36
09I21 Soldat in Welt und Kirche ISSN 1865-5149 KOMPASS Die Zeitschrift des Katholischen Militärbischofs für die Deutsche Bundeswehr © Peacezeichen: Anne Punch – stock.adobe.com, Hintergrund: kastanka – stock.adobe.com

KOMPASS - katholische-militaerseelsorge.de

  • Upload
    others

  • View
    5

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: KOMPASS - katholische-militaerseelsorge.de

09I21Soldat in Welt und Kirche

ISS

N 1

865-5

149

KOMPASSDie Zeitschrift des Katholischen Militärbischofs für die Deutsche Bundeswehr

© P

eac

eze

ichen: Anne P

unch

– s

tock

.adobe.c

om

, H

inte

rgru

nd: ka

stan

ka –

sto

ck.a

dobe.c

om

Page 2: KOMPASS - katholische-militaerseelsorge.de

2 Kompass 09I21

INHALT

Titelbild: © Peacezeichen: Anne Punch – stock.adobe.com (auch auf den folge Seiten), Hintergrund: kastanka – stock.adobe.com

Titelthema Frieden

6 Interview mit Michael Staack, Helmut-Schmidt-Universität

10 Interview mit Bischof Jonas Dembélé, Mali

14 Doomsday Clock

16 Frauen für Frauen

Impressum

KOMPASS. Soldat in Welt und Kirche

ISSN 1865-5149

Redaktionsanschrift

KOMPASS. Soldat in Welt und Kirche

Am Weidendamm 2

10117 Berlin

Telefon: +49 (0)30 20617-421

E-Mail: kompass@katholische-

soldatenseelsorge.de

Chefredakteurin Friederike Frücht (FF)

Redakteur Jörg Volpers (JV)

Bildredakteurin, Layout Doreen Bierdel

Lektorat Schwester Irenäa Bauer OSF

Herausgeber

Der Katholische Militärbischof

für die Deutsche Bundeswehr

Druck

ARNOLD group

Am Wall 15 in 14979 Großbeeren

Leserbriefe

Bei Veröffentlichung von Leserbriefen behält

sich die Redaktion das Recht auf Kürzung vor.

Hinweis

Die mit Namen oder Initialen gekennzeich-

neten Beiträge geben nicht unbedingt die

Meinung des Herausgebers wieder. Für das

unverlangte Einsenden von Manuskripten und

Bildern kann keine Gewähr und für Verweise

in das Internet keine Haftung übernommen

werden. Bei allen Verlosungen und Preisaus-

schreiben in KOMPASS. Soldat in Welt und

Kirche ist der Rechtsweg ausgeschlossen.

Internet

www.katholische-militaerseelsorge.de

Social Media

Rubriken

4 Buch-Tipp: Wenn Mama oder Papa in den Einsatz geht

19 zum LKU: Identität

24 Kolumne der Wehrbeauftragten

26 Auslegeware: Monarchie in Israel

28 Auf ein Wort: Vorstellungskraft

33 Film-Tipp: CHARLATAN

34 Buch-Tipp: Eine kurze Geschichte der Menschheit

34 VORSCHAU: Unser Titelthema im Oktober

35 Rätsel

TIPP:Beilage

Betreuung aktuell 2/2021 der

KAS / EAS und OASE

im Mittelteil

33

22

Aus der Militärseelsorge

20 11. September – 20 Jahre

22 Mission Statebuilding erledigt?

30 Gemeinsam für die Menschen da sein

Glaube, Kirche, Leben

32 Interkulturelle Woche

© t

rentinness

– s

tock

.adobe.c

om

Page 3: KOMPASS - katholische-militaerseelsorge.de

3Kompass 09I21

„Das Leben wirdvorwärts gelebt und rückwärts verstanden.“

wir leben in einer Welt, die immer komplexer wird. Alles ist irgendwie miteinander verknüpft. Mein Verhalten hat möglicherweise nicht nur Auswirkungen auf mein Umfeld, sondern auch auf Menschen am anderen Ende der Welt oder die Natur. Manche Dinge kann ich positiv beeinflussen. So kann ich zum Beispiel versuchen, nur saisonales und regionales Gemüse einzukaufen. Auf anderes kann ich persönlich vermutlich keinen Einfluss nehmen, ob es zum Beispiel in anderen Regionen der Welt kriegerische Auseinandersetzungen gibt.

Anders verhält es sich mit internationalen Organisatio-nen wie der NATO oder den Vereinten Nationen. Diese können in Absprache mit den einzelnen Ländern unter-schiedliche Unterstützungsangebote machen. Dabei fallen schnell Begriffe wie Statebuilding und Peace-keeping. Was diese eigentlich aussagen, können Sie in dieser Ausgabe lesen. Neben dieser wissenschaft-lichen Perspektive finden Sie aber auch persönlichere und individuelle Einblicke. So konnten wir mit einer ehemaligen Krankenschwester in Jordanien sprechen, die uns über ihren Umgang mit Herausforderungen berichtete. Auch der Bischof aus Kayes in Mali hat auf einige unserer Fragen geantwortet.

Die unterschiedlichen Perspektiven beziehen sich nicht alle auf die Vergangenheit, sondern zeigen vor allem, wie wir durch unser Handeln aktiv an der Gestaltung der Gegenwart teilnehmen können.

Ich wünsche Ihnen eine inspirierende Lektüremit neuen Einblicken.

Friederike Frücht, Chefredakteurin

Liebe Leserin, lieber Leser,

„Das Leben wirdvorwärts gelebt undrückwärts verstanden.“

Søren Kierkegaard

EDITORIAL

© K

S /

Dore

en B

ierd

el

Page 4: KOMPASS - katholische-militaerseelsorge.de

4

BUCH-TIPP

Wenn Mama oder Papa in den Einsatz gehtDie zwei neuen Kinderbücher des Zentralinstituts für Ehe und Familie in der Gesellschaft (ZFG)für Soldatenfamilien im Rahmen der Kooperation mit dem Katholischen Militärbischofsamt

Nach dem überaus erfolgreichen Kinderbuch für Soldatenfa-milien „Jonas wartet aufs Wochenende“, das die Thematik

des Pendelns und der Wochenendbeziehung aus Kinderpers-pektive behandelte, folgen nun zwei neue Bücher des ZFG. Im Rahmen der Kinderbuchreihe werden die allgemein wichtigen Themen des Berufslebens von Soldatinnen und Soldaten so aufbereitet, dass sie insbesondere von Kindern von etwa drei bis acht Jahren leicht nachvollzogen werden können. Die zwei neuen Werke behandeln die Herausforderung des Ausland-seinsatzes aus der Perspektive der kleinen Lena und ihres Bruders Max.

Die Besonderheit dieser Bücher ist, dass Lena und Max den Auslandseinsatz einmal erleben, wenn Mama als Soldatin in den Einsatz geht im Band 2: „Lena und Mamas Auslandsein-satz“, während Band 3 „Lena und Papas Auslandseinsatz“ den Einsatz aus der Kinderperspektive behandelt, wenn Papa in den Einsatz verlegt.

Damit kommt das Team des ZFG dem häufig geäußerten und sehr gut nachvollziehbaren Wunsch nach, diese Herausforde-rung gesondert zu behandeln und die leichtere Vermittlung für Kinder zu unterstützen.

TIPP:Alle Bücher der

Kinderbuchreihe des ZFG können kostenlos beim Katholischen Militärpfarr-amt an Ihrem Standort

bezogen werden.

© Z

FG /

Illu

stra

tion: Ilo

nka

Bab

erg

, au

s dem

Buch

„Le

na

und M

amas

Ausl

andse

insa

tz“

Zum ausmalen!

Kompass 09I21

Page 5: KOMPASS - katholische-militaerseelsorge.de

5Kompass 09I21

BUCH-TIPP

© Z

FG /

Illu

stra

tion: Ilo

nka

Bab

erg

, au

s dem

Buch

„Le

na

und M

amas

Ausl

andse

insa

tz“

Zum ausmalen!

Für viele Soldatenfamilien stellen, neben den Wochenendbeziehungen, insbeson-dere Auslandseinsätze, Manöver sowie einsatzähnliche Verwendungen eine besondere Herausforderung dar. Diese dauern meist mehrere Wochen oder gar Monate.

Kinder im Kindergarten- und Grundschul-alter sind besonders verletzliche Fami-lienmitglieder. Diese befinden sich in einer Lebensphase, in der neuartige, unbekannte oder belastende Situationen noch überwiegend emotional verarbeitet werden. Sie erleben ihre Umwelt stark visualisiert – also in Bildern – und haben noch keinen bzw. einen eingeschränk-ten Zeitbegriff. Ab etwa dem siebten Le-bensjahr ist ein Kind überhaupt erst in der Lage, zunehmend abstrakt, global und vorhersehbar zu denken. Wie also können einem kleinen Kind die Heraus-forderungen, die ein Auslandseinsatz seiner Mutter bzw. seines Vaters mit sich bringt, verständlich „vor Augen“ geführt“ werden? Wie können zugleich Hilfestellungen angeboten werden, die für das Kind nachvollziehbar und eine echte Unterstützung sind?

Bereits ab ca. drei Jahren hilft es Kin-dern, wenn sie sich mit einem anderen Kind identifizieren können, welches ähnli-che oder sogar gleiche Dinge erfährt wie sie selbst. Mit Hilfe eines Bilderbuchs kann das Kind zum einen schwierige, belastende Situationen im Bild nachvoll-

ziehen. Zum anderen bekommt es mit, wie ein anderes Kind damit umgeht und diese Situation bewältigt.

Aus diesem Grund wurden die beiden neuen Kinderbücher des ZFG konzipiert. Kinder haben dadurch die Möglichkeit, in idealisierter Form einen Auslandsein-satz ab dem Zeitpunkt der Bekanntgabe bis zum gemeinsamen Urlaub nach der Rückkehr von Mutter oder Vater „nach-zublättern“ oder vorgelesen zu bekom-men – und so auch ihr eigenes Erleben einzuordnen. Es entsteht Sicherheit, wenn Kinder sich identifizieren können und beispielsweise sagen können: „Bei Lena ist es wie bei mir!“ Der Auslandsein-satz mit seinen Herausforderungen und aufkommenden Gefühlen wird für das Kind leichter nachvollziehbar. Obwohl die Kinderhauptrolle mit Lena als Mäd-chen „weiblich“ besetzt ist, so hat diese jedoch ihren Bruder Max, der nachvoll-ziehen lässt, dass sowohl Mädchen wie auch Jungen gleichermaßen betroffen sind.

In den beiden Büchern erzählt Lena, wie sie und ihr Bruder Max die Zeit des Ein-satzes erleben: Was bis Mamas oder Papas Abreise und nach dem Abschied zu Hause, mit Freunden, im Kindergarten oder in der Schule passieren kann. Bis Mama oder Papa endlich wieder nach Hause kommt.

Es wird erzählt, wie sich das alles für Lena und Max anfühlt. Und es wird auch erzählt, wie schön es ist, wenn die Fa-milie wieder zusammen sein kann, z. B. daheim oder im Urlaub. Dabei wird nicht verschwiegen, dass diese Zeit durchaus auch ihre traurigen und anstrengenden Seiten hat.

Beide Bücher sind zeitlos und können immer wieder vorgelesen werden. Die Kinder können sie aber auch einfach und schnell selbstständig durchblät-tern. Übrigens gelingt dies unabhängig davon, ob sie schon in der Lage sind zu lesen. Denn anhand der Bilder wird es den Kleinen möglich nachzuempfinden, in welcher Phase sich Lena gerade be-findet – so wie sie vielleicht auch selbst.

Natürlich ist bei anderen Soldatenfami-lien daheim manches anders als bei Le-nas Familie. Das ist aber nicht entschei-dend. Kindern hilft die Orientierung. Es gilt dann zu thematisieren, was daheim „bei uns“ eben nicht so wie in der Ge-schichte ist. Dafür sind unterstützend leichte und interaktive Fragen eingefügt, anhand derer jedes Kind kreativ die eige-ne Situation und das Erleben einordnen kann. Einfache Symbole im Buch helfen außerdem beim Zuordnen, in welcher Phase des Einsatzes es sich befindet. Beide Bücher sind die Mutmachbücher für Soldatenfamilien.

Ihr Team vom ZFG Peter Wendl,Alexandra Ressel und Peggy Puhl-Regler

© Z

FG /

Illu

stra

tion: Ilo

nka

Bab

erg

, au

s dem

Buch

„Le

na

und P

apas

Ausl

andse

insa

tz“

Page 6: KOMPASS - katholische-militaerseelsorge.de

6 Kompass 09I21

TITELTHEMA

Kompass: Wie würden Sie den Unterschied definieren zwi-schen Frieden schaffen und Frieden sichern, also Peacebuil-ding und Peacekeeping?Michael Staack: Beim Frieden sichern kommt es zunächst darauf an, für die Voraussetzungen zu sorgen, dass Gewalt (militärische Gewalt, Gewalt zwischen Kräften in einer Gesell-schaft) beendet wird, damit ein sicheres Umfeld entsteht und Friedensentwicklungen überhaupt stattfinden können. Und dann greift die zweite Herausforderung, nämlich Frieden zu schaffen.

Das Stichwort dafür ist sicherlich die Nachhaltigkeit, also Zu-stände zu schaffen in einem Staat oder in einer Gesellschaft, die es sehr unwahrscheinlich machen, dass Gewaltkonflikte wieder neu ausbrechen und in die Gesellschaft hingetragen werden.

Kompass: Kann das denn Aufgabe von Streitkräften sein? Oder wäre es sinnvoller, wenn sich das Militär bei diesem Thema des Friedenschaffens zurückhält?Michael Staack: Frieden schaffen ist ja der zweite Schritt. Ich würde genau im Punkt Frieden sichern eine Aufgabe des Militärs sehen, also dann, wenn Gewaltkonflikte vorhanden sind – das ist zum Beispiel in Afghanistan der Fall, in Mali und in vielen anderen Staaten auch –, dass der Staat selbst nur noch eingeschränkt handlungsfähig ist. Dann ist es, ein Man-dat vorausgesetzt, die Aufgabe von internationalen Akteuren, Sicherheit herzustellen, am besten dadurch, dass eine funkti-onierende Armee und funktionierende Polizeikräfte aufgebaut werden. Wenn das zwanzig Jahre dauert ohne durchgreifenden Erfolg, dann kann man es vergessen.

Und dann kommt der zweite Abschnitt, nämlich Frieden schaf-fen – das ist eine Aufgabe des Staates, der Zivilgesellschaft usw. Das Militär und die Polizei können nur aufpassen, dass keine Rückfälle in Gewaltkonflikte eintreten.

„Der Prozess des

Friedenschaffens

ist ein Prozess,

der aus der Gesellschaft

heraus kommen muss.“

Peacebuilding

Peacebuilding

© k

mlm

tz66 –

sto

ck.a

dobe.c

om

(2) /

Andre

i Kukl

a –

stock

.adobe.c

om

(2)

Page 7: KOMPASS - katholische-militaerseelsorge.de

7Kompass 09I21

TITELTHEMA

>>

Kompass: Wie sehen Sie die Aufgabe von Nichtregierungs-organisationen (Non-governmental organizations – NGOs) in diesem Umfeld? Können einzelne Personen oder kleine Grup-pierungen etwas dazu beitragen?Michael Staack: Die können sehr viel dazu beitragen. Der Pro-zess des Friedenschaffens in der Gesellschaft ist ein Prozess, der aus der Gesellschaft heraus kommen muss. Der vollzieht sich natürlich im Idealfall über die gewählten Institutionen nach demokratischem Modell. Das können in vielen Staaten – eben auch Afghanistan oder Mali – außerdem traditionelle Autoritäten sein, die sehr wichtig sind und die wir im Westen auch immer im Kopf und im Blick behalten sollten. Und das können NGOs sein. Wobei ich diesen Begriff sehr weit fasse und sage: gesellschaftliche Akteure. Dazu gehören natürlich auch die Religionsgemeinschaften, die Gewerkschaften, aber auch klassische NGOs.

Kompass: Bedeutet Statebuilding oder Sicherung eines Staa-tes in erster Linie Vermeidung von Korruption bzw. Sicherung der Geldflüsse?Michael Staack: Das ist ein Element. Aber ich glaube, der wichtigste Punkt ist, dass sehr genau darauf geachtet wird, und zwar nicht nur von außen, sondern immer in dem jewei-ligen Staat und von außen, dass das Geld möglichst sinnvoll fließt. Der Begriff Korruption ist schillernd. Aus unserer Pers-pektive würde man sagen: auf keinen Fall Korruption! Und es ist beispielsweise so, das trifft auch wieder auf diese beiden genannten Staaten zu, dass sehr viel Geld an die Eliten fließt und nie dort angekommen ist, wo es hin sollte.

Auf der anderen Seite gibt es bestimmte Formen von Vorteil-nahme und Begünstigungen usw., die nicht unseren Stan-dards entsprechen, die aber im Sinne von Grauzonen durchaus sinnvolle, stabilisierende Funktionen erfüllen können. Ich will das mal so sagen: Erfolge bei der Friedensbildung in fragilen Ländern folgen nicht unbedingt den Vorgaben der Bundes-haushaltsordnung.

„Der Prozess des

Friedenschaffens

ist ein Prozess,

der aus der Gesellschaft

heraus kommen muss.“

Peacekeep

ing

Peacekeep

ing

Interview mit Michael Staack,Helmut-Schmidt-Universität /Universität der Bundeswehr Hamburg

Page 8: KOMPASS - katholische-militaerseelsorge.de

8 Kompass 09I21

TITELTHEMA

Kompass: Als Beispielländer haben Sie Afghanistan und Mali genannt, wo die Bundeswehr sehr stark vertreten war bzw. in Mali noch ist. Fallen Ihnen beispielhaft noch andere Staaten ein, wo diese Themen Peacebuilding und Statebuilding sehr deutlich werden?Michael Staack: Leider zu viele. Wobei es dieses Problem immer gegeben hat, weil wir einerseits durch Auswirkungen wie Klimaveränderung oder ethnische Konflikte (die meistens soziale Konflikte sind), oder durch die Folgen der Koloniali-sierung von Afrika mit künstlichen Grenzen und mangelnder Vorbereitung auf die Unabhängigkeit, seit Jahrzehnten mit Konflikten befasst sind.

Das Besorgniserregende ist sicherlich, dass wir, wenn wir über Mali sprechen, ja eigentlich nicht mehr nur über Mali selbst sprechen, sondern dass in den letzten acht Jahren in der ge-samten Region eine Destabilisierung eingesetzt hat, also wir auch über Niger, Burkina Faso, den Tschad und teilweise über die Elfenbeinküste und andere angrenzende Länder sprechen müssen. Das ist äußerst besorgniserregend. Da kann man sagen, in Afghanistan erfolgte der Fehlschlag in einem Land und nicht in den angrenzenden Ländern. Von Mali ausgehend hat sich inzwischen die gesamte Region destabilisiert. Die internationale Militärpräsenz hat das nicht verhindert.

Kompass: Wenn wir davon ausgehen, dass die NATO oder die EU aus funktionierenden, stabilen Staaten bestehen – würden Sie sagen, dass wir grundsätzlich auch eine Verantwortung, eine Verpflichtung haben, uns um solche Staaten zu küm-mern? Oder könnte man auch sagen: Das ist weit weg! Da können wir sowieso von außen wenig machen?Michael Staack: Das Argument, dass man von außen wenig machen kann, ist sehr ernst zu nehmen. Das Argument, dass es weit weg ist, zählt heute nicht mehr. Ich würde aber immer mit Interessen argumentieren und mit einer Verpflichtung. Die konkreten Interessen sind, dass die meisten Probleme in anderen Teilen der Welt mit Zeitverzögerung auch bei uns ankommen – Stichwort zum Beispiel Migration.

Die konkrete Verpflichtung besteht darin, dass nahezu alle europäischen Staaten – einschließlich Deutschland – noch aus der Kolonialzeit eine Verpflichtung haben. Wir haben vorhande-ne Strukturen zerstört. Wir haben diese Gebiete ausgebeutet. Wir haben sie künstlich geteilt. Und wir wissen aus vielen Konflikten, dass diese eben eigentlich konstituiert wurden und sich zugespitzt haben aus der Kolonialzeit heraus. Das wird bei uns verdrängt. Erst in den letzten Jahren gibt es ein Bewusstsein in Deutschland, dass die Kolonialzeit wichtig war.Zu Beginn meiner entsprechenden Seminare nimmt etwa die Hälfte der Studierenden an, dass Deutschland nie Kolo-nialmacht gewesen sei. Ich bin überzeugt, dass diese Ver-pflichtung noch sehr viel stärker auf uns zukommen wird und wir sie ernst nehmen müssen. Also konkrete Probleme plus historische Verpflichtung gleich Verantwortung im Sinne von sinnvoller Unterstützung.

Kompass: Abschließend noch zwei Fragen zu konkreten Staa-ten oder Ländern. Man kann den Eindruck gewinnen, dass, nehmen wir auch wieder Deutschland, die EU oder auch die NATO sich nur in bestimmten Staaten engagieren, überspitzt gesagt, vielleicht nur da, wo es um Öl oder um bestimmte Ressourcen geht und in andere eigentlich nicht oder weniger. Kann man das rechtfertigen, dass eben nicht jedes instabile Land, jeder Failed State die gleiche Aufmerksamkeit genießt?Michael Staack: Dafür gibt es Kriterien – oder besser: es sollte sie geben! Grundsätzlich ist es nicht möglich, in jedem Land umfassend zu intervenieren. Da gibt es sicherlich Abstufun-gen und da sind unterschiedliche Interessen mitbestimmend. Auch muss stets ein Mandat der Vereinten Nationen und eine Einladung der Regierung des betreffenden Landes vorhanden sein. Ich würde Ihnen widersprechen, dass wirtschaftliche Interessen die wichtigsten sind. Im ehemaligen Jugoslawien sind unsere wirtschaftlichen Interessen sehr nachrangig ge-wesen. Das trifft sicherlich aus deutscher Sicht auch auf grö-ßere Teile Westafrikas zu. Die französische Perspektive sieht anders aus. Frankreich zielt hauptsächlich auf die Sicherung von Ressourcen ab.

>>

DestabilisierungDestabilisierung

© A

ndre

i Kukl

a –

stock

.adobe.c

om

(2)

Page 9: KOMPASS - katholische-militaerseelsorge.de

9Kompass 09I21

TITELTHEMA

© U

niv

ers

ität

der

Bundesw

ehr

Ham

burg

Das heißt also, es kommt auf einen Mix von wirtschaftlichen Interessen und konkreten Sicherheitsgefahren an und – was auch wichtig ist – der Art und Weise, wie das Thema in der Öffentlichkeit präsentiert wird, ob es überhaupt in die Medien kommt. Das sind eigentlich die drei Kriterien, nach denen Interventionen erfolgen.

Kompass: Und ein bisschen provokativ: Als besonders deut-liches Beispiel gilt Nordkorea, was zum einen die Friedensge-fährdung angeht – falls dort tatsächlich Langstreckenraketen und Atomwaffen zum Einsatz kommen würden – und als ein Staat, der von außen doch sehr stabil wirkt. Sehen Sie da die Möglichkeit für uns, einerseits friedensichernd aktiv zu werden, oder auch auf den Staat Einfluss zu nehmen, der wohl nur nach außen stabil wirkt und wahrscheinlich innenpolitisch gar nicht so stabil ist?Michael Staack: Nordkorea ist deshalb stabil, weil es sich nach außen abschottet. Würde es sich öffnen, dann wäre es mit der Stabilität sehr schnell vorbei. Die Menschen in Nord-korea würden erkennen, dass es den Menschen in Südkorea oder der Volksrepublik China viel besser geht. Das ist aber ein langfristiger Prozess, und mit einem kurzfristigen Zusam-menbruch ist niemandem gedient, weshalb humanitäre Hilfe notwendig ist. Und ergänzend muss wieder ernsthaft über das Nuklearprogramm verhandelt werden.

Es besteht Einigkeit darüber, dass dieses Problem mit einem militärischen Eingreifen nicht gelöst werden kann. Darüber gibt es Übereinstimmung in der internationalen Gemeinschaft. Und es gibt eben keinen anderen Weg als die Kombination einerseits von geduldigen Verhandlungen und andererseits hu-manitärer Unterstützung auch für Nordkorea und vergleichbare Staaten – nicht im Interesse des Regimes, sondern im Inter-esse der Menschen, die unter diesem Regime leiden müssen.

Die Fragen stellte Jörg Volpers.

Michael Staack ist Professor fürPolitikwissenschaft, insbesondereTheorie und Empirie der InternationalenBeziehungen an der Helmut-Schmidt-Universität /Universität der Bundeswehr Hamburg.

„Wir haben vorhandene

Strukturen zerstört.

Wir haben diese Gebiete

ausgebeutet. Wir haben

sie künstlich geteilt.

Und wir wissen aus vielen

Konflikten, dass diese

eben eigentlich konstituiert

wurden und sich zugespitzt

haben aus der Kolonialzeit

heraus.“

Unter

stütz

ung

Unter

stütz

ung

Page 10: KOMPASS - katholische-militaerseelsorge.de

10 Kompass 09I21

© w

ww

.vis

ual

india

.de /

Joerg

Boeth

ling

Kompass: Wie ist nach dem Militärputsch momentan die Stimmung in Ihrem Land?Bischof Dembélé: Die Menschen gehen ganz normal ihrer Beschäftigung nach, als wenn nichts passiert wäre. Man be-kommt den Eindruck, dass sie der Situation gleichgültig gegen-überstehen, abgestoßen von der instabilen Lage im Land und den Versprechen der Regierung, die nie eingehalten wurden. Die Menschen haben sicher das Gefühl, dass sie lange Zeit instrumentalisiert worden sind; sie vertrauen den Regierenden nicht mehr.

Etwa zwanzig Parteien haben am 27. Juli zu einem geordneten Übergang aufgerufen. Diese Parteien fordern die Einhaltung des für die Wahlen festgelegten Datums und die Veröffentli-chung eines detaillierten Zeitplans der Aufgaben bis zu den Wahlen.

Kompass: Welche Sorgen haben die Menschen, mit denen Sie sich unterhalten? Was ist das Wichtigste, das sich ändern muss?Bischof Dembélé: Der Durchschnittsbürger macht sich Sorgen über die Ernährungssicherheit, die hohen Lebenshaltungskos-ten und die wachsende Unsicherheit. Das Wichtigste, was sich

ändern muss, ist die Einstellung der malischen Bevölkerung zum Gemeinwohl, zur Regierungsführung, zur Friedenssiche-rung und zur Staatsbürgerschaft.

Kompass: Was ist Ihrer Ansicht nach die Ursache der Gewalt? Welche Rolle spielt dabei die Religion?Bischof Dembélé: Am Ursprung der Gewalt stehen Armut, die Unwissenheit der Bevölkerung, schlechte Regierungsführung, Korruption, Straflosigkeit, Radikalisierung und religiöse Into-leranz, Waffen- und Drogenhandel, die Ausbeutung der na-türlichen Ressourcen durch sowohl interne als auch externe, sowohl private als auch staatliche Akteure und die Schwächung des malischen Staates.

„Die Priester fragten nicht: Wo ist der Herr?“(Jeremia 2,8). Und der Prophet Hosea sagt:

„Mein Volk kommt um aus Mangel an Erkenntnis“ (Hosea 4,6).

Die wichtigste Rolle der Religion ist es, eine Verbindung zwi-schen Mensch und Gott sowie zwischen den Menschen herzu-stellen. Leider wird sie oft instrumentalisiert: Für die einen ist sie ein Geschäft und für die anderen ein Mittel zum sozialen

TITELTHEMA

„Eine andere Hilfe als diemilitärische Unterstützungist unabdingbar notwendig,um einen Ausweg ausder Krise zu finden.“

Interview mit dem Katholischen Bischof von Kayes (Mali), Monsignore Jonas Dembélé, Ende Juli 2021

Page 11: KOMPASS - katholische-militaerseelsorge.de

11Kompass 09I21

© B

undesw

ehr

/ Fr

ank

Wie

dem

ann

>>

Aufstieg. Sie ist in vielerlei Hinsicht und für einen großen Teil der Praktizierenden zu einer bloßen religiösen Hülle ohne Inhalt verkommen.

Kompass: Wird die Religion als Mittel zur Machtergreifung genutzt?Bischof Dembélé: In einer Demokratie, in der ein großer Teil der Bevölkerung unwissend ist, bedeutet das Prinzip der Mehrheit, dass die Religion instrumentalisiert wird, um an die Macht zu kommen. Die Welle fundamentalistischer islamistischer Bewegungen, die die Sahelzone erschüttern, ist ein klares Zeichen für eine Entwicklung hin zum Islam als Staatsreligion.

Kompass: Welche Faktoren fördern den Dialog, das friedliche Zusammenleben? Welche Faktoren stehen dem entgegen?Bischof Dembélé: Was den Dialog fördert: Respekt und Wert-schätzung für andere Menschen sowie ein nuanciertes Den-ken, Vorsicht und Klarheit im rein theologischen Austausch. Gegenseitiger Respekt, gegenseitiges Kennenlernen, das An-erkennen und das Akzeptieren der Unterschiede. Die gemein-same Suche nach der Wahrheit.

Was den Dialog schwächt: Unwissenheit, Hegemonie, der Anspruch auf eine Vormachtstellung, mangelnder Respekt. Der fortschreitende Verlust der traditionellen und spirituellen Werte, die von Gottesfurcht, Toleranz und Empathie bestimmt sind. Staatsfeindliche Aktivitäten, die das Zusammenleben gefährden. Die Verschlechterung der Sicherheitslage im gan-zen Land.

TITELTHEMA

Kompass: Was gibt Ihnen Hoffnung?Was macht Ihre Hoffnung zunichte?Bischof Dembélé: Was mir Hoffnung gibt: „Gott lässt sein Volk niemals im Stich.“ Alles, was begonnen hat, wird auch zu einem Ende kommen. Zu den Waffen des Gläubigen zählt auch das Gebet.

„Wenn der Herr das Haus nicht baut, arbeitenseine Erbauer vergebens daran. Wenn der Herr die

Stadt nicht bewacht, wacht der Wächter vergebens“ (Psalm 127,1).

Ein stetig wachsendes Bewusstsein in einigen jungen Men-schen für die Notwendigkeit des Wandels. Die Gründung der Organisation AN KA BEN (Lasst uns Frieden schaffen ...), die vom Sohn des einflussreichen Imams Haïdara, dem aktuellen Vorsitzenden des Hohen Islamischen Rats, geleitet wird.

Meine Sorge: Eine beunruhigende Zunahme der religiösen Intoleranz. Ritualismus und Fundamentalismus. Die Instru-mentalisierung der Religion.

Kompass: Sollten die ausländischen Streitkräfte bleiben oder eher Ihr Land verlassen? Welchen Einfluss haben sie auf den Friedensprozess?Bischof Dembélé: Meiner bescheidenen Meinung nach sollten die ausländischen Streitkräfte in unserem Land bleiben. Denn sie sind nicht aus eigenem Antrieb gekommen. Sie kamen auf Anfrage der malischen Regierung, die der Situation nicht Herr

Page 12: KOMPASS - katholische-militaerseelsorge.de

12 Kompass 09I21

werden konnte. Die Probleme, aufgrund derer sie hier sind, wurden noch nicht gelöst. Sie sollten jedoch ein robustes Mandat haben.

Sie haben Einfluss auf den Friedensprozess: Sie beteiligen sich an Entwicklungsprojekten, an Projekten im sozialen Bereich und am Schutz der Zivilbevölkerung, auch wenn das nicht einfach ist, sowie an der Neutralisierung bestimmter dschihadistischer Führer und bewaffneter Krimineller.

Kompass: Bräuchten Sie in Mali andere Hilfe als die militäri-sche Unterstützung?Bischof Dembélé: Eine andere Hilfe als die militärische Unter-stützung ist unabdingbar notwendig, um einen Ausweg aus der Krise zu finden. Es geht um die Unterstützung bei der Befriedi-gung der menschlichen Grundbedürfnisse: Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln, Kampf gegen die Jugend-Arbeitslosigkeit, Kampf gegen den Klimawandel, die Ausbildung der jungen Menschen durch hochqualitative Bildung, die an die Bedürf-nisse der Bevölkerung angepasst ist. Die Erziehung ehrlicher Staatsbürger.

Kompass: Was wünschen Sie sich von den Deutschen und Europäern?Bischof Dembélé: Die Förderung einer echten Partnerschaft, die auf dem Völkerrecht beruht, und eine offene Zusammen-arbeit.

TITELTHEMA

Der Respekt vor dem Recht der Völker, über ihre eigenen natürlichen Ressourcen vor Ort für ihre eigene Entwicklung zu verfügen; die Einstellung der Ausbeutung oder Plünderung der natürlichen Ressourcen; das Ende der ungerechten Abkom-men, die der Entwicklung der Staaten schaden; das Ende des Verkaufs von Waffen, der Konflikte schürt, Staaten destabili-siert und zu Angriffen aufwiegelt, die Verzweiflung unter den Bevölkerungsgruppen verbreiten.

Kompass: Stellen Sie sich Mali im Jahr 2026 vor: Wie wird dann die Situation im Land sein? Was würden Sie gerne er-reicht haben?Bischof Dembélé: Ich kann unmöglich voraussagen, wie Mali im Jahr 2026 sein wird.

Aber ich träume von einem Mali, das sich auf dem Weg der Besserung befindet, dank des verantwortlichen Handelns der Führungsschicht, der aktiven Teilnahme des Großteils der Ge-sellschaft und der Unterstützung der internationalen Partner.

Ich träume von einem Mali, das gegen Korruption und Straf-losigkeit angeht und für eine gute Regierungsführung kämpft.Ich träume von einem Mali, in der die Agenda der Parteien einer drastischen Reduzierung der politischen Parteien zustimmt.

Ich träume von einem Mali, in dem der überkonfessionelle Charakter des Staates die Vorstellung der Trennung zwischen Staat und Religion prägt.

>>

© B

undesw

ehr

/ PA

O M

INU

SM

A

Page 13: KOMPASS - katholische-militaerseelsorge.de

13Kompass 09I21

© A

SEF

– s

tock

.adobe.c

om

TITELTHEMA

Ich träume von einem Mali, in dem die Religion ihre wichtigste Aufgabe wahrnimmt: eine Verbindung zwischen Mensch und Gott sowie zwischen den Menschen herzustellen.

Ich träume von einem Mali, in dem die Justiz dem Frieden dient.

Ich verpflichte mich, mit allen Menschen guten Willens zusammenzuarbeiten, um sicherzustellen, dass das Töten und die Vertreibung von Bevölkerungsgruppen so schnell wie möglich beendet und ihre Ur-sachen beseitigt werden, dass die betrof-fenen Bevölkerungsgruppen nicht sich selbst überlassen werden und dass auf eine wirksame Konfliktverhütung, einen dauerhaften Frieden und ein dauerhaf-tes Zusammenleben hingearbeitet wird, insbesondere durch Dialog, Gerechtigkeit und Versöhnung.

Die Fragen stellte Barbara Dreiling.

© B

undesw

ehr

/ PA

O E

UTM

© L

esn

iew

ski –

sto

ck.a

dobe.c

om

Mali

Der bewaffnete Konflikte in Nordmali bewegt das Land. Angesichts der Gebietsgewinne von militanten Islamisten begann am 11. Januar 2013 die Opération Serval. Dabei unterstützten französische Streitkräfte die malische Armee beim Aufhalten, Zurückdrängen und Ausschalten der militanten Truppen. Der UN-Sicherheitsrat unterstützt seit 1. Juli 2013 den Friedensprozess mit der Entsendung der MINUSMA.

Kontinent: Afrika Republik Mali: ≈ 1,24 Millionen km²mit 19,66 Millionen MenschenHauptstadt: Bamako

(Stand 2020)

Page 14: KOMPASS - katholische-militaerseelsorge.de

14 Kompass 09I21

TITELTHEMA

Doomsday Clock

© M

-SU

R –

sto

ck.a

dobe.c

om

Page 15: KOMPASS - katholische-militaerseelsorge.de

15Kompass 09I21

1947 sieben Minuten vor zwölf

1953 zwei Minuten vor zwölf

1984 drei Minuten vor zwölf

1991 siebzehn Minuten vor zwölf

2021100 Sekunden vor zwölf

TITELTHEMA

Das englische Wort Doomsday bedeutet Weltuntergang, Weltgericht oder Jüngstes Gericht und ist zum Namensge-

ber für Science-Fiction-Filme geworden. So heißt beispielsweise der Schurke, der von Superman besiegt wurde: Doomsday. Im britischen Kinofilm Doomsday (2008) geht es ironischerweise um eine Pandemie. Das todbringende Virus Reaper (Sensen-mann) infiziert und tötet Menschen in Schottland.

Keine Anteile von Science-Fiction enthält hingegen die Doomsday Clock. Auf Deutsch „Atomkriegs-uhr“ genannt, soll sie das jeweils aktuelle Risiko für Atomwaffenexplosionen auf der Erde anzeigen. Erstmals wurde die Atomkriegsuhr 1947 von ei-ner internationalen Gruppe von Atomwissenschaftler:innen auf den symbolischen Wert „Sieben Minuten vor zwölf“ gestellt. Seit dieser Zeit, also seit fast 75 Jahren, wird die Uhrzeit der Atomkriegsuhr einmal im Jahr im „Bulle-tin of the Atomic Scien-tists“ (Mitteilungsblatt der Atomwissenschaftler:innen) bekanntgegeben. Je näher sich der Zeiger Richtung 12 Uhr Mitternacht bewegt, desto näher soll sich die Welt demnach an einem Atomkrieg befinden.

Für viele Menschen ist die Doomsday Clock immer noch ein Symbol des Kalten Kriegs im 20. Jahrhundert. Der drohende Atom-krieg zwischen den Supermächten war zu dieser Zeit im allgemeinen Bewusstsein. Heute haben sich politische und gesellschaftliche Gegensätze aufgelöst, die Grenzen sind ge-öffnet oder überwindbar. Die einstigen Machtblöcke existieren formal nicht mehr. Und trotzdem: Noch nie zeigte die Dooms-day Clock eine größere atomare Bedrohung an als im Jahr 2021. In den letzten Jahren und auch in den dunkelsten Zeiten des Kalten Kriegs war die Gefahr eines Atomkriegs demnach nie so groß wie heute.

Erstmals 1953 stellten die Atomwissenschaftler:innen die Uhr auf zwei Minuten vor zwölf. Als Ursache werden heute amerikanische und sowjetische Tests mit Wasserstoffbomben erwähnt. 1984, in der Zeit des sogenannten Wettrüstens, stand der Zeiger auf drei Minuten vor zwölf. Am weitesten entfernt von einem Atomkrieg war die Welt demnach 1991. Die beiderseits vereinbarte Abrüstung nach der Auflösung der Machtblöcke ließ den Zeiger der Atomkriegsuhr auf 17 Minuten vor zwölf zurückfallen.

Damit ist schon seit einigen Jahren Schluss. Der Zeiger der Atomkriegsuhr hat sich in den letzten zwanzig Jahren kontinu-ierlich Richtung Mitternacht bewegt. Abrüstungsverhandlungen waren nicht mehr erfolgreich, neue Konflikte brachen auf, lokale Konflikte wurden zum Schlachtfeld für Stellvertreterkrie-ge, Staaten rüsteten atomar auf statt Waffen zu vernichten, Staatspräsidenten setzen auf Provokation und Diskriminierung.

Seit 2020 steht die Doomsday Clock auf 100 Sekunden vor Mitternacht, der höchste Wert seit 1947. Erstmals

2017 – als Donald Trump die US-Präsident-schaft antrat – wurde die Doomsday

Clock auch im Sekundenbereich ein-gestellt; damals stand der Zeiger

auf zweieinhalb Minuten (150 Se-kunden) vor zwölf. Diese neue Feinheit verdeutlicht, dass bereits kleine diplomatische Krisen als bedeutsam für die internationale Gefah-renlage wahrgenommen werden.

Das „2021 Doomsday Clock Statement“ erklärt den aktuellen Wert der

Doomsday Clock nicht nur mit wachsenden Waffenarse-

nalen in weltweiten nuklearen Hotspots, sondern auch mit dem

Klimawandel. Umweltkatastrophen, Unwetter und Ressourcenknappheit

führen zu Migrationsströmen und zu wei-teren Konflikten um Rohstoffe. Desinformati-

onskampagnen beeinflussen demokratische Wahlen und können radikale Politiker:innen in Regierungen bringen.

Vor allem adressiert das Statement konkrete Vorschläge an die USA, Russland, Nordkorea und andere Staaten, mit welchen Schritten sie die gegenseitige Gefährdung mit Massenver-nichtungswaffen verringern können. An erster Stelle stehen neue Verhandlungen um Abrüstung, aber auch politische Entscheidungen zur Umsetzung des Klimaabkommens und Beachtung internationaler Abkommen gegen die Verbreitung von Atomwaffen.

Die konkreten Schritte sind hier aufgelistet:https://thebulletin.org/doomsday-clock/current-time/

Barbara Dreiling

Page 16: KOMPASS - katholische-militaerseelsorge.de

16 Kompass 09I21

TITELTHEMA

„Ich schlage Facetime vor, wenn Sie es benutzen“, lautet der zweite Satz, den ich mit Gertrud Khouri wechsle. Benutze ich und zwei Tage später lächelt mich eine blonde, fröhliche Frau an. Mit an-steckender Begeisterung berichtet Trudy, wie sie 1966 nach Jordanien gekommen ist. „Damals hatte ich ganz frisch mei-ne Ausbildung zur Krankenschwester beendet und wollte eigentlich mit einer Freundin auf einem Schiff arbeiten und so die Welt bereisen.“ Durch eine Anzei-ge in ihrer Kirchenzeitung in Mannheim wird sie darauf aufmerksam, dass in Jor-danien eine Krankenschwester gesucht wird und wirft ihre Pläne über Bord. Drei Monate später findet sie sich in einer anderen Welt wieder. Dennoch fühlt sie sich schnell heimisch.

Heute, fast 60 Jahre später, schaut sie auf eine spannende Zeit zurück. Sie hat in Jordanien geheiratet, Kinder bekom-men, hat zeitweise auch in anderen Län-dern gewohnt. Das Leben in Jordanien hat sich geändert. In den 60ern liefen Frauen selbstbewusst in Miniröcken durch die Stadt – heute undenkbar.

Auch kriegerische Auseinandersetzungen erlebt sie von Beginn an mit. So wird sie bereits 1967 während des Sechstage-kriegs für einige Wochen in den Iran evakuiert.

Seit 2011 herrscht in Syrien ein bürger-kriegsähnlicher Konflikt, welcher zur Fol-ge hat, dass die Menschen in Scharen aus dem Land fliehen – auch nach Jor-danien. Von den 700.000 Gefllüchteten in Jordanien kommen 94 % aus Syrien. Gemeinsam mit einer deutschen Ärztin arbeitet sie zweimal in der Woche ehren-amtlich in einer Klinik.

„Wenn ich jetzt zurückschaue, war alles irgendwie eine Vorbereitung für

das, was ich jetzt mache“,

stellt Trudy Khouri fest. Zunächst kamen hauptsächlich Frauen mit ihren Kindern nach Zarqa, da alle davon ausgingen, dass sich die Situation in Syrien wieder beruhigen würde. Behandelte sie anfangs 50 Personen in der Woche, wurden es mit der Zeit 500. Es blieb keine Zeit mehr für zwischenmenschliche Kontakte. „In den Flüchtlingscamps haben sich viele Frauen mit ihren Kindern nicht sicher ge-fühlt. Aber niemand hat sich um die Frau-en gekümmert. Sie haben hingebungsvoll ihre Kinder umsorgt und sich selber da-bei vernachlässigt.“ Irgendwann kamen vereinzelt Frauen mit Rückenschmerzen oder ähnlichen Beschwerden und man sah ihnen an, dass sich niemand nach ihrem Wohl erkundigt hatte.

Gertrud Khouri im Gespräch mit jungen Frauen im Zarqa Life Center

FrauenfürFrauen

© Z

arqa

Life

Cente

r (3

)

Page 17: KOMPASS - katholische-militaerseelsorge.de

17Kompass 09I21

TITELTHEMA

Das Zarqa Life Center ist eine von Frauen geführte Basisorganisation, die seit 2015 städtische Geflüchtete in Zarqa (Jordanien) unterstützt.

Das Zentrum beherbergt Frauen, die vor dem Krieg aus Syrien geflohen sind, und benachteiligte jordanische Frauen vor Ort und ihre Familien.

Den gefährdeten Frauen und Kindern wird hier ein sicherer Raum für Hei-lung und Entwicklung gegeben.

Dabei ist die Philosophie, durch die Arbeit der Frauen nicht nur eigenes Geld zu verdienen, sondern auch die eigene Identität wiederzufinden.

Der Zarqa Life Soap Shop ist ein Bei-spiel dafür. Im Internet finden Sie ihn unter: riwaorganic.com

Wir verlosen drei

Geschenkboxen

mit Seife.

Zarqa Life Center

>>

„Das Härteste war, dass diese Frauen nicht nur ihr Zuhause, ihre Männer, ihre Familienangehörigen verloren

haben, sie haben auch ihre Identität verloren und waren nur noch diese

Nummer, die sie von der UN erhalten hatten. Die Flüchtlingsnummer wurde

zu ihrer Identität.“

Als in dieser Klinik die Wohnung des Pfarrers frei wurde, musste Trudy Khouri nicht lange überlegen und fragte spon-tan, ob sie diese Wohnung verwenden durfte, um eine Anlaufstelle für Frauen einzurichten. Ohne große Planung lud sie die Frauen ein und so ergab eins das an-dere. Sie unterrichtete Englisch und half bei der Einwanderung. Sie fragte, was die Frauen benötigten. Sie unterstützte sie dabei, Arbeit zu finden und bot Möglich-keiten der Kinderbetreuung.

Immer mehr Frauen hörten von diesem Angebot und kamen so zu Trudy Khouri. Das führte dazu, dass es zu Ressen-timents gegenüber den geflüchteten Frauen kam. „Die wirtschaftliche Situa-tion war bereits vor dem Bürgerkrieg in Syrien angespannt. Wohnraum und Arbeit waren nur begrenzt vorhanden.“ Deshalb lud sie alle Frauen, Jordanierin-nen, Syrerinnen und Palästinenserinnen gemeinsam an einen Tisch. Während des Gesprächs ergaben sich sofort Lösungsansätze. Mittlerweile ist das Zarqa Life Center nicht nur eine Begeg-nungsstätte, die von Frauen geleitet wird. Das Center ist mehr als nur ein Ort ge-meinsamer Treffen. Es ist Lebensmittel-punkt von über 400 Frauen und Kindern geworden. Es gibt einen Kindergarten, eine Catering Initiative und den Zarqa Life Soap Shop. Durch diese Arbeit verdienen

© Z

arqa

Life

Cente

r (2

)

Um eine Geschenkbox zu gewinnen, senden Sie eine E-Mail an [email protected] Kennwort: Jordanien. Viel Glück!

Page 18: KOMPASS - katholische-militaerseelsorge.de

18 Kompass 09I21

TITELTHEMA

Bundeswehr vor Ort:

Seit Juni 2021 ist Oberst Joachim Kaschke Kontingentführer Einsatzkon-tingent Counter Daesh/Capacity Buil-ding Iraq. Im Gespräch berichtete er von seiner Arbeit vor Ort:

„Der Kernauftrag ist die Absicherung der erzielten Erfolge im Kampf

gegen den IS. Dazu haben wir ins-gesamt in meinem Kontingent rund

250 Soldatinnen und Soldaten.

Das Spektrum, mit dem wir unseren militärischen Beitrag hier leisten,

reicht vom Tankflugzeug in Jordanien über die Durchführung von Beratungen im Nord- und Zentralirak bis hin zum Radar im Irak als Beitrag

zur Luftraumüberwachung. Das machen wir nicht alleine,

sondern in einer breiten internationalen Koalition.“

Oberst Kaschke ist dabei auch immer im Kontakt mit dem katholischen Mili-tärseelsorger Sylwester Walocha.

„Mir persönlich würde etwasfehlen, wenn Militärseelsorge nicht

hier vor Ort wäre.“

FF © B

undesw

ehr

/ JP

AO

Counte

r D

aesh

(2)

>>

die Frauen nicht nur eigenes Geld, sondern fin-den auch wieder eine Identität.

So viel Engagement bleibt nicht versteckt. Mi-litärseelsorger Sylwester Walocha ist seit Mai 2021 in der Einsatzbegleitung in Al Azraq. Ihm war es ein persönliches Anliegen, auch die Be-völkerung vor Ort zu unterstützen. So konnte er sich persönlich von der Initiative überzeugen und durfte im Namen des Katholikenrats eine Spende überreichen. „So viel Lebensfreude und Energie ist inspirierend. Ich habe Frauen erlebt, die stolz und selbstwirksam sind.“

Tief beeindruckt von der Lebensfreude und dem selbstlosen Engagement von Gertrud Khouri verabschiede ich mich – Facetime ist beendet, doch meine Gedanken sind noch bei Trudy Khouri.

Friederike Frücht

© Z

arqa

Life

Cente

r

Im Namen des Katholikenrats überreicht Militärseelsorger Walocha 10.000 € an Gertrud Khouri für das Zarqa Life Center.

Page 19: KOMPASS - katholische-militaerseelsorge.de

19Kompass 09I21

OZUM LKU

Zur Praxis moralischer Bildung

Iden·ti·tät [die]Soziale Gesundheit – Teil II

„Liebe Mutti, kannst du mir sagen, wer ich bin?“ – so die Identitäts-frage der 68er-Generation in Lutz Dammbecks „Overgames“, einer eindrücklichen Essay-Dokumenta-tion aus dem Jahre 2015. Der Film beginnt in einem Labor und endet in einem Sanatorium. Entideologi-siert und enttäuscht von der poli-tisch verschlossenen Kriegskinder-Generation ihrer Eltern versuchten im Nachkriegsdeutschland junge Menschen, sich mittels eines ge-genteiligen Lebensstils möglichst radikal von der Identität ihrer Mütter und Väter zu unterscheiden. Deren überwiegend unpolitische Haltung verstärkte das bereits schwelende

Dringlichkeit, aber auch schon den an-tiken griechischen Philosophen Platon beschäftigte die Frage nach der Identität des Menschen, der von „Kindesbeinen an immer derselbe genannt wird, wenn er auch ein Greis geworden ist“. Wie sei es zu rechtfertigen, fragt er, dass einer Person – trotz aller sichtbaren körperli-chen Veränderungen derselben im Laufe ihres Lebens – über die ganze Zeit hin-weg „Selbigkeit“ zugeschrieben werden kann? Auch Platons Schüler Aristoteles setzte sich intensiv mit der philosophi-schen Frage auseinander, wie denn diese „Einerleiheit“ von Individuen jeglicher Art zu denken, zu erkennen und begrifflich darzustellen sei. Seine Unterscheidung in numerische und generische bzw. qua-litative Identität prägt bis heute den logi-schen und ontologischen Diskurs unter „Identitäts-Suchenden“.

Im aktuellen politischen Diskurs unserer Tage hingegen weist der Politikwissen-

„transgenerationale Kriegstrauma“ (Ray-mond Unger), so dass die teils heftige Identitätssuche der jungen Generation schließlich in den bekannten politischen Ausschreitungen der späten 60er Jahre endete. Beispielhaft für diesen einstigen Mangel an staatsbürgerlicher Mündigkeit kann Heinrich Bölls Interview-Bekenntnis bezüglich des nach 1945 laufenden Re-Education-Programms der Amerikaner in Deutschland stehen:

„Ich habe mich kaum um Politikgekümmert. Ich drücke das so banal

aus, weil mein Vertrauen in die Sieger-mächte unverantwortlich hoch war“.

Bölls eigene Wahrnehmung von mensch-licher Identität war hier eher eine Frage nach Autorität, weniger eine Frage nach seiner Freiheit. Und im Grunde steht er in seiner Generation auch nicht allein, die Frage nach Identität und die damit stets einhergehende Frage nach Autorität und Freiheit ist uralt und zugleich aktueller denn je.

In Zeiten von Internet, Facebook, YouTube, Diversität, digitalen Identitätsausweisen und Impfpässen stellt sie sich zwar in neuer Qualität und bemerkenswerter

schaftler Francis Fukuyama in sei-nem Buch „Identität“ sogar auf die zentrale gesellschaftliche Bedeu-tung und weltpolitische Tragweite des Themas hin: „Das Verlangen nach Anerkennung der eigenen Identität vereint als Leitmotiv vie-les von dem, was sich heutzutage in der Weltpolitik abspielt.“ Weil aber zur Identität des Menschen untrennbar auch dessen Würde gehöre, lenkt der Autor im Unter-titel „Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet“. die Aufmerksamkeit des Lesers auf das gegenwärtige Kernproblem würdeloser „Identitäts-Politik“: Die-se bedürfe eines demokratischen

Habitus, der sich vorrangig auf die Unan-tastbarkeit menschlicher Würde und die darauf gründenden Menschenrechte kon-zentriere und notwendige politische und gesellschaftliche Antworten jeweils aus dieser sittlichen Mitte her ableite. Die bewusste Mitgestaltung demokrati-scher Lebensformen durch mündige und kompetente Staatsbürger erfordert in plu-ralen Gesellschaften ein „kommunikati-ves Modell“. Ein solches Menschenbild-Modell beschreibt beispielsweise den Menschen in seiner Würde, vermittelt also allgemeinverständlich dessen körper-liche, psychische, geistige und seelische Dimension als „unantastbare Selbigkeit“. So kann menschliche Identität ganz im Sinne des Artikels 1,1 GG im lebendigen Spannungsbogen von Autorität und Frei-heit betrachtet und gesellschaftlich ver-nünftig diskutiert werden.

Der Oktober-Beitrag zur Praxis moralischer Bildung wird sich deswegen beispielhaft diesem von der Würde des Menschen getragenen „identitätsbildenden Span-nungsbogen“ mit Blick auf die christliche Identität widmen.

Franz J. Eisend, Wissenschaftlicher Referent, KMBA

© A

lexa

nder

– st

ock

.adobe.c

om

Page 20: KOMPASS - katholische-militaerseelsorge.de

20 Kompass 09I21

11. SEPTEMBER – 20 JAHRE

Mir persönlich war noch am Abend des 11. September klar, dass es in Deutschland nicht möglich sein wird, sich den

Folgen dieses islamistischen Angriffs zu entziehen und baldige Militäraktionen mit deutscher Beteiligung folgen würden. Dass ich allerdings selbst schon knapp vier Monate später in Kabul eintreffen würde, habe ich noch nicht geahnt.

Zunächst erinnerte ich mich an den ersten islamistischen Anschlag auf das World Trade Center acht Jahre zuvor und dachte mir: „Gegen einen Terroranschlag per Flugzeug sind alle seitdem getroffenen Sicherheitsvorkehrungen vergeblich.“ Dann dachte ich an die Passagiere in den Flugzeugen, ihre

Für eine realistische Einschätzung dessen, was am 11. Sep-tember 2001 in New York geschehen ist, war es an diesem

Tag viel zu früh. Der Schrecken, das Unfassbare und das bis dahin nicht erlebte Ausmaß eines Terroranschlages ließ kaum einen Gedanken hochkommen, welche politischen und militä-rischen Konsequenzen dieses Ereignis haben würde.Es war eben nicht begreifbar. Ich erinnere mich an viele Tele-fonate an diesem Nachmittag und Abend. Es musste einfach darüber gesprochen werden, damit allmählich die Realität die-ses Tages klar wurde. Wenn ich mich richtig erinnere, gehörte zur Erfassung dieser Realität auch unter den Soldatinnen und Soldaten am 11. September noch nicht der Gedanke, dass dieses Ereignis sie selbst existenziell in ihrem soldatischen Leben treffen würde. Dafür war das noch nie Dagewesene zu unbegreiflich. Aber das Gefühl, dass dieser Tag die Welt verändern würde, das spürten wir alle.

Einprägsam bis heute und Konsequenzen erahnen lassend war am folgenden Tag, dem 12. September, die Erklärung des da-maligen Bundeskanzlers Schröder von der ‚uneingeschränkten Solidarität‘ mit dem amerikanischen Volk. Die Beteiligung an den Auslandseinsätzen ‚meiner‘ Soldatinnen und Soldaten der Panzerbrigade 21 in Augustdorf und des ABC-Abwehrbataillons in Höxter ließ erahnen, dass diese ‚uneingeschränkte Solidari-tät‘ auch für sie, in welcher Weise auch immer, Konsequenzen haben würde. Dies bewahrheitete sich dann schnell, auch für mich. Schon fünf Monate später befand ich mich mit den Soldatinnen und Soldaten aus Höxter im Rahmen der Opera-tion Enduring Freedom als Deutsches ABC-Abwehrbataillon in Kuwait.

Monsignore Rainer Schnettker,Leiter des Militärdekanats Köln

An den 11. September 2001 kann sich jeder und jede erinnern.Wir fragen drei Militärdekane, wie sie vor 20 Jahren von diesem Terroranschlag erfahren haben, was ihre ersten Gedanken waren und wie der Terror an ihrem Standort von Soldatinnen und Soldaten wahrgenommen wurde?

Ein Tag, an dem die Welt stillstand

Ich war Wehrbereichsdekan III in Düsseldorf und kam gerade von einer Dienstbesprechung mit meinen Militärseelsorgern

nach Hause. Als ich zufällig n-tv einschaltete, sah ich gerade das erste Flugzeug in den einen Turm des World Trade Centers rasen. Mein erster Gedanke war: Das ist die Vorschau auf einen neuen Action-Film. Danach begann erst langsam die Realisierungsphase und ich alarmierte den mir unterstellten Bereich. Unsere Wahrnehmung an den Standorten war: Es wird Krieg geben!

In den dann unmittelbar folgenden Gottesdiensten für die mili-tärischen wie zivilen Gemeinden, für die ich zuständig war, und für mein Dekanat insgesamt, wurde intensiv für den Frieden, für die Opfer und ihre Angehörigen, aber auch (schwer genug!) für die Täter gebetet.

Monsignore Rainer Schadt,Leiter des Militärdekanats Kiel

Page 21: KOMPASS - katholische-militaerseelsorge.de

21Kompass 09I21

11. SEPTEMBER – 20 JAHRE

Todesängste von dem Moment an, wo sie durch die Ansagen der Terroristen erfuhren, dass sie gleich sterben werden. Was waren ihre letzten Gedanken? Konnten sie noch beten? Wie hätte ich mich in dieser Situation verhalten, wäre ich an Bord gewesen?

Dieser Terroranschlag und die knapp 20 folgenden Jahre haben mein Leben in einem Ausmaß verändert, wie ich es am 11. September 2001 nicht einmal ansatzweise erahnen konnte. Zur Einsatzbegleitung des ISAF-Vorauskommandos war ich zwar nur für zwei Monate in Kabul. Aber schon im folgenden Jahr hatte mir unser Militärbischof die Verantwortung für die

„Als dann zum Jahresende 2001der Einsatz näher rückte, hörte ich

bisweilen warnende Stimmen:‚Das wird schlimmer werden als die

Einsätze auf dem Balkan‘.“Joachim Simon

Katholische Militärseelsorge bei allen Auslandseinsätzen der Bundeswehr übertragen. Seitdem habe ich als „Einsatzdekan“ unzählige Male unsere Militärgeistlichen an allen Stationie-rungsorten in Afghanistan besucht.

Rückblickend tut mir die afghanische Bevölkerung leid, weil sie so viel erleiden und erdulden musste. An „Nine-Eleven“ war kein einziger Afghane beteiligt.

Leitender MilitärdekanMonsignore Joachim Simon

© in

igoci

a –

stock

.adobe.c

om

Page 22: KOMPASS - katholische-militaerseelsorge.de

22 Kompass 09I21

Die internationalen Truppen sind aus Afghanistan abgezogen – ist die

Mission Statebuilding in Afghanistan erledigt? Um eine angemessene Ant-wort darauf geben zu können, muss die Bundesregierung eine ausführliche und kritische Auswertung dieses politisch-militärischen Einsatzes durchführen.

Aber schon jetzt ist klar, dass die ehrgeizigen Ziele, die sich die in-ternationale Gemeinschaft in den ersten Jahren nach 2001 gesteckt hat, nicht erreicht worden sind –

wohl auch nicht erreichbar waren.

Daraus müssen wir alle miteinander Lehren ziehen: Am Beginn des Einsat-zes stand die Idee, eine funktionieren-de rechtsstaatliche Demokratie mit ef-fektiven staatlichen Institutionen nach westlichem Vorbild zu errichten. Hierfür sind international enorme Ressourcen mobilisiert worden, finanzieller Art; viele Soldaten, Beamte und zivile Aufbauhel-fer haben Lebenszeit investiert, einige mit ihrer Gesundheit oder gar mit ihrem Leben bezahlt.

Statebuilding braucht Zeit

All diesen Menschen sind wir es schul-dig, offen und ehrlich über Möglichkeiten und Grenzen des externen Statebuilding zu diskutieren. Was bedeutet es, einen Staat nach einem langen (Bürger-)Krieg durch externe Intervention aufzubauen? Ein Staat hat die Aufgabe, das öffentli-che Leben seiner Bürgerinnen und Bür-ger so zu gestalten, dass sie in Frieden, Sicherheit und (bescheidenem) Wohl-stand leben können. Was das bei den verschiedenen Völkern der Welt im Detail bedeutet, wie ein gutes Zusammenleben funktionieren kann, darüber gibt es so viele Vorstellungen wie Völker existie-ren. Sie unterliegen vielen kulturellen und historischen Gegebenheiten, wie wir in Afghanistan schmerzlich gelernt haben. Daher sind auch die Rechtsord-nungen der Völker nicht überall gleich: Sie enthalten Regeln, die sich Gesell-schaften im Laufe von Jahrhunderten gegeben haben. Wir haben diese kul-turellen Unterschiede zu wenig ernst genommen! Erschwerend kommt hinzu, dass Afghanistan – wie im übrigen auch

Mali – ein multiethnischer Staat ist und die verschiedenen Volksgruppen selbst untereinander nicht in allen Punkten ei-nig sind. Aber auch zwischen modernen Afghanen der urbanen Elite und eher traditionell islamischen Vorstellungen erscheint eine Einigkeit kaum möglich. In diesem innerafghanischen Streit um die richtige Lebensform und die Gestal-tung des staatlichen Zusammenlebens haben sich die intervenierenden Staaten de facto auf die Seite der „fortschrittli-cheren“ und damit gegen die traditionell orientierten Afghanen gestellt.

Wir können nicht anders, alsuns beispielsweise für Bildung auch für Mädchen und für die Gleichberechtigung von Mann

und Frau einzusetzen.

In unserer Gesellschaft ist die menschli-che Person mit ihrer unverlierbaren Wür-de der Fokus jeden politischen Handelns.

Nachdem wir uns nun 2001 dafür ent-schieden hatten, an der Seite der „fort-schrittlicheren“ Afghanen dem Land einen

Mission Statebuilding erledigt?von Heinz-Gerhard Justenhoven

20 JAHRE EINSATZ IN AFGHANISTAN

© t

rentinness

– s

tock

.adobe.c

om

Page 23: KOMPASS - katholische-militaerseelsorge.de

23Kompass 09I21

© K

S /

Dore

en B

ierd

el

Heinz-Gerhard Justenhovenist Leitender Direktor des Instituts fürTheologie und Frieden (ithf) und Vorstand derKatholischen Friedensstiftung in Hamburg.

Weg in diese unsere Moderne zu weisen, war eigentlich klar, dass dies eine Gene-rationenaufgabe ist. Als Staatengemein-schaft, die sich in Afghanistan engagiert hat, haben wir das implizite Versprechen abgegeben, dass das Land die Zeit be-kommt, von Grund auf neu aufgebaut zu werden. In einem Raum der Sicherheit sollten alle staatlichen Funktionen neu errichtet werden, von der Regierung, dem Parlament, der staatlichen Verwaltung über die staatliche Infrastruktur und das Gesundheitswesen bis hinunter in jede Dorfschule.

Enormes ist dabei unter hohem persönlichem Einsatz tatsächlich

geleistet worden.

Es gebietet schon der politische An-stand, dass diese Leistungen öffentlich gewürdigt werden.

Kontinent: AsienHauptstadt: KabulProvinzen: 34Bevölkerung: 38,04 Millionen (2019)

© s

kam

eonlin

e –

sto

ck.a

dobe.c

om

20 JAHRE EINSATZ IN AFGHANISTAN

„Wir haben diese kulturellen Unterschiede zu wenig

ernst genommen!

Erschwerend kommt hinzu, dass Afghanistan – wie im

übrigen auch Mali – einmultiethnischer Staat istund die verschiedenen

Volksgruppen sich selbstuntereinander nicht in allen

Punkten einig sind.“

Unterschiedliche Interessen

Aber wesentliche Faktoren sind auch übersehen worden: Für den Aufbau ei-nes Staates braucht es Nachhaltigkeit des Engagements. Mit dem Abzug eines großen Teils der US-amerikanischen Truppen 2003 (in den Irak) war eine Sicherheitslücke entstanden, die das bereits erreichte Maß an Stabilität ge-fährdet hat. Damit ist den Kräften, die ein anderes Afghanistan wollten und wollen, unnötig viel Raum zur Entfaltung gegeben worden.

Einen zweiten Faktor haben externe Ak-teure nicht in der Hand: Die afghanische politische Elite um den ersten Präsiden-ten Karzai hat sich nicht konsequent in den Dienst des Gemeinwohls gestellt, sondern ihre Eigeninteressen zu Lasten des jungen Staatswesens verfolgt. Der

Skandal um die Kabul Bank 2012 zeigt als ein Beispiel, wie schamlos sich höch-ste Vertreter des Staates bedienten, an-statt die Hilfsgelder für die Gehälter von Soldaten und Beamten zu verwenden.

Die Korruption an der Spitze setzt sich wie ein Krebsgeschwür nach unten fort, weil das Vertrauen in

die staatlichen Institutionen nicht wachsen kann.

Den Streit um die Regeln des gesell-schaftlichen und politischen Miteinan-ders und die Einhaltung der vereinbar-ten Ordnung, gegebenenfalls auch ihre Erzwingung durch Gerichte, all dies muss die afghanische wie jede andere Gesell-schaft selbst ausfechten. Wir erleben nun, was wir eigentlich hätten wissen können: Dies braucht wesentlich mehr Zeit. Ein bis zwei Generationen junger Afghan:innen müssten die Chance be-kommen, in einem durch äußere Inter-vention geschützten Raum im zivilen Streit die Regeln für das Zusammenle-ben in ihrem Land auszumachen. So viel Zeit haben wir nicht? Müssen wir dann nicht künftig überlegen, ob wir mit einer externen Intervention Hoffnung wecken wollen, die wir nicht erfüllen können?

Im Internet finden Sie untermilseel.de/afg3 weitere Berichte.

Page 24: KOMPASS - katholische-militaerseelsorge.de

KOLUMNE

© H

inte

rgru

nd: S

idorA

rt –

sto

ck.a

dobe.c

om

Rückverlegung und Ende der Mission Resolute Support (RS) in Mazar-e Sharif/Afghanistan

© B

undesw

ehr

/ To

rste

n K

raat

z

24 Kompass 09I21

Page 25: KOMPASS - katholische-militaerseelsorge.de

© D

euts

cher

Bundest

ag /

Inga

Haa

r

KOLUMNE

am 30. Juni sind die letzten 264 deutschen Soldatinnen und Soldaten aus Afghanistan zurückgekehrt. Alle sind sicher zu-hause bei ihren Familien und Freunden angekommen. Das war und ist das Allerwichtigste. Der Abzug war perfekt vorbereitet und organisiert – bis auf ein kleines, jedoch wichtiges Detail.

Bei ihrer Ankunft in Wunstorf wurden die Rückkehrerinnen und Rückkehrer von Generalleutnant Pfeffer, Befehlshaber des Ein-satzführungskommandos, empfangen. Kein politischer Vertre-ter oder politische Vertreterin hat am Empfang teilgenommen – weder die Verteidigungsministerin oder ihre Staatssekretäre noch Abgeordnete des Deutschen Bundestages. Im Nachhinein muss man feststellen: Das war ein Fehler.

Rund 160.000 Soldatinnen und Soldaten waren in den ver-gangenen 20 Jahren am Hindukusch im Einsatz. Sie haben einen herausragenden Beitrag dazu geleistet, dass das Land nicht länger ein safe haven islamistischer Terroristen ist und politisch, gesellschaftlich und wirtschaftlich große, wenn auch fragile Fortschritte gemacht hat. 59 Soldaten verloren ihr Leben in Afghanistan, 35 von ihnen bei Anschlägen oder Gefechten. Viele weitere wurden körperlich verwundet oder tragen seit ihrem Einsatz seelische Narben, die sie bis heute spüren.

Ohne Frage: Afghanistan war der bislang intensivste und prä-gendste Einsatz der Bundeswehr. Die Rückkehr der letzten Sol-datinnen und Soldaten besaß daher eine besondere Symbolik und Bedeutung. Und diese hätte bei der Ankunft durch eine politische Vertretung gewürdigt werden müssen. Schließlich waren es die politische Führung und der Deutsche Bundes-tag, die unsere Soldatinnen und Soldaten nach Afghanistan schickten.

Dabei hätte es gar keiner großen Worte oder Ansprache be-durft. Die bloße Anwesenheit als Tat hätte genügt. Die Symbolik solch einer Geste wurde – leider – unterschätzt.

Dabei sind die Anerkennung und Wertschätzung des Deutschen Bundestages für alle Soldatinnen und Soldaten, die in Afgha-nistan im Einsatz waren, sehr groß. Das machte eine Aktuelle Stunde am 23. Juni deutlich, in der sich der Bundestag an herausgehobener Stelle mit dem Afghanistan-Einsatz befasste. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble dankte – im Namen des Bundestages und unter großem Beifall aller Bundestags-fraktionen – allen Einsatzsoldatinnen und -soldaten für ihre Einsatzbereitschaft und dafür, dass sie ihre Gesundheit und ihr Leben riskiert haben. Auf der Ehrentribüne waren während der Aktuellen Stunde sechs Soldatinnen und Soldaten, stell-vertretend für die Teilstreitkräfte und Organisationsbereiche als Afghanistan-Rückkehrerinnen und -Rückkehrer, anwesend.

Liebe Soldatin, lieber Soldat,

„Die bloße Anwesenheit

als Tat hätte genügt.

Die Symbolik solch einer Geste

wurde – leider – unterschätzt.“

„Die bloße Anwesenheitals Tat hätte genügt.

Die Symbolik solcheiner Geste wurde – leider

– unterschätzt.“Für den 31. August ist nun eine gesamtstaatliche Würdigung des Einsatzes geplant. Angesichts der „unglücklichen“ Ankunft in Wunstorf ist es wichtig, dass diese nun in besonderem Maße dem Einsatz Rechnung trägt. An verschiedenen Orten in Berlin sind Veranstaltungen geplant, an denen der Bundespräsident, die Bundestagspräsidenten, die Bundeskanzlerin, die Vertei-digungsministerin und viele Abgeordnete teilnehmen werden.

Ein Großer Zapfenstreich auf dem Platz der Republik vor dem Reichstag soll den Abschluss markieren.

Diese Planungen begrüße ich ausdrücklich. Es wird wichtig sein, dass möglichst viele Soldatinnen und Soldaten, aktive wie ehemalige, versehrte wie unversehrte, Angehörige und Hinterbliebene teilnehmen. Ihnen gebühren unsere Anerken-nung und unser Dank.

Zu einer angemessenen Würdigung des Afghanistan-Einsatzes gehört auch, Bilanz zu ziehen. Welche Ziele haben wir in 20 Jahren erreicht und welche nicht? Was können wir für andere und künftige Einsätze lernen? Hierüber muss politisch und gesellschaftlich breit, offen und auch schonungslos diskutiert werden. Der nächste Deutsche Bundestag sollte hierfür eine Enquete-Kommission einrichten. Sie wäre ein ideales Format, um den Afghanistan-Einsatz in all seinen Facetten und mit allen relevanten Akteuren umfassend zu bilanzieren.

Mit herzlichen Grüßen

Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages

25Kompass 09I21

Page 26: KOMPASS - katholische-militaerseelsorge.de

26 Kompass 09I21

Eingehegtes Königtum - Monarchie

in Israel

AUSLEGEWARE

Haben Sie schon einmal etwas vom Königreich Israels gehört? Diese

Bezeichnung mag vielleicht etwas un-gewöhnlich klingen, da man eher vom Königtum in Israel spricht. Aber bereits eine solche Bezeichnung weckt schnell Assoziationen, die, um es vorsichtig zu formulieren, sehr, sehr wenig mit der historischen Wirklichkeit zu tun haben. Bei Königreich denken vielleicht einige an ein klar umgrenztes Staatsgebiet mit Hauptstadt und Schloss, an eine Königs-familie, die sich auf eine lange Erbfolge berufen kann, oder einfach an Versailles oder an die Hohenzollern in Berlin. Wobei das Deutsche Kaiserreich von 1870/71 unter der Führung der Hohenzollern einen durchaus zutreffenden Vergleichspunkt mit dem Königtum in Israel aufzuweisen vermag, und zwar sind beide Spätlinge auf der jeweiligen politischen Landkarte.

Während schon lange in Mesopotamien oder in Ägypten starke und mächtige Kö-nigsdynastien regieren, allen Wechselbä-dern der Geschichte zum Trotz, so schält sich erst allmählich, tastend und stol-pernd in Israel so etwas wie ein König-tum heraus. Am Beginn steht eher eine Theokratie. Hierfür steht exemplarisch Samuel, ein anfangs mit Idealen erfüllter junger Mann, der sich mit zunehmenden Alter radikalisiert und sogar vor einer re-ligiös motivierten brutalen Tötung nicht zurückschreckt (1 Sam 15,33). Samuel ist zugleich Prophet, Richter und Priester in einem.

Doch wie nicht selten schlagen Söhne bedeutender Männer

aus der Art.

So ist es auch bei den Söhnen Samuels.

Die Vorwürfe gegen sie sind so heftig, dass die Ältesten Israels Samuel bitten, einen König einzusetzen, und zwar mit der Begründung „wie es bei allen Völ-kern der Fall ist“ (1 Sam 8,5). So wird am Ende dann Samuel noch zu einem Königsmacher wider Willen. Vermutlich ist man der Theokratie überdrüssig, denn alle Einwände gegen die Folgen eines Königtums prallen beim Volk ab (1 Sam 8,10-20); man verlangt einen König und mit ihm transparente Rechtsprechung, der Codex Hammurabi lässt vermutlich grüßen. Schließlich wird durch Privat-offenbarungen an Samuel und Losver-fahren ein Mann namens Saul gefunden, den Samuel zum „Fürsten über das Volk Israel“ salbt (1 Sam 9,19; 10,1). Aber mit dem Machtverzicht ist das so eine Sa-che. Nicht jeder ist ein Sulla oder Karl V., die freiwillig auf ihre Machtfülle verzichte-

© d

iy13 –

sto

ck.a

dobe.c

om

Die alte jüdische Festung Masada auf einem Felsen in der Judäischen Wüste am Toten Meer.

Page 27: KOMPASS - katholische-militaerseelsorge.de

27Kompass 09I21

AUSLEGEWARE

ten und sich ins Privatleben zurückzogen. Ein Samuel ist es schon gar nicht. Kurz-um, Fürst Saul, auch mit dem Titel König versehen, wird von Samuel (im Auftrag JHWHs?) verworfen (1 Sam 15,26), und er endet letztlich tragisch, und zwar durch Suizid (1 Sam 31,4). In der Zwischenzeit ist aber bereits ein neuer König gefunden worden; denn wieder ist Samuel im Auf-trag JHWHs unterwegs und salbt einen neuen König, jetzt den Sohn des Isai, David (1 Sam 16,1-13). Dieser bleibt es auch und sein Sohn Salomo übernimmt später, durch weibliche List bewerkstel-ligt, die königlichen Regierungsgeschäfte (1 Kön 1). Nach Salomos Tod teilt sich dann nach biblischer Überlieferung durch politische Ungeschicklichkeiten das Reich Davids und Salomos in das Nordreich Israel und in das Südreich Juda, beides Königreiche. Die neuere Forschung hat nun glaubhaft machen können, dass es so etwas wie ein Großreich Israels nicht gegeben hat. Vielmehr geht man davon aus, dass das sogenannte Nordreich mit dem sogenannten Südreich nur locker verbunden war. Beide gingen auch auf-grund unterschiedlicher wirtschaftlicher, politischer und militärischer Interessen ungleiche Wege.

TIPP:Sie fragen sich:

„Was bedeutet denn das

schon wieder in der Bibel?“

Senden Sie uns

Ihre Frage – hier wird

sie geklärt.

Nicht zuletzt waren vermutlich Saul und David eher so etwas wie

Clanchefs mit begrenzterReichweite und recht

merkwürdigen Koalitionen.

Der Titel Melech, oft mit König übersetzt, kann auch nur Ortsfürst bedeuten und in einem namhaften hebräischen Wörter-buch steht: „(I)n Kurdistan heißt heute noch jeder Dorfschulze malka“ (= Me-lech, ThRE).

Im Jahr 722 v. Chr. ging dann das Nord-reich Israel für immer unter und das Südreich Juda fand sein Ende mit dem Beginn der Babylonischen Gefangen-schaft (587 bis 538 v. Chr.). Erst der Makkabäeraufstand im Jahr 167 v. Chr. läutete eine lange Phase des Beginns ei-ner Souveränität im vormaligen Juda ein. Das Zeitalter der Hasmonäer begann. Dieses endete jedoch mit der Herrschaft Roms im Jahr 64 v. Chr. Einen letzten Höhepunkt erreicht Judäa noch unter der Herrschaft König Herodes, auch der Große genannt (37 v. bis 4 n. Chr.). Er ist mit Sicherheit eine der schillernds-ten und interessantesten Personen der judäischen Geschichte. Dieser von

Roms Gnaden regierende Klientelkönig entfaltete eine bis dahin in Judäa nicht gekannte Bautätigkeit wie beispielsweise den Um- bzw. Ausbau des Jerusalemer Tempels sowie den Bau der später so geschichtsträchtig werdenden Festung Masada. Im Jahr 70/71 n. Chr. war es aber endgültig vorbei mit aller judäischen Pracht und Herrlichkeit, als Titus Jerusa-lem eroberte und der Tempel verbrannte; Masada fiel wenig später im Jahr 73/74 n. Chr. auf äußerst tragische Weise.

Bezüglich des biblischen Befunds hin-sichtlich des Königtums in Israel kommt man außerdem nicht um das sogenannte Königsgesetz in Buch Deuteronomium (17,14-20) herum. Dieses Gesetz hegt deutlich den König ein.

Er darf nicht zu viele Pferde undzu viele Frauen besitzen – ob

Salomo dieses Gesetz kannte?(vgl. 1 Kön 11,1-4)

Auch soll er kein Silber und Gold an-häufen. Außerdem soll er auf die Thora achten, die ihm die levitischen Priester zur Abschrift geben, und nach ihr leben. Wenn er das tut, werden er und seine Nachkommen lange als Könige regie-ren. Kurzum, ganz ohne Priester geht es wieder nicht und eine absolutistische Königsherrschaft ist ebenfalls nicht vor-gesehen. Mit einem Wort: Das biblische Israel hat ein ambivalentes Verhältnis zum Königtum. Die Alternative Theokra-tie ist ebenso höchst ambivalent. Viel-leicht liegt ein tragfähiger Kompromiss zwischen beiden Polen im Titel des neu-en Buchs der Rabbinerin Elisa Klapheck „Dina de-Malchuta Dina – oder Gott braucht den säkularen Rechtsstaat“.

Thomas R. Elßner

„Im Jahr 70/71 n. Chr. war esaber endgültig vorbei mit allerjudäischen Pracht und Herrlichkeit, als Titus Jerusalem eroberte undder Tempel verbrannte; Masada fiel wenig später im Jahr 73/74 n. Chr.“

Page 28: KOMPASS - katholische-militaerseelsorge.de

28 Kompass 09I21

AUF EIN WORT

© A

lle E

mojis

: N

eo –

sto

ck.a

dobe.c

om

Vor Kurzem war ich zu einer Ins-pektionsübergabe eingeladen.

Im Gästebereich waren alle Stüh-le mit Namen versehen. Auf dem Stuhl, der für mich vorgesehen war, stand: Militärpfarrerin Maike Seelhorst. Dem:der aufmerksamen Leser:in mag nun aufgefallen sein, dass dieser Text in einer katholi-schen Zeitschrift steht und wir in der katholischen Kirche noch keine Pfar-rerinnen haben. Ich bin selbst sehr gerne Katholikin, mit Herz und Verstand. Daher zauberte mir dieses Schild ein Lächeln aufs Gesicht. Ich habe es fotografiert und in meinen WhatsApp-Status gestellt. Die Reaktionen darauf waren großartig. Vorher hat noch nie einer meiner Beiträ-ge eine so große Resonanz ausgelöst.

Angefangen hat es schon in der Ins-pektion: „Ja, wir wissen ja, dass dein Dienstgrad irgendwie anders heißt, aber wir kamen nicht drauf. Also haben wir überlegt, was du für uns bist, und du bist ja unsere Pfarrerin, also haben wir das auf das Schild geschrieben.“

Über WhatsApp erhielt ich, neben un-zähligen Daumen hoch, Partyhutemojis, Grinsemojis und Sternen, folgende Reak-tionen – und dies ist nur ein Auszug. Von Freund:innen nah und fern der Kirche:

„Nice erste Katholische Pfarrerinherzlichen Glückwunsch “

„Herzlichen Glückwunsch “

„Die katholische Kirche hängt gar nicht so weit hinterher wie alle immer sagen?! “

„Bist aufgestiegen wow.Frauenpower “„Frau Pfarrerin!“

Von Priestern:

„Das ist würdig und recht “ – „Amen “ – „Halleluja“

„Herzlichen Glückwunsch zur Beförderung und das noch auf einem violetten Stuhl.“ – „Ja wenn schon denn schon “ – „Du bist doch aber vom Titel her Standort-pfarrerin! Gibt es de facto nicht mehr … aber von früher her gesehen … stimmt es ja doch …“ – „Na dann ist ja alles richtig “ – Soll ich dich als erste katholische Pfarrerin begrüßen? Mal schauen, was die Anderen so sagen … Ich hätte damit überhaupt keine Probleme … Den Gag würde ich gerne wagen … oder?“ – „Für mich völlig in Ordnung“ – „Ich denke, dass es mehr als Zeit für die römisch-katholische Kirche ist, über die Rolle der Frau in der Verkündigung und in der Gemeinde nachzudenken.“

© K

MBA /

Mai

ke S

eelh

ors

t

Page 29: KOMPASS - katholische-militaerseelsorge.de

29Kompass 09I21

AUF EIN WORT

Von einem Soldaten:

Von Kolleg:innen, die aktuell dengleichen Beruf ausüben (!):

„Das ist ja mehr als toll und ein riesen Fortschritt. Herzlichen Glück-wunsch!!“ – „Ist nicht ganz echt, die Soldaten unterscheiden da nur einfach nicht “ – „Hab ich mir schon gedacht, aber warum nicht! Was nicht ist, kann ja noch werden. Das darf man ja hoffen und wün-schen.“

„ freut mich.Und sie bewegt sich doch …“

„Glückwunsch – oder Beileid?Ich weiß es nicht so genau …“ – „Im Bundeswehr- und Militär-seelsorgekontext nehm ichden Glückwunsch “

„Sehr geil “

„Das Bild sollte man mit freund-lichen Grüßen nach Rottenburg schicken. “ – „und Rom inscc setzen “

„In Aachen ist man also schon schneller als in Rom .“ – „In Aachen nicht ganz, aber bei der Bundeswehr, und auch das willwas heißen “ – „Die sind jamindestens genauso traditionell… Respekt!“

„Amen Schwester. Beim Militärhaben sie einiges verstanden. “

Ich habe mich sehr über all diese Nach-richten gefreut, da sie mir alle aus dem Herzen sprechen. Ich selbst möchte zwar keine Priesterin werden, halte es aber für ein Zeichen der Zeit, dass sich die Kirche in diese Richtung öffnet. Warum auch nicht? Als Christ:innen glauben wir daran, dass Gott Mensch geworden ist. Wir glauben daran, dass Gott stirbt, auf-ersteht, und durch das Durchwandern des Totenreiches all die Gottesferne aus der Welt schafft. Es sind Glaubenswahr-heiten, die wir erfahren durften und die wir gerne weitergeben, weil sie Grund unserer Hoffnung sind. Beweise gibt es nicht. Wenn wir aber solch große, fast unvorstellbaren Geheimnisse glauben, warum fällt es uns dann so schwer, uns vorzustellen, dass auch Frauen Prieste-rinnen sein können? Dass Priester:innen heiraten dürfen? Wenn wir an die großen Geheimnisse glauben, warum fällt es uns dann so schwer, zu glauben, dass Kir-chenrecht, Kirchenbild, Zeiten, Bedürf-nisse sich ändern können? Die zentrale Botschaft des Glaubens, dass Gott uns niemals verlässt, im Gegenteil, dass er:sie uns in allen Lebensbereichen von Beginn an bis zum Ende begleitet – diese Botschaft ist doch über die Jahrhunderte immer dieselbe geblieben. Und dennoch hat jede Zeit ihre eigenen Ausdrucksfor-men des Glaubens gefunden – und das ist gut so.

Konkrete Personen trafen und treffen zu bestimmten Zeiten unter bestimmten Voraussetzungen konkrete Entschei-dungen. Das Zölibat, das heute von vielen als eines der höchsten, heiligs-

ten Güter der Kirche betrachtet wird, ist nicht vom Himmel gefallen. Es war im 11. Jahrhundert eine machtpolitische Entscheidung (übrigens auch nicht von heute auf morgen, sondern in einer lan-gen Entstehungsphase), es einzuführen, damit die Priester das Kircheneigentum und die Pfründe nicht an ihre eigenen Kinder vererben, sondern es im Besitz der Kirche verbleibt. Ob es eine gute Entscheidung der Kirche war, dies ein-zuführen? Dazu fallen mir genauso viele positive wie negative Argumente ein. Ich verstehe aber nicht, warum eine solche Entscheidung, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in einem bestimmten kulturel-len Kontext getroffen wurde, heute als unverrückbare Glaubenswahrheit gese-hen wird. Heute haben Menschen und Kirche andere Schwerpunkte, aber im-mer noch die gleiche Sehnsucht: Gott zu finden. Ich verstehe meine Kirche als Ermöglicherin und Begleiterin der Men-schen in dieser Suche. Wenn Frauen die Sehnsucht verspüren, Priesterin zu sein, warum sollten sie es nicht werden dürfen? Wenn Priester die Möglichkeit sehen, ihren Dienst mit bzw. in einer fes-ten Partnerschaft tun zu können, warum sollten sie das nicht dürfen? Wenn zwei Liebende sich den Segen Gottes für ihre Beziehung wünschen, warum sollte die Kirche ihnen das verwehren? Wenn Gott von den Toten auferstanden ist, sollte es doch ein Leichtes sein, uns solch menschliche Dinge vorstellen zu können. Die Soldat:innen bei der Bundeswehr ha-ben diese Vorstellungskraft bereits. Das bringen sie zum Ausdruck, wenn sie mich als Pfarrerin ansprechen. Viele meiner Freund:innen haben sie auch, wie sie in ihren Reaktionen auf das Bild bestäti-gen. Ich wünsche mir zum Wohl meiner Kirche, dass sie diese Vorstellungskraft auch entwickelt. In der Heiligen Geist-kraft hat sie schon die besten Voraus-setzungen dafür.

Militärseelsorgerin Maike Seelhorst,Katholisches Militärpfarramt Aachen

„OK, war es vorher nicht so?“ – „Doch klar, mir ging‘s allein um den Teil „Pfarrerin““ – „ Siehste, wir Soldaten erkennen die wahre Qualifikation auch ohne Handauflegung . Das Bild muss auf eure Intranetseite. Frag doch gleich mal nach, ob du als weltweit erste katholische Pfarrerin auch das Monsignore führen darfst “

Page 30: KOMPASS - katholische-militaerseelsorge.de

30 Kompass 09I21

AUS DER MILITÄRSEELSORGE

Gemeinsam für die Menschen da seinMilitärseelsorge bei den Menschen im Unwettergebiet in Westdeutschland

Mit einem Bergepanzer der Bundeswehr werden die Straßen geräumt.

© K

MBA /

Mai

ke S

eelh

ors

t

Die Katholische Militärseelsorge unterstützte die Sol-datinnen und Soldaten auch bei ihrem schwierigen

Einsatz in den Hochwassergebieten in Nordrhein-West-falen und Rheinland-Pfalz. In unterschiedlichen Gebie-ten zu unterschiedlichen Zeiten, aber beseelt von der Aufgabe, die Soldatinnen und Soldaten zu unterstützen und mental zu begleiten, werden dabei ganze Nächte zu Tagen. Die Militärseelsorgenden scheuten dabei keine Mühen, sprachen sich mit Landeskommandos und zivilen Unterstützungsorganisationen ab.

Schon kurze Zeit nach den Unwettern in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen unterstützte die Bundeswehr die Bevölkerung und die Hilfskräfte in den zerstörten

Gebieten. Nahezu ebenso schnell war die Katholische Militärseelsorge in einem Lagezentrum aufgestellt und betreute die Soldatinnen und Soldaten ebenso wie die Einheimischen seelsorglich dort, wo es nötig und sinnvoll war.

Auch wenn das Wasser jetzt wieder zurückgegangen ist, so geht für die Militärseelsorge die Begleitung noch länger weiter; die Seelsorgenden sind für ihre Soldatin-nen und Soldaten genauso da wie für alle Menschen in diesen Gebieten – und fast jederzeit ansprechbar. Zusammen sind die Belastungen und das Leid besser zu ertragen und das gemeinsam Erlebte zu verarbeiten.

Page 31: KOMPASS - katholische-militaerseelsorge.de

31Kompass 09I21

AUS DER MILITÄRSEELSORGE

„Vom ersten Tag an waren jeden Tag – auch am Wochenende – zwischen 50 und 70 Soldaten und Soldatinnen im Einsatz. Was oft nach ‚Müll aufräumen‘ aussah, hatte dennoch einen konkreten Auftrag: Fluchtwege frei machen, Flussbett vonBarrieren wie Baumstämmebefreien, damit das Wasserwieder abfließen kann und es nicht zu neuen Überflutungen beim nächsten Regen kommt.Ein Berge- und ein Pionierpanzer waren im Einsatz, dazu Kräne und Bagger, oft an den Stellen, wo sonst niemand hinkommt bzw. wo alle anderen Fahrzeuge abgesehen von den Panzern überfordert gewesen wären.“

Militärseelsorgerin Maike Seelhorst

Wir helfen.

Die Katholische Arbeitsgemeinschaftfür Soldatenbetreuung und die Katholische Militärseelsorge unterstützen betroffene Bundeswehr- familien in den Flutgebieten bei der Krisenbewältigung. Die Finanzierung der Hilfen erfolgt durch die Katholische Familienstiftung für Soldaten.

SpendenkontoIBAN DE68 3706 0193 0033 2210 10

Helfen Sie mit!

© B

undesw

ehr

/ To

m T

war

dy

Militärseelsorger Michael Kühn spricht mit einer Bürgerinin der Kirche von Rech während des Hochwassereinsatzesin Rheinland-Pfalz.

Page 32: KOMPASS - katholische-militaerseelsorge.de

32 Kompass 09I21

GLAUBE, KIRCHE, LEBEN

Page 33: KOMPASS - katholische-militaerseelsorge.de

33Kompass 09I21

FILM-TIPP

Originaltitel: CHARLATANProduktionsland: Tschechien/Irland/Slowakei/PolenProduktionsjahr: 2020Regie: Agnieszka HollandDarsteller: Ivan und Josef Trojan (Jan Mikolášek)Länge: 118 MinutenKinostart: 16.9.2021

Der Film CHARLATAN wurde am 27. Februar 2020, kurz vor dem Lockdown, bei der Berlinale aufgeführt. Dann

lief er bei verschiedenen internationalen Festivals, war auch für den Oscar in der Sparte „Bester fremdsprachiger Film“ nominiert, nun hat er im September deutschen Kinostart. Die große Anerkennung und Ehrung ist diesem Film über den tschechischen Wunderheiler Jan Mikolášek bisher ver-sagt geblieben.

Mikolášek war von 1920 bis 1950 in Tschechien sehr be-kannt, selbst NS-Größen und Repräsentanten des tschechi-schen Staats gehörten zu seinen Patienten. Danach geriet der Natur-Heiler in Vergessenheit, nahezu unbemerkt ver-starb er 1973 in der sozialistisch-kommunistischen CSSR.

Der Film beginnt mit dem Tod des tschechischen Präsiden-ten Antonín Zápotocký, von da an „sinkt“ der Stern des einst so berühmten Medizinmanns, der sich immer ungern als Doktor ansprechen ließ. CHARLATAN ist ein ambitionierter Spielfilm der international sehr bekannten polnischen Re-gisseurin Agnieszka Holland. Und in diesem Film beschäftigt sie sich wieder mit einer Geschichte aus dem ehemaligen Ostblock. Bereits ein Jahr davor lief bei der Berlinale ein Film von ihr zur ukrainischen Hungersnot in der stalinistischen Sowjetunion: Mr. Jones (deutscher Verleihtitel: Red Secret – im Fadenkreuz Stalins).

CHARLATAN nun lässt sich viel Zeit mit der Beschreibung der Situation in den 50er Jahren im kommunistischen Tschechi-en. Sehr eindrücklich zeigt diese internationale Großproduk-tion, wie in Diktaturen das Wohl und Wehe eines Menschen oft von einzelnen Personen abhängt. Das erlaubt auch mal Gedanken an Situationen, in denen Vorgesetzte oder Leiter das Klima eines Betriebs stark beeinflussen – in welcher Richtung auch immer.

Und dann thematisiert der Film noch eine Liebesaffäre von Mikolášek mit seinem Assistenten. Alles wird präsentiert mit höchst präzisen Kameraeinstellungen, welche die Zuschau-er so richtig in die Zeit mit hineinnehmen. Dabei sollten die satten Farben und perfekt ausgestatteten Sets nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Film eine sehr schlimme Zeit präsentiert – eine Diktatur voller Willkür und Totalität.

CHARLATAN ist ein erschütternder Film über Macht und Machtmissbrauch im ehemaligen Ostblock. Und es ist ein sensibler Film über verbotene Liebe, hier nun als homoeroti-sche Liebesbeziehung zwischen Jan Mikolášek und seinem Assistenten Frantisek Palko.

CHARLATAN ist auch ein Film für die große Kinoleinwand. Schön, dass man ihn nun ab dem 16. September im Kino sehen kann.

Thomas Bohne,Mitglied der Katholischen Filmkommission

CHARLATAN

Page 34: KOMPASS - katholische-militaerseelsorge.de

34 Kompass 09I21

„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. (...) die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.“ (aus Artikel 20 des Grundgesetzes)

Gewalt ist ein vielschichtiges Thema. Wir verknüpfen es im Kompass 10/21 mit dem ebenfalls mehrdeutigen Stichwort Macht. Beispielsweise wird das Militär manchmal als „Streit-Macht“ bezeichnet.

Ein Anlass für die aktuelle Beschäftigung mit Gewaltstrukturen und Machtausübung ist etwa der Synodale Weg der katholi-

schen Kirche in Deutschland, der ein eigenes Forum „Macht und Gewaltenteilung in der Kirche“ hat, bei dem Militärbischof Overbeck einer der beiden Vorsitzenden ist.

Unsere Autoren stellen sich aber auch den Fragen: „Was macht Macht mit uns?“, Wie verhalten sich Gewalt und Innere Führung in der Bundeswehr zueinander? Wie viel Autorität brauchen Vorgesetzte, Gerichte und andere? Wie steht es mit der Gewalt in Bibel, Koran und anderen wichtigen Schriften? Was wäre, wenn es keine Macht oder Gewalt mehr gäbe?

Jörg Volpers

VORSCHAU: Unser Titelthema im Oktober

BUCH-TIPP / VORSCHAU

Haben Sie sich auch schon mal gefragt, wieso es nur noch eine Art von Menschen gibt, den Homo sapiens? Wo doch im Tierreich

so eine Fülle an unterschiedlichen Arten existiert? Warum Tierarten erst durch Eiszeiten ausstarben, wenn zufällig auch der Mensch vor Ort war? Wie hat es der Mensch an die Spitze der Nahrungskette geschafft, obwohl wir im Vergleich zu anderen Tieren nicht körperlich überlegen sind? Wenn körperliche Überlegenheit nicht der Schlüssel ist, warum leben dann fast alle Völker in patriarchalen Strukturen? Wie sind wir von tausenden Stämmen mit all ihren Kulturen zu der Einheit geworden, die wir heute sind? Wie hat es der Monotheismus an die Spitze der Religionen geschafft? Kurz: Wo kommen wir her und wie sind wir an den Punkt gelangt, an dem wir heute stehen?

„Der Mensch hat nicht den Weizen domestiziert.Der Weizen hat uns domestiziert.“

In seinem Buch „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ geht Yuval Noah Harari all diesen und noch vielen weiteren Fragen auf den Grund und erzählt uns unsere eigene Geschichte, von der Steinzeit bis in die Gegenwart. Anschaulich und unterhaltsam, ohne die Fak-ten aus den Augen zu verlieren, zieht er dabei Verbindungen, die uns in Staunen versetzen und die Geschichte in ein anderes Licht tauchen. Und dieses Licht ist nicht immer ein positives. Losgelöst und kritisch gegenüber der menschverherrlichenden Geschichts-schreibung erschafft Harari an lebhaften Beispielen ein oft ernüch-terndes und doch überraschendes Meisterwerk, dass sich aus unzähligen klitzekleinen Mosaiksteinen zusammensetzt.

Ein absolutes Muss nicht nur für Geschichts-, sondern auch für Ethikinteressierte und eine klare Empfehlung als Pflichtlektüre jedes Geschichtsunterrichts.

Der Autor Yuval Noah Harari wurde 1976 in Israel geboren und lehrt heute Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem. Sein Buch „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ wurde in 60 Sprachen übersetzt und über 16 Millionen Mal verkauft.

Sonja Weber, Hauptfeldwebel d. R.

Eine kurze Geschichte der Menschheitvon Yuval Noah HarariPantheon Verlag, (2015), 38. AuflagePaperback, 528 Seiten, 14,99 €ISBN 978-3-570-55269-8

© T

he g

loss

y bac

kgro

un –

sto

ck.a

dobe.c

om

„Krone der Schöpfung oder Schrecken des Ökosystems?“Eine kurze Geschichte der Menschheit

Page 35: KOMPASS - katholische-militaerseelsorge.de

35Kompass 09I21

RÄTSEL

Fjällräven-Rucksack zu gewinnen!

Der Gewinner des Rätsels der Ausgabe07-08/21 wird benachrichtigt.

Lösungswort: ZUVERSICHT ist das Ver-trauen und der feste Glaube daran, dass eine positive Entwicklung in der Zukunft geschehen wird, oder auf die Erfüllung bestimmter Wünsche und Hoffnungen.

23. September 2021an die Redaktion

Kompass. Soldat in Welt und Kirche Am Weidendamm 2, 10117 Berlin

oder per E-Mail an [email protected]

(Wir bitten um eine Lieferanschrift und um freiwillige Altersangabe.)

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kurie des Katholischen Militärbischofs (Berlin) und

deren Angehörige sind nicht teilnahmeberechtigt. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.

Alle Angaben, die in der Redaktion mit dem Gewinn des Kreuzworträtsels erfasst sind, werden nach den

Bestimmungen der Europäischen Datenschutz-Grundverordnung (DS-GVO) verwendet. Sie dienen aus-

schließlich der Benachrichtigung des Gewinners und finden keine Verwendung für andere Zwecke.

Wir verlosen einen Fjällräven-Rucksack Kånken. Mit Ihrer Teil-nahme sichern Sie sich eine Gewinnchance, sobald Sie uns das richtige Lösungswort mitteilen. Die Lösung bitte bis

Page 36: KOMPASS - katholische-militaerseelsorge.de