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Lehrstuhl für Gehörlosen- und Schwerhörigenpädagogik Dr. Dipl.-Psych. Wolfgang Wirth Kommunikation - Wenn Worte fehlen Psychosoziale Folgen von Kommunikationsbehinderungen

Lehrstuhl für Gehörlosen- und Schwerhörigenpädagogik Dr. Dipl.-Psych. Wolfgang Wirth Kommunikation - Wenn Worte fehlen Psychosoziale Folgen von Kommunikationsbehinderungen

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Lehrstuhl für Gehörlosen- und Schwerhörigenpädagogik

Dr. Dipl.-Psych. Wolfgang Wirth

Kommunikation -Wenn Worte fehlenPsychosoziale Folgen von

Kommunikationsbehinderungen

Dr. Dipl.-Psych. Wolfgang Wirth 17.04.2012

1. Kommunikationstheoretische Grundlagen: - Was ist Kommunikation- Kommunikationsentwicklung- Kommunikationsregeln

2. Psychosoziale Folgen- Selbstentwicklung- Psychosoziale Reaktionen- Sozialpsychologische Aspekte- Eigene Untersuchung

3. Coping- Coping bei Schwerhörigkeit- Selbstwirksamkeit, Empowerment- Selbsthilfe

Struktur des Vortrags

Dr. Dipl.-Psych. Wolfgang Wirth 17.04.2012

• Kommunikation kommt von den lateinisch Begriff für „Gemeinschaft“ communio und „gemeinsam“ communis und dem daraus entwickelten Verb für gemeinschaftliches handeln und Teil haben: communicare

• Kommunikation kann also als ein auf gemeinschaftliche Erfahrungen bezogenes Handeln von Menschen verstanden werden

• Diese Gemeinschaftshandlung beinhaltet dabei besonders den Austausch von Zeichen und die Interpretation der Zeichen als bedeutungsvoll

Was ist Kommunikation?

Dr. Dipl.-Psych. Wolfgang Wirth 17.04.2012

• Bereits Ungeborene interessieren sich für kommunikative Signale

• Neugeborene sind in erster Linie auf Stimmen, Mimik und Gesten anderer Menschen ausgerichtet

• Babys interessieren sich also vor allem für kommunikative Reize und andere Menschen

Grundlagen menschlicher

Kommunikation

Dr. Dipl.-Psych. Wolfgang Wirth 17.04.2012

• Neugeborene kommunizieren bereits über ihren Körper mit ihren Pflegepersonen

• Babys zeigen 6 kommunikative Grundbewegungsmuster (Frank 2011):

• 1. nachgeben (yield) und 2. drücken (push), • 3. nach etwas strecken, erreichen wollen (reach)

und 4. greifen, packen (grasp), • 5. ziehen (pull) und 6. lösen, entspannen (release)• Diese Bewegungstypen sind natürlich immer

ineinander verschränkt und • daher beobachtete Abstraktionen. Mittels dieser 6

Bewegungstypen kommuniziert das Baby mit seiner Umwelt vor jeder gestischen Kommunikation

Grundbewegungsmuster nach Frank & La

Barre

Dr. Dipl.-Psych. Wolfgang Wirth 17.04.2012

• Diese Bewegungsmuster sind Teil des dynamischen Organismus-Umweltfeldes

• entstehen aus dem Organismus aber auch aus seinen Beziehungen zu seiner Umwelt

• besonders zu seinen Bezugspersonen, sie sind daher auch Teil und Ausdruck der Beziehung

• Diese Bewegungsmuster bleibt während der weiteren Entwicklung erhalten

• Sie bestimmen auch die Interaktionen Erwachsener und haben damit einen hohen Einfluss auf die Gestaltung von Beziehungen und auch von Partnerschaften

Grundbewegungsmuster nach Frank & La

Barre

Dr. Dipl.-Psych. Wolfgang Wirth 17.04.2012

• Die menschliche Kommunikation hat sich in der Evolutionsgeschichte zunächst wohl aus natürlichen Gesten und Zeigegesten entwickelt (Tomasello)

• Tomasello (2008) stellt fest, daß menschliche Kommunikation

• 1. einen gemeinsamen begrifflichen Hintergrund benötigt (Kontext)

• 2. eine wechselseitige kooperative Kommunikationsabsicht

• Diese wechselseitige kommunikative Kooperationsabsicht wird auch

• geteilte Absicht (joint intention)• geteilte Intentionalität oder • Wir-Intentionalität genannt

Kommunikations-entwicklung

Dr. Dipl.-Psych. Wolfgang Wirth 17.04.2012

• Diese gestische Kommunikation ist die erste willkürliche Kommunikation eines jeden Menschen und die Grundlage für die Entwicklung aller späterer Kommunikationssysteme

• Die Zeigegeste in Beziehung mit gemeinschaftlicher Handlungsabstimmung ist dabei ein wichtiger Schritt

• Gemeinsame Aufmerksamkeit (joint attention) und gemeinsame Erfahrung ist eine Voraussetzung um sie zu verstehen

• Sie ist Vorläufer der willkürlichen Zeichensysteme wie der Lautsprache oder der Gebärdensprache

Kommunikations-entwicklung

Dr. Dipl.-Psych. Wolfgang Wirth 17.04.2012

• Es ist nicht möglich nicht zu kommunizieren (Watzlawick)

• Auch wenn ich schweige • oder mich abwende • ein neutrales Gesicht mache • mich in meine Zeitungslektüre vertiefe • mich völlig unbeteiligt gebe • oder vielleicht sogar wirklich in einem

interessanten Buch lese und wenig von der Aussenwelt mitbekomme –

• immer wird dies eine Bedeutung für den Anderen haben

Grundlagen menschlicher

Kommunikation

Dr. Dipl.-Psych. Wolfgang Wirth 17.04.2012

• Schultz von Thun baut auf Watzlawick auf und formuliert Kommunikation als Beziehung zwischen einem Sender und einem Empfänger

• Nachrichten oder „Sendungen“ können dabei unter 4 Gesichtspunkten betrachtet werden

Grundlagen menschlicher

Kommunikation

Dr. Dipl.-Psych. Wolfgang Wirth 17.04.2012

Grundlagen menschlicher

Kommunikation

Dr. Dipl.-Psych. Wolfgang Wirth 17.04.2012

• Für Hörgeschädigte ist dabei besonders die Beziehungsseite problematisch, da bei Missverständnissen Beziehungen brüchiger, fragwürdiger werden

• Aber auch der Sachinhalt und die Selbstoffenbarung können bei Missverständnissen zu ungeheuerlichen zwischenmenschlichen Situationen führen Im Zug von München nach Stuttgart sitzt eine alte Dame. Ihr gegenüber sitzt ein Junge und kaut während der ganzen Fahrt Kaugummi Die alte Dame blickt ihm lange angestrengt ins Gesicht, dann gibt sie es auf und sagt: "Es ist ja lieb von dir, dass du mich so nett unterhalten willst, aber es hat keinen Sinn, weißt du, ich bin schwerhörig

Grundlagen menschlicher

Kommunikation

Dr. Dipl.-Psych. Wolfgang Wirth 17.04.2012

Der ältere Herr im Taxi erklärt dem Taxifahrer, nachdem er diesen nach der dritten Wiederholung eines Satzes immer noch nicht verstanden hat, wie schwer er es doch mit seiner Schwerhörigkeit hätte"Ach wissen Sie, jeder hat sein Päckchen zu tragen", versucht der Taxifahrer ihn zu trösten"Ich zum Beispiel sehe fast nichts mehr...!"

Grundlagen menschlicher

Kommunikation

Dr. Dipl.-Psych. Wolfgang Wirth 17.04.2012

• Handlungsorientierte menschliche Sprache geht nach Grice von der Grundannahme aus, dass kommunikatives menschliches Handeln und Verhalten auf dem Kooperation beruht

• Dem anderen wird normalerweise eine kooperative Absicht bei der Kommunikation unterstellt

• Dieses Kooperationsprinzip von Grice lautet: • Gestalte Deinen Gesprächsbeitrag so, dass er

dem anerkannten Zweck dient, den Du gerade mit deinen Kommunikationspartner verfolgst

Grundlagen menschlicher

Kommunikation

1. Regel der Quantität: Mach Deinen Beitrag so informativ wie nötig; sage jedoch nicht mehr als notwendig!

2. Regel der Qualität: Sage nichts, was du für falsch hältst; sage nichts wofür dir angemessene Gründe fehlen!

3. Regel der Relation: Sei relevant, knüpfe mit Deinem Beitrag an den des Sprechers vor Dir an!

4. Regel der Modalität, Art und Weise: Sei klar; sprich verständlich; berichte der Reihe nach!

Dr. Dipl.-Psych. Wolfgang Wirth 17.04.2012

Kommunikationsmaxime nach Grice (abgewandelt)

• Schwerhörige verstoßen gegen diese Regeln: • Gegen Regel 1 indem sie u. U. viel reden , um nicht

zuhören zu müssen• Gegen Regel 2, indem sie etwas Falsches sagen, weil sie

das vorherige nicht richtig verstanden haben• Gegen Regel 3, indem sie nicht an den Beitrag des

Vorredners anknüpfen, weil sie diesen nicht richtig verstanden haben

• Für Schwerhörige werden die Konversationsmaximen z.B. durch die Nichtverständlichkeit des Sprechers gestört

• Die Verletzung von sozialen Regeln führen zu Verwirrung, Ärger und Wut oder aber Rückzug aus der sozialen Situation

Kommunikationsmaxime nach Grice

• Schwerhörige verstoßen gegen diese Regeln:• Erschöpfung aufgrund von konzentrativem

Mehraufwand• Soziale Angst, sozialer Rückzug • Negative Attributierungen (Zuschreibungen)

im Rahmen des Kommunikationsprozesses durch Übernahme negativer Umwelturteile

Kommunikationsmaxime nach Grice

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• Diskriminierendes und ausgrenzendes Verhalten gegenüber Andersartigen ist in der Sozialpsychologie inzwischen ein gut untersuchtes Phänomen

• Menschen tendieren dazu sich der jeweiligen Gruppe anzupassen (normative Tendenz) um die Erwartungen der Gruppe zu erfüllen und Anerkennung zu erlangen

• Dieser Normalitätsforderung ist für Hörgeschädigte kaum zu erfüllen

Psychosoziale Folgereaktionen

Dr. Dipl.-Psych. Wolfgang Wirth 17.04.2012

• Menschen haben eine Neigung zu dispositionalen Attributionen und nicht zu

• Situativen Erklärungen • Die spezifischen situativen Bedingungen

von hörgeschädigten Menschen werden von nicht Betroffenen und nicht Informierten in der Regel nicht erkannt

• Vorurteile und Stereotype sind die Folge:• Was er hören soll hört er nicht und was er

nicht hören soll hört er• Misstrauisch, schwierig, komisch

Psychosoziale Folgereaktionen

Dr. Dipl.-Psych. Wolfgang Wirth 17.04.2012

• Hörgeschädigte Kinder fühlen sich häufig in ihren Familien kommunikativ ausgeschlossen

• Hörende Familienmitglieder schätzen in der Regel die kommunikative Teilhabe hörgeschädigter Kinder und Jugendliche deutlich positiver ein als diese selbst

• Altersschwerhörige Menschen entwickeln häufig ebenfalls ein soziales Rückzugsverhalten

Psychische Entwicklung

Psychosoziale Folgereaktionen

Dr. Dipl.-Psych. Wolfgang Wirth 17.04.2012

• Nach Mead ist der Kern des Selbst, die Identität das Ergebnis eines kommunikativen Austauschprozesses mit seiner sozialen Umgebung

• „Das Selbst ist etwas, das sich entwickelt; es ist bei der Geburt anfänglich nicht vorhanden, entsteht aber innerhalb des gesellschaftlichen Erfahrungs- und Tätigkeitsprozesses, das heißt im jeweiligen Individuum als Ergebnis seiner Beziehungen zu diesem Prozess als Ganzem und zu anderen Individuen innerhalb dieses Prozesses“

Psychische Entwicklung

Psychosoziale Folgereaktionen

Dr. Dipl.-Psych. Wolfgang Wirth 17.04.2012

• Voit (1982) kommt im Hinblick auf die Identitätsentwicklung Hörgeschädigter zu dem Schluss, daß ein Mensch der die Sprache der ihn umgebenden Gemeinschaft nicht versteht, sich notgedrungen als beziehungsgestört erweist

• Entscheidend ist nach Voit auch daß die Beziehung zwischen einem sprachlichen Äußerungsakt und dessen kommunikativer Funktion nicht einheitlich ist

• Durch die Auswertung des Kontexthorizontes und die Fähigkeit parasprachliche und außersprachliche Phänomene auszuwerten, kann es jedoch zu einem Verständnis und dadurch zu einer Einbindung des Hörgeschädigten Menschen kommen

Psychische Entwicklung

Psychosoziale Folgereaktionen

Dr. Dipl.-Psych. Wolfgang Wirth 17.04.2012

• Spannungsfeld zwischen • nicht verstehender Anpassung• ständiger kommunikativer Überforderung • Furcht vor Stigmatisierung• Versuch nicht behindert erscheinen • Verstecktaktik• Kommunikativer Zusammenbruch

Psychosoziale Kernthematik Hörgeschädigter

Psychosoziale Folgereaktionen

Dr. Dipl.-Psych. Wolfgang Wirth 17.04.2012

• Einen Kompromiss zwischen sozialem Rückzug und

kommunikativ überfordernder ungenügender, frustrierender sozialer Teilhabe zu finden ist schwierig

• Er ist täglicher Balanceakt, der physisch und psychisch Kraft kostet

• Volle kommunikative und soziale Teilhabe nur schwer zu erreichen

• Insbesondere Teilnahme an Gruppenprozessen (z.B. Familientreffen) mit Hörenden schwierig

• Nur durch besondere Voraussetzungen und Bedingungen möglich

Psychosoziale Kernthematik Hörgeschädigter

Psychosoziale Folgereaktionen

Dr. Dipl.-Psych. Wolfgang Wirth 17.04.2012

Einflussfaktoren auf die Verarbeitung einer Hörschädigung

• Die Möglichkeiten mit der Belastung durch eine Hörbehinderung umzugehen sind sehr unterschiedliche. Sie hängen ab von

• 1. dem Ausmaß der Hörschädigung • 2. dem Zeitpunkt des Eintretens der Hörbehinderung, • 3. von begleitenden Erkrankungen • 4. dem Umfeld und den dadurch bereit gestellten

Möglichkeiten, • 5. persönlichen Fähigkeiten, Kompetenzen und

Ressourcen

Psychosoziale Folgereaktionen

Dr. Dipl.-Psych. Wolfgang Wirth 17.04.2012

Frühschwerhörigkeit

• Kampf um die Teilhabe an der hörenden Welt ein wichtiges Lebensthema

• Je nach Sozialisation wird eine Verstecktaktik benützt, oder es kann auch der offensive Umgang mit der Schwerhörigkeit gelingen

Psychosoziale Folgereaktionen

Dr. Dipl.-Psych. Wolfgang Wirth 17.04.2012

Spät- und Altersschwerhörigkeit

• Bei spätschwerhörigen und alterschwerhörigen Menschen geht es in vielen Fällen um die Akzeptanz der Schwerhörigkeit

• Der Betroffene muss zuallererst anerkennen, dass er schwerhörig ist

• Dies wird in vielen Fällen nicht oder nur teilweise erreicht

• Wichtiges Thema ist der schmerzhafte Verlust sozialer Teilhabe

Psychosoziale Folgereaktionen

Dr. Dipl.-Psych. Wolfgang Wirth 17.04.2012

Traumatische Verarbeitung der Folgen einer Hörschädigung

• Die Auswirkungen einer Hörbehinderung können dramatische Ausmaße annehmen, bis hin zu traumatypischen Verarbeitungsformen (Wirth 2003, 2010)

Psychosoziale Folgereaktionen

Dr. Dipl.-Psych. Wolfgang Wirth 17.04.2012

Angst

Wiederholte Negativerfahrungen

Negative Autoattribution

Schwerhörigkeit und Traumatisierung

Modell einer traumatischen Verarbeitung der psychosozialen Folgen einer Schwerhörigkeit

Fehlendes Coping

Frühere TraumaerfahrungenFehlende Protektivfaktoren

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Eigen/Fremd- Abwertung

Tau

r

m

a

atErlebte Hilflosigkeit

Erlebte soziale Ausgrenzung

Erlebte kommunikative Ohnmacht

Mögliche (traumatische) Auswirkungen von Schwerhörigkeit

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Oberkategorien und Kategorien

Gefahr durch Nichthören

Ausgrenzung und soziale Gewalt

Bildungs- und Arbeitsplatz-schwierigkeiten

Daily hazzles

Diskriminierung und Demütigung

HNO-Symptomatik

Hörverlust Körperliche Zusatzer-krankungen

Kritische Lebens-ereignisse

Mobbing Spott und Hänseln

Schlechte Kommunikationsbedingungen

Unbekannte Kommunikations-anforderungen

Über-forderung

Stressoren

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Ergebnisse Stressoren

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Ergebnis Psychosoziale

Folgewirkungen

0

50

100

150

200

250

300

Häufigkeiten

121 85 176 253 228 19 184

Selbstw ert-

problematikScham Angst Depressivität

Fehlender social

support

Mißlingende

Kommunikation

Nichtaktzeptanz

Schw erhörigkeit

Selbstwert Scham Angst Depressivität Fehlender support

mißlingende Kommunikation Nichtaktzeptanz der Schwerhörigkeit

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Folgerungen Psycho-soziale Folgewirkungen

• Hinsichtlich der psychosozialen Folgereaktionen lässt sich ein zentrales Syndrom postulieren:

• Depressivität und erlebte fehlende soziale Unterstützung

• Scham• Selbstwertprobleme• Nichtakzeptanz der Schwerhörigkeit

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Folgerungen Psycho-soziale Folgewirkungen

• Der Kernbereich der psychosozialen Folgen von Schwerhörigkeit scheint besonders erlebte fehlende soziale Unterstützung zu sein

• Möglicherweise ist dadurch die Vulnerabilitätsschwelle gegenüber anderen traumatisierenden oder psychisch destabilisierenden Stressoren abgesenkt

• Dadurch wird nochmals deutlich, daß eine Hörschädigung als erlebte und erfahrene Kommunikationsbehinderung direkt auf das das psychosoziale Befinden durchschlagen kann

Dr. Dipl.-Psych. Wolfgang Wirth 17.04.2012

Folgerungen Psycho-soziale Folgewirkungen

• Die kommunikative Teilhabe kann eingeschränkt, bruchstückhaft irritierend und verunsichernd sein

• Mensch sein bedeutet stets auch in sozialem Austausch mit anderen sein

• Dies mögen reale andere oder erinnerte oder vorgestellte andere sein

• Ein menschliches Leben ohne diese Bezugnahme auf andere ist unmöglich

• Das bedeutet andere beeinflussen in sehr hohem Maße wie und wer wir sind

Dr. Dipl.-Psych. Wolfgang Wirth 17.04.2012

Folgerungen Psycho-soziale Folgewirkungen

• Wenn nun der reale Austausch mit anderen nicht statt hat oder sich nur in bruchstückhafter, entstellter, reduzierter abwertender Form vollzieht

• wird das (Er-) Leben dem Betroffenen dementsprechend unangenehm, unbefriedigend, einsam, schmerzhaft oder wertlos erscheinen

Dr. Dipl.-Psych. Wolfgang Wirth 17.04.2012

• Sozialpsychologie: Teilbereich der Psychologie, der sich mit

• Gesetzmäßigkeiten und Mechanismen von • Gruppenverhalten und zwischenmenschlichen

Beziehungen wissenschaftlich beschäftigt • Transfer sozialpsychologischen Wissens auf die • Thematik der Hörschädigung eröffnet fruchtbare

Einsichten

Sozialpsychologische Aspekte

Psychosoziale Folgereaktionen

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• Ingroup- Outgroupeffekte - Tendenz zur Anpassung • Diskriminierungstheorien • Sündenbockfunktion - negative Attributionsprozesse• Soziale Erwünschtheit – vs. Stigmatisierung• Soziale Vergleichsprozesse trotz ungleicher Bedingungen • Identitätsprozesse • Soziale Interaktionsprobleme im Sinne des symbolischen

Interaktionismus• Konflikt- Aggressionsforschung• Sozialer Rückzug

Sozialpsychologische Aspekte

Psychosoziale Folgereaktionen

Dr. Dipl.-Psych. Wolfgang Wirth 17.04.2012

Soziale Stressreaktion

• Maximaler sozialer Ausschluss kann bis hin zu Todesreaktionen führen

• Shocking emotional stress (Cannon)

Psychosoziale Folgereaktionen

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Mobbing

• Mobbinghandlungen dienen dazu die Selbstachtung und den Selbstwert des Betroffenen zu zerstören und seine Bedürfnisse nach Sicherheit, Schutz und Geborgenheit zu frustrieren (Leymann (1993)

• Für Schwerhörige vermutlich die häufigste stressvolle und bisweilen traumatische Erfahrung

• Der hörenden sozialen Welt am Arbeitsplatz kann nicht ausgewichen werden

Psychosoziale Folgereaktionen

Dr. Dipl.-Psych. Wolfgang Wirth 17.04.2012

• Der selbst betroffene Therapeut und prominente Vertreter eines Schwerhörigen-Empowerments Joachim Müller (2006 S. 221f) beschreibt dies eindrucksvoll so:

• „Ich empfand Kommunikation zwischen mir und meinen Gesprächspartnern oftmals wie eine Kluft..

Stigmatisierung

Psychosoziale Folgereaktionen

Dr. Dipl.-Psych. Wolfgang Wirth 17.04.2012

• Das bedeutet soviel wie wir können nicht miteinander, geschweige denn zueinander.

• Auch musste ich fast hilflos feststellen, dass ich für mich keine alternative Verhaltensform finden konnte, mit der Problematik umgehen zu können.

• So konnte ich mich nicht genauso verhalten, wie die anderen es vermeintlich erwarteten

Stigmatisierung

Psychosoziale Folgereaktionen

Dr. Dipl.-Psych. Wolfgang Wirth 17.04.2012

• Das bedeutet soviel wie wir können nicht miteinander, geschweige denn zueinander.

• Auch musste ich fast hilflos feststellen, dass ich für mich keine alternative Verhaltensform finden konnte, mit der Problematik umgehen zu können.

• So konnte ich mich nicht genauso verhalten, wie die anderen es vermeintlich erwarteten

Stigmatisierung

Psychosoziale Folgereaktionen

Dr. Dipl.-Psych. Wolfgang Wirth 17.04.2012

• Der Konformitätsdruck bekam irgendwann die Oberhand, d.h. ich habe mich mangels Alternativen verhaltenstechnisch so auf die Kommunikation eingestellt, dass es gar nicht mehr auffiel

• Ich fühlte zwischen mir und meinem Gesprächspartner einen Graben

• Diesen Graben erlebte ich mit kumulativer Erfahrung wie ein Trauma. Ich war von der ‚normalen’ Welt getrennt, ich wurde abgelehnt, diskriminiert, ich war der Beachtung nicht mehr wert

Stigmatisierung

Psychosoziale Folgereaktionen

Dr. Dipl.-Psych. Wolfgang Wirth 17.04.2012

• Ich wollte daher unbedingt diesen Graben überwinden, das Trennende aufheben:

• Dazu bot sich für mich als einziges ‚Hilfsmittel’ die Verstecktaktik an.

• In der Hoffnung, die wohl eher aus der Verzweiflung geboren war, glaubte ich, ich bräuchte mit Hilfe der Verstecktaktik den Graben nur zuzuschütten, um dann die Brücke der erfolgreichen Kommunikation auflegen zu können.

Stigmatisierung

Psychosoziale Folgereaktionen

Dr. Dipl.-Psych. Wolfgang Wirth 17.04.2012

• Obwohl dies in der Praxis so gut wie nie funktionierte,

• war die Verstecktaktik wie ein Halt, • mit dem ich zwar den Graben nicht überwinden, • jedoch meine als Gefühlsstau erlebten

Empfindungen wie • Minderwertigkeit, Hilflosigkeit, Ohnmacht und

Verzweiflung kontrollieren konnte.“

Stigmatisierung

Psychosoziale Folgereaktionen

Dr. Dipl.-Psych. Wolfgang Wirth 17.04.2012

Stigmatisierung: Verheimlichung und Verstecktaktiken

• Die Schwerhörigkeit wird negiert, aus Scham verheimlicht und versteckt, Hörhilfen nicht getragen

• Um negative soziale Erfahrungen zu vermeiden werden z.B. Gruppensituationen eher gemieden, oder aber „schweigend überstanden“

• Andere aktivere Bewältigung ist selbst reden und dadurch die Kontrolle über den Kommunikationsprozess zu behalten (siehe Krug 1993)

Psychosoziale Folgereaktionen

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• Goffman 1963: „Stigma“ • Stigma beschreibt „die Situation eines

Individuums, das von vollständiger sozialer Akzeptierung ausgeschlossen ist“

• Goffman bezeichnet stigmatisierte Personen, (darunter auch Schwerhörige), als „Die Diskreditierten und Diskreditierbaren“.

• Er beschreibt eine Politik der Informationskontrolle die von Stigmatisierung bedrohte Personen praktizieren:

Stigmatisierung

Psychosoziale Folgereaktionen

Dr. Dipl.-Psych. Wolfgang Wirth 17.04.2012

• „Die Kooperation einer stigmatisierten Person mit Normalen, in dem sie handelt, als ob ihre bekannte Andersartigkeit irrelevant und nicht beachtet wäre, ist eine Hauptmöglichkeit im Leben einer solchen Person

Stigmatisierung

Psychosoziale Folgereaktionen

Dr. Dipl.-Psych. Wolfgang Wirth 17.04.2012

Stigmatisierung Normalisierung

• Wenn jedoch ihre Andersartigkeit nicht unmittelbar offensichtlich und nicht von vornherein bekannt ist … muss die zweite Hauptmöglichkeit in ihrem Leben gefunden werden

Psychosoziale Folgereaktionen

Dr. Dipl.-Psych. Wolfgang Wirth 17.04.2012

Stigmatisierung

• Nach Goffman ist es aufgrund der • geringen Toleranz der Normalen für • die „Andern“ notwendig die • schwere Last der Anpassung und Verheimlichung

zu tragen, • um nicht Akzeptanz, Anerkennung und Sympathie

zu verlieren.

Psychosoziale Folgereaktionen

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• Raymond Hétu (Hétu et al. 1987, Hétu 1996, posthum erschienen) und seiner Arbeitsgruppe kommt das Verdienst zu den

• Stigmatisierungscharakter der Schwerhörigkeit in einer Reihe von Untersuchungen nachgewiesen zu haben, und dabei auch die

• protektive, vor negativen Auswirkungen des Stigmas bewahrende und schützende Funktion der Partner zu beleuchten. (Hétu et. al. 1994, Getty & Hétu 1994).

Stigmatisierung

Psychosoziale Folgereaktionen

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Zusammenhang zwischen Stress Coping und Ressourcen

Dr. Dipl.-Psych. Wolfgang Wirth 17.04.2012

Coping

• Drei Copingformen unterscheidbar:• 1. Problemorientiertes Coping (Hörgeräte,

Kommunikationstraining, Instruktion der Umwelt)• 2. Emotionsfokussiertes Coping

(Selbstsicherheitstraining, sich auf Metaebene beruhigen und sich die Situation klar machen, um negative Emotionen auszubremsen, soziale Unterstützung aktivieren)

• 3. Ausweichendes Coping (Rückzug in die Familie, die eigenen vier Wände)

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Selbstwirksamkeit nach Bandura

• Selbstkontrolle des Menschen ist zentrales Element

• Selbstwirksamkeit ist die Selbsteinschätzung darüber, ob die eigenen Handlungen zum Erfolg führen können

• Diese selbst zugeschriebene Kompetenzerwartung kann stimmig sein, oder auch über und unterschätzend

Coping

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Selbstwirksamkeit nach Bandura

• Selbstwirksamkeit lässt sich nach Bandura über vier verschiedenen Wege erlangen:

• 1. Direkte Erfahrungen: Erfolgreiches Meistern von Aufgaben und Herausforderungssituationen

• 2. Indirekte Erfahrungen: Über soziales Lernen und stellvertretende Erfahrung durch Beobachtung einer Modellperson wird angenommen, selbst auch über diese Kompetenz zu verfügen (schwächer als 1)

Coping

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Selbstwirksamkeit nach Bandura

• 3. Symbolische Erfahrung: Durch Kommunikation und Mitteilung anderer wird die Erwartung aufgebaut, selbst auch Kontrolle über die gewählte Situation zu haben

• 4. Gefühlserregung:Hohe bzw. niedrige körperliche Erregung angesichts einer Situation hat Rückwirkungen auf die eignen Kontrollüberzeugungen

Coping

Dr. Dipl.-Psych. Wolfgang Wirth 17.04.2012

Selbstwirksamkeit nach Bandura

• 1. Direkte Erfahrungen: Erfolgreiches Meistern von Aufgaben und Herausforderungssituationen

• 2. Indirekte Erfahrungen: Über soziales Lernen und stellvertretende Erfahrung durch Beobachtung einer Modellperson wird angenommen, selbst auch über diese Kompetenz zu verfügen (schwächer als 1)

Coping

Dr. Dipl.-Psych. Wolfgang Wirth 17.04.2012

Empowerment

• Begriff durch Bandura theoretisch ausgearbeitet• Die gesellschaftliche Dimension der

Selbstwirksamkeit• Bsp. Deutscher Schwerhörigenbund, Deutscher

Gehörlosenbund

Coping

Spezifische Copingstrategien bei Schwerhörigkeit

• Hörtaktik (Vognsen 1976): • Kommunikationstaktik – auf soziale Dynamik des

Schwerhörigen erweitert • Brücken- / Moderatorfunktion des Schwerhörigen

( Müller)• Verbesserung der kommunikativen Kompetenz• technische Hilfsmittel• Optimale Kommunikationsposition (Licht, Lärm, Pausen,

Grenzen• Nutzung alternativer Kommunikationskanäle (NVK,

Mundbild, Gebärden, Bild, Schrift)Dr. Dipl.-Psych. Wolfgang Wirth 17.04.2012

Coping

Dr. Dipl.-Psych. Wolfgang Wirth 17.04.2012

Reflexion und Bewußtheit über Kommunikationsprozesse

• Kommunikationsübungen / Kommunikationstheorie • Was ist Kommunikation? • Welche Elemente spielen gerade bei der

Schwerhörigkeit eine wichtige Rolle? • Pragmatik - oft vernachlässigter Aspekt von

Kommunkationsuntersuchungen • „Alltagsgeschäft“ der praktischen Kommunikation

mit verschiedenen Folgen aufgrund der Schwerhörigkeit

Coping

Copingkategorien der Studie Wirth 2010

Akzeptanz der Schwerhörigkeit

Empower-ment

Hörbehandlung und Hörhilfen

Kommunikationstaktik I (technisch)

Selfmonitoring Selbstunter-stützung

Soziale Unterstützung aktivieren

Stress-management

Coping

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Coping

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Coping

0

50

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350

76 109 289 112 21 25 26 225 46

Akzeptanz

schwerhörig Empower

Komm taktik I

(technisch)

Komm taktik II

(psychisch)

Metakog

Bewält

Nutzung

Hilfsangebot

Selbst-

unterstüt

soz Unterstütz

aktivier

Stress-

management

Ergebnisse Coping eigene Untersuchung

Coping

Dr. Dipl.-Psych. Wolfgang Wirth 17.04.2012

Hauptergebnisse Coping Zusammenfassung

• Kommunikationstaktik I zeigt höchste Ausprägung• Technische Hörversorgung ist von sehr hoher

Bedeutung• Soziale Unterstützung ist von sehr hoher

Bedeutung

Coping

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Folgerungen für traumatherapeutische Praxis

• Supportive Therapie• Was ist das heilende Agens bei negativen oder gar

traumatischen Kommunikationserfahrungen? • 1. Sicherheitsgefühl• 2. Kompetenzuwachs: jetzt kann / könnte die Situation

bewältigt werden, bzw. wird retrospektiv bewältigt• 3. gelingende kommunikative und soziale Erfahrungen• 4. dies kann durch symbolisches, imaginiertes und / oder • 5. realistisches tatsächliches Durchlaufen der

traumatischen Ereigniserinnerung (in-vivo-Konfrontation)

Coping

Dr. Dipl.-Psych. Wolfgang Wirth 17.04.2012

• Reflektion der eigenen Schwerhörigkeit auf einer Metaebene –

• Fähigkeit mit innerer Distanz die eigenen Bemühungen im Zusammenhang mit der Schwerhörigkeit zu

• evaluieren und dadurch auch • zielgerichtet zu steuern kann eine • entscheidende Größe bei der guten

Bewältigung einer Hörschädigung sein

Metacopingkompetenzen

Coping

Dr. Dipl.-Psych. Wolfgang Wirth 17.04.2012

Selbsthilfe, Hilfen und Bewältigungsansätze

• Positive soziale Erfahrungen innerhalb einer • stabilen, unterstützenden und sicheren Gruppe

(Gleichbetroffener) gehört zu den • heilsamsten Erfahrungen mit denen den • psychosozialen Auswirkungen von

Hörschädigungen begegnet werden kann • Gleicher unter Gleichen zu sein entspannt und

relativiert vieles

Coping

Dr. Dipl.-Psych. Wolfgang Wirth 17.04.2012

Selbsthilfe, Hilfen und Bewältigungsansätze

• Die kommunikative und dadurch auch soziale Situation ist unter Gleichen anders, selbstverständlicher, ruhiger, weniger druckvoll

• Dadurch wird es möglich erstmals Normalität mit seinem So-sein zu erleben

• Die durch Mead beschriebene Selbstentwicklung wird im Rahmen einer kommunikativ abgesicherten Umgebung möglich

Coping

Dr. Dipl.-Psych. Wolfgang Wirth 17.04.2012

Gelassenheitsgebet

• Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,  den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann,  und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.

Dr. Dipl.-Psych. Wolfgang Wirth 17.04.2012

• Bandura, A. (1977). Self-efficacy: Towards a unifying theory of behavioural change. Psychological review, 84, 191-215.

• Bandura, A. (1997). Self efficacy: The exercise of control. New York: Freeman.

• Frank, R. & La Barre, F. (2011). The first year and the rest of your life. Movement, development and psychotherapeutic change. New York: Routledge.

• Grice, H. (1993) Logik und Konversation. In Meggle, G. (Hrsg.) Handlung Kommunikation und Bedeutung. (S. 243-265) Frankfurt / Main: Suhrkamp

• Tomasello, M. (2008). Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation. Frankfurt / Main: Suhrkamp

• Voit, H. (1982). Sprachaufbau beim gestörten Kind aus der Perspektive gestörter Beziehung. Heidelberg: Schindele

• Wirth, W. (2010) Schwerhörigkeit – Trauma und Coping. Heidelberg: Median.

Literatur