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Thomas Fuchs Universität Heidelberg Leiblichkeit und Intersubjektivität. Phänomenologie und Psychopathologie Wintersemester 2015/16

Leiblichkeit und Intersubjektivität. Phänomenologie und ... · Thomas Fuchs Universität Heidelberg Leiblichkeit und Intersubjektivität. Phänomenologie und Psychopathologie Wintersemester

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Thomas Fuchs

Universität Heidelberg

Leiblichkeit und

Intersubjektivität.

Phänomenologie und

Psychopathologie

Wintersemester 2015/16

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Der emotionale Raum oder

Gefühlsraum

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Atmosphären, Stimmungen und Gefühle stellen

übergreifende Erlebnisformen dar, in denen affektive

Valenzen oder Charaktere einer jeweiligen Situation in

leiblicher Resonanz erfahren werden.

Affektiver oder Gefühlsraum

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Ausdruck und leibliche Resonanz

Der Leib ist "... ein für alle anderen Gegenstände

empfindlicher Gegenstand, der allen Tönen ihre

Resonanz gibt, mit allen Farben mitschwingt und

allen Worten durch die Art und Weise, wie er sie

aufnimmt, ihre ursprüngliche Bedeutung verleiht."

(Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 276)

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Grundstruktur des emotionalen Raums

Leibliche

Resonanz

Atmosphäre

Stimmung

Gefühlattraktiv

versus

repulsiv

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Spezielle Phänomenologie des Ausdrucks

Ausdruckscharaktere:

- Physiognomische Qualitäten, Anmutungen,

„Wesenseigenschaften“

- Synästhesien

- Gestaltverläufe, Bewegungssuggestionen

- Richtungen als Ausdruckscharaktere

Polyvalenz des Ausdrucks

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C. Gefühle

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- Appraisal-/Belief-desire-Theorie (Kognitivismus):

Wir glauben, der Löwe sei gefährlich, wollen wegrennen,

und das ist unser Gefühl von Furcht.

Emotionskonzepte

- James-Lange-Theorie:

Wir zittern nicht, weil wir uns vor dem Löwen fürchten,

sondern wir zittern, und das ist unser Gefühl von Furcht.

→ Problem: fehlende Intentionalität (“Gehalt” des Gefühls)

→ Problem: fehlende Affektivität und Selbstbetroffenheit

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Embodiment-Forschung

• eingesunkene (vs. aufrechte) Position → mehr

negative Erinnerungen (Riskind1984)

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Embodiment-Forschung

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Embodiment-Forschung

• Kontraktion der Lächelmuskeln → Cartoons

erscheinen lustiger als bei verhindertem

Lächeln (Strack et al. 1988)

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Embodiment-Forschung

• Annäherungs- (vs. Vermeidungs-) bewegung →

chinesische Schriftzeichen werden positiver

beurteilt (Cacioppo et al. 1993)

• Heiße Kaffeetasse halten → wärmerer Eindruck von

anderen Personen (Williams & Barg 2008)

• Soziale Ausschlusssituation → Raumtemperatur

als kälter empfunden (Zong u. Leonardelli 2006)

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Embodiment-Forschung

• „Hände in Unschuld waschen“ (u.a. Meier et al. 2012)

• Lähmung der Stirnrunzel-Muskeln durch Botox →

verzögertes Verständnis negativer Sätze

(Havas et al. 2010)

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Zusammenfassung Embodiment-Forschung

1. Wenn Menschen emotionsspezifische Haltungen

einnehmen, entsprechenden mimischen Ausdruck

zeigen oder Gesten ausführen,

(a) begünstigt dies die dazu gehörigen Emotionen

(b) beeinflusst dies ihre Präferenzen und Einstellun-

gen gegenüber Personen oder Gegenständen.

2. Wenn die emotionalen Ausdrucksbewegungen

gehemmt werden, behindert dies die entsprechenden

Emotionen ebenso wie die Wahrnehmung der ent-

sprechenden affektiven Qualitäten der Umgebung.

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Was sind Emotionen?

Emotionen lassen sich als affektive Antworten auf

für eine Person bedeutsame Ereignisse ansehen,

die auffällige körperliche Veränderungen hervor-

rufen und ein spezifisches Verhalten motivieren.

1) affektive Intentionalität

2) leibliche Resonanz

3) Handlungsbereitschaft

4) Funktion

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1) Affektive Intentionalität

- Emotionen betreffen das, was für eine Person

relevant und wertvoll ist.

- “affektive Angebote” oder Valenzen der Umwelt

(K. Lewin)

- Selbstaffektion, Selbstbezug

- Emotionen erschließen die affektive oder Wert-

qualität einer gegebenen Situation (Weltbezug)

ebenso wie die eigene Verfassung der fühlenden

Person angesichts dieser Situation (Selbstbezug).

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2) Leibliche Resonanz

- lokale oder generalisierte Leibempfindungen

- Haltungen, Ausdruck, Gesten

- Leib als “Resonanzkörper” (William James),

als Medium der affektiven Intentionalität

- “embodied appraisal” (Prinz 2004)

- Gefühle sind leibliche Gerichtetheiten auf

wahrgenommene affektive Valenzen.

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3) Handlungstendenzen

- E-motion (“Herausbewegung”)

- Frijda (1986): “Aktionsbereitschaften”

z.B. Annäherung, Vermeidung, Zusammensein,

Zurückweisung, Dominanz, Unterwerfung u.a.

- Grundbewegungen (Kafka 1950, De Rivera 1977):

“Selbst zum Anderen”, “Anderer zum Selbst, “Anderer

weg vom Selbst”, “Selbst weg vom Anderen”

- Emotionen haben ihre eigene Räumlichkeit; sie bilden

einen “Gefühlsraum”, der im Leib zentriert ist.

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4) Funktion

- Emotionen verwandeln das Feld von Relevanzen

und Werten → grundlegende Orientierung

- zeichnen ein Spektrum und eine Richtung möglicher

Antworten vor

- motivieren einen intentionalen Bogen zielgerichteter

Handlung

- Emotionen als leiblich empfundene Wahrnehmung einer

bedeutsamen Umwandlung der erlebten Welt, die den

Leib zur Handlung motiviert.

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Ein verkörpertes Modell der Emotionen

1. Emotionen sind spezifische Formen leiblicher

Gerichtetheit eines Subjekts auf affektive Qualitäten

und Valenzen einer gegebenen Situation.

2. Emotionen schließen zwei Komponenten leiblicher

Resonanz ein :

- eine zentripetale oder „affektive“ Komponente

- eine zentrifugale oder „emotive“ Komponente

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“Gefühlskreis”: Modell verkörperter Emotionen

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Gefühlskreis: Modell verkörperter Emotionen

Leibliche Resonanz ist die proximale, die wahrgenommene

Situation die distale Komponente der affektiven Intentionalität.

(Polanyi 1967)

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Gefühlskreis: Modell verkörperter Emotionenen

Modifikation der Leibresonanz führt zu veränderter

affektiver Wahrnehmung:

- Mangel an Resonanz → reduzierte Affektion bzw.

Wahrnehmung

affektiver Qualitäten

- modifizierte Leib-

empfindungen oder

-bewegungen

→ Zunahme

entsprechender

affektiver Wahr-

nehmung

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Gefühlskreis: Modell verkörperter Emotionen

- Mangel an Leibresonanz: z.B. bei “Körperabwehr”

(als Teil des erworbenen Habitus)

- Gesteigerte Resonanz (z.B. durch Achtsamkeit)

- Verlust der leiblichen Resonanz und Responsivität

in der Depression:

- affektive Depersonalisation

- Verlust der Interaffektivität

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“In emotions, we are moved to move”

(Sheets-Johnstone 2009)

Resümee

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Interaffektivität

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Aktuelle Konzepte der sozialen Kognition

„Theory of Mind“, „Mind-reading“, Mentalisieren:

Erschließen der verborgenen Bewusstseins-

zustände anderer durch Beobachtung „von

außen“

Empathie durch Inferenz oder Simulation

Dualismus von Innen und Außen

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Alternative:

Verkörperung als Basis sozialen Verstehens

Soziales Verstehen und Empathie beruhen auf einem

interaktiven, “zwischenleiblichen” Prozess, in den beide

Partner als verkörperte Wesen einbezogen sind.

Primäre Empathie: Zwischenleiblichkeit, Interaffektivität

Erweiterte Empathie: Perspektivenübernahme,

Sich-Hineinversetzen in den anderen

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Verkörperte Interaffektivität – Primäre Empathie

Als “E-motionen” (zu anderen hin, von ihnen weg, usw.)

sind Gefühle im Prinzip immer relational.

Unser Leib wird vom Ausdruck des anderen affiziert; wir

erfahren die Kinetik und Intensität seiner Emotionen an

unseren eigenleiblichen Kinästhesen und Empfindungen.

→ „Wechselseitige Inkorporation“

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Leibphänomenologie: Inkorporation

Einseitige Inkorporation

- Geschickter Umgang mit Instrumenten

- Faszination

- Allgemein: Ausdehnung des Leibes auf alle Objekte,

mit denen er interagiert

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Inkorporation

Wechselseitige Inkorporation

Beidseitige Ausdehnung der Körperschemata

bzw. der Leiblichkeiten

Beispiele:

- Reiter und Pferd

- Tanzendes Paar

- Blickkontakt

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Verkörperte Interaffektivität – Primäre Empathie

Wechselseitige Inkorporation

In jeder zwischenleiblichen Begegnung verknüpfen sich

zwei Kreise verkörperter Affektivität miteinander.

Dies ergibt zwei Formen von Resonanz:

- eigenleibliche Resonanz

- zwischenleibliche Resonanz

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Verkörperte Interaffektivät – Zwischenleiblichkeit

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Verkörperte Interaffektivät – Zwischenleiblichkeit

Komplementäre Resonanz

Mimetische Resonanz

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Verkörperte Interaffektivät – Zwischenleiblichkeit

„Die Kommunikation und das Verständnis von

Gesten entsteht durch die Wechselseitigkeit

zwischen meinen Intentionen und des Gesten des

anderen, zwischen meinen Gesten und den

Intentionen, die ich im Verhalten anderer

wahrnehmen kann. Es ist als ob die Intentionen des

anderen meinen Leib bewohnten, und meine

Intentionen seinen“ (Merleau-Ponty 1962).

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Verkörperte Interaffektivität

→ erfordert weder “Theory of Mind” noch

Simulation

Vielmehr vermittelt die leibliche Resonanz die

emotionale Wahrnehmung des anderen.

Andere emotional zu verstehen heißt primär

mit ihnen in non-verbaler, zwischenleiblicher

Kommunikation zu stehen.

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Der Andere im Kopf

Theory

of Mind

„Er freut

sich!“

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Affektion

Emotion

Verkörperter Ansatz

Gefühls-

kreis

freudig,

„zu umarmen“

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Interaffektivität

Zwischen-

leiblichkeit

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3) Entwicklungsstufen der Intersubjektivität

in der Kindheit:

primäre und erweiterte Empathie

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a) Primäre Intersubjektivität (1. Lebensjahr)

Angeborene

Fähigkeit zur

Ausdrucks-

Imitation

(Meltzoff & Moore 1989)

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a) Primäre Intersubjektivität

• Proto-Konversationen

(Trevarthen 1986)

• Affektabstimmung, Interaffektivität

• Musikalische Qualitäten

(„crescendo“, „decrescendo“, fließend, weich,

explosiv etc.)

• Primäre Empathie

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Implizites Beziehungswissen

(Lyons-Ruth, Stern et al. 1998)

- Entstehung interaktiver Schemata aus

gemeinsamen Interaktionssequenzen

(„schemes of interacting “)

- Zwischenleibliches Gedächtnis:

Verankerung interaktiver Erfahrungen

als Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster

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acting

Entwicklung verkörperter sozialer Wahrnehmung

Implizites

Beziehungs-

wissen

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„Still face“ experiment (Tronick 1997)

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Gemeinsame Aufmerksamkeit

(„joint attention“)

Zeigegesten als Ausdruck gemeinsamer Beziehung auf Objekte

Sekundäre Intersubjektivität

(1. – 3. Lebensjahr)

S1 S2

S1 S2

O

Dyadische Interaktion Triadische Interaktion

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Tertiäre Intersubjektivität (4./5. Lebensjahr)

Perspektivenübernahme

Distanznahme zu sich und anderen:

Selbstreflexion – „Theory of Mind“

→ Erweiterte Empathie:

„Sich-Hineinversetzen in den Anderen“

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Psychopathologie

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a) Depression als leibliche Resonanzstörung

- Leibliche Einengung und Rigidität bis zur Erstarrung

- Verlust der Schwingungsfähigkeit, Gefühlslähmung,

affektive Entfremdung

„... ein Verlust des Fühlens, eine Taubheit, die alle meine

menschlichen Beziehungen infiziert hatte. Liebe,

Beziehungen, meine Arbeit, meine Familie, meine Freunde –

all das bedeutete mir nichts mehr.“ (Solomon 2001)

- „Gefühl der Gefühllosigkeit“

- Resonanzstörung, Verlust der Interaffektivität und Empathie

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b) Frühkindlicher Autismus als primäre Störung der

Zwischenleiblichkeit

Dominierendes Paradigma: Störung der Theory of Mind-

Entwicklung

Phänomenologie:

primäre sensomotorische Integrationsstörung, fehlende

Imitation

fehlender „sozialer Sinn“, keine zwischenleibliche

„Verwandtschaft“ mit anderen

in der Folge Störungen der Perspektivenübernahme bzw.

der erweiterten Empathie

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Autismus als Störung der Zwischenleiblichkeit

„Es hat, so sagt Temple Grandin, mit einem impliziten

Wissen von sozialen Konventionen und Codes zu tun –

ein Wissen, dass jede gesunde Person aufgrund von

Erfahrungen und Begegnungen mit anderengesammelt

und gebildet. Da ihr dies fehlt, muss sie die Intentionen

und Bewusstseinszustände anderer ‚berechnen‘ und

algorithmisch explizit machen, was für uns andere einfach

zur zweiten Natur geworden ist. Sie könne nicht an dieser

„magischen Kommunikation“ teilnehmen und versuche

dies durch enormen intellektuellen Aufwand zu kompen-

sieren. Deshalb fühle sie sich oft ausgeschlossen, wie

eine Fremde“ (Sacks 1995).

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Zusammenfassung

Gefühle sind verkörperte Wahrnehmungen und

Handlungstendenzen, in denen wir die affektiven

Qualitäten und Werte einer Situation in leiblicher

Resonanz empfinden.

Soziale Wahrnehmung und Empathie beruhen

primär auf Zwischenleiblichkeit, leiblicher Resonanz,

Interaffektivität.

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Zusammenfassung

Spätere Stadien der Intersubjektivität erlauben auch

Perspektivenübernahme und Sich-Hineinversetzen in

andere.

Einer „Theory of Mind“ bedarf es aber eher in Sonder-

situationen (distanzierte Beobachtung, Missverstehen,

Täuschung – z.B. Pokerspiel)

Die Zwischenleiblichkeit bleibt die Basis der Empathie.

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Der (inter)personale Raum

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Der interpersonale Raum

"Solange der Mensch, in seinem ersten physischen

Zustande, die Sinnenwelt bloß leidend in sich

aufnimmt, bloß empfindet, ist er auch noch völlig Eins

mit derselben, und eben weil er selbst bloß Welt ist,

so ist für ihn noch keine Welt. Erst, wenn er in seinem

ästhetischen Stande sie außer sich stellt oder

betrachtet, sondert sich seine Persönlichkeit von ihr

ab, und es erscheint ihm eine Welt, weil er aufgehört

hat, mit derselben Eins auszumachen."

Schiller, Über die ästhetische Erziehung

des Menschen

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Ausgangspunkt: Perspektivität und Zentralität

Begriff der Perspektivität

Leib als „Nullpunkt“ (Husserl)

Dingwahrnehmung und „Appräsentation“

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Perspektivität

Leibniz, Monadologie:

Der unendlichen Vielheit der "einfachen Substanzen"

entsprechen „…ebensoviele verschiedene Welten, die

indes nichts andres sind, als - gemäß den

verschiedenen Gesichtspunkten jeder Monade -

verschiedene Ansichten einer einzigen" (Leibniz

Monadologie, § 57).

So ist "jede Monade auf ihre Art ein Spiegel des

Universums" (§ 63).

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Perspektivität

Nietzsche

"Unsere Bedürfnisse sind es, die die Welt auslegen;

unsere Triebe und deren Für und Wider. Jeder Trieb ist

eine Art Herrschsucht, jeder hat seine Perspektive,

welche er als Norm allen übrigen Trieben aufzwingen

möchte.“ („Morgenröthe“, 903)

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Perspektivität - Nietzsche

"Mein Auge, wie stark oder schwach es nun ist, sieht

nur ein Stück weit, und in diesem Stück webe und lebe

ich, diese Horizont-Linie ist mein großes und kleines

Verhängnis, dem ich nicht entlaufen kann. Um jedes

Wesen legt sich derart ein konzentrischer Kreis, der

einen Mittelpunkt hat und der ihm eigentümlich ist.

Ähnlich schließt uns das Ohr in einen kleinen Raum

ein, ähnlich das Getast ….“

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Perspektivität - Nietzsche

(Fts.) „Nach diesen Horizonten, in welche, wie in

Gefängnismauern, jeden von uns unsere Sinne

einschließen, messen wir nun die Welt, wir nennen

dieses nah und jenes fern, dieses groß und jenes

klein, dieses hart und jenes weich ... Wir sind in

unserem Netze, wir Spinnen, und was wir auch darin

fangen, wir können gar nichts fangen, als was sich

eben in unserem Netze fangen läßt!"

("Morgenröte", 1092f.)

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Perspektivität – Erwin Straus

„pathisches“ – „gnostisches“ Wahrnehmen

(Empfinden – Erkennen)

Raum der Landschaft – Raum der Geographie

Das Empfinden „... hört nie auf, perspektivisches

Dasein zu sein. Der Empfindende gewinnt keinen

Standpunkt außerhalb der Erscheinungswelt."

(E Straus, Vom Sinn der Sinne, 12. Aufl. 956)

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Perspektivität – Erwin Straus

"Die im Ausdrucks-Erfassen begründete Gemeinschaft packt

und verwandelt uns selbst, hält uns und engt uns ein, während

wir im Erkennen ... uns von dem Beson-deren lösen, die Weite

des Horizonts gewinnen und schließlich den Horizont sprengen.“

Aufhebung der leiblichen Zentralität:

"Will ich erkennen, will ich zu den Dingen gelangen, wie sie an

sich sind, so muss ich diese perspektivische Bindung durch-

brechen. Ich muss Distanz zu mir gewinnen, das Jetzt auflösen,

... also gleichsam aus der Mitte, in die ich beim Empfinden

gestellt bin, heraustreten, mir selbst fremd werden" (1956, 311).

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Perspektivität – Friedrich Graumann

„Phänomenologie und Psychologie der Perspektivität“,

1960

„Alles, was wir anblicken, begrenzt unseren Blick, verweist

aber zugleich als Anblick (Aspekt) auf das Übergreifende,

dessen Anblick es ist, und das als Ganzes originärer

Anschauung nicht gegeben ist. ... Der Einzelanblick ...

erweist sich als prinzipiell ungenügend, er verweist auf

weiteres zu Erblickendes, ist Motiv der sich im

kontinuierlichen 'Durchgehen' erfüllenden Wahrnehmung.

Diese motivationale Gerichtetheit 'durch' Aspekte auf

Ganze ist die Dynamik unseres Gewahrens schlechthin."

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Perspektivität – Friedrich Graumann

„Phänomenologie und Psychologie der Perspektivität“,

1960

Perspektivität erhält damit eine raumzeitliche

Verweisungsstruktur, eine "prospektive Gerichtetheit" auf

sinnvolle Ganzheiten.“

Die letzte Verweisung, von der alle anderen ihren Sinn

erhalten, ist der Horizont. "Die Struktur der Perspektivität

erweist sich demnach als horizontale Verweisungs-

Ganzheit."

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Zentralität und Perspektivität des Leibes

- Absoluter Ort, „Selbst-Mittelpunkt“

- Koppelung von Organismus und Umwelt (J. von

Uexküll), „Natürliche Weltanschauung“ (Scheler)

- Spezifische leibliche Dispositionen des „Zur-Welt-Seins“

- Abschattung, Verborgenheit des Leibes selbst

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Zentralität und Perspektivität des Leibes

Ansätze zur Aufhebung der Zentralität:

- Augenparallaxe

- Perspektivenkontrast

- Intermodale Wahrnehmung

- Sensomotorik

- Reafferenzprinzip (Holst u. Mittelstaedt 1950)

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Reafferenzprinzip: Efferenzkopie

Beispiele: Augenbewegung

Kitzeln

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Zentralität und Perspektivität des Leibes

Ansätze zur Aufhebung der Zentralität:

- Augenparallaxe

- Perspektivenkontrast

- Intermodale Wahrnehmung

- Sensomotorik

- Reafferenzprinzip (Holst u. Mittelstaedt 1950)

- Fernsinne, Externalisierung der Wahrnehmung

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Exzentrizität als Aufhebung der Zentralität

Helmuth Plessner: „Exzentrische Position“

(„Die Stufen des Organischen und der Mensch“, 1928)

„Zentrische Position“ des Tieres

Objektivität und Intersubjektivität der Wahrnehmung

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Scheler (1928): Tiere haben nur eine „Umwelt“, aber keine

„Welt“.

„Das Tier hat keine ‚Gegenstände‘: es lebt in seine Umwelt

ekstatisch hinein, die es gleichsam wie eine Schnecke ihr

Haus als Struktur überall hinträgt, wohin es geht – es

vermag diese Umwelt nicht zum Gegenstand zu machen.“

Plessner (1928): Nur die besondere Sozialität des

Menschen, seine „exzentrische Position“, verschafft ihm die

von der Realität, „... die sich offenbaren soll, geforderte

Distanz, den Spielraum, in welchem allein Wirklichkeit zur

Erscheinung kommen kann.“

Implizite Intersubjektivität der Wahrnehmung

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Gerade die Perspektivität der Wahrnehmung enthält den

Verweis auf andere Perspektiven.

Der Tisch, den ich dort sehe, ist der Gegenstand, den

gleichzeitig andere von anderen Seiten sehen könnten.

Husserl: „Horizont möglicher eigener und fremder

Erfahrung“ oder „offene Intersubjektivität“

Implizite Intersubjektivität der Wahrnehmung

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Die menschliche Wahrnehmung ist intersubjektiv

konstituiert.

Die von mir wahrgenommenen Dinge sind zugleich immer

auch für andere grundsätzlich wahrnehmbar und für eine

gemeinsame Praxis verfügbar.

Durch die implizite Teilnehmerperspektive („wir“-Per-

spektive) erhält meine subjektive Wahrnehmung ihre

prinzipielle (wenn auch im Einzelfall widerlegbare)

Objektivität.

Implizite Intersubjektivität der Wahrnehmung

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“Ob ich diesen Tisch oder diesen Baum oder dieses Stück Mauer

allein oder in Gesellschaft betrachte, immer ist der Andere da als

eine Schicht konstituierter Bedeutungen, die dem von mir betrach-

teten Gegenstand selbst angehören; kurz, als der wirkliche Bürge

seiner Gegenständlichkeit. (….) So erscheint jeder Gegenstand –

weit davon entfernt, wie bei Kant durch ein einfaches Verhältnis

zum Subjekt konstituiert zu werden – in meiner konkreten Erfah-

rung als vielwertig, er ist ursprünglich gegeben als Träger der Sys-

teme von Verweisungen auf eine unendliche Vielheit von Bewusst-

seinsindividuen; bei dem Tische und bei der Mauer entdeckt sich

mir der Andere als das, worauf sich der betrachtete Gegenstand

fortwährend beruft, und zwar genauso, wie wenn Peter und Paul

konkret in Erscheinung treten.“

(Sartre, Das Sein und das Nichts, 314)

Implizite Intersubjektivität der Wahrnehmung

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Implizite Intersubjektivität der Wahrnehmung

Alles was wir wahrnehmen und somit wir handelnd

umgehen, ist immer auch das potenziell von anderen

Wahrnehmbare oder Handhabbare und damit Teil der

gemeinsamen Welt.

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Gemeinsame Aufmerksamkeit

(„joint attention“)

Zeigegesten als Ausdruck gemeinsamer Beziehung auf Objekte

Sekundäre Intersubjektivität

(1. – 3. Lebensjahr)

S1 S2

S1 S2

O

Dyadische Interaktion Triadische Interaktion

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Echnaton, Nofretete und ihre Kinder (1345 v. Chr.)

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Joint Attention

Objekt-Triangulierung ermöglicht eine geteilte oder

„Wir-Intentionalität“, die sich auch der Wahrnehmung

mitteilt.

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Natural Pedagogy (Csriba & Gergely 2009)

Ostensive Hinweisreize (Augenkontakt, Gesten, Vokali-

sierungen) signalisieren dem Kind einen Lernkontext

(„pass auf, das ist wichtig!“), so dass es die nachfolgende,

auf ein Objekt bezogene Handlung des Erwachsenen als

bedeutsam begreift.

Jeder Schritt der Erschließung der Welt beruht auf einem

Vorrat sedimentierter Erfahrung anderer; die Dinge

empfangen für das Kind ihren Sinn aus den Interaktionen

anderer mit ihnen.

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Plessner (1928): Nur die besondere Sozialität des

Menschen, seine „exzentrische Position“, verschafft ihm die

von der Realität, „... die sich offenbaren soll, geforderte

Distanz, den Spielraum, in welchem allein Wirklichkeit zur

Erscheinung kommen kann.“

Implizite Intersubjektivität der Wahrnehmung

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„zurückbeugen, zurückbiegen, zurückwerfen“

Anlässe der Reflexion:

Überraschung, Widerstand, Entzug, Mißerfolg

Frontale, unmittelbare Umweltbeziehung

distanzierte, vermittelte Umweltbeziehung

Exzentrizität: Reflexion

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"Im Werkzeug und seinem Gebrauch ... wird

gewissermaßen das erstrebte Ziel in die Ferne

gerückt. Statt wie gebannt auf dieses Ziel hinzusehen,

lernt der Mensch von ihm 'abzusehen' - und eben

dieses Absehen wird zum Mittel und zur Bedingung

seiner Erreichung. Diese Form des Sehens ist es erst,

die das 'absichtliche' Tun des Menschen von dem

tierischen Instinkt scheidet."

(E. Cassirer, Symbol, Technik, Sprache)

Reflexion

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Extrenzität: Einheit von Zentrierung und Dezentrierung

Leib-Sein versus Körper-Haben

"utopischer Standort" (Plessner 1928)

"view from nowhere" (Nagel 1986)

Exzentrizität

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Gegenstand „als solcher“, „an sich“

Symbolische Repräsentation: „Dies ist ein Baum.“

„pathische“ → „gnostische“ Wahrnehmung

Verwandlung der lebendig-sinnlichen, aber in der

mythischen Periode der Kulturen auch noch

bedrohlich-auflösenden Welt in die Welt dinglicher

Gegenstände

Exzentrizität: Objektivierung der Gegenstände

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Im Wahrnehmen des Dinges werde ich zugleich meiner

selbst im Verhältnis zu ihm gewahr vermag meine

Situation als solche, "von oben her" zu

vergegenwärtigen.

Entfernungen-für-mich werden zu Abständen an sich

Relativierung des absoluten Hier

Raum der Landschaft → geographischer Raum

Exzentrizität: Objektivierung des Raums

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Unterschied der räumlichen Orientierung:

richtungsräumlich – geographisch

Patient von Kisker

Fall Schneider (Kurt Goldstein)

"Es ist charakteristisch für diese Kranken, dass sie, obwohl

sie sämtliche räumliche Leistungen verschiedenster Art

auszuführen vermögen, nicht imstande sind, sich über

objektive Raumverhältnisse, Richtungen, Entfernungen usw.

Rechenschaft zu geben ... Sie leben und handeln in der

Welt, aber sie haben nicht eine ihnen gegenüberstehende

Welt." (Goldstein 1931)

Exzentrizität: Objektivierung der Gegenstände

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Zukunft: leibliche Propulsivität bzw. Protensivität →

Prospektivität

Antizipation

Ambivalenz

„Wir sagen, der Hund fürchtet, sein Herr werde ihn

schlagen; aber nicht: er fürchtet, sein Herr werde ihn

morgen schlagen. Warum nicht?“ (Wittgenstein, PU §

650, S. 129).

Exzentrizität: Objektivierung der Zeit

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Vergangenheit: „Nach-Denken“, Reflexivität

explizites Gedächtnis, reflexiv

(„ich habe dies damals erlebt“)

autobiographisches Gedächtnis

Geschichtlichkeit, Lebensgeschichte

„narrative Identität“

Exzentrizität: Objektivierung der Zeit

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Vergangenheit

„Haben“ von Erlebnissen → „Behalten“ → „Erinnern“

Traumerleben

Kindheitsamnesie: nur implizites Gedächtnis

Exzentrizität: Objektivierung der Zeit

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„Innesein“:

Begleitendes reflexives Moment aller bewussten Akte

(Wahrnehmen, Fühlen, Vorstellen, Erinnern, Denken,

Handeln …)

Beispiel: intentionales (gnostisches) Moment der

Wahrnehmung

Im Sehen sieht man, dass man sieht.

Attentionalität und Intentionalität

Exzentrizität: Intentionalität

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Attentionalität: Gestaltwahrnehmung

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„Ich-Moment“ der Wahrnehmung

Subjekt-Objekt-Verhältnis

Viktor von Weizsäcker: „sinnlicher Zweifel"

"Sehe ich da, wo ich bin, oder bin ich dort, wo ich

sehe? Beides ist zutreffend, aber es gibt im Erlebnis

selbst eine Unentschiedenheit, die erst durch

nachfolgende, sekundäre Bewusstseinsakte im einen

oder im anderen Sinne entschieden, eigentlich also in

zwei gleichberechtigte Entscheidungen aufgespalten

wird." (v. Weizsäcker, Der Gestaltkreis, 1940)

Exzentrizität: Intentionalität

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„Ich-Moment“ der Wahrnehmung

Erinnern

Denken

Gefühle

Handlung

Intentionalität und Selbstreferenzialität

Aneignung des Leibes als „meinen“

(nicht: primäre Meinhaftigkeit oder Autoaffektion des Leibes)

Exzentrizität: Intentionalität

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Präreflexive Meinhaftigkeit

"Denn indem ich mir des Hungers bewusst werde, entdecke

ich ja nicht irgendeinen Hunger und mache ihn zu meinem,

so wie ich irgendein Huhn zu dem von mir gesehenen

mache, sondern ich entdecke, dass ich es bin, der Hunger

hatte, schon ehe ich mir dessen bewusst war:"

(R. Spaemann 1996)

Exzentrizität: Intentionalität

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„Innesein“:

Begleitendes reflexives Moment aller bewussten Akte

(Wahrnehmen, Fühlen, Vorstellen, Erinnern, Denken,

Handeln …)

Kant: „innerer Sinn“

Husserl: intentionale Akte sind solche, in denen "ein Ich

lebt und engagiert ist" (Husserl 1950)

Exzentrizität: Intentionalität

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Das "Ich" ist nur das intentionale Moment der Akte des

Wahrnehmens, Fühlens, Denkens, Wollens etc.,

die in ihrem Gerichtetsein auch eine Selbstreferenziali-

tät enthalten; dieses Ich-Moment ist nur in "intentio

obliqua" erfahrbar.

Exzentrizität: Intentionalität

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Interpersonalität und ihre Genese

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Genese der Exzentrizität und des interpersonalen

Raums in der frühen Kindheit

Perspektivenübernahme und Selbstbewusstsein und

Interpersonalität

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a) Primäre Intersubjektivität (1. Lebensjahr)

Angeborene

Fähigkeit zur

Ausdrucks-

Imitation

(Meltzoff & Moore 1989)

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a) Primäre Intersubjektivität

• Proto-Konversationen

(Trevarthen 1986)

• Typische Verhaltensformen:

melodische „Ammensprache“, expressive Mimik,

Augenkontakt, Begrüßungsreaktion,

• Affektabstimmung, Interaffektivität

• Musikalische Qualitäten

(„crescendo“, „decrescendo“, fließend, weich,

explosiv etc.)

"Beide Partner kennen die Schritte und die Musik

in- und auswendig und können sich daher im

Einklang miteinander bewegen (Stern 1979).

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b) Auf dem Weg zur Sprache:

Sekundäre Intersubjektivität

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Gemeinsame Aufmerksamkeit

(„joint attention“)

Zeigegesten als Ausdruck gemeinsamer Beziehung auf Objekte

Sekundäre Intersubjektivität

(1. – 3. Lebensjahr)

S1 S2

S1 S2

O

Dyadische Interaktion Triadische Interaktion

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Zeigen stammt aus unvollständiger

Greifbewegung, die von den Erwachsenen als „Bedeutung“

aufgefasst wird

Zeigen Zeichen (indogerm. >deik<, griech. deiknymi,

daktylos, lat. dicere, digitus, „digital“)

Weitere Gesten (z.B. „nein“, „ja“, ikonisch-darstellende

Gesten) als Vorstufen von Sprachgebärden

„9-Monats-Revolution“

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(c) Entwicklung der Sprache

Soziale Praxis als Bezugspunkt und Rahmen

Verknüpfung von Zeigen und Benennen

Selektion von Wortlauten

Stimme als Ablösung des Zeichens von der Bewegung

Spracherwerb in interaktiven Situationen, abhängig von

der geteilten Bedeutsamkeit

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Verneinung und Perspektivenübernahme

„Selbst-ständigkeit“

Verbot und Verneinung

Identifikation mit der Verneinung

„Negation“ der primären leiblichen Zentralität

Das Kind "inkorporiert" die Negativität der

Perspektive des Anderen und nimmt damit eine

exzentrische Position zu sich selbst ein.

Darstellung im Spiel

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Der Blick des Anderen

“Fremdenangst” (8. Monat)

Gesehen-werden von anderen – sich mit den Augen der

anderen sehen

Mirror-rouge Test (18.-20. LM)

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Der Blick des Anderen

Wahrnehmen des Blicks des Anderen

→ “Ich sehe Dich mich sehen.”

Sartre: Umkehrung der leiblichen Zentralität,

Dezentralisierung

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Selbstverborgenheit des intersubjektiven Körpers

Luigi Pirandello:

„Einer, keiner, hunderttausend“

(1926)

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Luigi Pirandello: „Einer, keiner,

hunderttausend“ (1926)

„Während ich in meinen Betrachtungen

fortfuhr, überfiel mich eine weitere

bedrückende Erkenntnis: ich war,

während ich lebte, außerstande, mich

in meinen Lebensäußerungen mir selber vorzustellen; mich so

zu sehen, wie die anderen mich sahen (…). Wenn ich mich vor

einen Spiegel stellte, kam es gleichsam zu einem Stillstand in

mir; alle Spontaneität war zu Ende, jede meiner Gesten schien

mir künstlich oder gefälscht. Ich konnte mich selber nicht leben

sehen.“

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Luigi Pirandello: „Einer, keiner,

hunderttausend“ (1926)

„Da ich mich nicht leben sehen konnte,

blieb ich mir selber fremd, das heißt,

ich war einer, den die anderen sehen

und kennen konnten; jeder auf seine

Art, aber ich nicht.“

„Ich bin dieser fremde Mensch, den ich nicht leben sehen kann,

… den nur die anderen sehen und kennen, nur ich nicht.“

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Der Blick des Anderen

faszinierender Blick

objektivierender Blick

liebender Blick