unaufmerksam?

B: Das ist durchaus möglich. Man muss schon ein biss-chen zwischen den Zeilen lesen, um meine starke But-terverbundenheit zu erkennen. Für meine wahren Fans sind diese news natürlich old news, aber man kann ja auch nicht von jedem verlangen, dass er sich täglich 16 Stunden mit mir und meinem Schaffen auseinan-dersetzt. In dem Destiny’s-Child-Song „Bootylicious“ gab es die Textzeile „I don’t think you can handle this, whooo“, da ging es auch um Butter, auf der Meta-ebene versteht sich. Ich habe sogar mal einen Song mit direktem Butterbezug geschrieben. Der hieß „But-tersong“: „Hast du eine Mutter, dann hast du immer Butter“. Den habe ich damals allerdings nicht selbst performed, sondern an einen deutschen Künstler wei-terverkauft. Heute bedauere ich das.

A: Hochinteressant! Nach diesen Aussagen stellt sich mir als verfechter des investigativen Musik-journalismus natürlich die frage, ob sie bei der Band „Lard“ und insbesondere bei deren werk „The power of lard“ ebenfalls im Hintergrund die fäden in der Hand gehalten haben?

B: Definitively nein. „Lard“ bedeutet auf Deutsch so-viel wie „Schmalz“, ich aber bin eine Butterfrau. Butter verhält sich zum Schmalz meines Erachtens wie eine wohlgereifte Flasche Bordeaux zu einer 1,5-Liter-Bom-be Lambrusco. Die eine steht im Regal auf Blickhöhe, während die andere im Staub zu unseren Füßen da-hinvegetiert. Und das auch noch in unterschiedlichen Läden. Schmalz ist Bückware. Als Band verehre ich „Lard“ allerdings über die Maßen. Sie hätten sich je-doch lieber „Butter“ nennen sollen, dann wären die heute Superstars.

A: Ein äußerst gelungener vergleich, obwohl ich noch nie beobachten konnte, dass sich eine fla-sche Bordeaux „verhält“. Schon gar nicht einer dahinvegetierenden 1,5-Liter-Bombe Lambrusco gegenüber.

B: Sie sind ein glücklicher Mann.

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anlaGE 1: Interview mit Beyoncé Knowles

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A: das stimmt! Ich trinke auch lieber weißwein, da ist man auf der sicheren Seite. Oh, wie ich sehe, neigt sich unsere Interviewzeit bereits dem Ende zu. Ab-schließend möchte ich ihnen, einer alten Interviewunsitte folgend, noch ein paar Begriffe hinwerfen, zu denen sie bitte möglichst kurz Stellung nehmen. Sagen sie einfach, was ihnen spontan dazu ein-fällt.

B: Gut.

A: destiny’s Child.

B: Vergangenheit.

A: Terrorismus.

B: Destiny’s Child.

A: Jay-Z.

B: Notiz an mich selbst: Ehevertrag von Notar überprüfen lassen.

A: Belgien.

B: Pommes Frites, Marc Dutroux, Belgisch-Kongo.

A: August der Starke.

B: Schwanzgesteuert, Meissener Porzellan.

A: Amerika.

B: God’s own country. (rülpst)

A: NEON.

B: Hackfleisch.

A: Meine Lieblingsbutter.

B: Kerrygold.

A: Beyoncé, ich danke ihnen für dieses Gespräch.

B: Bitteschön. Und Tschö mit ö.

München, 25.03.2001

sehr geiles Interview, erste Sahne! Und Ihr Stil ist der Wahnsinn! Die ganzen vielen Ausrufungszeichen und so. Ul-

trageil und superlecker! Bitte mehr davon, schnell! Interview-Wunschkandidaten: Jay-Z, Christina Aguilera, Snoop

Dogg, Slash und der ganze Rest der Popmischpoke sowie Räuber Hotzenplotz und Ernst Neger (der ist zwar schon

lange tot, aber das schaffen Sie!). Vertrag ist schon in der Post, Geld gibt’s natürlich auch. Wie wäre ist mit einigen

tausend Euro? Pro Artikel, pro Monat oder pro Sekunde, ganz wie Sie wünschen. Denken sie daran, unser Magazin

braucht sie! In diesem Sinne,

weitermachen!

Sehr geehrter Herr Düring-Föhr,

Michael Ebert

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Brief aus Pasadenavon Anna Groß | Illustration: Christian Reinken

Pasadena, den 8.2.1998

IIch schreibe Dir diesen Brief mit einem Radisson Pasadena Hotelbleistift. W. ist zurück nach Heidel-berg gegangen, und ich lebe hier nun im Keller des Hauses meiner Schwester. Dein Brief ist mir nachgesandt worden, deshalb dauert auch alles so

lange. Macht aber nichts. Macht mir gar nichts aus. Die Zeit vergeht so an aus an aus. Mir geht es so gut und so schlecht wie nie zuvor. Einerseits gehöre ich jetzt tatsächlich zu denen mit den schlechten Zähnen, die nie hungrig, aber immer gierig sind und nicht spüren, ob es warm oder kalt ist. Andererseits habe ich mich vor acht Jahren schon so gemalt und immer, wenn ich solche im Fernsehen sah oder in Büchern darüber las, dachte ich, ja, genau, das bist du. Und jetzt? Wie tra-gisch. Tatsächlich hat mich die Natur mit Beginn der Pubertät aussortiert und ich habe dem wirklich nichts entgegenzusetzen.Ich kann gar nicht beschreiben, wie es ist, neu anzufangen, wo einen niemand kennt. Man schämt sich zumindest nicht mehr für den Verfall. Keine Angst, S., ich werde Dir jetzt nicht mein „Hab und Gut“ vermachen. Niemanden werde ich damit bedrohen, mein scheiß-dreckiges Hab und Gut vermacht zu bekommen. Schon gar nicht, nachdem Du meine gesammelten Collagen und Briefe – zu Deinem eigenen großen Bedauern – in einem Hotelzimmer in Prag hast liegen lassen... Was kann man denn schon groß mitnehmen, auf einen Langstreckenflug (und ich meine damit noch gar nicht DEN einen großen Langstreckenflug). Ich lebe im Keller des Hauses meiner Schwester und benutze das Kellerfenster als Einstieg. Ich höre oben den Fernseher laufen und – in Wirklichkeit ist mir das alles vollkommen egal – Worte, Worte, Worte, insbesondere Deine Worte, S.

Ich fühle mich so geehrt, Dich inspiriert zu haben, mit meinem „Gespür für das Subtile, das Weibliche“. Meinem Gespür, für etwas, das ich bekommen habe, weil ein Fluch auf meiner Familie lastet, für eine Gabe, einen Makel, den man erhält, wenn man etwas unglaublich Furchtbares getan hat. Für die Erbsünde, Blut, Schmerzen und Hässlichkeit, die Unperfektion, mit dem Makel der Weiblichkeit behaftet zu sein, ein Diener, eine, Deine Muse zu sein. Ich fühle mich so über und über an-, be- und vollgeehrt von Dir.Das Päckchen damals, Deine erste Karte, die Cassetten, die Du mir geschickt hast – ich habe geweint vor Freude. Nur leider hättest Du sie genauso gut in den Mülleimer stecken können, denn ich habe nichts davon verstanden und ich bin überwältigt, Deinen ganzen Krempel vermacht zu bekommen, damit ich ihn – manchmal ist mir doch noch kalt – mit Benzin – aber eher so von innen – übergießen und anzünden kann. Ich denke, es ist eine gute Idee von Dir, zu fasten und ausschließlich dieses in der Sonne getrocknete Grassamenbrot zu essen. Das macht Dich bestimmt ganz gesprächig und kreativ. Selbsthilfegruppe is good for one – not I.Du hast schon recht, Du weißt nicht, wie ich das sehe, weil ich gar nicht sehe mit diesem verdammten Plastiksack über dem Kopf. Vielleicht hättest Du in der Schule einfach mal „Hallo“ zu mir sagen können oder irgendwas, ich weiß ja nicht, wie Du das siehst. Aber diese Floskeln bedeuten mir etwas. Nur leider spüre ich nichts. Ich habe kein Gefühl. Muss ich noch üben, dann spiel ich meine Rolle perfekt.Alle wollen in mein Köpflein gucken. Ich bin nämlich etwas ganz Besonderes. Ich bin so besonders und wichtig, und wenn Du in meine Seele blicken könntest, würdest Du auf der Stelle erblinden von diesem grausamen Anblick (Leere).Tut mit so leid, wenn ich Deine Gefühle verletze, es liegt schlicht und einfach daran, dass ich sonst keinen kenne, der mich so krass überschätzt hätte, und das sagt etwas über Dich. Du weißt gar nichts, Du blöder Angeber. Denn in Wirklichkeit bin ich besser als ihr alle, ich zeig‘ es nur nicht so.

Von der neuen, verbesserten

PS: Keine Briefe mehr.

Lieber S.,

C.

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Zirkular an den abstiegvon Olker Maria Varnke & Sebastian Bracke | Illustration: Stefan Berendes

Was für ein Jahresbeginn!

Hier mal ein, zwei Flaschen Wein und ein zu wenig blinder Bulle zu viel; da mal ein ausgemusterter Stürmer zu viel,

der trifft, wie er will, aber nicht in Dein Herz; hier mal eine mäßig gelaufene Südamerikareise zu viel, bei der überraschend im Flugzeug Familienmitglieder, Freunde und Spender auftauchen; da ein paar gedingste Kinder zu viel.

Machen wir uns nichts vor: Es läuft bei Euch zurzeit nicht so. Der Wind weht Euch ins Gesicht – eine steife Brise.

Liebe Margot, vor nicht allzu langer Zeit bist Du in eine recht gute Position aufgestiegen – und das als Frau. Das soll Dir in diesem Land erst mal einer nachmachen! Aber kaum sagt man öffentlich mal etwas gegen Krieg, schon findet ein überambitionierter Waffenträger und Polizist das Haar in der Suppe, den Stein des Anstoßes, kurz: eine rote Ampel in Hannover. Wer da keinen Zusammenhang sieht, ist entweder blind, Waffenlobbyist oder dem fehlt die nötige protestantische Brille.Lieber Joachim, Deinen Job wollen in Deutschland knapp 40 Millionen Männer. Olli wollte für Euch Männer etwa 40 Millionen. Jetzt wird Deine Kompetenz öffentlich in Zweifel gezogen. Ein paar eingenetzte

Kopfstöße, ein paar souverän verwertete Zuspiele, ein paar Wochen in keiner Halbzeit aus keinem Stadion verschwunden und schon meinen alle, Du müsstest Kevin Kuranyi (vgl. Kommunikaze 16: „völlig unfähig“) mit nach Südafrika nehmen, damit er auch da keinen Titel gewinnt.

À propos „mitnehmen“:Lieber Guido,

Liebe katholische Kirche, Du sitzt von allen am längsten im Sattel und was wäre die Welt heute schon ohne Dich? Ärmer. Auch architektonisch. Du bist einst mit hehren Zielen angetreten, zum Beispiel im Namen der Liebe des Herrn. Kann denn zu viel Liebe eines Mannes Sünde sein? Wir legen uns fest: Lieber Suspensorium als Suspension!

Lasst den Mut nicht sinken! Das Jahr ist noch lang, es ist noch nicht aller Tage Abend. Für jeden gibt es eine zweite Chance. Margot, warum nicht noch einmal mit Gottvertrauen auf den Weg zu Fuß nach ganz oben machen? Joachim, Dein Vertrag läuft vor dem WM-Halbfinale aus. Vielleicht holst Du den WM-Titel dann im eigenen Land mit Südafrika. Finalergebnis: Südafrika - Deutschland 2:0 (unglücklicher Torschütze beider Treffer: der als kleines Abschiedsgeschenk an die deutsche Presse von Dir mitgenommene Kevin Kuranyi). Guido, investiere bei Deiner nächsten Reise weniger in Menschen als vielmehr in Ausrüstung. Da gäbe es auch Potential auf dem kurzen Dienstweg abzugreifen. Pack‘ Dir Dirk Niebels Fallschirmjägerkappe und -brille ein sowie Möllemanns Fallschirm. Vielleicht schlägst Du dann endlich in die Herzen der Menschen ein. Katholische Kirche, 2000 Jahre Kündigungsschutz sind ein profundes Gewohnheitsrecht, Du bist der Beamte unter den Religionen, Du brauchst unseren Trost nicht – mach Dir keine Sorgen.

Herzlich,

Liebe Margot, lieber Joachim, lieber Guido, liebe katholische Kirche,

Zwei Freunde

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letters tour Godvon Finn Kirchner | Illustration: Stefan Berendes

Geben Sie sich einen Ruck! Gehen Sie in Ihre Garage, nehmen Sie Ihr Rad. Klicken Sie Ihre Pedale ein, treten Sie los. Fahren Sie nach Frankreich, gewinnen Sie die Tour de France. Noch einmal.

Mit freundlichen Grüßen,

Danke für Ihr Vertrauen. Ich hatte sehr schöne und er-folgreiche Jahre im Radsport. Aber wie ich schon oft gesagt habe, diese Zeit ist vorbei. Dieser Entschluss bleibt unverändert. Mein Rennrad ruht auch keines-wegs in meiner Garage, täglich fahre ich im Schnitt ca. 70 km durch meine Schweizer Heimat.

Mit freundlichen Grüßen,

Dann sind Sie ja voll im Training! Ihre Stärke war stets, wie schnell Sie in Form kommen konnten. Wenn Sie das jetzt intensivierten, Aufbautraining auf Mallorca machten, derweil Pevenage Ihnen einen Arbeitge-ber suchte; Die Tour wäre absolut drin. Armstrong ist wieder da, Landis und Basso. Henry Maske, der be-scheidene Mann aus dem Osten, dem Ruhm immer wichtiger war als Kohle, hatte sein Comeback. Und er gewann es. Schumacher, das zweite Lieblingskind der Neunziger. Claudia Pechstein wurde entlastet, Andreas Türck auch.

Herr Ullrich, die Zeit ist reif! Zeigen Sie den Leu-ten, dass ein unbegründeter Dopingverdacht nicht das Letzte ist, womit Jan Ullrich Schlagzeilen macht! Armstrong ist angreifbar. Wer zuletzt lacht...

Mit kämpferischen Grüßen,

Bitte lassen sie locker! Wenn Landis, Basso oder mein guter Freund Henry Comebacks wagen, dann finde ich das gut. Ich für meine Person habe aber anders entschieden. Im Übrigen war ich nie unter Dopingver-dacht.

Mit Lance habe ich mir viele spannende Duelle gelie-fert, meist hat er gewonnen, manchmal aber auch ich. Ich habe keine Revanchegedanken in mir.

Mit freundlichen Grüßen,

Erinnere Dich an die Demütigung. An den Blick, den Dir Armstrong verpasste, bevor er Dich in Alpe d‘Huez stehen ließ. Denke daran, wie Du ihn an den Eiern hattest, 2003 in Cap Découverte und nur der Judas Voigt den Triumph zerstörte. Erinnere Dich, wie er dich 2005 im Auftaktzeitfahren überholte, wie er behauptete, Du hättest in Luz Ardiden nicht warten wollen. Denk an all diese Demütigungen. Wie er mein-te, Du trainiertest nicht genug. Wie er Dir den kranken Mann vorspielte, um Dich dann anzugreifen. Und wie er Klödi den Sieg stahl.

Jetzt ist die Chance, all dies vergessen zu machen. Mehr noch: Das Blatt zu wenden.

Fahr, Jan, fahr wieder! Mit antitexanischen Grüßen,

Sehr geehrter Herr Kirchner,

Jan Ullrich

Sehr geehrter Herr Kirchner,

Jan Ullrich

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Ich glaube nicht, dass ich mich Ihnen weiter erklären muss. Bitte sehen Sie von weiteren Briefen ab. Leute wie Sie bauen erst den Druck auf, der den Sport zerstört. Solche Überhöhungen schaffen die Bedingungen, die Leute unehrlich agieren lassen. Was nicht heißen soll, dass ich je irgendjemanden betrogen habe.

Mach keinen Scheiß! Red Dich nicht um Kopf und Kra-gen! Du musst Dich nicht zu irgendwelchen so genann-ten „Doping“-Sachen äußern. Nicht mir gegenüber, auch sonst nicht.

Sondern FAHR Dich um Kopf und Kragen! Ein Sieger ist immer so groß, wie der Gegner, den er schlägt. Du kannst den Besten besiegen. Mehr noch: Du kannst den Mann schlagen, der mit unfairen Mitteln Dich da-von abgehalten hat, der größte Sportler aller Zeiten zu werden. Mach das Schwein nass. Zeige ihm Schmerz. Fahr ihn kaputt, dass er sich selbst die Zähne kaputt beißt wie Hamilton 2002. Dass er sich in die Hosen scheißt wie Greg Lemond oder dass er leidet wie der König des Schmerzes leiden musste: Du. Zeig ihm, wie es ist, wenn man sein absolutes Limit schon am Fuße des Berges hinter sich gelassen hat, weil das Gewicht der persönlichen Grenze zu hoch wog für den Schlussan-stieg. Zeige ihm, wie es ist, wenn sich die Qual nicht

mehr besiegen lässt. Bringe ihn zu dem Moment, an dem die Natur im Würgegriff des Willens erschlafft.

Fahre Ulle, rotiere, spalte das Meer aus Massen. Do-miniere dieses Stadion genannt Frankreich. Nimm das graue, dreitausend Kilometer lange Band unter die Räder und halte das Tempo. Bestehe, bestehe weiter, bestehe, bis die Ersten nicht mehr mithalten können, dann die Nächsten, dann die Besten, irgendwann Armstrong. Hunderttausende Herzen und zwei un-trügliche Beine sind mit Dir.

Wir werden uns sehen. In der flirrenden Hitze des Midi und im Spritzwasser der Vogesen, an den kah-len Hängen der Alpen, im Wind der Bretagne und auf den rauen Straßen der Pyrenäen. Ich bin der, der dir zujubelt. Der Dir Mut macht, klatscht, mitläuft und anschiebt, Dir Wasser über den Kopf kippt und Zei-tungen reicht. Vor dem Wohnwagen, auf dem Pferd, auf der Bierbank, aus dem Fenster hinaus. Du wirst mich erkennen. Ich bin die Millionen in den Gräben der Landstraßen.

Fahre Ulle, fahre Fahrrad.

nach Diktat verreist

Sehr geehrter Herr Kirchner,

Jan Ullrich

Finn,

JA!

Jan Ullrich

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Ein Brief an hartmutvon Frederik Vogel

Musste heute Morgen lange an Dich denken. Wurde wieder einmal schweißgebadet aus dem Schlaf gerissen. Ich weiß, ich hab‘ mich länger nicht gemeldet. Man lebt sich auseinander, viel um die Ohren gehabt

in letzter Zeit. Ich kann mich noch daran erinnern, wie wir uns damals zwischen Recklinghausen und Gelsenkirchen kennen lernten. In Duisburg musste ich leider schon raus, aber Du hast mir damals die schwarze Karte versprochen, weil ich dir die blaue Meute vom Hals gehalten hab‘. Die Verkleidung stand Dir sogar, das war das Witzige. Ich hab‘ Dir den falschen Schnorres und diese Brille geschenkt, und Du wolltest dich revanchieren. Hast Du nie – und das entspricht so gar nicht dem Ethos, den Du deinem Laden damals eingeimpft hast. Ich hab zum Beispiel immer eingelöst.

Damals gab es noch die Raucherabteile, und ich wusste das auch zu schätzen. Du meintest, dass Du es auch irgendwie gemocht hast, aber der Druck, der Druck von oben – hast Du immer gesagt. Ich hab‘ Dir immer die Stange gehalten, als der Schnee kam, als der ICE deshalb nicht kam, als die Idioten von der Gewerkschaft nicht locker gelassen haben, das Screening war schwer zu verkaufen aber irgendwie auch menschlich.

Heute Nacht war ich schon wieder in Hagen. Du weißt, worauf ich hinaus will. Und Du weißt, dass Du

mir damals versprochen hast, diesen Schandfleck zu erneuern. Und dass das Metropolis wieder aufmacht, darum wolltest Du Dich auch kümmern.Hartmut, das Metropolis ist immer noch geschlossen! Und noch schlimmer: Das Schild hängt noch nicht mal mehr.

Wegen einer beschissenen Minute hab‘ ich da schon wieder 46 Minuten verbracht. Kalt und zugig war es. Und die Scheißtauben haben den Laden im Griff, wie damals! Du wolltest mit Klaus darüber reden, und mit Peer, und später mit Jürgen. Ich weiß, Du bist glühender Vertreter des Laisser-faire. Aber auf der einen Seite immer die Peitsche schwingen und dann wo anders munter laufen lassen, das geht nicht, Hartmut.

Hartmut, würd‘ mich freuen bald nochmal von Dir zu hören. Schlürf ‘ne Auster für mich mit!

PS: Ach so, schickst du mir vielleicht die Brille zurück? Bin bald mit dem Studium fertig, mir wird dauernd gesagt, dass ich jetzt auch eine brauche.

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Brief ans lebenvon Tobias Nehren | Illustration: Mia Hague

Ich habe mich seit jeher gefragt, was Du denkst, wenn ich dies oder jenes tue, oder was dieser oder jener denkt, wenn ich dieses oder jenes sage oder denke. Das war echt oft anstrengend. Im Grunde vermute ich, dass Dich das, was ich hier schreibe,

nicht für fünf Mark interessiert und Dir gepflegt am Arsch vorbeigeht, so Du denn einen hast. Ich bin nach nun mehr 29 gelebten Jahren stark davon überzeugt, dass Dir alles ziemlich egal ist. Du machst einfach, was Du willst. Du hast nichts gegen mich, aber eben auch nichts für mich. Das ist kein Vorwurf! Du meinst das nicht böse, Du ziehst einfach Dein Ding durch, und dabei fällt einfach der ein oder andere mal über Bord und geht hopps. Shit happens. Und manchmal kommt‘s vor, dass einige einfach Glück haben und von Dir nach oben gespült werden. Dass es auf der Welt Franz Beckenbauers gibt, das ist sicher ebensowenig Deine Absicht wie die Tatsache, dass es Leute gibt, die von Dächern springen.

Aber weil das alles so ist, also Dir alles schnurz, wumpe, egal, 88 oder einfach gleichgültig ist, deshalb habe ich jetzt beschlossen, einfach auch mein Ding zu machen. Ich stehe auf ‘nem festen Fundament von Werten und Prinzipien, die ich im Umgang mir meiner Umwelt an den Tag zu legen versuche, das ist klar. Aber ich werde in Zukunft weder mich noch Dich fragen, wenn ich mir was vom Kuchen des Lebens abschneide. Ich werd‘s einfach essen, das Stück, und es mir am Gaumen zergehen lassen. So mach‘ ich das jetzt einfach. Habe ich früher auch schon, manchmal, aber viel zu oft mit dem Hintergedanken, ob ich denn derjenige bin, der Anspruch drauf hat und ob das alles so okay ist. Ich werde in Zukunft nicht mehr ‘ne halbe Stunde mit dem Stück Torte auf dem Teller durch die Welt rennen, denn es meldet sich immer irgendwer, der Lust drauf hat. Also, stell mir nichts hin, das ich nicht auch futtern

darf. Aber kommt ja eh nicht vor, dass Du mir bewusst was hinstellst, weil Dir ja ohnehin alles egal ist.

Wenn ich also in Zukunft Lust habe, von einer Klippe zu springen, dann werde ich das einfach machen und wenn ich Lust habe, betrunken auf der Tanzfläche einer Dorfdisko zu liegen, dann werde ich das machen und wenn ich Lust habe, mich einfach mal unverbindlich zu verlieben, dann kann es vorkommen, dass das einfach passiert. Ich meine, Dich interessiert‘s ja eh nicht, und wenn ich Lust drauf habe, dann werde ich den Leuten, die mich nach irgendeinem Warum und Weshalb fragen, schon irgendwas zu antworten wissen. Wusste ich ja bisher auch immer, denn dumm bin ich ja wahrlich nicht. Ach ja, danke dafür, also dass ich nicht dumm bin.

Und gesagt sei auch noch, dass ich dadurch, dass ich meine Beweggründe erläutere bzw. überhaupt welche habe, Dir, liebes Leben, ja schon um einiges voraus bin, denn Du begründest nie, wenn Du irgendwas machst, verdrehst oder sonstwie beeinflusst. Ich meine, dort bekommt einer Krebs, hier gewinnt einer im Lotto, und da bricht sich einer das Bein, während er versucht, einen Mann vorm Ertrinken zu retten. Dass Du da mal gesagt hättest: „Hey, sorry, da habe ich nicht aufgepasst!“, das habe ich nie erlebt. Darum jetzt hier meine klare Ansage: Ich mache jetzt mein Ding, werde dabei definitiv gewinnen, also so im Ganzen gesehen. Ich mache einfach meinen Stiefel und dabei wird‘s so schlecht nicht gehen und wenn doch, dann weiß ich, dass ich da raus muss, weil Du mir dabei nicht helfen wirst, zumindest nicht mit Absicht.

Ach ja, sollten Beschwerden kommen, also an Dich, die eigentlich an mich gehen sollten, so tut mir das Leid, aber ich bin mir sicher, Du wirst damit klarkommen. Ich versuche zu begründen, warum ich dies und jenes tue und außerdem richte ich nicht absichtlich Schaden an. Versprochen! Habe aber ja bisher auch eigentlich mit den Menschen das meiste richtig gemacht und wenn nicht, dann habe ich es wenigstens im Nachhinein einigermaßen geradebiegen können. In diesem Sinne. Wünsche ich Dir viel, was auch immer, bei was auch immer du so machst, also hauptsächlich. Beste Grüße von hier

Liebes Leben,

Dein Tobi

von Steffen Elbing

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Sommer in der Stadt 201020 Jahre Osnabrücker Sommerkulturprogramm

Zum Zusehen und -hören:

Freitag, 25. Juni: Stummfilm mit LivemusikAxel Goldbeck und das CinematografischeEnsembleMarkplatz Osnabrück, Vorprogramm ab 20 UhrFilm ca. 22 Uhr, Eintritt frei!

Freitag, 16. Juli: Vocal HeroesKonzert mit lokalen Gesangs-KoryphäenHaus der Jugend - 19 Uhr

Kultur im Innenhof - Open Air im HdJKleinkunst, Kabarett, Musik & Comedy14.07 El Mago Masim21.07 Michael Steinke28.07 Andy Sauerwein04.08. Mitternachtsspagetti11.08 Lothar Bölck18.08 Podewitz25.08 Don Clarke

Eintritt: VVK 11,- / AK 13,- EURInnenhof-ABO "5 aus 7" - 40,- EURHaus der Jugend - immer Mittwochs 20 Uhr

Samstag, 14. August: Folk im ViertelDas Osnabrücker Altstadtfest - Musik in allen

Gassen ab 19 Uhr. Dazu Konzerte im Hausder Jugend (Innenhof 20.00 Uhr) und der Lagerhalle (Saal 22.30 Uhr). Eintritt frei!

Zum Zusehen, Hören und Mitmachen:

Samstag, 7. August: Die Goldene Säge 2010Das 16te Osnabrücker Straßenmusikfest

Innenstadt 10 - 16 Uhr, Haus der Jugend ab 18 UhrEintritt frei! Wer mitmachen möchte: Anmeldungunter 0541 / 28956 oder auf der FOKUS-Webseite

In Planung:Digital Urban Screenings

Open Air Kino am Caprivi-Campus

MOKIK unterwegsOpen Air Kino im Schlossinnenhofmit dem Mobilen Kino Kommando

Termine ab Ende Mai unter www.fokus-os.de

Mehr Infos unter www.fokus-os.de und ab Ende Meiim Programmheft "Sommer in der Stadt 2010"

FOKUS e.V., Gr. Gildewart 6-9, 49074 OsnabrückTelefon 0541 / 28956 Mail: [email protected]

20 JahreSommer in der Stadt:

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Schöner Wohnenvon Tobias Nehren | Illustration: Christian Reinken

Manchmal rufe ich bei Menschen aus meinem näheren Umfeld an, weil ich die spontane Neigung verspüre, mich mit ihnen zu treffen, um sich auszutauschen, zu diskutieren, mich mit ihnen zu unterhalten und oder einfach

ein wenig Zeit miteinander zu verbringen. Mit einigen dieser Menschen pflege ich intensive, schwermütig horizonterweiternde, bereichernde Beziehungen und mit anderen treffe ich mich einfach mal so auf ein Bier oder um ins Lichtspielhaus zu gehen. In letzter Zeit, vermehrt seit ich und mein Umfeld den Horizont des 25 Lebensjahres überschritten haben, scheitern diese Treffen aber zunehmend. Vor allem die Treffen mit den Menschen der zuletzt genannten Kategorie, also die Treffen, bei denen es um Bier und Kino an sich geht und bei denen Bier und Kino demnach nicht das Fundament für weitergehende Konversationen darstellen. Ich rufe dann an, schreibe Mails oder nehme andersartig Kontakt auf und bekomme Absagen, die stets ein wenig fadenscheinig daherkommen. Es werden dann Begründungen vorgebracht wie etwa: „Wir müssen hier noch was machen?!“ oder „Nee, heute leider nicht, hiiier sieht‘s aus... Ich muss hier dringend mal ran.“, oder anders geartete Ausflüchte, die irgendetwas mit dem Zustand des den entsprechenden Menschen umgebenden Wohnraums zu tun haben. Worauf ich nur erwidern kann: „?!?“

Wenn ich bei solchen Leuten aber zu Besuch bin, habe ich das Gefühl, ich selbst sei ein hochgradig verlottertes Individuum, welches entmenschlicht und fern jeder Zivilisation auf einem Berg von Müll und Dreck haust, völlig fern jeglichen zivilisatorischen Einflusses. Diese Bekannten leben in einer Ordnung, die zwischen meinem Wohnraum und dem ihren eine ähnliche Lücke klaffen lässt wie zwischen meiner Butze und einer Wellblechhütte in Johannesburg. Denn ihre Wohnungen sind geordnet, arrangiert, wohlsortiert und obendrein passend zur Jahreszeit farblich dekoriert.

Dort findet man Kissen mit kleinen, ohrenartigen Knicken, und es lächeln einen Gästehandtücher im Bad an, und dort riecht es, als wohne hier der Frühling und sei nur kurz mal was zu trinken holen.

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass in meinem Umfeld ein Hobby Einzug hält, dass sich unter dem Begriff „Wohnen“ zusammenfassen lässt. Man könnte mir also auf die Frage, ob man ins Kino gehen möge, ebensogut die Antwort geben: „Nee, heute passt es nicht, sorry. Heute abend wohnen wir schon“. Ich wüsste, was gemeint ist und man müsste keine verbalen Umwege finden. Ich würde dann jeweils viel Freude beim Zeitschriftenblättern, Kataloge- durchstöbern, Sofarücken, Nagelindiewandhauen, Spüleschrubben, Kaffeemaschineentkalken oder beim Handtüchersortieren wünschen.

Ich selbst habe ja auch Hobbys, die ich pflege und bitte darum, dass man diese aktzeptiert, auch wenn nicht zwangsläufig jeder dafür Verständnis hat. Man schaut mich durchaus verwundert an, wenn ich beim Bier davon erzähle, dass ich eben 2,5 Kilometer geschwommen bin und entgegnet mir „Das ist aber nicht normal, oder?“ Nee, ist ebenso abnormal wie das Bemalen von Fantasyactionfiguren unter Einfluss von horrend teueren Tageslichtlampen, das Reisen in virtuelle Welten mit seinem Avatar der Rasse Lichtquäler, der den Namen Fibelschnipser trägt und mit dem man täglich zwei Stunden versucht, Kneubelkrubbel in virtuelles Geld zu verwandeln und ich schreibe auch niemandem vor, er solle nicht in Länder reisen, in denen man von Maisbrei und mit Durchfall leben muss, weil die hygenischen und kulinarischen Bedingungen im Jahre 1735 stehen geblieben sind. Bei der Gestaltung der Freizeit ist einfach Toleranz geboten.

Und deshalb aktzeptiere ich Menschen die gerne „Wohnen“. Ja vielmehr noch, ich habe sogar einen Plan geschmiedet, wie ich daraus Profit schlagen kann. Ich selbst pflege mein Hobby seit neuestem in einem Fitness-Studio, wo mir alles, was ich zur körperlichen Ertüchtigung benötige, zur Verfügung gestellt wird. Hanteln und Crosstrainer, Rudergeräte und Bauchmuskelautomaten und ein Schwimmbecken gibt es da – und sogar Trainer, die gruppenweise Menschen gleichen Interesses dabei anleiten, wie man richtig hüpft oder schwimmt oder tanzt oder cruncht.

In diesem Zusammenhang kam mir nun der Plan in den Kopf, dass ich eines fernen Tages mein Geld in etwas investiere, dass ich dann ein „Wohnstudio“ nenne. Ich miete eine Fläche von vielen Quadratmetern und biete Menschen, deren Hobby das „Wohnen“ ist, die Möglichkeit, sich gegen Bezahlung dort nach Feierabend mit Wohnen zu entspannen. Sie können dort aus 30 unterschiedlichen Sofatypen wählen, Gardinenfarben aussuchen, Möbelbaussätze aufbauen und aufstellen, Wände streichen, Kataloge blättern, Kissen aufschütteln, die komplett mobilen Einrichtungen verschieben und viele andere Dinge tun, die wohnende Menschen sonst noch so treiben. Und nicht nur das, die Wohnenden können ihrem Hobby sogar gemeinsam fröhnen. Dienstags um 17 Uhr findet immer der Kurs „Neo-Feng-Shui“ statt und mittwochs erläutert ein Raumakustiker, wie man das beste „Audioklima“ durch die Positionierung von Paravents und Vorhängen schafft, freitagmorgens kann man vor Dienstbeginn noch am Kurs „Schnelles Möbelrücken für Buisnessgestresste“ teilnehmen, und am Wochenende brummt die Bude richtig, wenn die Kurse „Ordnen schafft Platz“ und „New Country Look selbstgemacht“, „Wohnen mit Fliesen“ und „Pan-Asia Living-rooms“ direkt nacheinander angeboten werden.

Aber solche genialen Erfindungen wie mein „Wohnstudio“ bergen wie alle großen Erfindungen auch Risiken, über die ich mir durchaus meine Gedanken mache. Damit es mir nicht so geht wie dem guten Einstein, der mit seiner Relativitätstheorie einfach mal die Physik revolutionierte, aber nicht bedacht hatte, dass darauf auch der Bau der Wasserstoffbombe hervorgehen könnte.

Ich frage mich also, was denn mit den armen Seelen geschieht, die dem „Wohnen“ förmlich verfallen. Die Wohnsüchtigen, die nur noch leben für das nächste Möbelrücken, diejenigen, die ihr gesamtes Vermögen bei Ikea und beim dänischen Bettenlager verzockt haben; die, bei denen sich die Sofas im Keller stapeln, weil sie immer hinter dem nächsten Trend herlaufen müssen; die, die vom ständigen Möbelrücken bereits ein chronisches Karpaltunnelsyndrom haben. Ich weiß nicht, ob ich das verantworten kann, ob ich mit dieser Last leben könnte, dass ich zwar reicher König der größten Wohnstudiokette der Welt wäre, aber gleichzeitig auch viele Menschen in ihr wohnendes Verderben geführt hätte.

Ich weiß es nicht, ich wohne nicht.

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twittern in Spargelvon Finn Kirchner

Ein Plattenbau zieht vorbei. Nichts unterscheidet ihn von denen in Berlin und nichts von denen in Warschau. Noch einer. Wieder kein Unter-schied. Dann keiner mehr. Und das ist der Un-terschied.

Ich habe keinerlei Meinung zu dieser Gegend. Durch die Zugscheibe sehe ich die Menschen und die Au-tos und die Plattenbauten, aber warum sollte ich mich gedanklich mit ihnen befassen? Sie sind Transitkulisse. Wie Rehe neben der Autobahn. Kuck ma, Reh! Wann sieht man schon mal ein Reh? Auf dem Weg, sonst nie. Genau wie diese Gewächshäuser und diese Höfe und diese Leute und Stromleitungen. Im Zug schlagen wir uns die Zeit tot, die es nun mal dauert, dieses ewig lange Land zwischen Hauptstadt und Hauptstadt zu durchqueren. Spielen Solitär und warten, bis auf der anderen Seite das Leben weitergeht. Diese sechs Stun-den Zeit sind unser Zugeständnis an den Raum.

Wie ekelhaft! Als ob dieser Raum nicht auch irgend-wessen Lebensmittelpunkt wäre. Genau wie Hamburg oder Marseille oder sonst irgendwo, wo man sagt „hier könnte ich leben“. Hier können die Leute auch leben. Tun sie ja, siehste doch! Hier gibt es ja auch Kneipen und Beziehungskisten und Jobs und neue Musik ken-nenlernen. Ländlicher Raum ist nicht nur was für Kin-der zum darin Aufwachsen, zum Wegziehen. Aber das check grad‘ nur ich.

Der Zug müsste jetzt mal eine Panne haben! Aber nicht in einer der kleinen Städte, wo die Passagiere sich in eines des wenigen Cafés verkriechen und auf den Abendzug warten können. Sondern so richtig! Im Nix. Dann stünden wir da nämlich blöd, in der Sonne. Und müssten laufen. Erstmal könnten wir uns freuen,

dass der neue Laptop leichter ist als der alte, endlich zahlt sich‘s aus. Gleich mal twittern! Aber dann würden wir schnell merken, dass unsere Schuhe zu dünn sind für den gepflügten Spargelacker. Und weiß eine be-schissene Hosenfarbe. Und wenn wir im nächsten Dorf ankämen, dann fänden die Einheimischen Neonjacken und türkisfarbene Schuhe und affige Brillen und enge Hosen und Undercuts vielleicht gar nicht ironisch, son-dern vor allem schwul. Und dann kritisierten wir das zwar, dass die nicht so homophob sein sollen. Aber recht bald wären wir dann auch recht zügig am erklä-ren, dass wir, obwohl es keinen Unterschied macht, doch primär heterosexuell seien.

Dann kann der Chris ja mal schauen, ob‘s ‘ne App zur Abwehr angetrunkener polnischer Dorfnazis gibt. Gibt’s nämlich nicht! Und der Phil kann versuchen, die-se mit seinem Holzfällerhemd als Gastgeschenk zu be-sänftigen. Haben die aber schon. Und dann komm‘ ich nämlich, Schlaumeier, und hab‘ in Warschau am Bahn-hof noch ‘ne Pulle Wodka eingepackt. Und die geb‘ ich denen dann, und dann sagen die „trotzdem Wichser, aber okay“ und trollen sich. Und ich ruf ‘ denen hin-terher „Sagt wenigstens danke, ich hab euch grad‘ ‘ne Flasche Wodka geschenkt!“ und der Phil und der Chris sagen „Bist du bescheuert, jetzt lass die gehen, sei froh dass sie von uns ablassen!“ Aber ich ruf weiter: „Der Vollrausch geht auf mich. Jetzt sagt endlich danke!“ und die anderen meinen „Lass es doch! Die verstehen dich eh nicht“ und ich ruf „dziekuje, dziekuje!“, weil ich „jetzt sagt endlich“ nicht auf Polnisch sagen kann. Und alles das kann ich mir auch erlauben, denn Alkohol ist der Gleichmacher von Stadt und Land.

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Spülen und Vergessenvon Urs Ruben Kersten | Illustration: Mia Hague

Jetzt also dreißig. Zwar hatte er sich vorgenom-men, das alles möglichst unaufgeregt über sich ergehen zu lassen, aber diese Feier hatte er dann natürlich doch gegeben. Das gehörte zu seinem Plan, der ganzen Hysterie Paroli zu bieten. Er

feierte jedes Jahr, warum also ausgerechnet in diesem nicht? Ein Freund von ihm war damals nach Norwegen geflohen und von einem Fjord ins Meer und damit in den nassen Tod gestürzt. Das war natürlich gelogen, der Freund kam nach zwei Wochen gesund und erholt aus Norwegen zurück, aber übertrieben war es trotz-dem gewesen.

Die einen gerieten in furchtbare Aufregung, die an-deren blieben betont cool. Zwar verfiel kaum jemand vollständig einem dieser beiden Extreme, aber nur wenige schafften es, nicht allzu deutlich in Richtung des einen oder des anderen zu tendieren. Er schien, das hatten ihm auch Bekannte bestätigt, erfolgreich den Mittelweg zu beschreiten. Doch war ihm klar, dass auch er, allein durch die Tatsache, dass er so angestrengt über die ganze Sache nachdachte, dem Ganzen zu viel Bedeutung beimaß und somit nicht besser war als jene, die sich übertrieben lässig gaben und jene, die komplett durchdrehten. Es war zum Mäuse melken.

Vergänglichkeit, Verfall, diese ganze Scheiße, klar dach-te er darüber nach, das hatte er ja auch vorher schon getan. Aber dass ihn das ausgerechnet jetzt so geballt traf ärgerte ihn, obwohl es wenig wunderte. Vielleicht gründete sein Ärger auf der inneren Ablehnung des Klischees oder es ärgerte ihn einfach nur so, wer ver-mochte das schon zu sagen? Auch der Wunsch nach Veränderung hatte sich in sein Denken eingeschlichen und eines Tages stellte er mit Schrecken fest, dass er begonnen hatte, innerlich Bilanz zu ziehen. Zwar war es ihm gelungen, den ersten Schock durch massive Alkoholzufuhr abzumildern, doch die Gedanken, oh

Wunder, verschwanden nicht. Arbeit, Familie, Zukunft so ganz im Allgemeinen, es war nicht zum Aushalten. Alles war eine Katastrophe.

„Auf die Mittelmäßigkeit!“, hatte er einem Fremden in der Kneipe zugeprostet.

- „Isch rechd. Gibschd aan aus?“

Warum nicht? Aufstehen, Nägel schneiden, wieder hinlegen. Und dann wieder von vorn.

Er hatte sich überlegt, in der Nacht seiner Feier mal ein paar Minuten vor die Tür zu gehen und ein biss-chen zu weinen, nur für sich. Hinausgegangen war er tatsächlich, doch anstatt zu weinen, hatte er nur eine geraucht. Eine Weile hatte er durch Augen-zusam-menkneifen versucht, wenigstens ein, zwei Tränen herauszudrücken, vergeblich. Den ihn daraufhin be-schleichenden Frust hatte er mit ein paar Bieren fort-zuspülen versucht, mit durchaus respektablem Erfolg. Mit Bier besiegt! Das fand auch ein Großteil der Anwe-senden komisch, einige bestanden sogar darauf, dass das ein „richtig guter Songtitel“ sei. Was genau er damit gemeint hatte, teilte er niemandem mit. Trotzdem war eben jenen, die über diesen Spruch lachen konnten, klar, welche tiefere, wenn auch nicht tiefe Bedeutung ihm innewohnte. Auch ihnen war der Vorgang des Fortspülens, welcher je nach Vorliebe mit Bier, Wein oder Hochprozentigem durchgeführt werden konnte, vertraut. Das ist es wohl, was in der Fernsehzeitung im-mer mit dem Begriff Tragikomik beschrieben wird.

Die anderen Gäste tranken weiterhin Tee oder Fan-ta und fanden das weder komisch noch tragisch und gingen dann auch deutlich früher als die Fortspü-ler. Warum kamen die überhaupt auf so eine Feier? Pflichtgefühl? Wollten sie sich selbst ihrer Überlegen-heit versichern, ihres Glückes, nicht zu einer Fortspül-maschine geworden zu sein? Oder aber um sich an-schließend mit dem Partner ins Bett zu kuscheln und so richtig schön zu bilanzieren? Die hatten doch auch mit dem inneren Widerstreit von diesem und jenem zu kämpfen, so blöd waren die ja auch nicht. Aber ent-weder bekamen die das irgendwie in den Griff oder sie ließen sich nichts anmerken. Oder sie waren doch genau so blöd, konnte sein. Das hatte er auch schon früher in Erwägung gezogen, eine einfache Erklärung zwar, aber eine durchaus plausible. Wie hieß noch

„Your make-believe reality is full of shit. “Entombed, ’Out of Hand’

dieser irische Dichter, der mit dem Whiskey-Rekord? Da lief erst kürzlich eine Sendung im Fernsehen, die-sen Menschen betreffend. Vielleicht sollte er die im Internet suchen und sich erneut anschauen. Nichts ein-facher als das, als Digital Native zumal. Sicher musste man nicht über einen besonderen Intellekt verfügen, um sich dem Alkohol hinzugeben, jedoch schien der Segen eines einigermaßen intakten Verstandes eine Herausforderung an die eigenen Kontrollmechanis-men darzustellen.

Vielleicht hätte er ebenfalls nach Norwegen fahren sollen. Nicht flüchten, nur in den Urlaub, völlig unauf-geregt. Was hatte der Freund wohl in diesen zwei Wo-chen unternommen, oben in Norwegen? Fortgespült hatte er vermutlich nichts, nicht bei den dortigen Bier-preisen. Und Proviant für vierzehn Tage passte nicht ins Handgepäck. Sollte er den Freund nachträglich doch noch beneiden? Aufgrund der Tatsache, dass er zwei Wochen in Norwegen gewesen war, vielleicht. Da hat-te er selbst auch mal hingewollt, da sei es ja, wie man häufig hörte, landschaftlich sehr schön. Aber darüber hinaus wollten in ihm keine Neidgefühle erwachsen, mochte es für den Freund der richtige Weg gewe-sen sein, der seine war es sicher nicht. Er lehnte sich zurück und zog an seiner Zigarre. Wo die auf einmal hergekommen war, konnte er sich nicht erklären, aber er störte sich nicht an ihrer Gegenwart. Ausgestanden war es noch lange nicht, jedoch hatte sich ein versöhn-

liches Moment in die Sache eingeschlichen. Zwar war es das Schicksalhafte an seiner Lage, das ihm die gan-ze Zeit zuwider gewesen war und ihn auch nach wie vor bedrückte. Doch bekam er langsam eine Ahnung davon, dass er sich mit diesem Umstand, wie auch mit der Sache selbst, würde arrangieren können. Ausge-liefert zu sein erleichterte nichts per se, doch warum den Fatalismus bekämpfen, wenn man ein bisschen mit ihm kuscheln konnte? Zweifellos würde eine Zeit des Nachdenkens und Fortspülens vorangehen, doch dem sah er gelassen entgegen. Nachgedacht und Fortge-spült hatte er in der Vergangenheit bereits ausgiebig, das konnte er, gleichzeitig, abwechselnd, nacheinan-der, Reihenfolge egal. Anstatt die Anwesenden an sei-nen Überlegungen teilhaben zu lassen, warf er erneut ein paar, dessen versicherten ihn die Umstehenden, „richtig gute Songtitel“ in die Runde und ließ diesen einige „hervorragende Bandnamen“ folgen. Er war für die nächste Dekade gerüstet.

EPIlOG

“why do you drink so much?”“To forget.”- “To forget what?”“I don’t know, I forgot that a long time ago.”

frank Sinatra, dean Martin

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Die Kette erzeugt ein monotones Surren, das durch meine tiefen und gleichförmigen Atem-züge unterlegt wird. Dies wird sich im Laufe der nächsten Stunden grundlegend ändern, denn vor mir liegen Momente voller Leid und

Schmerz, in denen Milchsäure meine Muskeln bren-nen lassen wird und die dünne Luft gepaart mit dem untersättlichen Bedarf meines Körpers nach Sauerstoff mich nach Luft schnappen lassen wird wie ein Fisch, den der Ozean in den heißen Sand einer tropischen Insel geworfen hat. Ich bin Radrennfahrer.

Es wird nicht darum gehen, wer an diesem Tag der bessere Rennfahrer ist, einzig die Fähigkeit, Leid zu ertragen, wird entscheiden, wer am Ende des Tages frierend und zitternd vor Erschöpfung im Bett liegen und wer mit einem Lächeln des Triumphs, sich genussvoll der Erschöpfung hingebend 6 seelige Stunden Schlaf wird genießen dürfen.

Ich und meine Mitstreiter sind bei Kilometer 150 angelangt, und unsere unausgesprochene Vereinbarung wird nur noch wenige Augenblicke bestand haben. Spätestens wenn der Asphalt unter unseren Reifen sich wie eine schwarze Wand vor unseren Augen aufbaut, wird jeder von uns nur für sich zu kämpfen beginnen. Ich nehme noch einmal einen tiefen Schluck Wasser aus meiner Trinkflasche, ehe ich sie im Straßengraben entsorge und mir von meinem Teammanager aus dem Autofenster zwei neue Flaschen geben lasse. Ich setze mich im Sattel auf, greife in eine der Taschen meines klatschnassen Trikots und greife ein Energiegel. Ich drücke mir den widerlich schmeckenden Brei in den Hals. Das einzige, das in diesem Moment den Würgreflex unterdrückt, ist das Wissen, dass nur diese klebrige Masse mein Leid in den kommenden Momenten ein wenig erträglich machen wird. Ich werfe, ehe ich meine schmerzenden Hände wieder auf

den Lenker lege, noch einmal einen Blick in die Augen meiner Mitfahrer. In den letzten drei oder vier Stunden haben wir gemeinsame Arbeit geleistet und haben uns beständig um ein unsichtbares Zentrum gedreht, stets den Windschatten des Anderen suchend. Jeder in der Gruppe wusste, dass der Sieg eines jeden Einzelnen nur durch die Gemeinschaft zu erreichen sein wird. Die Augen meiner Mitstreiter sitzen tief, und die Hitze und der Schweiß haben weiße Salzränder um den Mund entstehen lassen. Ihre Münder stehen offen, und ihre Gesichter stehen ausdruckslos im Wind. Dennoch stampft jeder der neun Männer, ohne Unterlass, seine rasierten Waden in die Pedalen, in der Hoffnung, dass dies sein Tag werden kann.

Einige Sekunden später geht mein Vordermann aus dem Sattel und versucht sein Glück in einer Flucht. Ich speie einen Fluch in die flirrende Hitze, stelle mich in das Pedal und hänge mich in seinen Windschatten. Diesen Sieg werde ich jetzt nicht hergeben, nicht jetzt und nicht hier und nicht, nachdem ich bereits unzählige Pedalumdrehungen gelitten habe. Es tut weh und ich möchte ihm dafür Schmerzen bereiten, wie er mir Schmerzen bereitet, und ich will, dass er leidet, weil ich leide und ich schwöre, er wird büßen für diesen Angriff.

Augenblicke später - Gott oder sonstwer, der uns hierher verfrachtete, hat sie gezählt - verspüre ich ein Brennen in beiden Oberschenkeln und in den Fußsohlen und in den Waden, und wenn ich die Kraft hätte, würde ich schreien, aber mein Kopf weiß, dass Weinen oder Brüllen nur Energie und Konzentration kosten, die ich jetzt dringend brauche. Ansonsten erfüllt das Hirn vielmehr lebensnotwendige Aufgaben. Es lässt mich nach Atem schnappen und sorgt dafür, dass ich regelmäßig das Gewicht von der einen auf die andere Seite verlagernd in die Pedale drücke und das Rad unter mir hin und herwiege. Aus der Gemeinschaft der Neun, die in diesen Anstieg hineingefahren sind, sind nur noch ich und ein verfluchter, dreckiger Baske zurückgeblieben. Dieser hat den ganzen Tag die Gruppe für sich schufften lassen und sich erholt, wo er konnte. Nun zupft er jedesmal, wenn der Berg seinen Anstieg etwas steiler in den Himmel schraubt, am Tempo, geht aus dem Sattel und versucht, mir mehr Schmerz zu bereiten, auf dass ich mich dem Wunsch hingebe, die Beine für Momente hängen und ihn ziehen zu lassen. Vor uns das Tor, das uns anzeigt, dass

tortourvon Tobias Nehren | Illustration: Stefan Berendes

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noch drei Kilometer zu fahren sind. In einer guten Hand voll Minuten ist alles vorbei, alles entschieden, einer umjubelt, interviewt und beklatscht, einer ignoriert und innerlich wie äußerlich am Boden zerstört. Da geht er aus dem Wiegetritt in den Sattel, um sich für fünf oder zehn Kurbelumdrehungen zu erholen und mich durchfährt es wie ein Blitz. Vorsichtig drücke ich mit dem Zeigefinger einen höheren Gang auf das hintere Ritzel, höre wie der Umwerfer die Kette umlegt und steige aus der Pedale. Niemand, nicht mal Gott, weiß, woher ich die Fähigkeit nehme, aber das Adrenalin, dass durch meinen Körper schießt, lässt mich noch einmal einen Angriff wagen. Die Ader auf meiner Stirn pulsiert, und ich glaube, der Helm könnte unter dem Druck, den das zurkulierende Blut erzeugt, platzen.

Und ich höre in meinem Ohr nur die Worte meines Sportdirektors, der irgendetwas von „Lücke, Lücke“ schreit, und ich verabscheue ihn, denn er sitzt in seinem bequemen Auto mit

Fensterhebern und Klimaanlage. Der Rest geht im Jubel der Menschen unter, die schon seit einer Ewigkeit die Strecke säumen. Die Masse teilt sich direkt vor meinem Rad, und ich habe das Gefühl, durch einen Nebel von Menschen zu fahren, nur Tritt für Tritt erahnend, wohin ich das Rad steuern muss. Hände schlagen mir auf die Schultern und heisere, nach Wein und Bier stinkende Kehlen gröhlen mir ins Gesicht. Was, das kann ich nicht verstehen und wer, das kann ich nicht erkennen. Ich fahre unter dem roten Dreieckstuch hindurch und weiß, dass ich nur noch 1000 Meter vor mir habe. Der letzte von gottverdammten 175 Kilometern liegt vor mir, und ich hasse die Sonne, die über meinem Kopf steht und ich hasse die Menschen, die diesen Streckenverlauf festgelegt haben und ich hasse den Asphalt unter meinen Reifen und ich hasse meinen Beruf und das Radfahren und den Schweiß und die Zuschauer und mein Leben. Ich setze mich auf, ziehe den Reißverschluss meines Trikots zu, reiße die Arme in die Luft und lasse mich von der Welt umarmen.

Ich bin Etappensieger, ich regiere die Welt, ich bin unsterblich.

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DIE lEtZtE SEItE IMPRESSUMKommunikazeZeitschrift für facts & fiction

GEGRüNdET vON:Jan PaulinDarren GrundorfStefan Berendes

REdAkTION:Stefan Berendes (ViSdP)Anna GroßKalle KalbhennOlker Maria VarnkeTobias Nehren Penelope ProustSteffen ElbingFinn KirchnerJudith KantnerJörg EhrnsbergerUrs Ruben Kersten

GASTAuTOREN:Sebastian BrackeFrederik Vogel

fINANZEN | REkLAME:Volker Arnke

LAYOuT | SATZ | GRAfIk:Stefan Berendes

BILdQuELLEN:www.photocase.com

COvERfOTO:© Almogon | www.photocase.com

ILLuSTRATIONEN:Christian ReinkenMia HagueStefan Berendes

LEkTORAT:Volker ArnkeDorothee SchnackenbergStefan Berendes

dRuCk:Druckerei Klein, OsnabrückTel. 0541/596956

AufLAGE:1.100 Exemplare

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c/o AStA der Universität OSAlte Münze 1249074 Osnabrü[email protected]

Die mit Namen gekennzeichneten Bei-träge geben nicht zwingend die Mei-nung der gesamten Redaktion wieder. Falls in dieser Ausgabe unzutreffende Informationen publiziert werden, kommt Haftung nur bei grober Fahrläs-sigkeit in Betracht.

Wie wir ja in der letzten Ausgabe - weitgehend folgenlos - erwähnt haben, feierte die Kommunikaze Anfang des Jahres ihr siebenjähriges Bestehen. Wir sind aber beileibe nicht das einzige bedeutende

Geburtstagskind. Vielmehr gelten unsere Glückwünsche zum sage und schreibe 20. Geburtstag dem forum Osnabrück für kultur und Soziales (FOKUS e.V.), das seit so vielen Jahren nicht nur selbst ein Garant für qualitativ hochwertige Kulturveranstaltungen und buntes Treiben aller Art ist, sondern auch immer wieder Kultur-Neulingen und Dilettanten mit Rat und Tat zur Seite steht, darunter auch Kommunikaze.Happy birthday, liebe Tante fOkuS!

Eein unvergesslicher Fußballvormittag (übliche Anstoßzeit 8 Uhr) mit Kommunikaze: Zu gewinnen gibt es wahlweise zwei Karten zu einem Spiel der vierten Mannschaft des Spielvereins 16 gegen einen auf jeden Fall

schlagbaren Gegner oder einen Platz in der Startelf. Herz, was willst Du mehr? Freut Euch auf ein Sportfest mit ausgewählten Kommunikaze-Redakteuren auf unterschiedlichen Positionen und in unterschiedlich tragenden Rollen – zum Beispiel auf der Ersatzbank. Setzt Euch auf selbige neben den womöglich wieder nur mit einem Frotteehandtuch und einer stofflosen Fahne ausgestatteten sowie völlig bewegungsunfähigen kalle kalbhenn und fachsimpelt mit den nicht vorhandenen Zuschauern oder mit Euch selbst. Unser Tipp: Nehmt dieses Heft mit zum Spiel und Ihr bekommt keine Bratwurst, keine Fritten und kein Bier, dafür dürft Ihr beim Halbzeitspiel im Bierfassrollen Olker Maria varnke die Hachsen zeigen, oder beim Torwandschießwettbewerb gegen Sebastian Bracke selbigen durch Treffen alt aussehen lassen. Oder noch besser: Bleibt lieber im Bett, auch wenn der SV 16 IV jede Unterstützung im Abstiegskampf gebrauchen kann, um den Spielbetrieb auch in der nächsten Saison auf dem derzeitigen Niveau halten zu können!

kommunikaze 37 erscheint voraussichtlich im Juli 2010 Redaktions- und Anzeigenschluss ist der 21. Juni 2010

lEtZtE WORtE:

21— 25 April 2010

Ausstellung 21 April — 24 Mai 2010

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Medienpartner KulturpartnerFörd erer

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