30
Kritischer Rationalismus und Psychologie Arne Friemuth Petersen Inhalt Einleitung ......................................................................................... 2 Erkenntnistheoretische Probleme mit Psychoanalyse und Individualpsychologie .............. 2 Ausgangspunktein Kants Philosophie ......................................................... 4 Über Erwartungen (oder Antizipationen) als synthetische Urteile a priori ..................... 5 Von der Gewohnheitsbildung zum Lernen durch Handeln und Auswählen .................... 9 Ersetzung der induktivistischen Dogmen der traditionellen Lerntheorie durch eine deduktivistische Theorie des Problemlösens ..................................................... 14 Alles Leben ist Problemlösen.................................................................. 18 Vom Ursprung des Bewusstseins und der Interaktion von Geist und Gehirn ................... 21 Über das menschliche Ich und seine Funktionen ................................................ 24 Das Übertragungsprinzip: Was in der Logik wahr ist, ist in der Psychologie wahr.......... 26 Literatur ........................................................................................... 27 Zusammenfassung Als sich Popper in seinen Grundproblemen der Erkenntnistheorie in den frühen 1930er-Jahren gegen den Induktivismus gewendet hat, tat er dies durch die Erbringung des Nachweises, dass eine deduktivistische Psychologie möglich ist. Seine lebenslange Beschäftigung mit der Erkenntnistheorie und dem Wis- senserwerb brachte ihn dazu, traditionelle induktivistische und behavioristische Theorien zu kritisieren und durch eine logisch vertretbare Theorie des Problem- lösens mittels der Verfahren von Versuch und Irrtum oder Handeln und Auswäh- len zu ersetzen. Er weitete seine Kritik und seine Ideen zudem auch auf die animalische Kommunikation und die menschliche Sprache, menschliches Ver- halten und Handeln und deren Funktionen in seinem aktiven Darwinismus“– A. F. Petersen (*) Universität Kopenhagen, Kopenhagen, Dänemark Universität Montpellier, Montpellier, Frankreich E-Mail: [email protected] # Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018 G. Franco (Hrsg.), Handbuch Karl Popper, Springer Reference Geisteswissenschaften, https://doi.org/10.1007/978-3-658-16242-9_35-2 1

Kritischer Rationalismus und Psychologie - link.springer.com · ten Unterredungen mit Alfred Adler kritisierte, an einer von dessen Erziehungsbe- ratungsstellen er tätig war, als

Embed Size (px)

Citation preview

Kritischer Rationalismus und Psychologie

Arne Friemuth Petersen

InhaltEinleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2Erkenntnistheoretische Probleme mit Psychoanalyse und Individualpsychologie . . . . . . . . . . . . . . 2„Ausgangspunkte“ in Kants Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4Über Erwartungen (oder Antizipationen) als synthetische Urteile a priori . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5Von der Gewohnheitsbildung zum Lernen durch Handeln und Auswählen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9Ersetzung der induktivistischen Dogmen der traditionellen Lerntheorie durch einededuktivistische Theorie des Problemlösens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14„Alles Leben ist Problemlösen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18Vom Ursprung des Bewusstseins und der Interaktion von Geist und Gehirn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21Über das menschliche Ich und seine Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24Das Übertragungsprinzip: „Was in der Logik wahr ist, ist in der Psychologie wahr“ . . . . . . . . . . 26Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

ZusammenfassungAls sich Popper in seinen Grundproblemen der Erkenntnistheorie in den frühen1930er-Jahren gegen den Induktivismus gewendet hat, tat er dies durch dieErbringung des Nachweises, dass eine deduktivistische Psychologie möglichist. Seine lebenslange Beschäftigung mit der Erkenntnistheorie und dem Wis-senserwerb brachte ihn dazu, traditionelle induktivistische und behavioristischeTheorien zu kritisieren und durch eine logisch vertretbare Theorie des Problem-lösens mittels der Verfahren von Versuch und Irrtum oder Handeln und Auswäh-len zu ersetzen. Er weitete seine Kritik und seine Ideen zudem auch auf dieanimalische Kommunikation und die menschliche Sprache, menschliches Ver-halten und Handeln und deren Funktionen in seinem „aktiven Darwinismus“ –

A. F. Petersen (*)Universität Kopenhagen, Kopenhagen, Dänemark

Universität Montpellier, Montpellier, FrankreichE-Mail: [email protected]

# Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018G. Franco (Hrsg.), Handbuch Karl Popper, Springer Reference Geisteswissenschaften,https://doi.org/10.1007/978-3-658-16242-9_35-2

1

Poppers Fassung der Evolutionstheorie – aus. Und um in die Psychologie und dieihr verwandten Disziplinen ein wenig logische Ordnung hineinzubringen, führteer schließlich auch noch ein kantisches „Übertragungsprinzip“ ein, um derwissenschaftlichen Methodologie bei der Umgehung induktiver Verfahren undanderer Fallstricke zu helfen.

SchlüsselwörterDeduktivistische Psychologie � Problemlösung versus Konditionierung �Entstehung des Bewusstseins � „das Ich als Steuermann“ � Geist als Kraftfeld:Interaktion von Geist und Gehirn

Einleitung

Es ist weithin bekannt, dass Popper einer der ersten war, die gezeigt haben, dass diePsychoanalyse, und besonders Freuds Version, keine Wissenschaft ist; er war aller-dings auch der Individualpsychologie gegenüber kritisch eingestellt, die er in priva-ten Unterredungen mit Alfred Adler kritisierte, an einer von dessen Erziehungsbe-ratungsstellen er tätig war, als er, nicht lange nach dem Ersten Weltkrieg, an derWiener Universität studierte.

Weniger bekannt ist allerdings, dass der junge Popper Bildungstheorie undPsychologie studiert und eine Dissertation mit dem Titel „Zur Methodenfrage derDenkpsychologie“ (1928) verfasst hat, bevor er mit seiner Logik der Forschung(1934), der gekürzten Fassung seines Opus MagnumDie beiden Grundprobleme derErkenntnistheorie von 1930–33 (zuerst 1979 veröffentlicht), zum „offiziellenGegenspieler“ des Wiener Kreises und des logischen Positivismus wurde. Bevor eralso seinen „kritischen Rationalismus“ explizit ausformuliert hatte leistete er bereitskritische und kreative Beiträge zur Psychologie, von der er von Anfang an stetsannahm, dass sie der Aufklärung dringend bedurfte.

Erkenntnistheoretische Probleme mit Psychoanalyse undIndividualpsychologie

In Diskussionen über aktuelle Fragen mit seinen Kommilitonen und Freunden warPopper immer wieder darüber erstaunt, wie manche von ihnen den damals modi-schen Ansichten von Marx, Freud, Adler und anderen anhängen konnten, da dieseGefolgschaft oft an eine bloß intellektuelle Bekehrung oder Offenbarung erinnerte.Wenn die Augen einmal für solche Ansichten oder Theorien geöffnet waren, dannkonnte man überall bestätigende Beispiele für sie finden, und die, die nicht daranglauben wollten waren sicher nur Leute, die „die offenbare Wahrheit“ nicht sehenwollten – sei es, weil sie gegen ihr Klasseninteresse gerichtet war, sei es, weil beiihnen „unanalysierte Verdrängungen“ vorlagen, die eigentlich geradezu danachschrien, behandelt zu werden.

2 A. F. Petersen

Wie Popper später über seine Einsichten zu jener Zeit schrieb, hatten Theorienwie die Freuds und Adlers, im Gegensatz zu der Einstein’schen Gravitationstheorie,„obwohl sie vorgaben, wissenschaftlich zu sein, in Wirklichkeit mehr mit primitivenMythen gemeinsam als mit der Naturwissenschaft [und] standen der Astrologienäher [. . .] als der Astronomie“ (Popper 1963, 2009, S. 50). Grund hierfür war, sobehauptete er, dass diese Theorien zu allgemein und augenscheinlich darauf angelegtwaren, praktisch alles zu erklären, was sich auf ihrem Feld abspielte, dabei aber inWirklichkeit unfähig waren, auf Erscheinungen und spezifische Beobachtungenhinzudeuten, die sie testen und die ihnen möglicherweise widersprechen könnten.Nicht so Einsteins Theorie. Diese sei in der Lage, genau das zu tun, was sich daranzeigen würde, dass sich bestimmte Ereignisse als mit dieser Theorie unvereinbarerwiesen. Freuds und Adlers Theorien müssten daher als unwissenschaftlich gelten,da sie solche Testfälle nicht „spezifizieren“ könnten, sondern einfach alles als Belegfür ihre Bestätigungen ansähen. Bestätigung ist jedoch keine Garantie für dieWahrheit einer Theorie; nur Belege für ihre Widerlegung sind eine Garantie für –die Falschheit einer Theorie. Poppers Schlussfolgerung lautet: „Unwiderlegbarkeit[einer Theorie] ist nicht, wie oft angenommen wird, eine Stärke einer [solchen]Theorie, sondern eine Schwäche. [. . .] Man kann all das kurz dahingehend zusam-menfassen, dass das Kriterium der Wissenschaftlichkeit einer Theorie ihre Falsifi-zierbarkeit ist, ihre Widerlegbarkeit, ihre Überprüfbarkeit“ (Popper 1963, 2009,S. 53 f.).

Das ist jedoch längst nicht alles, was an der Psychoanalyse und der Individual-psychologie falsch ist. In seiner ersten Publikation unter dem Titel „Über dieStellung des Lehrers zu Schule und Schüler“ (1925) untersuchte Popper die erkennt-nistheoretischen Voraussetzungen einer Wissenschaft von den Individuen, ihrerPersönlichkeiten oder Charaktere, und kam zu einem Ergebnis, das den Praktikernin diesen Lagern nicht gefallen haben dürfte:

Jedes Einzelwesen, in seiner Einzigartigkeit gesehen, ist eine Individualität. Dem Begriffdes Einzigartigen steht der Begriff des Typischen als konträrer Gegensatz gegenüber: DasTypische sehen wir in einem Einzelwesen, wenn wir dieses von einem gegebenen, allgemei-nen Gesichtspunkte aus betrachten; daher ändert sich das Typische mit jedem Wechsel desGesichtspunktes. Mit dieser Überlegung erscheint es ausgeschlossen, dass eine Psychologie,Soziologie oder überhaupt eine Wissenschaft sich mit der Individualität befassen kann; denneine Wissenschaft ohne allgemeinen Gesichtspunkt ist unmöglich (Popper 1925, 2006, S. 4).

Einige Typologien, wie die Kretschmers, sind innerhalb der Psychiatrie erprobtworden, allerdings ohne großen Erfolg.

Während also die Wahrnehmung, das Verhalten, die Kommunikation, die Funk-tion von Emotionen, Bedürfnissen und Trieben wissenschaftlich untersucht werdenkönnen, scheinen die Verfassung des einzelnen Individuums, seine alltäglichenErfahrungen, Gedanken, Freuden und Leiden et cetera für die Wissenschaft uner-klärbar zu sein – hier müssen vielmehr Literatur und Kunst konsultiert werden, umein plausibles Bild des individuellen Lebens in seiner ganzen Fülle zu erhalten. Diesist ohne Zweifel der Ort, an den Psychoanalyse und Individualpsychologie gehören,

Kritischer Rationalismus und Psychologie 3

da diese Art der Psychologie, ebenso wie im Optimalfall die Literatur, die Leiden derKranken lindern kann, indem sie ihnen Einsichten in ihr eigenes Leben ermöglicht.

„Ausgangspunkte“ in Kants Philosophie

Popper studierte in Wien zu einer Zeit, als der logische Positivismus die Wissen-schaftstheorie dominierte und das positivistische Beharren auf einer permanentenBezugnahme auf phänomenologische Berichte („Protokollsätze“) sogar die Natur-wissenschaften beeinflusst hatte. Ernst Mach, Professor für Philosophie und Physik,bestritt daher noch bis zu seinem Tod im Jahre 1916 die Existenz von Atomenaufgrund der Tatsache, dass sie nicht sinnlich erfahrbar sind. Solch gravierenderMissverständnisse zum Trotz bewahrte sich die Psychologie ihre Schiedsrichterrollein den meisten Disziplinen auch noch in den Folgejahren, und noch bis weit nachdem Zweiten Weltkrieg wurde wissenschaftliche Objektivität in den Wahrnehmun-gen und Urteilen der wissenden Wissenschaftler verortet.

Bei seinem Versuch, eine zufriedenstellendere Theorie des Wissenserwerbs unddes Lernens zu entwickeln als die, mit der er während seiner Schulausbildungkonfrontiert worden war, hat Popper diesen ganzen positivistischen Ansatz durcheine kantisch inspirierte Theorie über Probleme und ihre möglichen Lösungenersetzt. Damit sollte er nicht nur die Auffassung davon verändern, inwiefern Beob-achtung und Experiment zur Wissenschaft beitragen, sondern seine Ersetzung derPsychologie durch logische Analysen in der wissenschaftlichen Methodologie über-zeugte letztlich viele Wissenschaftler davon, dass seine Methode der Hypothesen-bildung und -widerlegung genau diejenige war, derer sie sich selbst bedienten.

In den Beiden Grundproblemen der Erkenntnistheorie (Popper 1979, 2010,S. 12–17) fasst Popper die geschichtliche Situation so zusammen, dass der eigent-liche Streit zwischen Rationalismus und Empirismus um die Frage kreist, ob essynthetische Urteile a priori gibt. (Schema 1) Der klassische Rationalismus hat dieseMöglichkeit begrüßt und behauptet, dass eine Begründung der Gültigkeit solcherUrteile im Evidenten zu suchen sei – in der Möglichkeit also, dass synthetischeUrteile „rational oder intuitiv einleuchtend“ erscheinen können („Evidenzlehre“).Dagegen wandte der Empirismus jedoch ein, dass manche solcher „offensichtlichen“synthetische Urteile sich tatsächlich als falsch erwiesen haben. Neben der Logik alsGrundlage der Gültigkeit analytischer Urteile lässt der Empirismus keine andereGrundlage für die Gültigkeit synthetischer Urteile zu als empirische Evidenz – undbestreitet damit (nach Popper zu Unrecht), dass synthetische Urteile apriorischeGültigkeit besitzen könnten. Denn, so Popper, Kant hatte recht damit, dass syn-thetische Urteile zwar a priori gültig sein können, aber Unrecht mit der Annahme,dass sie deshalb a priori wahr seien: Synthetische Urteile sind nicht a priori wahre,sondern problematische Urteile, da sie sich häufig als a posteriori falsch herausstel-len, wenn sie empirisch überprüft werden.

4 A. F. Petersen

Man ahnt hier, dass Poppers Philosophie von Anfang an biologisch begründetwar, wie er es später mit Formulierungen wie „Alles Leben ist Problemlösen“, demTitel eines Essaybands von 1994, auch betonte. (Näheres dazu in Petersen 2016).

Über Erwartungen (oder Antizipationen) als synthetische Urteilea priori

Beim Versuch, anlässlich der oft behaupteten induktiven Natur menschlicher Denk-prozesse nachzuweisen, dass die Theorie des Wissens nicht mit der Psychologie desWissens verschmolzen ist, besteht Poppers nächster Schritt darin, seine Interpreta-tion von Kant anzuwenden, um zu zeigen, dass eine deduktivistische Psychologienicht nur möglich ist, sondern auch wichtige Tatsachen für sie sprechen.

Popper nimmt hier überraschenderweise ein Zitat von Ernst Mach zum Aus-gangspunkt, der in seinen Prinzipien der Wärmelehre (Mach 1900, S. 416) dieUrsprünge des Denkens und geistiger Konstrukte auf eine biopsychologische Weiseerklärt – genauer gesagt, als ein Ergebnis des Zusammenspiels von Reaktion undRezeption. Mach schreibt: „Worauf in gleicher Weise reagiert wird, das fällt untereinen Begriff. So vielerlei Reaktionen, so vielerlei Begriffe“.

Popper stellt nun heraus (Popper 2010, S. 28), dass dieser Ansatz Machs, der imGegensatz zu seiner eigenen phänomenologischen Erkenntnislehre und Psychologiesteht, durch das neurophysiologisch grundierte Argument gestützt wird, dass man imNervensystem zwischen einer afferenten und einer efferenten Seite, zwischen Rezep-tionsseite und Reaktionsseite unterscheiden kann. Er argumentiert dann, dass fürphysiologische Reaktionen im Allgemeinen (und insbesondere für gewisse psycho-logische Reaktionen) gilt, dass sie zwar durch einen Reiz ausgelöst werden, diespezifische Form des Reaktionsablaufes jedoch weitgehend von den Bedingungendes reagierenden Apparates selbst abhängig ist:

a priori(Unterscheidung nachdem Geltungsgrund)

analytische Urteile

(Logische Unterscheidung)

+ ?

+—

synthetische Urteile

a posteriori

Schema 1 Der Konflikt zwischen Rationalismus und Empirismus in der Geschichte des westli-chen Denkens drehte sich um die Frage des Geltungsgrundes von Aussagen über die Wirklichkeit(synthetische Urteile) und nicht um die Gültigkeit rein logischer Aussagen (analytischer Urteile), inBezug auf die sich beide Traditionen einig sind, dass sie nur a priori entschieden werden kann. AusKants beiden Unterscheidungen – denen zwischen analytischen Urteilen und synthetischen Urteilen(die eine logische ist) und der Unterscheidung nach dem Geltungsgrund (die eine epistemische ist) –folgt: (1) alle analytischen Urteile gelten a priori (+) und (2) alle Urteile, die a posteriori gelten,sind synthetische Sätze (� und +). Damit ist noch nicht gesagt, ob es synthetische Urteile a priorigibt (?). (Übernommen aus Popper 2010, S. 13, mit Genehmigung der Karl-Popper-Sammlung inKlagenfurt.)

Kritischer Rationalismus und Psychologie 5

Der auslösende, objektive Reiz kann als materiale Bedingung der Reaktion betrachtetwerden, denn er bedingt ihr tatsächliches Auftreten; der reagierende Apparat enthält dieformalen Bedingungen ihres Ablaufes. Die Reaktionen können also als „subjektiv präfor-miert“ bezeichnet werden [. . .], [sind] also nicht aus der Erfahrung gewonnen.

Wie können nun solche präformierten Reaktionen sich in den objektiven Situa-tionen der Umwelt bewähren und sich als biologisch wertvoll erweisen? – Um diesezentrale Frage zu beantworten, zieht Popper eine Theorie der Probierbewegungendes Zoologen Herbert Spencer Jennings (Jennings 1906) heran, der beobachtet hatte,dass eine Amöbe dann, wenn sie einem schädlichen Reiz ausgesetzt ist, ihr gesamtesVerhaltensrepertoire mobilisiert, worin der Organismus alle seiner Reaktionen solange ausprobiert, bis eine von ihnen zur der Situation „passt“ – das heißt, dieReaktion wird darin biologisch funktional, dass sie das Tier „von dem schädlichenReiz“ befreit. Tritt der Reiz nochmals auf, so beginnt das ganze Verfahren vonNeuem: Wieder werden alle jene Probierbewegungen der Reihe nach abgewandelt.Daran ändert sich auch nach mehrfachen Wiederholungen nichts, oder vielmehr: Esändert sich nur das Tempo des Ablaufes, indem die „passende“ Reaktion immerprompter eintritt, weil die Reihe der Bewegungen immer schneller abläuft. DieWiederholung bewirkt eine „Ablaufsverkürzung“. Die zeitliche Verkürzung, die sichaus der wiederholten Verhaltensabfolge ergibt, liegt an einer graduellen Simplifizie-rung und einer besseren Integration der Ziliarbewegungen, jeweils relativ zur Pro-blemsituation.

Subjektiv präformierte Reaktionen könnten sich somit durch „probierendes Ver-halten“ – durch Versagen und schließlich Bewährung – der objektiven Situationanpassen, und damit wird – wie Dedekind (1887) und Selz (1922) vorher vorge-schlagen haben – „eine Zuordnung“ der Reaktion zum Reiz etabliert. Popper (2010,S. 30) merkt dazu an:

Die Zuordnung geht immer ihrer Bewährung zeitlich voraus. Die Zuordnung ist somit ihrerBewährung gegenüber antizipativ (die Reaktion kann, solange sie sich nicht bewährt hat, als„unbegründetes Vorurteil“ bezeichnet werden). Die Bewährung wird denn auch oft ausblei-ben: Die antizipative Zuordnung der Reaktion zum Reiz ist also eine vorläufige.

Die späteren Befunde von Verhaltensforschern haben gezeigt, dass Reaktionennicht „blind“ sein müssen wie im Falle von Jennings’ Amöbe; bei vielen Verhaltens-phänomenen, die Prägung, Bindung, arttypische Kommunikation, Paarbindung, dieInteraktion von Raub- und Beutetier et cetera betreffen, sind die antizipatorischenErwartungen nur auf eine enge Bandbreite von Stimuli eines bestimmten Typsgerichtet, wie Größe, Farbe, Geruch, Temperatur oder Frequenz, und die Reaktiondes Individuums hängt oft von seinem Alter, seiner Motivation oder anderen innerenZuständen ab. Diese Ergebnisse stützen die Ansicht, dass das Lernen „von innennach außen“ geschieht und die Reaktionen auf externe Reize in vielen solchenFällen durch die Evolution genetisch vorprogrammiert sind, weshalb die Antizipa-tionen (Erwartungen) mit größerer Wahrscheinlichkeit auf den „passenden“ Reizstoßen werden.

6 A. F. Petersen

Die klassischen Lerntheorien, zum Beispiel die des russischen und amerikani-schen Behaviorismus, hatten vergleichbare Reaktionen bei Tieren induktiv erklärt,da sie solche Reaktionen sämtlich für das Ergebnis wiederholter Stimulationenhielten, die die Reaktion sozusagen nach und nach „aufgebaut“ hätten. PoppersDeduktivismus hingegen hält es für unmöglich, dass Wiederholung irgendetwasNeues hervorbringen könnte, ob beim Lernen oder bei der Kognition. Die Wieder-holung kann nur etwas zum Verschwinden bringen (Ablaufsverkürzung): „Gewöh-nung und Übung beseitigen nur die Umwege des Reaktionsablaufes, sie schleifenihn ab. Durch Wiederholung entsteht also nichts. Die zunehmende Promptheit einerReaktion darf nicht für ihr allmähliches Neuentstehen angesehen werden (naturafacit saltus)“ – denn die Natur springt zu Konklusionen! (Popper 2010, S. 33).

Was die Trennlinie zwischen dem behavioristischen „Induktivismus“ und Pop-pers „Deduktivismus“markiert, ist offensichtlich die Divergenz ihrer Ansichten überdie Funktion der Wiederholung. Dies kommt im folgenden Beispiel klar zumAusdruck, auf das sich Popper in seinen Ausgangspunkten (Popper 1974, 2012a,S. 58, Anm. 44) bezieht – nämlich Konrad Lorenz’ Beschreibung der Gewohnheits-bildung bei seiner zahmen Gans Martina, die sich vollzog, als er damit begonnenhatte, ihr beizubringen, die Treppen im Haus zu erklimmen. Lorenz zeichnet in allenEinzelheiten nach (Lorenz 1963, S. 105 f.), wie eine ursprüngliche Flugroute zueinem Fenster, die Martina erstmals benutzt hatte, als er sie in eine Angstsituationbrachte, indem er sie nahe der Treppe verließ, sich im Verlauf eines Jahres immerweiter verkürzt hatte und letztlich zu einem ritualisierten Verhaltensmuster gewordenwar, das trotz seiner radikalen Simplifizierung nach wie vor beruhigend auf denVogel einwirkte (vgl. Abb. 1 und Text).

Im Gegensatz zu Lorenz’ induktivistischer Interpretation seiner eigenenBeschreibung, die Popper kritisiert, lässt letzterer kein induktives Verfahren in seinerInterpretation dessen zu, wie die wiederholte Ausführung von Martinas Schlenkerzum Fenster zu einem ritualisierten Verhaltensmuster geworden ist, bevor sie dieStufen erklimmen konnte, und betrachtet das ganze Beispiel als Beleg dafür, wieTiere und Menschen sogenannte Gewohnheiten entwickeln: Jedes Mal, wenn Mar-tina ihren ritualisierten Abstecher unternahm, veränderte er sich ein klein wenig,indem er nach und nach räumlich und zeitlich immer kürzer wurde, weshalb gelte:

[E]s gibt keine echte „Wiederholung“, sondern [. . .] eine (nach Theoriebildung) sich durchdie Ausschaltung von Fehlern ändernde Quasiwiederholung; diese führt [. . .] einen Vorgangherbei, durch den gewisse Aktionen und Reaktionen automatisiert oder unbewusst werden:Sie sinken auf das Niveau des Physiologischen hinab, um ohne Aufmerksamkeit [. . .]durchführbar zu werden (Popper 2012a, S. 64).

In Martinas anfänglicher Angstsituation bestand, wie bei Vögeln generell, die„Theoriebildung“ in einer bereits gegebenen, vorprogrammierten Präferenz für Lichtund offenen Raum. Trotzdem kam ihr ritualisierter Abstecher ihrer Lernaufgabe aufgenau die gleiche Weise in die Quere, wie Anspannung und Angst das Lernensowohl bei Tieren als auch beim Menschen komplizierter machen.

Kritischer Rationalismus und Psychologie 7

Fenster

Treppe

Lorenz

“Martina”

Tür

(1)

(2)

(.)

(n-1)(n)

Abb. 1 Eine schematische Darstellung der „Ablaufsverkürzung“ oder „Ritualisierung“ einerAngstreaktion bei der Graugans, erstellt vor Ort und in Entsprechung mit der folgenden, aus Lorenz(1963, S. 105–106) zitierten Passage: „In der Halle unseres Altenberger Hauses beginnt rechts vonder Mitteltür eine Freitreppe, die ins Obergeschoß führt. Gegenüber der Tür ist ein sehr großesFenster. Als nun Martina, mir gehorsam auf den Fersen folgend, diesen Raum betrat, jagte ihr dieungewohnte Lage Angst ein und sie strebte, wie es ängstliche Vögel immer tun, ins Helle, mitanderen Worten, sie lief von der Tür weg geradewegs auf das Fenster zu, an mir vorbei, der ichbereits auf der untersten Stufe der Freitreppe stand. Beim Fenster verweilte sie ein paar Augenblickelang, bis sie sich beruhigt hatte und kam dann [. . .] zu mir auf die Freitreppe und hinter mir her insobere Stockwerk. Dieser Vorgang wiederholte sich am nächsten Abend, nur daß diesmal der Umwegzum Fenster hin ein bißchen weniger weit und die Zeit, die Martina zur Beruhigung brauchte,erheblich kürzer waren. In den nächsten Tagen setzte sich diese Entwicklung fort [. . .]: der Umwegzum Fenster hin nahm mehr und mehr den Charakter einer Gewohnheit an [. . .]. Der gewohnheits-mäßige Umweg zum Fenster hin wurde immer kürzer, aus der 180-Grad-Wendung wurde ein spitzerWinkel und als ein Jahr vergangen war, blieb von der ganzen Weggewohnheit nur mehr ein nahezurechter Winkel übrig, indem die Gans, anstatt von der Tür her kommend die unterste Stufe der Treppean ihren rechten Seite zu besteigen, an der Stufe entlang bis zu ihrem linken Ende wanderte und siedort in scharfer Rechtswendung erstieg.“ (Zeichnung übernommen aus Petersen 1988, S. 32, mitGenehmigung der Königlich Dänischen Akademie der Wissenschaften.)

8 A. F. Petersen

Deshalb kann es aus biologischen Gründen keine direkten Assoziationen zwi-schen Sinneseindrücken geben, wie es die traditionelle Psychologie behauptet hat:„Die Rezeptionen sind [. . .] einander nicht unmittelbar zugeordnet, sondern eswerden ihnen vorerst Reaktionen zugeordnet und erst über dieses Bezugssystemkommen die (indirekten) Zuordnungen zwischen den Rezeptionen zustande“ (Pop-per 2010, S. 32). Die traditionelle Vorstellung von „Assoziation“ ist tatsächlichunbegründet, und es hilft auch nicht, sie adjektivisch mit Begriffen wie „Ähnlich-keit“ oder „Nähe“ zu qualifizieren – und gewiss auch nicht, sie zum tragendenPrinzip von Lerntheorien zu machen.

Popper und Lorenz wären, wenn sie über diese Fragen jemals detailliert diskutierthätten, zweifellos einer Meinung über die Dynamik der Erwartungen im Leben vonTieren und Menschen gewesen, obwohl ihre Theorien und Erklärungen weit vonei-nander entfernt waren. Die Situation sah womöglich so aus, dass Lorenz denlogischen Argumenten eines Philosophen nicht nachgeben konnte, nicht einmaldenen seines alten Freundes Karli Popper, der in bestimmter Hinsicht ebenfalls einNaturalist war. Dies galt allerdings nicht für seinen Kollegen Julian Huxley, dessenBegriff der „Ritualisierung“ Lorenz übernommen hatte (Lorenz 1950, 1971, S. 146und Anm. 32) und dafür seinen eigenen Begriff der „Formalisierung“ opferte, den ereingeführt hatte, um „ein Verhalten, das zu einer reinen Zeremonie geworden ist“, zubezeichnen (Lorenz 1950, 1971, S. 25).

Man kann es nur bedauern, dass der ansonsten exzellente Sir Julian den Philoso-phen Popper nicht zur Diskussion der Royal Society über die Verhaltensritualisie-rung bei Tieren und Menschen (Huxley 1966) eingeladen hat; damals wäre es für dieFeststellung noch nicht zu spät gewesen, dass Poppers Theorie des Problemlösensoder des Lernens durch Handeln und Auswählen in der Tat zur Beantwortung derFrage nach den Ursprüngen und der Phylogenese der Ritualisierung in der animalischenund menschlichen Kommunikation hätte beitragen können. Denn Poppers Idee der„Ablaufsverkürzung“ im Zuge der Bildung von Gewohnheiten und Verhaltenswei-sen ist genau die Art von Ritualisierungstheorie, nach der sich auf die Vogelbe-obachtung stützende Verhaltensforscher wie Huxley (1914 und 1966) und Lorenz(1941) auf der Suche waren.

Von der Gewohnheitsbildung zum Lernen durch Handeln undAuswählen

Als Bewunderer Charles Darwins wegen seiner Entdeckungsreisen und besondersseines Gebrauchs der deduktivistischen Methodologie hatte Popper von Anfang angehofft, dass Selektionsprinzipien nicht nur, wie Darwin gezeigt hat, bei der Evolutionvon Organismen und ihrer Körperorgane, sondern auch mit Blick auf ihre Lebens-äußerungen und ihr Verhalten wie ihr Lernvermögen und ihre individuelle Anpassungeine Rolle spielen könnten. Anders gesagt, das Problem bestand darin zu erklären, wiedie präformierten Reaktionen des Organismus, die sich logischerweise nicht ausErfahrung entwickeln konnten, als Basis für die Aneignung von Erfahrungen über

Kritischer Rationalismus und Psychologie 9

die ihn umgebende Welt dienen können. Es musste also erklärt werden, wie Organis-men nur durch deduktive Verfahren lernen können.

Popper hat seine lebenslange forscherische Beschäftigung mit diesem Thema in„Gewohnheit“ und „Gesetzerlebnis“ (Popper 1927, 2006) mit dem Versuch begon-nen, eine deduktivistische Gewöhnungstheorie zu entwickeln. Nur einige wenigeElemente dieser Lerntheorie scheinen überdauert zu haben (Petersen 2008), weshalbdie Feststellung ausreichen möge, dass Popper hier erkannte, dass die traditionelleVorstellung von der Gewohnheitsbildung durch Wiederholung falsch war und durcheine Theorie ersetzt werden sollte, die den graduellen Übergang des bewusstenLernens in automatische, unterbewusste Operationen und Fähigkeiten mit einbezie-hen kann. Sogenannte „Gewohnheiten“ könnten dann in allen möglichen Verhal-tensmustern ausgemacht werden, die dem Selektionsdruck der wiederholten Aus-führung der ursprünglichen Verhaltensweise widerstanden haben –was, kurz gesagt,bedeutet, dass Gewohnheitsbildung ein Selektionsergebnis von Wiederholungen seinkönnte. Popper betrachtete diese Entdeckung als eine, der eine konstante Bedeutungfür sein eigenes Leben zukommen sollte, wie er später schrieb (Popper 2006,S. 501 f.):

Meine Theorie war, daß Wiederholungen niemals etwas bewußt machen, im Gegenteil, dazuführen, daß bewußte Vorgänge unbewußt werden: alles bewußte Lernen ist immer einLernen durch Versuch und Irrtum. Diese psychologische Einsicht führte mich etwas späterzu einer logischen Kritik an der Theorie der Induktion: das war der Anfang meiner selbst-ständigen Philosophie der Naturwissenschaft.

Sein Interesse am Lernen war auch für seine in derselben Hausarbeit erfolgteWahl des Themas „dogmatische und kritische Reaktionen auf Neuerungen beiKleinkindern“ entscheidend. Hier (Popper 2006, S. 94–95) charakterisiert er „dog-matisches Denken“ als einen kognitiven Vorgang, der grundlegende Prinzipien oderRegeln „blind“ als wahr akzeptiert („hinnimmt“), ohne überhaupt in Erwägung zuziehen, dass sie falsch sein oder sich durch Argumente oder Erfahrungen als falscherweisen könnten; sie werden aufrechterhalten („festgehalten“) und stur angewen-det, wann immer es erforderlich ist. „Kritisches Denken“ wird dagegen vorläufig alseine nicht endende Infragestellung gegenwärtig akzeptierter und vertretener Grund-prinzipien oder -regeln bestimmt, um sie zu adaptieren und anzuwenden, sobald siebegründet worden sind („sich bewährt haben“), am besten durch Erfahrung.

Beispiele für ein „dogmatisches Denken“ liegen im kindlichen Schlussfolgernreichlich vor, denn die erste Option der Natur bestand wohlgemerkt nicht darin, zurKritik fähige Individuen hervorzubringen. Und, wie bekannt ist, taucht dogmati-sches Denken ebenso im logischen Denken des Erwachsenenalters auf und kann dasganze Leben lang tonangebend bleiben, wenn es um Dinge wie private Angelegen-heiten, Emotionen, Politik und Religion geht. Zudem erfahren Kinder etwa ab demdritten Lebensjahr das, was Popper „Gesetzerlebnis“ nennt und das (Popper 2006,S. 148) in Gestalt von Schlüssen wie „So ist es, so muss es sein!“ zum Ausdruckkommt – ungültigen Schlüssen natürlich, wie es beim „naturalistischen Fehl-schluss“ der Fall ist, den G. E. Moore (1903, S. 10 f.) für den Schluss vom „Sein“

10 A. F. Petersen

aufs „Sollen“ kritisierte: Ein 3,6 Jahre alter Junge spricht mit seiner Mutter über dierot-grünen Ampeln an einem Bahnübergang: „Siehst Du, das rote Licht wird immergrün, wenn die Sonne scheint“ (Popper 2006, S. 161). Kinder wie auch Erwachseneignorieren häufig Gegenbeweise: Ein Junge (4,8 Jahre alt), der sich von einemsonnigen an einen schattigen Platz umgesetzt hat, wollte die Sonne zurück und gingzurück an den ersten Platz, genau zu der Zeit, als sich Wolken vor die Sonneschoben; und dennoch sagte er: „Wenn ich hier sitze, scheint die Sonne“ (Popper2006, S. 161). Ein bekanntes Beispiel aus der Erwachsenenwelt ist der Ausbruch desgroßen Hegel, der, wenn jemand behauptete, dass gewisse Tatsachen nicht mit seinerNaturphilosophie zusammenstimmten, schlagfertig antwortete: „Umso schlimmerfür die Tatsachen!“ (Popper 2006, S. 169).

Bei den höheren Säugetieren entschied sich die natürliche Selektion allerdings füreine große Vielfalt an Verhaltensstrategien, um zwischen den Individuen entstehendeKonflikte um Lebensraum, Nahrung, Obdach, Fortpflanzung, den Nachwuchs etcetera zu bewältigen, und zwar sowohl für aggressive als auch für nachgiebigeZurschaustellungen von Verhaltensweisen – aber nicht für Kritik als solche. BeiPrimaten und Menschen, deren Junge die längste Ontogenese unter allen Säugetierenhaben, tauchte ein kooperatives Verhalten in Form von Mitgefühl und der Bereit-schaft zum Teilen, von Kameradschaft und sozialem Spiel auf, um den Entdecker-drang der Jungen und ihre frühen Versuche der Problemlösung zu fördern. KleineKinder sind deshalb auch hochgradig beeinflussbar und erwarten typischerweise,dass ihnen gezeigt wird, was hier und jetzt zu tun von Interesse ist (Petersen, inVorbereitung, 2018).

Als sich Popper 1937 in Neuseeland aufhielt, hat er die Konzeption des Pro-blemlösens in einer Abhandlung namens „Was ist Dialektik?“ benutzt, die er ineinem Philosophieseminar am Canterbury University College vorgetragen hatte, umdamit die Entwicklung des menschlichen Denkens, speziell in der Philosophie, zuerklären – zweifellos, um hegelianische Denker in die Reihe der sonstigen sichirrenden Tiere einzugliedern. Ohne irgendein Schema zu entwerfen und ohneBezugnahme auf Alexander Bain, der den Ausdruck „trial and error“ im Jahre1855 eingeführt hat, um die menschliche Erfindungsgabe zu beschreiben, erklärtePopper, dass der übliche Weg, auf dem man Lösungen für Probleme im Leben finde,tatsächlich die Methode von Versuch und Irrtum sei, deren Allgemeingültigkeit erwie folgt beschreibt:

Diese Methode [. . .] wird auch von lebenden Organismen im Anpassungsprozeß angewandt.Offensichtlich hängt der Erfolg dieser Methode in sehr großem Maße von der Anzahl undVielfalt der Versuche ab: Je häufiger und verschiedenartiger die Versuche, desto wahrschein-licher ist es, daß einer davon erfolgreich sein wird (Popper 1940, 2009, S. 478).

Poppers Theorie des Problemlösens brauchte also Zeit, um sich zu entwickeln,und durch den Krieg und die Emigration vergingen viele Jahre, bis er die Gelegen-heit hatte, sie einer größeren Öffentlichkeit zu präsentieren. Dies geschah 1965 ander Washington University, wo er dazu eingeladen war, die „Arthur Holly ComptonMemorial Lecture“ (Popper 1966) zu halten. Mit dem Wissen um einige der voran-

Kritischer Rationalismus und Psychologie 11

gegangenen Schritte in ihrem langen Reifungsprozess und speziell darüber, wie siespäter benutzt werden sollten, ist es etwas überraschend festzustellen, dass diemittlerweile berühmte schematische Prozedur hier erstmals als „eine evolutionäreAbfolge von Ereignissen“ (Popper 1966, S. 24, 1972, S. 242–243) vorgestelltworden ist – das heißt, als ein Prozess, der mehr mit der Evolution der Tierartendurch natürliche Selektion (langfristiges Problemlösen) als mit der individuellenAnpassung der einzelnen Tiere an stattfindende Ereignisse (kurzfristiges Problem-lösen) zu tun hat. In der Tat ist das in Schema 2 zusammengefasste Prozedere eineNeuformulierung der Evolutionstheorie als „eine Evolution neuer Mittel zum Pro-blemlösen durch neue Arten von Versuchen und neue Methoden [. . .] für derenKontrolle“ (Popper 1966, S. 21, 1972, S. 240). Der einzelne Organismus wird alsein hierarchisches System der plastischen Kontrolle begriffen, in dem die reguliertenSubsysteme Anpassungen nach dem Schema von Versuch und Irrtum vornehmen,die ständig von höherstufigen Kontrollsystemen überprüft werden; daraus resultiert,dass manche Versuche völlig verdrängt werden, während andere beibehalten undmöglicherweise durch „lokale“ Fehlereliminationen modifiziert werden.

Poppers Theorie besteht daher in „einer bestimmten Auffassung von Evolutionals ein wachsendes hierarchisches System plastischer Kontrollen, und einerbestimmten Auffassung von Organismen, der zufolge sie dieses wachsende hierar-chische System plastischer Kontrollen verkörpern oder, im Falle des Menschen,exosomatisch entfalten“. Somit wird hier also die neodarwinistische Evolutionsthe-orie angenommen, allerdings in umformulierter Weise, um aufzuzeigen, dass „seine[des Menschen] ‚Mutationen‘ vielleicht als mehr oder weniger zufällige ‚Versuch-und-Irrtum-Gambits‘ interpretiert werden können, und dass ‚natürliche Selektion‘eine Möglichkeit ist, sie durch Fehlerelimination zu kontrollieren“ (Popper 1966,S. 23, 1972, S. 242).

Im Gegensatz zu den meisten Evolutionstheoretikern, die Prozesse der natür-lichen Selektion und des Lernens als verschiedenartig betrachten, sieht Popper sie alsim Wesentlichen identisch an (Popper 1975a, S. 73–74, 2015, S. 302–303). Beiseiner Untersuchung solcher langfristigen und kurzfristigen Weisen des Problemlö-sens vergleicht er drei Ebenen der Anpassung – (1) genetische Anpassung, (2) adap-tives Verhaltenslernen und (3) wissenschaftliches Entdecken – und erklärt die

P1 P2P2P1

TS1TS2

TSn

TS1EE1

EE2

EEn

TS2

TSn

EE

a b

Schema 2 Poppers vierfaches Schema des Problemlösens durch Elimination via Versuch undIrrtum. (a) Das Schema, wie es 1965 ursprünglich vorgelegt worden ist (Popper 1966, S. 24). (b)Das vollständige Schema, in dem die Fehlerelimination (EE) mit der individuell ausprobiertenLösung (TS) in Beziehung gesetzt wird (Schema 2a abgedruckt mit Genehmigung der Karl-Popper-Sammlung, Klagenfurt).

12 A. F. Petersen

zwischen ihnen bestehende grundlegende Ähnlichkeit mit der Hypothese, dass derAnpassungsmechanismus jeweils der gleiche ist:

Auf allen drei Ebenen geht die Anpassung von einer ererbten, grundlegenden Struktur aus,[die] immer durch Instruktion weitergegeben [wird]. Auf der genetischen Ebene und auf derdes Verhaltens geschieht das durch die Replikation der kodierten genetischen Instruktionund auf den Ebenen des [Handelns] und der Wissenschaft durch soziale Tradition undImitation.

Die dritte Ebene kann als ein Sonderfall der zweiten angesehen werden, indemImitation und gesellschaftliche Tradition zu einer Anpassung durch technischeMittel und wissenschaftliches Wissen führen können. Doch auch auf dieser Ebene„[kommt] die Instruktion [. . .] aus dem Inneren der Struktur. Wenn Mutationen,Variationen oder Fehler vorkommen, dann werden diese zu neuen Instruktionen, dienicht von außen, aus der Umwelt, sondern ebenfalls aus dem Inneren der Strukturkommen“ (Popper 2015, S. 302).

Unterstützung für diese These fand Popper in der Theorie der Bildung vonAntikörpern auf Grundlage natürlicher Selektion, die der Immunologe Niels KajJerne vertritt, besonders in seinem Artikel „Antibodies and Learning: Selectionversus Instruction“ von 1967. Indem er sich Organismen als hierarchisch aufgebauteKontrollsysteme vorstellte, argumentierte er (Jerne 1967, S. 205) analog zu seinerselektionistischen Theorie der Antikörperbildung, dass beim Lernen andere Selek-tionsmechanismen ins Spiel kommen, nachdem von außen stammende Reize eineReaktion im Inneren eines aufnahmefähigen, organisierten Systems hervorgerufenhaben. Anders ausgedrückt, die eingehenden Signale sind auf der Ebene des gesam-ten derartigen Systems innerhalb des Organismus instruktiv für die Mobilisierungdes Vorrats an potenziellen Reaktionen, während der Vorrat seinerseits selektivenMechanismen unterstellt ist, die tiefer unten im System angesiedelt sind. Die mobi-lisierten Prozesse, die bereits vor dem Eintreffen der Signale im System vorhandenwaren, erfahren daher eine iterative, „probierende“ Passung oder Anpassung, die zueiner selektiven Beibehaltung und Verstärkung der passendsten Reaktionen auf dasvorliegende Problem führt, welche durch die eintreffenden Signale ein ums andereMal wiederholt mobilisiert werden – und das immer rascher.

In Kombination mit Poppers 1977 formuliertem Prinzip vom „Aufwärts-“ (Bottom-up) und „Abwärtsverursachen“ (Top-down) ergibt sich die folgende, nützliche Unter-scheidung: (1) Alle instruktiven Prozesse (genetische Übertragung, Imitation bezie-hungsweise Nachahmung et cetera) sind Fälle von Bottom-up-Verursachung, in denenein bereits bestehender Code oder Plan repliziert wird; (2) alle Selektionsprozesse(Präferenzen, Entscheidungen, Fehlerelimination per Versuch und Irrtum et cetera) sindFälle von Top-down-Verursachung, in denen eine höherstufige Struktur innerhalb desOrganismus kausal auf Grundlage bestimmter untergeordneter Strukturen operiert (Pop-per 1977, 2012b, S. 204 ff.). Je nach seinem Ursprung wird das Erlernen von Fähigkei-ten in unterschiedlichem Maße von Bottom-up- und Top-down-Vorgängen als auchihremWechselspiel untereinander angeleitet sein. Dies gilt ebenso für die höchste Formdes Lernens, das wissenschaftliche Entdecken nämlich, die Popper am meisten interes-

Kritischer Rationalismus und Psychologie 13

siert: „[. . .] wissenschaftliches Entdecken hängt von Instruktion und Selektion ab, alsovon einem konservativen oder traditionellen oder historischen Element und von einemrevolutionären Gebrauch der Methode von Versuch und Fehlerbeseitigung durch Kritik,die harte empirische Prüfungen oder Tests miteinbezieht“ (Popper 2015, S. 310).

Wir werden auf diese Weise wieder an Poppers Ausgangspunkt in seiner frühenArbeit zum dogmatischen und kritischen Denken erinnert sowie daran, wie diesspäter zu seinem Verständnis des animalischen und menschlichen Lernens durchProblemlösungsstrategien in Bezug gesetzt wird.

Ersetzung der induktivistischen Dogmen der traditionellenLerntheorie durch eine deduktivistische Theorie desProblemlösens

Wie aus dem Gesagten bereits deutlich geworden sein sollte, ist eine der überra-schenden Lektionen aus der Diskussion von Lorenz und Popper über Gewöhnungdie, dass Lorenz’ festes Beharren auf der traditionellen induktivistischen Lerntheo-rie, mit der er sozusagen groß geworden ist, nicht einmal durch seine eigeneminutiöse Beschreibung erschüttert werden konnte.

Popper seinerseits entwickelte seine deduktivistische Gewöhnungstheorie zueiner allgemeinen Theorie des Problemlösens weiter, von der er in seinen Ausgangs-punkten, wo er seine Antwort auf Schrödingers Frage „Was ist Leben?“ formuliert,nahelegt, dass sie die zentrale Eigenschaft des Lebens sei (siehe folgn. Abschnitt).Einige Jahre später zählte Popper in seinem Beitrag zu The Self and Its Brain(Popper und Eccles 1977, 2012b, S. 375) acht unterscheidbare Stufen des Prozessesdes aktiven Lernens durch Versuch und Irrtum, durch Problemlösen oder durchHandeln und Auswählen auf: (1) Die aktive Erkundung, geleitet durch angeborenesund erworbenes „Wissen, wie“ und durch (Hintergrund-)„Wissen, dass“. (2) DieProduktion eines Versuchs, einer Vermutung oder Theorie. (3) Die Prüfung oderKritik des Versuchs, der Vermutung oder Theorie. (4) Die Beseitigung des Versuchsoder die Zurückweisung der Vermutung oder Theorie und die Protokollierung derTatsache, dass sie nicht funktioniert („So nicht.“). (5) Die Wiederholung der Schritte(2) bis (4) mit Modifizierungen der ursprünglichen Vermutung oder mit neuenVermutungen. (6) Die Entdeckung, dass eine modifizierte Vermutung oder eine neueVermutung anscheinend funktioniert. (7) Die Anwendung dieser Vermutung, ver-bunden mit weiteren Prüfungen. (8) Der praktische und wiederholte Gebrauch derakzeptierten Vermutung.

Von diesem logischen Denkgebäude aus erklärte Popper mutig die „unkonditionier-ten“ und „konditionierten“ Reflexe für nichtexistierend und kritisierte von dieser Warteher Pawlows Reflextheorie des Lernens mit den folgenden Argumenten (Popper 2012b,S. 365–370):

(i) Für Pawlow ist ein Organismus eine passive Vorrichtung, die auf wiederholteEreignisse von außen wartet, um sich regelmäßige Verknüpfungen in ihr Ge-dächtnis einzuprägen. Popper schreibt dem Organismus dagegen ein aktives

14 A. F. Petersen

Interesse an seiner Umgebung zu, einen im wesentlichen „unbewussten Ent-deckerinstinkt“, der zu exploratorischem Verhalten führt, und nicht nur einenKomplex von Reflexen.

(ii) Die „unkonditionierten“ und „konditionierten Reaktionen“ sind nicht bloßReflexe, und Poppers Hypothese betont dagegen vielmehr, „dass der [. . .]Pawlowsche Hund bewusst oder unbewusst [. . .] die offenbar ganz richtigeTheorie oder Erwartung [erfindet], dass es Futter gibt, wenn die Glocke läutet.Diese Erwartung löst einen Speichelfluss aus, genauso wie die optische Wahr-nehmung oder der Geruch des Futters seine Erwartung weckt“ (Popper 2012b,S. 367).

(iii) Pawlow nahm an, dass alle biologisch relevanten Regelmäßigkeiten, an die sichein Organismus anpassen kann, aus dem zufälligen Zusammentreffen vonEreignissen wie dem Läuten der Glocke und der Futtergabe bestehen; dagegenhebt Popper hervor, dass die Struktur der Umwelt, an die Organismen sichanpassen müssen, „keine Ähnlichkeit mit Humes unaufhörlich zusammen-strömenden Eindrücken hat“ (Popper 2012b, S. 368).

(iv) Gegen den induktivistischen Gebrauch repetitiver Verfahren, besonders beimmenschlichen Lernen, wandte Popper ein: „Wiederholung spielt zwar bei derVerhaltensanpassung eine Rolle, doch sie trägt nichts zu Entdeckungen bei.“Das gilt für Fähigkeiten wie das Gehen, das Sprechen, das Schreiben mit derHand, das Musizieren und das Autofahren. „Wiederholen oder Üben [sind]Methoden, neue Anpassungen in alte zu verwandeln, in unproblematischesHintergrundwissen, in unbewusste Dispositionen“ (Popper 2012b, S. 364).

(v) Mit Blick auf die oben erwähnten acht Stadien, die für das Lernen durchProblemlösen durchlaufen werden müssen, schlussfolgerte Popper (2012b,S. 376), dass es keinen Grund zu der Annahme gebe, dass die impliziertenVerfahren von derselben Art seien wie gewisse bekannte Reflexe; neurologischbetrachtet könnte das Lernen sehr wohl „eine hierarchische Organisation derStrukturen von Strukturen“ darstellen, so etwas wie ein dynamisches Holo-gramm.

Der Unterschied zwischen Pawlow und Popper ist von viel grundsätzlicherer Art,als es diese Darstellung einander entgegengesetzter Interpretationen vielleicht sug-geriert. Hier scheinen wir es mit einem Fall zweier fundamental verschiedenerAuffassungen von der Natur von Lebewesen – oder Philosophien über den Orga-nismus – zu tun zu haben. Pawlow hielt Organismen für passive Empfänger, die nurauf die Umgebungsfaktoren reagieren, die sie beeinflussen und durch die Methode„wiederholter Stimulation“ kontrollieren. Popper (2012b, S. 368–369) beschriebOrganismen als aktiv, kreativ und permanent mit Problemen konfrontiert, die siedurch Handeln und Auswählen lösen müssen; die Unterschiede zwischen PawlowsAnsicht und seiner eigenen Perspektive fasste er wie folgt zusammen: „[Organismenversuchen,] ganz aktiv die vermuteten Regelmäßigkeiten (und damit Ähnlichkeiten)der Welt aufzudrängen [. . .]. Es ist diese Theorie von aktiv eingebrachten Vermu-tungen und deren Widerlegung (durch eine Art natürliche Auslese), die ich vor-

Kritischer Rationalismus und Psychologie 15

schlagsweise an die Stelle der Theorie der konditionierten Reflexe setzen möchte[. . .]“.

Gewiss, 1904 erhielt Pawlow den Nobelpreis nicht für seine Arbeiten zurKonditionierung, sondern für seine früheren Arbeiten zu den Verdauungsdrüsen.Professor Eric R. Kandel hingegen, der seinen Preis in Jahre 2000 für seine For-schungsarbeiten über die zellulären und molekularen Gedächtnisprozesse erhielt,wurde für seine Anwendung von Methoden der Konditionierung ausgezeichnet.Obwohl die Betonung auf dem Gedächtnis liegt, stellt Kandels Arbeit eindeutig eineFortsetzung der behavioristischen Tradition dar, und viele werden sagen, dass sieschwindende Hoffnungen wiederbelebt hat.

Kandel hat sich wie ein vergleichender Tierphysiologe ans Werk gemacht, indemer neuronale Mechanismen des Verhaltens und Lernens bei Weichtieren erforschtund seine Ergebnisse dann in einer Reihe von Aufsätzen und in den BüchernCellular Basis of Behavior (1976) und Behavioral Biology of Aplysia (1979) mit-geteilt hat. Abgesehen von ihren Beiträgen zur evolutionären Biologie mit ihrenBeschreibungen neuronaler Mechanismen bei Homologien, Divergenz und derEntstehung der Arten sind diese Studien auch durchgeführt worden, um traditionelleintervenierende Variablen wie etwa Erregung, Motivation, Antrieb, assoziativesLernen et cetera als Methoden zur Verhaltenserklärung durch zelluläre Mechanismenzu ersetzen – die zum Beispiel erklären können sollen, ob die klassische Konditio-nierung eine assoziative Erweiterung der zellulären Sensibilisierung sein könnte. ImVerlauf seiner Forschung erwiesen sich Seehasen (eine Meeresschneckengattung)als ideale Versuchstiere, da sie über große, für die Implantation von Mikroelektrodengeeignete synaptische Zellen verfügen und eine gewisse Reaktivität aufweisen.Nachdem er festgestellt hatte, dass bei diesem Tier Gewöhnung, Sensibilisierungund klassische Konditionierung in einzelnen Zellen der als R2 bekannten Synapsenstattzufinden scheinen, machte sich Kandel daran zu zeigen, dass sich im Ergebnisdieser über einen hinreichend langen Zeitraum provozierten Prozesse die Synapsetatsächlich verändert hat (also gestärkt wurde oder gewachsen ist). Wie bei Pawlowwurden diese Effekte sofort als Beleg dafür genommen, dass hier einfache Formendes Lernens stattgefunden haben (Kandel 2006, S. 159–160, 165–171).

An keiner anderen Stelle des hier in Rede stehenden Kontextes scheint derKonflikt zwischen deduktivistischer und induktivistischer Lerntheorie deutlicherhervorzutreten: Entspricht die Tatsache des Lernens der Verstärkung einer Synapseoder nicht? Obwohl Popper von Kandels Arbeit anscheinend nichts wusste, hatte ereine eindeutige Antwort auf diese Frage, wie aus einem Brief von 1975 hervorgeht:

Der zentrale Punkt ist, dass jedes Lernen eine adaptive Modifikation – zuweilen Kom-plikation, zuweilen Simplifizierung – von bereits zuvor existierenden hochkomplexen adap-tiven Fähigkeiten ist. Das Lernen läuft daher niemals assoziativ, sondern immer selektiv undmodifizierend ab. Es setzt nicht einfache Elemente zusammen, sondern modifiziert existie-rende komplexe Strukturen. Diese Komplexe können wiederum aus Elementen wie Neu-ronen oder Synapsen bestehen; aber die Vorstellung, dass eine Assoziation einer verstärktenSynapse korrespondiert, ist völlig falsch verstanden; die leichte Modifikation einer Fähigkeitkorrespondiert möglicherweise (vorausgesetzt, die Synapsen sind das modifizierbare physi-kalische Element) mit der Modifikation von tausend Synapsen, eines ganzen Netzwerks.

16 A. F. Petersen

Selbst niedere Tiere, die noch nicht zum Lernen (zur Modifikation) fähig sind, weisen einhochkomplexes Verhalten auf, und es ist ein solches komplexes Verhalten, das allen Lern-prozessen vorangeht (Popper 1975b).

Zweifellos hätte Popper eine andere Erklärung für Kandels Befunde gehabt; amfolgenden Versuch einer Rekonstruktion seiner möglichen Reaktion auf diese Expe-rimente sollte dies ersichtlich werden:

Mit dieser wunderbaren Erkundungen der Biologie der Seehasen und ihresVerhaltens könnte Dr. Kandel für sich beanspruchen, den Beweis dafür erbracht zuhaben, dass sich auf synaptischer Ebene ein Priming oder eine Umstimmung derZellen als Funktion des erfahrenen Reizes vollzieht – mit anderen Worten, es findeteine Veränderung im elektrochemischen Zustand der Synapsen statt, die die Zelleentweder dazu befähigt, einige wichtige („alarmierende“ oder „positive“) Reize zu„antizipieren“, wie im Falle der Sensibilisierung, oder zum Ausgangszustand neu-traler Aktivität zurückzukehren (und „unwichtige“ Reize dabei „zu ignorieren“), wieim Falle der Gewöhnung. Jedoch scheint es nicht gerechtfertigt zu sein, hier wieKandel die voreilige Schlussfolgerung zu ziehen, dass das, was die Synapsen indiesen Fällen an den Tag legen, einfache Formen des Lernens sind – „Lernen aufzellularer Ebene“. Keine geringere Leistung wäre es, den Nachweis darüber geführtzu haben, wie die Verhaltensantizipation bereits auf Zellebene vorliegt – obwohldiese Kontrolle nur ein Aspekt der Geschichte sein kann (falls die scientific com-munity sich tatsächlich ebenso bereitwillig darauf einigen könnte, dass dies wirklichdas ist, was geschehen ist, wie sie die unlogische, aber populärere Hypothese überdas Lernen akzeptiert hat).

Die Antizipation oder das feedforward ist bei der Anpassung lebendiger Wesenan ihre Umgebung die ganze Zeit über am Werk, wofür sich Belege auf allen Stufendes Tierreichs finden lassen. Wandelt man allerdings einen Kommentar von PaulWeiss (Weiss 1968, S. 24) etwas ab, dem zufolge „die Geschichte von der ‚mole-kularen Kontrolle von Zellaktivitäten‘ solange fragmentarisch und unvollständigbleiben muss, bis sie von einem Wissen darum ergänzt wird, was eine Zelle zu derEntität macht, die sie ist – nämlich die ‚zelluläre Kontrolle molekularer Aktivitä-ten‘“, dann könnte man behaupten, dass die Geschichte der synaptischen Kontrolleder Verhaltensantizipation unvollständig bleibt, solange sie nicht vomWissen darumergänzt wird, wie das Nervensystem einen Einfluss auf die individuelle Synapse oderein Netzwerk von Synapsen ausübt und wie die ganze hierarchische Zielstruktur desOrganismus dessen Aktivitäten und Austauschprozesse mit der Umgebung anleitet.

Wie im vorhergehenden Abschnitt erwähnt, können die Effekte einer solchennach unten wirkenden Verursachung, in der Makrostrukturen als Gesamtheiten aufihre Elemente einwirken, auch eine bessere Erklärung für einen Zwischenfall inPawlows Institut liefern als die, die er selbst gegeben hat: Im September 1924erreichte eine bedrohliche Überschwemmung in der Stadt Leningrad den Bereich,in dem die Hunde untergebracht waren, und sie zu retten, erwies sich als sehrschwierig. Im Folgenden verhielten sich viele Hunde in ihren Experimenten aufäußerst untypische Weise. Offiziell wurde dies den Auswirkungen der traumatischen

Kritischer Rationalismus und Psychologie 17

Erfahrungen auf ihr „schwaches Nervensystem“ zugerechnet (Pavlov 1928,S. 214 f.).

Popper verteidigte zwar von Anfang an die Vorstellung, dass Organismen aktiveProblemlöser seien, doch erst, als er Literaturstelle fehlt machte er auch geltend(Popper, 1974, S. 108-109; 2012a, S. 204-208), dass eine Trennlinie eben genauzwischen dem Vorliegen von Problemen in lebendiger Materie und ihre Abwesen-heit in unbelebter Materie gezogen werden kann.

„Alles Leben ist Problemlösen“

In Poppers Ansatz ist es der problematische Charakter „synthetischer Urteile apriori“ – dass Organismen mit Dispositionen und Präferenzen, Antizipationen oderErwartungen in Bezug auf die Welt, in der sie sich entwickelt haben, ausgestattetsind – der später zu der Idee vom „Leben als Problemlösen“ führte. Diese spieltebereits in seinem Widerstand gegen zeitgenössische Auffassungen von Entropie unddem mit ihr verbundenen „Zeitpfeil“ eine wichtige Rolle, die er zwischen 1956 und1967 in einer Reihe von Aufsätzen in Nature kritisiert hatte; allerdings kam dieseIdee erst in seinen Ausgangspunkten zu ihrem vollen Ausdruck.

Erwin Schrödinger hatte versucht, die Frage zu beantworten, wie Organismendem thermodynamischen Chaos entgehen, das sich vermeintlich in alle Ecken desUniversums ausdehnte (Schrödinger 1944), indem er die Hypothese entwickelte,dass die Organismen sich von „negativer Entropie“ (Negentropie) ernähren. Diese„Lösung“ besagte, dass Organismen dadurch überleben und funktionieren, dass sieanderes organisches Material mit niedriger Entropie absorbieren. In seinen Aus-gangspunkten (Popper 2012a, S. 207–208) kritisierte Popper diese Hypothese mitdem Argument, dass viele mechanische und chemische Maschinen ebenfalls „vonNegentropie zehren“: „Man kann in der Tat von jedem mit Öl beheizten Kessel undvon jeder sich selbst aufziehenden Uhr sagen, dass sie ‚ständig Ordnung aus ihrerUmwelt saugt‘“. Schrödingers in Was ist Leben? gegebene Antwort kann deshalbnicht richtig sein: Von negativer Entropie zu zehren, ist nicht „die charakteristischeEigenschaft des Lebens“.

Im Weiteren schlug Popper vor, dass das entscheidende Charakteristikum desLebens darin bestehe, dass es Probleme zu lösen habe. Obgleich man von Maschi-nen, Computern und Robotern sagen kann, dass sie Probleme lösen, tun sie diesdoch nicht für sich selbst und können daher auch nicht als Problemlöser im eigent-lichen Sinne gelten. Anschließend beschrieb er seine Auffassung von Irreduzibilitätund Emergenz wie folgt:

Ich vermute, dass die Entstehung des Lebensmit der Entstehung von Problemen zusammen-fällt [. . .], [und obwohl] es keinen biologischen Vorgang gibt, den man nicht als einen inallen Einzelheiten einem physikalischen Prozess zugeordneten Vorgang betrachten kannoder der sich nicht immer besser und besser mit physikochemischen Begriffe analysierenlässt [. . .], kann keine physikochemische Theorie das Auftreten eines neuen Problemserklären, und kein physikochemischer Prozess [kann] als solcher ein Problem lösen (Popper2012a, S. 270–271).

18 A. F. Petersen

Es gibt also Leben, solange es Probleme gibt, und man könnte behaupten, dass eszwei wesentliche Strategien gibt, die Organismen nutzen, um Probleme zu lösen undsich anzupassen:

(A) Langfristiges Problemlösen (die Artanpassung über die Generationen hinweg)besteht in Mutationen und Neukombinationen genetischen Materials, wodurcheine Vielfalt neuer Eigenschaften innerhalb einer gegebenen Population gebil-det wird („genotyptische Versuche“) und die natürliche Selektion anschließenddie ungünstig ausgestatteten Individuen ausmerzt und die besser ausgestattetenbegünstigt. Diese kollektive Anpassung durch graduelle Variation und Selektionist ein relativ langsamer Vorgang, was aber nicht bedeutet, dass das Verhalten dereinzelnen Phänotypen keine Rolle spielen würde. Tatsächlich haben Verhaltens-genetik und Ethologie nachgewiesen, dass Verhaltensänderungen in dem, wasErnst Mayr „Isolationsmechanismen“ nennt (Mayr 1963, S. 95–103), einenentscheidenden Einfluss darauf haben können, welche Gene aus dem Genpoolfür die künftigen Generationen der Spezies selektiert werden. Auf diese Weisekönnten wir uns begreiflich machen, wie Veränderungen im Verhalten und inden Präferenzen dazu kommen können, als die Speerspitze der Evolution zufungieren.

(B) Kurzfristiges Problemlösen (individuelle Anpassung) wird vom einzelnen Orga-nismus durchgeführt, der sich dabei sowohl seiner artgemäßen Weise entspre-chend der Elimination durch Versuch und Irrtum bedient (was als „Lerncon-straints“ bezeichnet wird) als auch auf eher individuelleWeise in seinem örtlichenLebensraum experimentiert. Jacques Monod schreibt über das „Lebensprojekt“einer Spezies (Monod 1970, S. 22), dass es erfordert, dass bestimmte unverzicht-bare Aktivitäten – „Leistungen“, vorprogrammiert dazu, wiederkehrende Pro-bleme zu lösen, die durch den „Lebensstil“ der Spezies entstehen – vollzogenwerden. Dies gilt auch für den Homo sapiens, obwohl das Problemlösen hiervielfältiger und bewusster abläuft, relativ zu der großen Vielfalt von Aktivitäten,derer es für die Verrichtung von Arbeit, Bildung, Kunst, Freizeit et cetera bedarfund die, trotz mancher über die Zeit eingetretener Verluste, in diversen Hinsichtenzur menschlichen Evolution beigetragen haben – und zwar sowohl zur endo- alsauch zur exosomatischen (Medawar 1960, S. 96–103).

Die führende Rolle des Verhaltens für die Evolution, die Popper in der von ihmim Jahre 1961 gehaltenen „Herbert Spencer Lecture“ diskutiert (Popper 1972,S. 278–280) und in einem Nachtrag kommentiert (Popper 1972, S. 281–284, woder „Experte“, der ihm von der Veröffentlichung der Vorlesung abriet, Peter Meda-war gewesen ist), kann als Ansatzpunkt der von ihm später unter dem Namen aktiverDarwinismus eingeführten Theorie gelten – einer darwinistischen Theorie nämlich,in der das Verhalten von Organismen Berücksichtigung findet. Offiziell fand dies1986 statt, und zwar anlässlich zweier Gelegenheiten: bei einem Vortrag in derGesellschaft der Ärzte in Wien (Popper 1986a) und seiner „First Medawar Lecture“vor der Royal Society London (Popper 1986b, 2013), wo die Idee des aktivenDarwinismus die Form einer allgemeinen Theorie der Anpassung annahm.

Kritischer Rationalismus und Psychologie 19

Darwin hatte der Umwelt genau diese Selektionsfunktion zugesprochen und dieOrganismen für deren passive Opfer gehalten – daher der Name „natürliche Selek-tion“, der den Gegensatz zu der künstlichen Selektion markieren soll, die Züchterjahrhundertelang ihren Zuchttieren angedeihen ließen, ein Umstand, der in denersten Kapiteln der Entstehung der Arten (Darwin 1859) behandelt wird. Popperverwirft in seinem Ansatz (Popper 2013, S. 11) die Idee, dass es die Umwelt seinsollte, die unter den Organismen selektiert: „Wenn man den passiven Darwinismusdem aktiven Darwinismus gegenüberstellt, erweist der erstere sich [. . .] als einefalsche Interpretation des Anpassungsprozesses. Ich behaupte, dass Anpassung imWesentlichen ein Lernprozess durch Versuch und Irrtum ist, der sich über mehrereGenerationen hinzieht“. Und er führt die Hypothese ein, dass es die Organismenselbst sind, die aufgrund ihrer eigenen Präferenzen und „Entscheidungen“ für ihrenLebensraum, ihr Obdach, ihre Nahrung, Fortpflanzung, soziale Organisation und soweiter für die Selektion verantwortlich sind, der sie unterliegen, nicht zuletzt auchaufgrund des faktischen Problemlösungsverhaltens, das sie an den Tag legen, undder Frage, ob es das oder die Probleme löst, denen sich das Individuum ausgesetztsieht, oder nicht: „[. . .] ‚Selektionsdruck‘ im Gegensatz zu ‚natürliche Auslese‘ isteine wirklich gute Bezeichnung, weil der Druck mit etwas verbunden wird, das voninnen kommt und das Druck auf die Umwelt mit ihren Lebensressourcen ausübt“(Popper 2013, S. 15). Ein Problem von Darwins Theorie war, dass der Begriff dernatürlichen Selektion nur ein Analogon zur künstlichen Selektion ist, die in derTierzucht angewendet wird. „Natürliche Selektion“ kann daher nur eine Metaphersein. Mit der Einführung des Organismus als aktivem Problemlöser schlägt Poppernun vor, dieses metaphorische Konzept der Selektion in Darwins Theorie gegen eingenuin homologisches Konzept der Selektion auszutauschen. Dabei wird die Selek-tion im aktiven Darwinismus mit der identifiziert, die sich dann vollzieht, wennOrganismen unfähig zur Lösung anstehender Probleme sind und in der Konsequenznur wenig oder gar keinen Nachwuchs bekommen. Dies allerdings nicht ohne eineWürdigung Darwins (Popper 2013, S. 15):

So sehr ich auch den Darwinismus und Darwin persönlich bewundere – ich denke, dass unsbewusst werden sollte, dass der Ausdruck „natürliche Auslese“ eine irreführende Seite hat.Ich bin nicht der Meinung, dass wir ihn aufgeben sollten, aber wir sollten ihn bewusst alsbloße Metapher benutzen. Darwin hatte dieses Bewusstsein ganz zweifellos; er hat das ganzklar zum Ausdruck gebracht.

Die Vorlesung endet mit einem kantischen Argument für die Bedeutung derlangfristigen für die kurzfristige Anpassung: Langfristige Anpassung ist zum Bei-spiel die Entwicklung bestimmter Organe wie der Augen. Die Evolution der Augengeht davon aus, dass es immer Licht geben wird, mit dem die Augen funktionierenkönnen. Und wenn Tiere wie der mexikanische Axolotl dazu kommen, dauerhaft ineiner Höhle zu leben, in die niemals Licht eindringt, dann wird seine arttypischeErwartung, etwas zu sehen, falsifiziert, und die Augen atrophieren. Dies zeigt, dassdie kurzfristige Anpassung, mit der die Axolotln in einer Umgebung mit Lichtoperierten, eine langfristige Anpassung oder ein Wissen von einem in ihre licht-

20 A. F. Petersen

empfindlichen Organe eingeschriebenes Licht voraussetzte. Wenn diese langfristigeAnpassung dann falsifiziert würde, etwa dadurch, dass die Axolotln von ihrenFressfeinden in dunkle Höhlen gezwungen oder aufgrund einer Wandlung ihrerPräferenzen zu einem Leben ohne Licht befähigt würden und infolgedessen nachund nach ihre Sehkraft einbüßten, dann wäre eine neue langfristige Anpassungerforderlich, um die Tiere nach und nach an ein Leben ohne Licht zu gewöhnen.

Mit diesem Beispiel hat Popper gezeigt, was Kant tatsächlich in gewisser Weisevorhersah – nämlich,

dass unser Wissen von Raum und Zeit unseren Beobachtungen irgendwie vorausgehe. BevorBeobachtungen uns überhaupt etwas bedeuten können, müssen wir fähig sein, so etwas wiea priori Orientierungen zu haben. Ich glaube, das ist richtig. Man muss aber hinzufügen,dass diese Art von a priori Wissen nicht notwendigerweise wahr ist. Es geht anderemWissen voraus, aber es ist so hypothetisch wie all unser Wissen. Das heißt: Mit unserem,sagen wir, angeborenen Wissen, das schon in den ersten Organismen, von denen wir alleabstammen, als eine Art Wissen angeboren vorliegt, können wir uns immer irren (Popper2013, S. 17).

Der Organismus ist, was Naturliebhaber freuen wird, stets damit beschäftigt, dasSpiel der kantischen Philosophie auf darwinistischen Instrumenten einzuüben, wasPopper als einer der ersten bemerkte.

Vom Ursprung des Bewusstseins und der Interaktion von Geistund Gehirn

Popper zeigte sich von Jacques Monods Beiträgen zur Biologie und seiner berühm-ten Erklärung aus dem Jahre 1970, dass das Leben wahrscheinlich nur ein einzigesMal entstanden ist und die Wahrscheinlichkeit dieses Ereignisses nahe null war,bevor es stattfand, sehr beeindruckt. Doch erst nachdem er mit dem deutschenChemiker Günter Wächtershäuser und dessen 1988 formulierter Theorie über dieEntstehung des Lebens in sogenannten „oberflächengebundenen metabolischenZyklen“, welche auf Pyrit wachsen, Bekanntschaft gemacht hatte, erkannte Popper,dass sich ein fundamentaler Wandel in diesem Forschungsbereich vollzogen hat – inWächtershäusers Worten: „[D]ie Entstehung des Lebens bezeichnet keinen Zeit-punkt, sondern einen Punkt im Raum. Von diesem Anfangspunkt aus ist Evolution inerster Linie eine räumliche Angelegenheit, zu der die Zeit erst kraft der Geschichteder Eroberung des Raums hinzutritt“ (Wächtershäuser 1997, S. 493).

Das Leben, und damit auch neue Arten von Wahrnehmung oder Proto-Bewusstsein, hätte also viele Male entstehen können und könnte es an besonderenOrten auf der Erde immer noch tun. In einem Aufsatz mit dem Titel „Das Geist-Gehirn-Problem – eine versuchsweise Lösung“ (Popper 1991, 2012c, Abs. 1–12)hat Popper Descartes’ zwei „Substanzen“ so interpretiert, dass sie „die Welt derausgedehnten physikalischen Körper“ respektive „die Welt der unausgedehntenintensiven Kräfte“ bezeichnen – Kräfte, die als etwas verstanden werden, wasMaterie beschleunigen oder verlangsamen kann –, wodurch er „die Substanzen“

Kritischer Rationalismus und Psychologie 21

loswerden und somit eine Lösung für Descartes’ „Geist-Gehirn-Problem“ anbietenkonnte. Denn wenn der Geist als ein Kraftfeld aufgefasst wird, das von „organischenKräften“ innerhalb des Gehirns erzeugt wird, auf deren Grundlage er wirkt, dannbilden Gehirn und Geist zwei hochkomplexe Prozesse, die „im gleichen Sackstecken“, wie Popper sagt – und da beide Arten von Prozessen auf diese Weise imselben Raum und zur selben Zeit verortet werden können, ist Descartes’ Problem,das von der Ortlosigkeit des Geistes ausgeht, gelöst (Popper 2012c, Abs. 11–12).

Es war im Kontext dieser „versuchsweisen Lösung“ des cartesischen Problems,dass Popper (Popper 2012c, Abs. 16 und 18) seine Theorie der Entstehung desBewusstseins niederschrieb. Nachdem er sein Argument über den genetischenDualismus in der Aussage „[I]n der Evolution nimmt ein Organismus (oder einVerband von Organismen) eine zufällige Mutation nur (oder hauptsächlich) an, wenndamit einige seiner (potenziellen) Bedürfnisse befriedigt werden“ zur Anwendunggebracht hat, ergänzt er: „Was die Evolution des Bewusstseins betrifft, so ist unserUnwissen ungeheuer groß. Doch wir dürfen annehmen, dass das Bewusstsein einBedürfnis erfüllte. Seine funktionalen Anfänge liegen wahrscheinlich nicht sehr weitweg vom Beginn des Lebens“ (Popper 2012c, Abs. 16).

Mit dieser interessanten These hatte Popper sozusagen den Boden für seineMutmaßung über die Entstehung des Bewusstseins bereitet: „Die (grobe) Unter-scheidung zwischen heutigen, ortsfesten Pflanzen und sich frei bewegenden oderwandernden Tieren entspricht ungefähr dem Fehlen von bewussten Erwartungenoder einem abnehmenden Bewusstseinsgrad auf der einen Seite und dem Vorhan-densein von Bewusstsein, also von bewusster Erwartung, auf der anderen Seite“(Popper 2012c, Abs. 18). Pflanzen im Wasser und an Land werden hier als Nach-fahren der Wächtershäuserschen unbeweglichen „Oberflächenmetabolisten“ (Wäch-tershäuser 1988, S. 452–455) betrachtet, während die sich selbst bewegenden Tiereheute bis zu den ersten „beweglichen Metabolisten“ zurückverfolgt werden können,die nicht mehr an eine Oberfläche gebunden waren und infolge ihrer Selbstbeweg-lichkeit unter einen neuen Selektionsdruck gerieten, der neue Anpassungen vonihnen verlangte. Popper mutmaßte dann, „dass Bewusstsein nötig ist, um einenOrganismus, der sich frei bewegen kann, zu warnen und zu leiten“ (Popper 2012c,Abs. 18).

Dieser Vorschlag kann nun innerhalb der Popperschen Konzeption von Evolutionals ein Prozess verstanden werden, in dem lebende Organismen eine aktive Rollespielen. In Bezug auf unser vorliegendes Beispiel, das Auftauchen des Bewusstseinsals einer Lösung für das Problem der Bewegung, ist es gut möglich, dass diesegeschichtliche Vermutung niemals als solche einer Überprüfung unterzogen werdenwird. Die logische Analyse der biochemischen Situationen, in denen diese Evolutionsich angeblich abgespielt haben soll, kann uns allerdings trotzdem zu Schlussfolge-rungen führen, die denen ähneln, die Wächtershäuser über die Phylogenese derVorgänger lebender Organismen angestellt hat.

Die spektakuläre Evolution des ersten beweglichen zellartigen Organismus, wiesie in Wächtershäusers biochemischen Modellen geschildert wird, ist klarerweise einFall von aktivem Darwinismus. Wie Popper vorbringt, „[ist] die ökologische Nische[. . .], zum Teil das Produkt des individuellen Organismus. Sie wird, teilweise, vom

22 A. F. Petersen

Organismus entdeckt, oder gewählt, oder sogar gemacht (Bau eines Nestes!); jeden-falls wird sie von jeder [. . .] Aktivität [des Organismus], ja sogar von jeder Erwar-tung verändert [. . .]. Damit spielt die Aktivität des Organismus eine entscheidendeRolle in der Darwinschen Evolution“ (Popper 1986a, S. 10).

Von hier aus ist es leicht, die tiefgreifende Revolution zu würdigen, die mobileOrganismen hervorgerufen haben, als sie neue Bewegungsweisen und Formen derAufmerksamkeit entwickelt haben, um auf die Probleme reagieren zu können, die imZuge ihrer eigenen Ortsunabhängigkeit entstanden sind – eine Anpassung, diespäteren Tierarten und dem Menschen als Erbe für eine Welt des Bewusstseins„überliefert“ worden ist.

Seine 1991 entworfene Lösung für das cartesische „Geist-Gehirn-Problem“(Popper 2012c, Abs. 23) schloss Popper mit einer neuen Mutmaßung ab, die eineAbwandlung eines Shakespeare-Zitats aus dem Kaufmann von Venedig (I, I, I)darstellt: „Kräfte sind der Stoff, aus dem die Seele gemacht ist“; und ein Jahr späterformulierte er in einer Diskussion mit den schwedischen Professoren Lindahl undÅrhem, die der Eingebung gefolgt sind, ihn zu besuchen und zu seiner neuenTheorie des Geistes zu befragen, ein neues Geist-Gehirn-Problem (Popper et al.1993, S. 169) – das Problem der „Geist-Gehirn-Interaktion“ – indem er die Fragestellte: „[W]ie können mit biochemischen Substanzen verbundene Kräfte [. . .] einebestimmte Autonomie und Unabhängigkeit aus diesen rein stofflichen Prozessengewinnen [. . .] und weiterhin eine Art Identität besitzen, die sogar fähig ist, ihrerseitsbiochemische Prozesse im Gehirn anzustoßen?“

Um sich einer Antwort auf diese Frage zu nähern, betrachtet Popper die folgen-den acht Eigenschaften des Geistes (Popper et al. 1993, S. 168): Der Geist istunkörperlich und nicht räumlich, dafür aber über die Zeit ausgedehnt; er kann mitbestimmten Methoden lokalisiert werden (im Gehirn), die zudem seine wechselndeIntensität feststellen können; der Geist ist vom Körper abhängig und wird von ihm(in Gestalt des Gehirns) beeinflusst, ist aber fähig, auf Körper einzuwirken (aufGehirn und Nervensystem). Daraufhin vergleicht er diese Eigenschaften mit denenvon Kräften und konstatiert eine vollständige Entsprechung von Geist und Kräften inHinsicht auf diese Eigenschaften.

Als Vektor mit einem bestimmten Betrag oder einer bestimmten Intensität „wirdeine Kraft definiert als etwas, das ein Stück Materie beschleunigen oder verlangsa-men kann“ (Popper et al. 1993, S. 170). Klassischerweise werden Kräfte so vorge-stellt, dass sie an Körper gebunden sind, doch im Falle der Geist-Gehirn-Interaktionsollte ein Modell der Kräfte auch erklären, wie es möglich sein kann, dass sie „aufdas Gehirn in der gleichen Weise einwirken können, wie ein Pianist auf das Klaviereinwirkt“ (Popper et al. 1993, S. 170). Das ist das, was ein Autopilot zu tun vermag,und da dieser darauf programmiert ist, ein Flugzeug zu steuern, muss er durch Kräftewirken. Etwas Analoges könnte nun auch für die Weise gelten, mit der Geist dasGehirn steuern kann. Dies zeigt sich, wenn bewusst ausgeführte Bewegungen beimKlavierspiel, Fahrrad- oder Autofahren nach langer und gründlicher Einübungautomatisch abzulaufen beginnen und dann bloß noch unbewusst durch das Gehirnangeregt werden, was bedeutet, dass die Koordination von Gehirn und Muskelnohne die Aufmerksamkeit des Geistes funktioniert: „Der Ausdruck ‚Aufmerksam-

Kritischer Rationalismus und Psychologie 23

keit’ scheint eine der wirklichen Kernideen bei der Frage zu sein, wann [. . .] derGeist in die Physiologie hinabsinkt. Niemand kann ernsthaft bestreiten, dass [. . .] einVereinigungsprozess stattfindet [. . .], in dem Geist und Gehirn nicht mehr wirklichvoneinander unterscheidbar sind“. Dies steht zu erwarten, wenn der Geist einKomplex von Kräften ist, der von den biochemischen Prozessen im Gehirn partiellunabhängig geworden ist. Ähnliches gilt für die Intentionalität, die ebenfalls kraft-artig ist, da „sie auf etwas hindeutet, wie ein Vektor [. . .] versucht, ein Ziel zuerreichen, wenn möglich [. . .]. Ich glaube, dass der Geist auf irgendeine Weise ausdem Körper emergiert, aber nicht auf ihn reduzierbar ist“ (Popper et al. 1993,S. 172).

In einer zweiten Debatte mit den Professoren Lindahl und Århem im Juli 1994zählte Popper die folgenden Voraussetzungen seiner „neuen Theorie des Geistes“ auf– „Geist“ hier verstanden als etwas durch Felder elektrochemischer Kräfte Erzeug-tes: „(i) [D]as Gehirn ist ein Detektorverstärker, der seine eigene Energie bereitstellt(Eccles, 1953), wodurch das Energieerhaltungsgesetz für die Geist-Gehirn-Frageirrelevant wird; (ii) es könnte eine mentale Energie geben, die in eine elektrochemi-sche Form umwandelbar ist, und (iii) könnte es nichtenergetische (energieloseFührungswellen) Einflüsse auf energetische Prozesse (energietragende Wellen)geben“ (Popper et al. 1994, S. 5, 2010, S. 9). Besteht der Geist also aus semiauto-nomen Feldern elektrochemischer Kräfte, dann könnte er, qua Kraftfelder, aufPropensitätsfelder (Popper et al. 1994, S. 12, 2010, S. 14) oder Körper einwirkenund so die Interaktion zwischen Geist und Gehirn ermöglichen.

Popper hat die Redaktion dieser zweiten Diskussion nicht mehr erlebt und auchLindahls und Århems spätere Kommentare nicht mehr zur Kenntnis nehmen können(Lindahl und Århem 1994).

Über das menschliche Ich und seine Funktionen

Popper hatte seine Theorie der Interaktion zwischen Geist und Gehirn bereits ingroben Zügen mit John Eccles in dem von ihnen beiden gemeinsam verfassten WerkThe Self and Its Brain (Popper und Eccles 1977) diskutiert. In der Darstellung desGeistes als eines Pianisten, der auf dem Gehirn wie auf einem Klavier spielt, ist dasmenschliche Ich für Popper von größter Wichtigkeit für sein Interaktionsargument.Er charakterisiert „das Ich“ (Popper 1977, 2012b, S. 326, 346) mit Bezugnahme aufPlaton als den Steuermann eines Schiffes: das Ich „beobachtet und handelt [. . .]gleichzeitig [. . .]. Die Aktivität des Ichs ist, wie ich meine, die einzige echteAktivität, die wir kennen. Das aktive, psycho-physische Ich ist sozusagen der aktiveProgrammierer des Gehirns (das der Computer ist). Das Ich ist der Spieler, und seinInstrument, auf dem er spielt, ist das Gehirn“.

Das Kind wird nicht mit einem Ich geboren, sondern muss „lernen, ein Ich zusein“. Gewiss gibt es wichtige Vorprogrammierungen für diese Entwicklung, diezum Beispiel am „sozialen Lächeln“ des Babys offensichtlich werden, das es mit derunbewussten, apriorischen Erwartung an den Tag legt, mit anderen zu sein. Popperhat die folgenden kognitiven Schritte auf dem Weg zum Ich unterschieden (Popper

24 A. F. Petersen

2012b, S. 333, Anm. 4): „Erstens die Kategorie von Personen; dann die Unterschei-dung zwischen Personen und Dingen; dann die Entdeckung des eigenen Körpers,das Lernen, dass es der eigene ist; und erst dann des Gewahrwerden der Tatsache, einIch zu sein“.

Ungefähr zur selben Zeit stellte er in seiner Autobiographie (Popper 1974, 2012a,S. 290) die These auf, dass das „volle Ich-Bewußtsein [. . .] ein Rückkoppelungs-produkt [. . .] des Aufstellens von Theorien“ ist – das heißt, der Theorie des heran-wachsenden Kinds über sich selbst und die Welt, in der es lebt. Dies geschieht durchdie Verwendung von Sprache, so dass die ersten Anzeichen für das Ich dannfestgestellt werden können, wenn das Kind in der Lage ist, Geschichten über sichselbst, seine Absichten und Wünsche für die Zukunft zu erzählen. Das langfristigePlanen eines Kindes wird typischerweise seine Vorstellungswelt, Bedürfnisse undAntriebe mit umfassen, und Popper hält dies für das Ganze der Persönlichkeitsent-wicklung für unerlässlich: „Einen solchen (sich verändernden) Plan oder eine Reihevon Theorien und Präferenzen zu haben, lässt uns über uns selbst, über unserinstinktives Verlangen und unsere ‚Neigungen’ (wie Kant sie nannte) hinauswach-sen“ (Popper 2012b, S. 379–380). Das Ich ist somit viel mehr als eine cartesische„Substanz“, ein „reines Subjekt“ oder ein „Bewusstseinsstrom“, wie William Jamesglaubte; es ist die Quelle der menschlichen Kultur und Zivilisation – also dessen,was Popper Welt 3 nannte und erstmals ausführlich in seiner Amsterdamer Anspra-che von 1967 beschrieb (Popper 1972, S. 106–152).

Geschichtlich betrachtet ist die Erzählung zuerst im mündlichen Austausch vonErfahrungen unter Stammesangehörigen derselben oder aufeinander folgenderGenerationen aufgetaucht und wurde mit der Erfindung der Schriftsprache vomTräger der Erfahrung unabhängig. Nach und nach entstand die Welt, die PopperWelt 3 nennt, bestehend aus den Beschreibungen und Theorien des Frühmenschenüber sich selbst und die Welt, eine exosomatische Evolution (Medawar) von kultu-rellem Wissen und Werkzeugen – ein reines Produkt menschlicher Aktivität, das aufvielfältigste Weisen zugänglich gemacht worden ist. Auf der individuellen Ebene hatder Frühmensch erst dann ein vollständiges Bewusstsein (Poppers „Welt 2“) entwi-ckelt, als er begann, die Rückkoppelungseffekte des Geschichtenerzählens undspäter der schriftlichen Darstellungen von sich selbst und seiner Welt zu erfahren.Ein solches Geben und Nehmen zwischen den Welten 2 und 3 wiederholt sich in derOntogenese jeder neuen Generation immer noch. Popper maß der vermittelndenRolle des Geistes große Wichtigkeit bei: Bitte aus der deutschen Fassung zitieren.Die englische Stelle ist (a) nicht auffindbar und (b) sehr wahrscheinlich falschübersetzt, denn Welt 2 ist bei Popper nicht die Welt des Geistes, sondern die desbewussten oder subjektiven Geistes. Zur Welt des Geistes gehören auch Bücher dasist bei Popper die Welt 3.

Die Entdeckung und Erfindung von Werkzeugen und Verfahrensweisen (dieexosomatische Evolution) und die Erschaffung von Wissen und Kunst durch denMenschen (Welt 3) stellen Popper zufolge einen Beweis für die Existenz und Realitätdes menschlichen Geistes dar (Welt 2) – und sogar für einen „objektiven Geist“,dessen konkrete Leistungen eigentlich die Wissenschaft der Psychologie detaillierterzu erkunden hätte, anstatt sich mit subjektiven Seelenzuständen zu befassen.

Kritischer Rationalismus und Psychologie 25

Das Übertragungsprinzip: „Was in der Logik wahr ist, ist in derPsychologie wahr“

Etwa 1929, nachdem er Kant gelesen und viele Spekulationen über die Entstehungder europäischen polyphone Musik angestellt hatte, gab Popper die Psychologie auf,um sich der Logik der wissenschaftlichen Forschung zu widmen. Dies tat er,nachdem er zu der kantischen Schlussfolgerung gelangt war, dass Wissen keinebloße Kopie und kein bloßer Eindruck der Realität sein kann, weil sich das Wissengenetisch oder psychologisch apriorisch zu Beobachtungszeugnissen verhält – wennes auch nicht unbedingt a priori gültig sein muss, wie er es später, Novalis zitierend,formulierte:

Unsere Theorien sind unsere Erfindungen. Sie mögen oft nichts Besseres sein als schlechtdurchdachte Mutmaßungen. Sie sind nie mehr als kühne Vermutungen, Hypothesen. Ausdiesen erschaffen wir eine Welt: nicht die wirkliche Welt, sondern Modelle; von unsgemachten Netze, mit denen wir die wirkliche Welt einzufangen versuchen. Wenn dieseGedanken richtig waren, dann hatte das, was ich zunächst als Psychologie der Forschungaufgefasst hatte, eine Grundlage in der Logik: Es gab aus logischen Gründen keinen anderenWeg ins Unbekannte, als selbst unsere Netze zu machen und sie auszuwerfen (Popper 2012a,S. 81–82).

Etwa 40 Jahre später kam er im ersten Kapitel von Objective Knowledge (Popper1972) auf das Problem der Induktion zurück, speziell auf Humes psychologischenTeil des Problems. Um hier eine Lösung anzubieten, legte Popper „ein Übertra-gungsprinzip“ vor – „was in der Logik wahr ist, ist in der Psychologie wahr“ –, umlogische Prinzipien an psychologische Überlegungen rückzubinden. Auf dieseWeise kann der Wahrheitsgehalt von Aussagen auf solche Gebiete wie die Psycho-logie, die Soziologie, die wissenschaftliche Methodenlehre, die Geschichte derWissenschaften und andere übertragen werden.

Viele haben seither die Frage gestellt, um welche Art von Prinzip es sich dabeihandelt. Hinweise auf eine Antwort können möglicherweise unter den folgendenElementen gefunden werden. Es ist möglich, dass eine diesem Prinzip ähnliche Ideeim Zuge verzerrter Lesarten der Lehren Kants durch zwei Lehrer Poppers zu ihmgelangte: durch Carl Stumpf (Stumpf 1892, S. 481–482), der, anders als Kant undunter dem Einfluss des positivistischen Zeitgeistes stehend, der Psychologie eineSchiedsrichterfunktion zuweist, wenn er schreibt: „Etwas kann nicht erkenntnisthe-oretisch wahr und [zur selben Zeit] psychologisch falsch sein“, und durch KarlBühler (Bühler 1922, S. 212), der der Auffassung war, dass er sich selbst mit derBehauptung „Ich halte es mit Stumpf: was in der Logik wahr ist, kann in derPsychologie nicht falsch sein und umgekehrt“ schützen würde. (Diese Hinweiseverdanke ich Troels Eggers Hansen.) „Verzerrte Lesarten“ heißt hier, dass keinedieser Formulierungen ein Übertragungsprinzip begründet, sondern vielmehr diezentrale Rolle der Psychologie für die Erkenntnistheorie betont, und dass dieseLesarten eher positivistischer denn kantianischer Natur sind.

Dem Kontext, in dem das Prinzip eingeführt wurde, und den bereits genanntenwissenschaftlichen Feldern nach zu urteilen, in die Popper ein wenig logische

26 A. F. Petersen

Ordnung und Aufklärung hineinbringen wollte, ist es notwendig, das Übertragungs-prinzip als ein methodologisches Mittel aufzufassen – als eine Weise, wissenschaft-liche Befunde den angewendeten Methoden gemäß sorgfältig zu überprüfen und zubeurteilen. Wenn dem so ist, dann wäre die induktive Methode die erste, diezusammen mit ihren Resultaten zu verwerfen wäre. Gleiches würde auch für sub-jektivistische und literarische Ansätze und Befunde gelten, die von der Psychoana-lyse sowie bestimmten Psychologen und Soziologen so geschätzt werden, und auchmanche Bereiche der Geschichtswissenschaft müssten ihre Ergebnisse aus metho-dologischen Gründen aufgeben, und die Geschichte der Wissenschaften müsste neugeschrieben werden, wobei all das außen vor gelassen werden müsste, was einergenauen logischen Überprüfung nicht standhält. Dies wäre eine gerechtere undsystematischere Weise, sich von unhaltbaren und nutzlosen Resultaten zu befreien,als das bisherige Verfahren, in dem Ergebnisse einfach ignoriert und vergessenwurden, und sie hätte zudem einen positiven Effekt auf die wissenschaftlicheMethodologie, aber natürlich keinen, der auch nur im Entferntesten stark genugwäre, um gewährleisten zu können, dass es künftige Wissenschaftler stets zu wür-digen wissen werden, dass sie mit Theorien arbeiten, die logisch vertretbar undüberprüfbar sind.

Danksagung Mein besonderer Dank gilt den Doktoren Troels Eggers Hansen und Hans-JoachimNiemann, die es mir ermöglicht haben, aus Poppers Gesammelten Werken und anderen seinerspäteren deutschen Texte zu zitieren. Ich danke ebenfalls Herrn Frank Lachmann, Philosoph undÜbersetzer, für sein Engagement bei der Übersetzung dieses Kapitels und für seine hilfreichenVorschläge. Ich möchte Herrn Doktor Manfred Lube von der Karl-Popper-Sammlung der Univer-sität Klagenfurt meine Dankbarkeit zum Ausdruck bringen, aus Poppers unveröffentlichten Werkenzitieren und zwei Schemata seiner veröffentlichten Werke übernehmen zu dürfen. Herzlichen Dankan Frau Direktorin Lydia Zellacher und ihre Mitarbeiter in der Karl-Popper-Sammlung für ihrebibliografische Unterstützung. Ich danke ebenfalls Frau Laura Fuzier, Psychologin, für ihre Sorg-falt, mit der sie den Text gelesen und Verbesserungen vorgeschlagen hat. Noch verbleibende Fehlersind mir zuzuschreiben.

Literatur

Bain, Alexander. 1855. The senses and the intellect. London: Parker.Bühler, Karl. 1922. Die geistige Entwicklung des Kindes, 3. Aufl. Jena: Gustav Fischer.Darwin, Charles. 1859. On the origin of species by means of natural selection. London: J. Marray.Dedekind, Richard. 1887/1911. Was sind und was sollen die Zahlen? Braunschweig: F. Vieweg &

Sohn.Eccles, John. 1953. The neurophysiological basis of mind. Oxford: Clarendon Press.Huxley, Julian. 1914. The courtship habits of the Great Crested Grebe (Podiceps cristatus); with an

addition to the theory of sexual selection, Journal of Zoology, 84(3): 491–562.Huxley, Julian. 1966. A discussion on ritualization of behaviour in animals and man, organized and

introduced by Sir Julian Huxley, F. R. S. Philosophical Transactions of the Royal Society ofLondon, Series B 251:247–525.

Jennings, Herbert S. 1906. The behavior of lower organisms. New York: Columbia UniversityPress.

Jerne, Niels K. 1967. Antibodies and learning: Selection versus instruction. In The neurosciences –A study program, Hrsg. Gardner C. Quarton, 200–205. New York: Rockefeller University Press.

Kritischer Rationalismus und Psychologie 27

Kandel, Eric. 1976. Cellular basis of behavior: An introduction to behavioral biology. SanFrancisco: W. H. Freeman.

Kandel, Eric. 1979. Behavioral biology of Aplysia: A contribution to the comparative study ofopisthobranch molluscs. San Francisco: W. H. Freeman.

Kandel, Eric. 2006. In search of memory – The emergence of a new science. New York: W. N.Norton.

Lindahl, B.I.B., und P. Århem. 1994. Mind as a force field: Comments on a new interactionistichypothesis. Journal of Theoretical Biology 171:111–122.

Lorenz, Konrad. 1941. Vergleichende Bewegungsstudien an Anatinen. Journal für Ornithologie89:194–294.

Lorenz, Konrad. 1950/1971. Ganzheit und Teil in der tierischen und menschlichen Gemeinschaft,Studium Generale 3/9, in Studies of Animal and Human Behaviour, Bd. II, 115–195. London:Methuen & Co.

Lorenz, Konrad. 1963/1965. Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression. Wien:Dr. G. Borotha-Schoeler Verlag.

Mach, Ernst. 1900. Die Principien der Wärmelehre, 2. Aufl. Leipzig: J.A. Barth.Mayr, Ernst. 1963/1966. Animal species and evolution. Cambridge, MA: The Belknap Press of

Harvard University Press.Medawar, Peter Brian. 1960. The future of man. London: Methuen.Monod, Jacques. 1970. Le hasard et la nécessité. Paris: Editions du Seuil.Moore, George E. 1903. Principia Ethica. Cambridge: Cambridge University Press.Pavlov, Ivan P. 1928. Lectures on conditioned reflexes. London: Lawrence & Wishart.Petersen, Arne Friemuth. 1988.Why children and young animals play – A new theory of play and its

role in problem solving, Historisk-filosofiske Meddelelser, Bd. 54, 1–57. Kopenhagen: DieKöniglich Dänische Akademie der Wissenschaften.

Petersen, Arne Friemuth. 2008. Popper’s Gewöhnungstheorie Assembled and Faced with OtherTheories of Learning, Vortrag, gehalten auf der Konferenz „Rethinking Popper“, veranstaltetvom Institut für Philosophie an der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik,Prag, 10–14 September 2007. In Yearbook of the „George Baritiu“ Institute of History, Cluj-Napoca, Series Humanistica, Bd. VI, 265–287.

Petersen, Arne Friemuth. 2016. On Popper’s contributions to psychology as part of biology. In TheCambridge companion to Popper, Hrsg. Jeremy Shearmur und Geoffrey Stokes, 69–103.Cambridge: Cambridge University Press.

Petersen, Arne Friemuth. 2018 (in Vorbereitung). La pensée critique selon Popper: un outil humainpour s’adapter ou s’opposer à des conditions de vie. In La pensée politique de Karl Popper:essais et interprétations, Hrsg. J. A. Colen, S. Nelson und J. Agassi. Wien: Presses Universi-taires de Vienne („Epigramme“).

Popper, Karl R. 1925. Über die Stellung des Lehrers zu Schule und Schüler. Schulreform 4(4):204–208; wiederabgedruckt in Popper 2006, 3–9.

Popper, Karl R. 1927. „Gewohnheit“ und „Gesetzerlebnis“ in der Erziehung, Eine pädagogisch-strukturpsychologische Monographie; wiederabgedruckt in Popper 2006, 83–185.

Popper, Karl R. 1928. Zur Methodenfrage der Denkpsychologie. Dissertation, Universität Wien,Sommersemester 1928; wiederabgedruckt in Popper 2006, 187–260.

Popper, Karl R. 1930–33. Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie, Manuskript in zweiTeilen; Bd. 1: Das Induktionsproblem, Bd. 2: Das Abgrenzungsproblem (unvollendet); ver-öffentlicht als Popper 1979.

Popper, Karl R. 1934. Logik der Forschung. Wien: Julius Springer.Popper, Karl R. 1940. What is dialectic? Mind 49:403–426; wiederabgedruckt in Popper 1963,

312–335 (und in GW 10, 2009, 478–514).Popper, Karl R. 1956. The arrow of time. Nature 177(4507): 538.Popper, Karl R. 1963/2009. Conjectures and Refutations. London: Routledge/Kegan Paul.Popper, Karl R. 1965. Time’s arrow and entropy. Nature 207(4994): 233–234.

28 A. F. Petersen

Popper, Karl R. 1966. Of clouds and clocks: An approach to the problem of rationality and thefreedom of man, The Arthur Holly Compton Memorial Lecture, 21.04.1965; veröffentlicht vonder Washington University, St. Louis, Missouri, vii + 38; wiederabgedruckt in Popper 1972,206–255.

Popper, Karl R. 1970/2006. Einige Bemerkungen über die Wiener Schulreform und ihr Einfluss aufmich, Brief an Dr. Albert Krassnigg, Wien (GW 1, 497–503).

Popper, Karl R. 1972. Objective knowledge – An evolutionary approach. Oxford: Clarendon Press.Popper, Karl R. 1974/2012a. Intellectual autobiography. In The Philosophy of Karl Popper, Hrsg.

Paul A. Schilpp Bd. I, 2–181. La Salle: Open Court (GW 15).Popper, Karl R. 1975a. The rationality of scientific revolutions, in Rom Harré Hrsg. Problems of

Scientific Revolution: Progress and obstacles to progress in the sciences. The Herbert SpencerLectures 1973, Oxford: Clarendon Press, 72–101 (GW 13, 299–337).

Popper, Karl R. 1975b. Brief an Arne F. Petersen; Penn, 28.01.1975. Handgeschrieben, drei Seiten,Fasz. 8, „Sammlung Arne F. Petersen“, Karl-Popper-Sammlung der UniversitätsbibliothekKlagenfurt, Österreich.

Popper, Karl R. 1977. The self and its brain – An argument for interactionism. Berlin: SpringerInternational.

Popper, Karl R. 1979/2010. Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie, Hrsg.Troels EggersHansen. Tübingen: Mohr Siebeck (GW 2).

Popper, Karl R. 1986a. Eine Weiterentwicklung der Darwinschen Theorie, Festvortrag am Freitag,dem 15. März 1986, 19 Uhr, Gesellschaft der Ärzte in Wien; Typoskript, 21 Seiten (PopperArchive, Hoover Institution Archive, Kasten 493, Ordner 6).

Popper, Karl R. 2013. A new interpretation of Darwinism. The first Medawar lecture 1986. Hrsg.von Hans-Joachim Niemann, In Karl Popper and the Two New Secrets of Life. Tübingen: MohrSiebeck 2014, S. 115–129, auf Deutsch veröffentlicht als Popper 2013.

Popper, Karl R. 1991. The mind-brain problem: A conjectured solution. Typoskript, sieben Seiten(Klagenfurt: Sammlung Arne F. Petersen: 2.12 Quellenmaterial), auf Deutsch veröffentlicht alsPopper 2012c.

Popper, Karl R. 1994. Alles Leben ist Problemlösen. München: Piper.Popper, Karl R. 2006. Frühe Schriften. GW 1. Tübingen: Mohr Siebeck.Popper, Karl R. 2009. Vermutungen und Widerlegungen. GW 10. Tübingen: Mohr Siebeck.Popper, Karl R. 2010. Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie. GW 2. Tübingen: Mohr

Siebeck.Popper, Karl R. 2012a. Ausgangspunkte. Meine intellektuelle Entwicklung. GW 15. Tübingen:

Mohr Siebeck.Popper, Karl R. 2012b. Wissen und das Leib-Seele-Problem. GW 12. Tübingen: Mohr Siebeck.Popper, Karl R. 2012c. Das Geist-Gehirn-Problem – eine versuchsweise Lösung. Aufklärung und

Kritik 19(4): 7–22 (ins Deutsche übersetzt von Hans-Joachim Niemann).Popper, Karl R. 2013. Eine Neuinterpretation des Darwinismus. Die erste Medawar-Vorlesung

1986. Aufklärung und Kritik 20(1): 7–20 (Hrsg. und ins Deutsche übersetzt von Hans-Joachimund Dagmar Niemann).

Popper, Karl R. 2015. Erkenntnis und Evolution. GW 13. Tübingen: Mohr Siebeck.Popper, Karl, und John C. Eccles. 1977/2012b. The self and its brain – An argument for interac-

tionism. Berlin: Springer International (Poppers Beitrag wiederabgedruckt in GW 12, 185–484).Popper, Karl, B.I.B. Lindahl, und P. Arhem. 1993. A discussion of the mind-brain problem.

Theoretical Medicine 14(2): 167–180.Popper, Karl, B.I.B. Lindahl, und P. Arhem. 1994. The consciousness-brain relation – A discussion

of an interactionistic hypothesis, Entwurf, 30. August, 22 Seiten (Klagenfurt: 511.1 KarlR. Popper, Speeches and Writings), auf Deutsch veröffentlicht als Popper, Lindahl & Århem2010).

Popper, Karl, B.I.B. Lindahl, und P. Arhem. 2010. Die Beziehung zwischen Bewusstsein undGehirn: Diskussion einer interaktionistischen Hypothese. Aufklärung und Kritik 17(3): 7–19(ins Deutsche übersetzt von Hans-Joachim Niemann).

Kritischer Rationalismus und Psychologie 29

Schrödinger, Erwin. 1944. What is life? Cambridge: Cambridge University Press.Selz, Otto. 1922. Über die Gesetze des geordneten Denkverlaufs. Eine experimentelle Untersu-

chung. Zweiter Teil. Bonn: Verlag von Friedrich Cohen.Stumpf, Carl. 1892. Psychologie und Erkenntnistheorie. In Abhandlungen der philosophisch-

philologischen Classe der königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 19,465–516. München: Verlag der Königlichen Akademie.

Wächtershäuser, Günter. 1988. Before enzymes and templates: Theory of surface metabolism.Microbiological Reviews 52:452–484.

Wächtershäuser, Günter. 1997. The origin of life and its methodological challenge. Journal ofTheoretical Biology 187:483–494.

Weiss, Paul. 1968. Dynamics of development: Experiments and inferences. New York/London:Academic.

30 A. F. Petersen