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L E I B N I Z - I N S T I T U T F Ü R M O L E K U L A R E P H A R M A K O L O G I E
2 3
Umschlag vorne:
Matthias Müller und Matthias Barone,
Karl Sydow, Inna Hoyer (links),
Gesa Albert
Umschlag hinten:
Liselotte Handel und Anja Voreck,
Sebastian Schütze
L E I B N I Z - I N S T I T U T F Ü R M O L E K U L A R E P H A R M A K O L O G I E
Das FMP ist Deutschlands einziges außeruniversitäres Forschungsinstitut für molekulare Pharmakologie. Die
wissenschaftliche Mission des Instituts besteht darin, die Vorgänge in Zellen und Organismen bis ins molekulare oder sogar atomare Detail aufzuklären und Wirkstoffe zu entwickeln, mit denen man in diese Vorgänge eingreifen und eines Tages Krankheiten heilen kann. Für dieses Ziel arbeiten Chemiker, Biologen, Bioinformati-ker, Pharmakologen, Pharmazeuten, Physiker und Medizi-ner eng zusammen. Das FMP verfügt über eine einzigartige Ausstattung und über herausragende Kompetenz auf dem Gebiet der Signaltransduktion, der Molekularen Genetik, der Strukturbiologie und der Chemischen Biologie. Diese Bereiche mit ihren einzelnen Arbeitsgruppen werden durch eine Screening-Unit ergänzt, die mit Hilfe hochentwi-ckelter Roboter unter einer riesigen Anzahl chemischer Substanzen neue Wirkstoffe aufspüren kann. Das Leibniz-Institut für Molekulare Pharmakologie (FMP) feiert 2012 sein 20jähriges Jubiläum. Das Institut entstand 1992 aus dem Institut für Wirkstofforschung der Akademi-en der Wissenschaften der ehemaligen DDR. Das FMP ist Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft. Mit sieben weiteren Berliner Leibniz-Instituten ist es administrativ im Forschungs-verbund Berlin e.V. zusammengeschlossen. Das FMP hat seinen Sitz in Berlin auf dem Campus Berlin-Buch.
Vorwort.....................................................................................................................................5
Forschen wirkt!
W I E M A N I M 21. J A H R H U N D E RT N E U E W I R K S T O F F E F I N D E T ......................................6
Teamarbeit
W I E N E R V E N Z E L L E N M I T E I N A N D E R R E D E N ..................................................................1o
Zellen unter Strom
W I E E L E K T R I Z I T ä T U N S E R I N N E N L E B E N B E S T I M M T ....................................................16
Die Vision: Eine Apotheke für Europa
W I E F O R S C H E R S I C H E U R O PAW E I T V E R N E T Z T E N ........................................................2o
Der Blick ins Innerste
W I E M A N AT O M E S I C H T B A R M A C H T ...............................................................................24
Was noch niemand zuvor gesehen hat
W I E D A S F M P W E LT W E I T D I E K L Ü G S T E N K Ö P F E A N Z I E H T ........................................28
Von der Idee zur Anwendung................................................................................................3o
Wissen weitergeben................................................................................................................31
Im Profi l.................................................................................................................................35
Impressum..............................................................................................................................36
I N H A L T
Wie elektrisiert: Durch Berührun-
gen entstehen elektrische Sig-
nale in den Nervenendigungen
(grün) zwischen den Hautzellen
(blau). Eine besondere Rolle bei
dem noch wenig verstandenen
Tastsinn spielen Kaliumkanäle in
den Sinneszellen (rot), die Forscher
des FMP entdeckt haben. Was
unser Tastsinn mit dem Gehör zu
tun hat, lesen Sie im Artikel
Zellen unter Strom auf Seite 16.
7
Liebe Leserinnen und Leser,
Was hat mein an Epilepsie erkrankter Hund mit moderner Hirnforschung gemein-
sam? Wie kann ich die Prozesse, die den Grauen Star hervorrufen, verstehen und
eines Tages behandeln? Wie können wir den Duft von Blumen wahrnehmen? Dies sind ei-
nige der Fragen, die unsere Forscher am Leibniz-Institut für Molekulare Pharmakologie
(FMP) zu beantworten suchen. Lösungen finden sie oftmals erst über Umwege und mit
Hilfe modernster Technologien, die von Verfahren der molekularen Bildgebung über gene-
tische Ansätze bis zur Chemie und biochemischen Pharmakologie reichen, und die mitunter
am Institut selbst entwickelt und verfeinert wurden. Die Helden im Abenteuer Wissenschaft
aber bleiben trotz neuester Technologien immer die Forscherinnen und Forscher, wie schon
der Physiker Werner Heisenberg in seiner Autobiographie schrieb:
„Wissenschaft wird von Menschen gemacht“.
Mit unserer neuen Broschüre möchten wir Ihnen die Wissenschaft am FMP und einige der
Wissenschaftler ein wenig näher bringen. Das Institut ist als Teil des Campus Berlin-Buch
ein wichtiger Motor in der Gesundheitsstadt Berlin. Die Entdeckungen aus unseren Labo-
ren werden vielleicht schon bald Auswirkungen auf unseren Alltag haben – auf die Behand-
lung von Erkrankungen, auf unsere Ernährungsweise, Lebenserwartung und Lebensqualität.
Wir laden Sie ein, sich zu informieren und einen Einblick in unsere Forschung zu gewinnen –
bei der Lektüre dieses Heftes, bei einem Besuch auf dem Campus Berlin-Buch anlässlich der
Langen Nacht der Wissenschaften oder jederzeit als Schüler und Lehrer in den Schülerla-
boren im Gläsernen Labor.
„Der Fortgang der wissenschaftlichen Entwicklung ist im Endeffekt
eine ständige Flucht vor dem Staunen“, notierte Albert Einstein.
In diesem Sinne staunen Sie gemeinsam mit uns!
Ihr
Volker Haucke
Prof. Dr. Volker Haucke
Direktor des Leibniz-Instituts für
Molekulare Pharmakologie
98 Schon immer haben Menschen versucht, Krankheiten oder Empfindungen mit Substan-
zen zu beeinflussen. Von den Heilmitteln des Altertums bis zu unseren modernen Arz-
neimitteln war es allerdings ein weiter Weg. Heilmittellehren, die nur auf Überlieferungen
und Erfahrungen beruhten, mussten zu wissenschaftlichen Konzepten weiterentwickelt
werden, deren Aussagen sich beweisen oder widerlegen lassen. So entstand aus der Überlie-
ferung nach und nach eine Wissenschaft – die Pharmakologie.
Es zeigte sich, dass Wirkstoffe in fast allen Fällen an bestimmte körpereigene Proteine
binden, die sogenannten Arzneimittelrezeptoren. Diese Rezeptoren erkennen normalerwei-
se körpereigene Botenstoffe, wodurch eine Antwort oder ein Effekt ausgelöst wird, z.B. die
Dämpfung des Schmerzes durch sogenannte Opioide, die unser Körper ausschüttet, wenn
der Schmerz gar zu heftig wird. Bindet aber ein von außen verabreichter Wirkstoff anstelle
des körpereigenen Botenstoffs, wird der natürliche Effekt verändert.
Anschaulich wird dieser Vorgang, wenn man die Wirkung von Betablockern auf das Herz
betrachtet. Diese weitverbreiteten Medikamente werden verschrieben, um das Herz in ei-
nen Schongang zu versetzen, was bei vielen Herzerkrankungen überlebenswichtig ist. Beta-
blocker binden an die gleichen Rezeptoren im Herzen, die normalerweise Adrenalin binden.
Dieser natürliche Botenstoff wird bei Stress oder Erregung freigesetzt und lässt das Herz
schneller und kräftiger schlagen – ein Effekt, den jeder am eigenen Körper spüren kann.
Nimmt man jedoch Betablocker ein, binden diese Wirkstoffe an die gleichen Rezeptoren
und verdrängen das Adrenalin. Dadurch wird der Herzschlag schwächer und langsamer.
Im Laufe der Jahre gelang es den Pharmakologen, die Wirkung von zunächst eher zu-
fällig entdeckten Substanzen im Körper zu verstehen. Damit tauchten allerdings neue Fra-
gen auf. Wie genau sieht ein Rezeptor aus? Was passiert mit dem Rezeptor, wenn ein Boten-
stoff oder ein Wirkstoff bindet? Welche Folgereaktionen werden im Körper ausgelöst? Und
am wichtigsten: Wie kann man weitere Rezeptoren finden und gezielt neue Wirkstoffe zur
Behandlung von Krankheiten entwickeln? Hierfür muss man den Aufbau und die Funkti-
onsweise der beteiligten Moleküle im Detail verstehen lernen – das ist durch die enormen
Fortschritte der Molekularbiologie, der Zellbiologie und der Strukturbiologie in der zwei-
ten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts möglich geworden. Auch am FMP versuchen wir,
Antworten auf diese Fragen zu finden.
Die Kosten für die Entwicklung eines neuen Arzneimittels können heute von der Forschung
bis zur Marktzulassung die gewaltige Summe von einer Milliarde Euro leicht übersteigen.
Dieses enorme Kostenrisiko hat dazu geführt, dass sich die pharmazeutische Industrie vor-
wiegend den häufig auftretenden Erkrankungen zuwendet und die Suche nach grundlegend
neuen Rezeptoren für Arzneimittel nicht mehr in voller Breite betreiben kann oder will.
Die Forscher am FMP schließen diese Lücke und betreiben die Gesundheitsforschung
von morgen, weil sie genau an diesem Punkt einsetzt. Für viele Krankheiten und gerade für
die seltenen, sind die Ursachen auf molekularer Ebene noch nicht bekannt. Entsprechend
gibt es weder Informationen über Rezeptoren noch über Wirkstoffe, die an diese binden
F O R S c H E N w I R K T !
Neue Wirkstoffe lassen die Herzen der Wissenschaftler am Leibniz-Institut für Mole-
kulare Pharmakologie höher schlagen. Wir alle nutzen Wirkstoffe täglich, etwa um die
Morgenmüdigkeit mit einer Tasse Kaffee abzuschütteln oder Kopfschmerzen rasch los-
zuwerden. Bei manchen ernsteren Erkrankungen überleben wir nur dank bestimmter
Medikamente. Was aber sind Wirkstoffe, woher kommen sie und wie greifen sie in die
Abläufe des Körpers ein?
Wie kann man gezielt
neue Wirkstoffe zur Behandlung
von Krankheiten entwickeln?
Was passiert mit einem Rezeptor,
wenn er an einen Botenstoff
bindet? Dr. Jens Furkert und
Dr. Carolin Westendorf führen
die Messungen durch.
Ziel ist es Perspektiven für die
pharmazeutische Forschung
zu eröffnen, die dann auch kom-
merziell interessant sein können.
Ergebnisoffen: Dr. Edgar Specker
und Dr. Martin Neuenschwander
untersuchen mit Hilfe auto-
matisierter Verfahren eine große
Anzahl chemischer Substanzen.
Wirkstoffe binden in fast allen
Fällen an körpereigene Proteine,
den Arzneimittelrezeptoren.
Dr. Antje Schmidt wertet ihre
Daten aus.
w I E M A N I M 2 1 . J A H R H U N D E R T
N E U E w I R K S T O F F E F I N D E T
10 11eines Botenstoffs an einen Rezeptor auch dazu führt, dass die Rezeptoren von der Oberflä-
che in das Zellinnere verlagert werden, damit eine erneute Bindung verhindert und der
Rezeptor nicht ein weiteres Mal stimuliert wird. Erleben können wir einen solchen Vorgang
beispielsweise, wenn wir einen Raum betreten, in dem ein Parfum versprüht wurde. Auch
wenn der Geruch zuerst stark ist, gewöhnen wir uns bald daran und nehmen ihn nach einer
Weile kaum noch wahr. Das liegt daran, dass die Riechrezeptoren in der Nase durch die
andauernde Präsenz des Botenstoffs (Parfum) von der Zelloberfläche entfernt werden. So
segensreich und sinnvoll dieser Prozess für unser Geruchsempfinden ist, so problematisch
kann er bei der Behandlung mit einem Arzneimittel werden, denn auch Arzneimittel kön-
nen wie Botenstoffe dazu führen, dass Rezeptoren in das Zellinnere verlagert werden. Daher
kann bei Dauergabe die Wirksamkeit eines Arzneimittels abnehmen, eine sogenannte Tole-
ranzentwicklung einsetzen.
Bisher waren keine Substanzen bekannt, die solche Verlagerungen von Rezeptoren ins
Zellinnere beeinflussen können. Vor kurzem ist es aber der Arbeitsgruppe von Volker
Haucke in Zusammenarbeit mit der Screening-Unit gelungen, einen Wirkstoff zu finden,
der diese Aufnahmeprozesse hemmen kann. Getauft wurde dieser neue Wirkstoff „Pitstop“,
weil er in der Lage ist dynamische Membrangrübchen, welche für die zelluläre Aufnahme
verantwortlich sind, in Minutenschnelle einzufrieren. Seine spezifischeren Abkömmlinge
könnten eines Tages helfen, Toleranzprozesse abzumildern oder auch die Aufnahme von
Krankheitserregern in die Zelle (z.B. Viren) zu hemmen. Dank dieser Arbeit kennt man nun
eine grundlegend neue Kombination aus Rezeptor und Wirkstoff.
Ralf Schülein
könnten. Wir entwickeln keine neuen Medikamente, doch wir erweitern das Verständnis der
molekularen Abläufe im Körper. Dadurch wollen wir Grundlagen schaffen, die der pharma-
zeutischen Forschung neue Perspektiven eröffnen, die dann auch kommerziell interessant
werden können, um in einigen Jahren in der Apotheke von morgen erhältlich zu sein.
Die wissenschaftliche Mission des Instituts ist es daher zum einen, neue Rezeptoren und
natürliche Botenstoffe aufzuspüren, und die Folgereaktionen aufzuklären, die über diese
Rezeptoren vermittelt werden. Diese Arbeiten werden in den Abteilungen Signaltransduk-
tion und Molekulare Genetik realisiert. Um Wirkstoffe entwickeln zu können, ist es aber
häufig auch wichtig, die dreidimensionale Struktur eines Rezeptors zu kennen. Das hierzu
notwendige Know-how liefert die Abteilung Strukturbiologie. Schließlich ist es notwendig,
Wirkstoffe gezielt zu verändern. Hierfür gibt es im Institut die Abteilung Chemische Biolo-
gie und eine Screening-Unit, die mit Hilfe von Robotern unter einer riesigen Anzahl che-
mischer Substanzen neue Wirkstoffe aufspüren kann.
Durch eine Zusammenarbeit der unterschiedlichen Disziplinen ist es so im letzten Jahr
gelungen, einen neuen Wirkstoff zu finden, der auf eine völlig neuartige Weise ins moleku-
lare Geschehen im Körperinneren eingreift. Seit längerem war bekannt, dass die Bindung
„Die Forscher am FMP betreiben die
Gesundheitsforschung von morgen.“
PD Dr. Ralf Schülein ist Pharmakologe
und leitet die Arbeitsgruppe Protein
Trafficking.
Die Bio-Informatikerinnen
Martyna Pawletta und Lara Kuhnke
betrachten mit speziellen Brillen
die dreidimensionale Struktur eines
Arzneimittelrezeptors.
In der Screening Unit wurde ein völlig
neuer Wirkstoff gefunden. Die Substanz mit
dem Namen „Pitstop“ ist in der Lage Auf-
nahmeprozesse in die Zelle zu stoppen.
Dr. Martin Neuenschwander und Dr. Jens von
Kries waren bei der Entwicklung dabei.
Außen Holzfassade – innen Hochtechnologie:
Der Eingang zu den Messanlagen der
Strukturbiologen. Dr. Juan M. Lopez del Amo,
Andi Mainz und Dr. Tomas Jacso bei
den Vorbereitungen für ihre Messungen.
Forscher unterschiedlicher Disziplinen konnten
gemeinsam einen Wirkstoff finden, der auf völlig neuartige Weise
in das molekulare Geschehen im Körperinneren eingreift.
131o Die Arbeit von Molekularbiologen im 21. Jahrhundert erinnert zuweilen an die Gemäl-
de der Pointilisten, findet Volker Haucke. Vor gut hundert Jahren tupften die Maler
tausende Bildpunkte in unterschiedlichen Farben auf die Leinwand – erst wenn man einige
Schritte zurücktritt, erkennt man das gesamte Bild. Beschäftigt man sich mit den Einzelhei-
ten einer lebenden Zelle, dann können die vielen verschiedenen Moleküle, die Haucke und
seine Mitarbeiter erforschen, zunächst schwindeln lassen. Tritt man aber einen Schritt zu-
rück, dann wird zunehmend Sinn in dem komplexen Gemenge erkennbar. Aus den vielen
Einzelpunkten formen sich Molekülkomplexe, Zellstrukturen und schließlich Nervenzellen,
die in regem Austausch miteinander stehen. Einzelne Momentaufnahmen lassen sich bereits
zu kurzen Filmen zusammensetzen. Damit erhält man Einblick in ein dynamisches Gesche-
hen, das Sinneswahrnehmungen und kognitive Fähigkeiten überhaupt möglich macht – und
in dem Fehlfunktionen zu Krankheit und Tod führen können.
Nahaufnahmen aus lebenden Zellen gewinnen die Wissenschaftler mit hochauflösen-
den Fluoreszenz-Mikroskopen, deren Entwicklung im vergangenen Jahrzehnt rasante Fort-
schritte gemacht hat. Mithilfe fluoreszierender Farbstoffe kann man je nach Bedarf einzelne
Bestandteile der Zelle aufleuchten lassen, ohne die natürlichen Abläufe zu stören. Die Ent-
wicklung hin zu immer noch genaueren Details ist noch lange nicht abgeschlossen. Der
Physiker Jan Schmoranzer hat mit seinem Team gerade eine Arbeitsplattform für ein hoch-
auflösendes „STORM/PALM-Mikroskop“ entwickelt. Hier können die Forscher bei einer
Auflösung von bis zu 2o Nanometern (ein Nanometer entspricht einem Millionstel Millime-
ter) selbst feinste Strukturen der Zelle in verschiedenen Farben und im dreidimensionalen
Raum sichtbar machen. „Wir sind inzwischen so weit, dass unter bestimmten Bedingungen
einzelne Moleküle sichtbar werden“, sagt Jan Schmoranzer.
TA U S E N D S T R O M S T Ö S S E P R O S E K U N D E
Blickt man mit einem Fluoreszenz-Mikroskop in das Gewebe des menschlichen Gehirns,
dann findet man in vielen Nervenzellen zum Beispiel ein Eiweiß-Molekül namens Intersectin.
Das Protein, das bei Menschen mit Down-Syndrom in Übermengen hergestellt wird, befin-
det sich bevorzugt in der Nähe von Synapsen – das sind jene Bereiche, in denen Nervenzel-
len untereinander Kontakt aufnehmen. Die Nervenzellen berühren sich nicht, sondern sind
durch einen winzigen Spalt voneinander getrennt und kommunizieren durch chemische
Botenstoffe, die Neurotransmitter. Jede Nervenzelle hält einen Vorrat von Neurotransmit-
tern bereit, die in winzigen Bläschen – den Vesikeln – verpackt sind. Sobald ein elektrisches
Signal die Synapse erreicht, verschmelzen die Vesikel mit der Außenhaut der Zelle, die Neu-
rotransmitter werden ausgeschüttet. Im Extremfall wird eine Nervenzelle in einer Sekunde
von bis 1ooo Stromstößen durchpulst, und jedes Mal schleudert sie erneut Neurotransmit-
ter nach außen.
Mit Hilfe von hochauflösenden Fluoreszenz-Mikroskopen können Volker Haucke und
sein Team Vorgänge in lebenden Zellen beobachten. Damit können die Wissenschaft-
ler zum Beispiel aufklären, wie die Synapsen von Nervenzellen ihre erstaunlichen Leis-
tungen vollbringen können.
Mit dem Spinning-Disc-
Konfokalmikroskop beobachten
Dr. Natalia Kononenko und
Prof. Dr. Volker Haucke die
Vorgänge in lebenden Zellen
in Echtzeit.
Blick in die Zelle:
Dr. Natalia Kononenko und
Prof. Dr. Volker Haucke
bei der Arbeit.
Volker Haucke ist Direktor des
FMP. Er leitet die Abteilung
Signaltransduktion und
die Arbeitsgruppe Membran-
biochemie und Molekulare
Zellbiologie.
T E A M A R B E I T
w I E N E R V E N Z E L L E N
M I T E I N A N D E R R E D E N
14 15
Ein speziell von Dr. Jan Schmoranzer
und Dipl.-Physiker André Lampe
gebautes Lasersystem dient der An-
regung von fl uoreszierenden Farb-
stoffen, um mit hochaufl ösender
Mikroskopie einzelne Proteine, die
Bausteine der Zelle, sichtbar zu
machen.
16 17Damit dieser Prozess funktionieren kann, müssen die Vesikel fortlaufend recycelt und mit
frischen Neurotransmittern beladen werden. „Wenn man vor einem Tiger davonläuft, darf
man schließlich nicht nach fünfzig Metern stehen bleiben, weil die Nervenzellen erschöpft
sind“, sagt Volker Haucke. Für jeden neuen Ausstoß von Neurotransmittern muss der Platz
an der Spitze der Nervenzelle freigeräumt werden, damit hier wiederum Vesikel entladen
werden können. Das Protein Intersectin, so haben Forscher der Gruppe herausgefunden,
funktioniert an dieser Stelle wie eine Art Straßenfeger, der einen Platz von Überresten einer
wilden Party säubert und somit einen Stau des Verkehrs am nächsten Tag verhindert. In
Gewebeproben aus dem Hirnstamm von Mäusen konnte die Gruppe zeigen, welche Auswir-
kungen es in manchen Nervenzellen hat, wenn man Intersectin mit Hilfe von Antikörpern
blockiert. Setzt man die Zellen einem starken Stimulus aus, dann haben sie sich normaler-
weise schon nach kurzer Zeit erholt und feuern bei einem erneuten Reiz fast genauso stark
wie zuvor. Blockiert man aber Intersectin, dann stauen sich die Vesikel mit den Neurotrans-
mittern und die Nervenleitung wird unterbrochen.
Die extreme Ausdauerleistung von Nervenzellen ist zum Beispiel notwendig, damit wir
überhaupt in der Lage sind, die enorme Bandbreite der Sinnesreize zu verarbeiten, mit de-
nen wir konfrontiert werden. Ob man in eine gleißende Sommerlandschaft blickt oder in
den dunklen Sternenhimmel, einen Donnerschlag hört oder ein leises Rascheln – unsere
Nervenfasern müssen hochsensibel reagieren und zuverlässig eine Botschaft übermitteln. In
anderen Fällen ist eine eher widerwillige Reaktion der Nervenzellen sinnvoll, etwa wenn bei
verschiedenen, gleichzeitig eintreffenden Signalen nur ein Impuls im Gehirn entstehen soll.
Hier spielt dann das Eiweiß „Stonin 2“ eine Rolle – ein weiteres der vielen Moleküle, die
Volker Haucke und seine Mitarbeiter erforschen. Der Name leitet sich vom englischen
„stoned“ ab: Fruchtfliegen, bei denen dieses Protein defekt ist, erstarren wie versteinert. Auch
Stonin, so hat es die Gruppe gezeigt, ist ein Bestandteil jener Maschinerie von Nervenzellen,
mit der Vesikel recycelt und so frische Neurotransmitter bereitgehalten werden. Man findet
es nicht nur bei Insekten, sondern auch bei Mäusen und Menschen, doch ist die Rolle hier
subtiler als in den Fliegen. Anders als Intersectin ändert Stonin eher die Feinjustierung, die
Reizempfindlichkeit von Nervenzellen. Mutationen im Stonin-Gen spielen, so vermutet man
inzwischen, beim Tourette-Syndrom, einer neuropsychiatrischen Störung, eine Rolle.
F U R C H T L O S E M ä U S E
Um Moleküle nicht nur im Detail, sondern auch das ganze Bild betrachten zu können, ent-
wickelt die Gruppe von Volker Haucke Maus-Mutanten, bei denen gezielt die Funktion
einzelner Proteine gestört wird. „Auf diese Weise bekommen wir einen ganz neuen Blick auf
neurologische Probleme wie Epilepsie“, sagt die Molekularbiologin Tanja Maritzen. Mäuse
können ohne Stonin leben, zeigen aber überraschende Verhaltensauffälligkeiten: „Ohne das
Protein in den Nervenenden sind die Mäuse neugieriger und furchtloser“, ergänzt ihre Kol-
legin, die Neurobiologin Natalia Kononenko.
Dank dem zunehmenden Verständnis der Abläufe in den Zellen können die Wissen-
schaftler auch beginnen, mit neuen Wirkstoffen gezielt einzugreifen. In Zusammenarbeit
mit den Chemikern der Screening Unit des FMP hat die Gruppe gerade zwei neuartige
Substanzen ausfindig gemacht, die das Recyceln von Vesikeln in Nervenzellen und auch
Transportwege in anderen Körperzellen blockieren. Denkbar ist, dass man mit ähnlichen
Wirkstoffen bei Krankheiten wie Epilepsie einmal eine überhöhte Aktivität von Nervenzel-
len wird hemmen können.
Straßenfeger nach der Party:
Das Eiweiß Intersectin (mit Gold-
partikeln schwarz markiert) hilft
nach heftigen Nervenimpulsen,
den Platz an den Synapsen wie-
der freizuräumen. Bei Menschen
mit Down-Syndrom wird es in
Übermengen hergestellt. Elek-
tronenmikroskopische Aufnahme
von Nervenzellen einer Maus.
Teamarbeit:
Die Proteine in Nervenzellen ar-
beiten eng zusammen und bilden
so molekulare Maschinen. Hier
der „Straßenfeger“ Intersectin
(grün) mit dem „Kollegen“ AP2
(rot). Im rechten Bild überlagert.
Prof. Dr. Volker Haucke beobach-
tet genetische veränderte Frucht-
fliegen. Ihre Eigenschaften helfen,
die Vorgänge in Nervenzellen und
Synapsen zu verstehen.
18 19Ohne Elektrizität geht nichts in unserem Körper: Wenn das Herz schlägt, wenn wir
einen Ton hören, eine Berührung fühlen, einem Gedanken nachhängen oder den
Arm heben – immer fließt irgendwo im Gewebe ein kleiner elektrischer Strom. Damit das
überhaupt möglich ist, müssen Nerven- und Muskelzellen beständig wie kleine Batterien
aufgeladen sein. Diese messbare, exakte physikalische Funktion wird von Biomolekülen in
mannigfacher Gestalt erzeugt – und an eben dieser Schnittstelle ist der Physiker und Medi-
ziner Thomas Jentsch in seinem Element. Mit seinem Team, das sowohl am FMP als auch
am MDC (Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin) angesiedelt ist, erforscht er
die Funktionsweise der Ionenkanäle in Zellmembranen. Diese sind für Nervenimpulse und
andere grundlegende Zellfunktionen eine fundamentale Voraussetzung und spielen auch bei
vielen Krankheiten eine zentrale Rolle.
S C H W E R H Ö R I G E F Ü H L E N A N D E R S
So zum Beispiel auch bei Menschen, die an Schwerhörigkeit vom Typ DFNA2 leiden. Wie
Thomas Jentsch mit seiner Gruppe herausgefunden hat, verlieren diese Menschen im Lauf
ihres Lebens ihr Gehör, weil durch eine Mutation ein Kaliumkanal in den Sinneszellen
zerstört ist. Im Ohr schwingen feinste Härchen im Rhythmus der Schallwellen, und diese
Schwingungen führen zu einem Einstrom positiv geladener Kalium-Ionen in die Haarzel-
len. Der elektrische Strom erzeugt ein Nervensignal, das zum Gehirn weitergeleitet wird –
wir hören. Die Kalium-Ionen fließen normalerweise durch den Kanal in der Zellmembran
wieder aus den Haarzellen hinaus. Weil das bei den schwerhörigen Menschen nicht funkti-
oniert, sterben die Sinneszellen nach und nach durch Überlastung ab. Doch der defekte
Kaliumkanal hat sogar noch weitreichendere Auswirkungen: „Wir haben herausgefunden,
dass der Kaliumkanal KCNQ4 nicht nur im Ohr vorkommt, sondern auch in bestimmten
Sinneszellen der Haut“, erzählt Thomas Jentsch von einer seiner neuesten Arbeiten. „Das
hat uns auf die Idee gebracht, dass die Mutation sich auch auf den Tastsinn auswirken
könnte.“
Denn auch bei Berührungen fließt Strom und tatsächlich war bei den Schwerhörigen auch
der Tastsinn verändert, wie die Gruppe von Thomas Jentsch zusammen mit dem Labor von
Gary Lewin, einem auf Tastsinn spezialisierten Kollegen vom MDC, zeigen konnte. In un-
serer Haut gibt es unterschiedlich ausgeformte Sinneszellen – die zarten Gebilde erzeugen
bei Verformung elektrische Nervensignale. Um die Parallelen zum Hören zu verstehen, un-
tersuchten Matthias Heidenreich und Thomas Lechner genetisch veränderte Mäuse, die
exakt die gleiche Mutation in sich tragen wie die tauben Patienten. Wie sie herausfanden,
sterben die Tastrezeptoren in der Haut durch den defekten Kanal nicht wie im Ohr ab, re-
agieren aber durch die Mutation anders auf mechanische Reize: Sie sind empfindlicher für
langsame Vibrationen. Der Kaliumkanal, das Auslassventil für Kaliumionen, scheint hier
normalerweise als eine Art Filter zu funktionieren, der die Erregbarkeit der Zellen dämpft –
auf diese Weise wird die Sinneszelle wie ein Musikinstrument auf höhere Frequenzen „ge-
stimmt“. Der gleiche Effekt trat auch bei den tauben Patienten zutage: Die Menschen mit
der Mutation im Kaliumkanal konnten sehr langsame Vibrationen empfinden, die ihre ge-
sunden Geschwister noch gar nicht wahrnahmen. Durch eine Mutation in dem dämpfenden
Kaliumkanal ist das Fein-Tuning des Tastsinns verändert. „Mit dem Gen für den Kaliumka-
nal KCNQ4 haben wir zum ersten Mal ein Gen identifiziert, das die Eigenschaften des
noch wenig verstandenen Tastsinns verändert“, resümiert Thomas Jentsch.
Die Arbeitsgruppe von Thomas Jentsch erforscht Ionenkanäle in Zellmembranen.
Durch diese winzigen Kanäle werden Sinneswahrnehmungen und Nervenimpulse erst
möglich, zudem spielen die Proteine bei Stoffwechselvorgängen und vielen Krankhei-
ten eine entscheidende Rolle.
Prof. Dr. Dr. Thomas J. Jentsch ist
Mediziner und Physiker. Er leitet
die Abteilung Physiologie und
Pathologie des Ionentransports.
Wie nehmen wir Gerüche wahr?
Aufgrund der Daten von
Gwendolyn Billig, müssen die
Lehrbücher korrigiert werden.
Was haben Fühlen und Hören ge-
meinsam? Dr. Matthias Heidenreich
erforscht den Tastsinn.
Z E L L E N U N T E R S T R O M
w I E E L E K T R I Z I T ä T U N S E R
I N N E N L E B E N B E S T I M M T
20 21
V O N D E R N A S E Z U M G E H I R N
In einer anderen Arbeit hat die Gruppe gerade die Vorgänge beim Riechen untersucht und
damit eigentlich etabliertes Lehrbuchwissen widerlegt. Mit seinem Team machte Thomas
Jentsch einen lang gesuchten Ionenkanal ausfi ndig, der in den Nervenzellen der Riech-
schleimhaut sitzt und von dem man bislang dachte, dass er für den normalen Geruchssinn
unerlässlich sei. Millionen Nervenzellen bilden hier winzige Fortsätze aus, die in den Na-
senraum hineinragen und mit Rezeptoren bestückt sind. Bindet ein Duftmolekül an einen
solchen Rezeptor, dann öffnet sich in der Membran der Nervenzelle für kurze Zeit ein
Kanal, durch den positiv geladene Natrium- und Kalziumionen aus dem Nasenschleim in
die Zelle einströmen. Kalzium öffnet einen anderen Kanal, durch den wiederum negativ
geladene Chloridionen aus der Nervenzelle hinausströmen. Diese Verstärkung, so glaubte
man bislang, ist entscheidend für die empfi ndliche Auslösung der Nervensignale, die von
den Riechzellen zu den Schaltzellen im Gehirn wandern und den Geruch signalisieren.
Gwendolyn Billig gelang schließlich der Nachweis, welches der vielen Membranproteine
für den Chlorid-Einstrom verantwortlich ist. Durch genetisch veränderte Mäuse konnte sie
aber zugleich zeigen, dass die Tiere auch ohne den endlich identifi zierten Kanal normal
riechen können – und dass die molekularen Vorgänge beim Riechen somit anders ablaufen,
als man lange gedacht hatte.
Z E L LV E R D A U U N G F Ü R G E S U N D E K N O C H E N
Auch in einem anderen Fall hat Thomas Jentsch gerade etabliertes Wissen widerlegt. Mit
gleich zwei Veröffentlichungen in einer Ausgabe des Wissenschaftsmagazins „Science“ –
eine Art wissenschaftlicher Paukenschlag – zeigte er durch trickreiche Versuche, dass die
lebenswichtige intrazelluläre Verdauung anders abläuft als bisher gedacht. Innerhalb von
Zellen gibt es abgeschlossene Bereiche, in denen Abfallprodukte abgebaut werden, und wie
in unserem Magen funktioniert das nur mit starker Säure. Bislang dachte man, dass Chlorid-
kanäle, die sich in den Membranen um diese Bereiche befi nden, einzig dazu dienen, die
Ansäuerung zu unterstützen. Wie Thomas Jentsch aber zeigte, sind auch die Chloridionen
selbst für die Zellverdauung unerlässlich. Das ist in vielerlei Hinsicht medizinisch interes-
sant. So führt zum Beispiel ein Defekt in einem der verantwortlichen Chloridkanäle zur
Erbkrankheit Osteopetrose, bei der übermäßig viel mineralische Masse in die Knochen ein-
gelagert wird. „Das Verständnis der genauen Abläufe könnte nicht nur bei der Behandlung
dieser seltenen Krankheit helfen“, sagt Thomas Jentsch. „Findet man einen Wirkstoff, der
so wie die seltene Mutation den Chloridtransporter hemmt, dann hätte man womöglich ein
Mittel, das die Mineralisierung der Knochen verstärkt – und damit eines Tages ein Medika-
ment zur Behandlung der Volkskrankheit Osteoporose.“
Querschnitt durch die Nasenhöhle
einer Maus. Der lang gesuchte
Chloridkanal ist grün angefärbt.
Er sitzt in den Nervenzellen der
Riechschleimhaut.
Aufgespürt: Den Kaliumkanal
KCNQ4 (rot) brauchen wir nicht
zur zum Hören, er ist in Sinnes-
zellen der Haut auch für den
Tastsinn wichtig. Grün angefärbt
sind die Nervenzellen in der
Haut, blau die Zellkerne von
umliegenden Zellen.
232o Um Krankheiten zu heilen, brauchen Ärzte Wirkstoffe, mit denen sie in die Körperche-
mie eingreifen oder Krankheitserreger bekämpfen können. Zu Beginn der pharmako-
logischen Forschung vor etwa einhundert Jahren wurden neue Wirkstoffe eher aus Zufall
gefunden – ein berühmtes Beispiel ist Penicillin, das Alexander Fleming nur deshalb in sei-
nen Kulturschalen entdeckte, weil diese mit Pilzsporen verunreinigt waren. Auch überliefer-
tes Wissen über Naturstoffe kann eine Quelle der Inspiration sein, wie im Fall von Aspirin,
das eine chemische Abwandlung der in Weidenrinde vorkommenden Salicylsäure darstellt.
Doch trotz dieser glücklichen Funde und bei allem medizinischen Fortschritt bleiben
bis heute viele Leiden unheilbar. Diese Krankheiten werden aber in vielen Laboren auf der
Welt von Molekular- und Zellbiologen erforscht. Während man früher neue Medikamente
einsetzte, ohne ihre Wirkung wirklich zu verstehen, begreift man heute zunehmend bis ins
molekulare Detail, was bei einer Erkrankung im Körper schief läuft. Hat man dann eine
Idee, an welchem Punkt einer Krankheit beizukommen wäre, stellt sich die Frage, auf wel-
che Weise bzw. mit welchem Wirkstoff man den Organismus zurück in ein gesundes Gleich-
gewicht bringen kann. Im Prinzip haben wir bereits viele solcher potentiellen Wirkstoffe in
der Hand, denn es existieren, verstreut über die Welt, riesige Sammlungen chemischer Sub-
stanzen. Diese Stoffe sind zuweilen der Natur entnommen oder in den unterschiedlichsten
Zusammenhängen chemisch synthetisiert und aufbewahrt worden. Doch wie findet man die
Nadel im Heuhaufen? Wie kann man wissen, welcher dieser Substanzen bei einer bestimm-
ten Krankheit helfen könnte? Um unter der Vielzahl möglicher Kandidaten interessante
Wirkstoffe herauszufinden, nutzt die pharmazeutische Industrie heute ausgeklügelte Robo-
tersysteme, die in kurzer Zeit Tausende von Substanzen testen – mehr als ein Pharmakologe
in früheren Zeiten in einem ganzen Leben schaffen konnte. Eine dieser modernen Anlagen
befindet sich am FMP: Die Screening Unit verfügt derzeit über eine Sammlung von über
35.ooo chemischen Substanzen und über die erforderliche apparative Ausstattung, diese
Substanzen vollautomatisch im Hinblick auf ihre biologische Wirkung zu testen.
D E R „ H I T “ I M L A B O R
Die Wissenschaftler der Screening Unit wollen ihre Technologieplattform für die wissen-
schaftliche Grundlagenforschung zugänglich machen und unterstützen damit andere Ar-
beitsgruppen, die nach einem bestimmten Wirkstoff suchen. In viele etwa handgroße
Kunststoffplatten mit jeweils 384 Versuchsgefäßen wird dann zum Beispiel ein Enzym gege-
ben, das gehemmt werden soll, oder es wächst eine Zellkultur darin, die man auf eine be-
stimmte Weise beeinflussen will. Der Roboter gibt dann in wenigen Sekunden in jedes die-
ser Versuchsgefäße eine der Substanzen aus der Bibliothek. Eine einfache Farbveränderung
oder ein mit komplizierter automatisierter Bilderkennung sichtbares verändertes Wachs-
tumsverhalten der Zellen zeigt dann einen „Hit“ – eine Substanz, welche die gesuchte Wir-
kung hervorruft. So haben die Forscher am FMP zum Beispiel in den letzten Jahren einen
neuen Wirkstoff gefunden, der die Metastasierung von Krebszellen hemmt und der derzeit
weiterentwickelt wird.
Die Screening-Unit am FMP ist allerdings bei Weitem nicht die einzige Einrichtung
ihrer Art. Neben den riesigen Substanz-Bibliotheken der pharmazeutischen Konzerne exis-
tieren auch in anderen Ländern öffentlich finanzierte Sammlungen von Substanzen. Würde
man die Erkenntnisse aus all diesen Sammlungen miteinander kombinieren, dann könnte
man das Tempo der biotechnologischen und medizinischen Innovationen entscheidend
vorantreiben. Aus dieser Motivation heraus entstand die Idee des EU-OPENSCREEN:
Neue Wirkstoffe findet man heute durch eine systematische Suche unter Tausenden
von Substanzen. Am FMP wird derzeit das Hochtechnologie-Projekt EU-OPENSCREEN
vorbereitet, das Europa bei der Suche nach neuen Wirkstoffen vereinen soll.
Dr. Ronald Frank ist Chemiker. Er
leitet kommissarisch die Abteilung
Chemische Biologie und ist Leiter
der Forschergruppe Chemische Sys-
tembiologie. Frank ist Koordinator
des EU-Projekts EU-OPENSCREEN.
Dr. Martin Neuenschwander an
der Substanzbibliothek. Sie ent-
hält über 35.000 chemische Sub-
stanzen – darunter potentielle
Wirkstoffe für neue Medikamente.
Dr. Jens von Kries ist Biologe
und Leiter der Screening Unit.
D I E V I S I O N : E I N E A P O T H E K E
F Ü R E U R O P A
w I E F O R S c H E R S I c H
E U R O P A w E I T V E R N E T Z E N
24 25Unter der Federführung des FMP wollen sich mehrere öffentliche Einrichtungen zu einem
einzigartigen europäischen Hochtechnologie-Forschungsverbund zusammenschließen. „Wir
führen hier am FMP etwa zwanzig Untersuchungen im Jahr durch“, erklärt Ronald Frank,
der Koordinator des ambitionierten Großprojekts, das sich derzeit in der Vorbereitungspha-
se befindet. „In anderen Ländern wie Frankreich, Tschechien, Holland und Norwegen gibt
es ähnliche Arbeiten, aber das Wissen aus den vielen hunderten von verschiedenen Unter-
suchungen bleibt dort liegen.“
Die Chemische Biologie – biologische Forschung, die chemische Substanzen als Werk-
zeug benutzt – hat in den letzten zehn Jahren über die Pharmakologie hinaus viele andere
Disziplinen der Lebenswissenschaften erreicht. Chemische Substanzen werden beispiels-
weise auch im Bereich der Veterinärmedizin als Wirkstoffe gegen Tierseuchen und in der
Pflanzenphysiologie als Pflanzenschutzmittel gesucht. Gerade diese unterschiedlichen the-
matischen Ausrichtungen könnten zu unerwarteten Querverbindungen führen, wenn man
die Versuchsergebnisse vernetzen würde. „Dass zum Beispiel Weichmacher in Kunststoffen
Menschen und Tiere unfruchtbar machen können, hätte man mit vernetzten Testsystemen
möglicherweise früher feststellen können“, erläutert Ronald Frank.
V E R H A N D L U N G E N M I T Z W Ö L F M I N I S T E R N
Bevor das Großprojekt EU-OPENSCREEN starten kann, müssen aber zunächst zahllose
rechtliche, finanzielle und auch wissenschaftliche Hürden genommen werden. „Wir verhan-
deln in zwölf verschiedenen Ländern mit zwölf verschiedenen Ministerien“, so Ronald
Frank. „Jeder hat einen unterschiedlichen Ansatz, eine andere Strategie, und auch die Ver-
wertungsrechte der Forschungsergebnisse müssen geregelt werden.“ Auch für Jens Peter
von Kries, der die Screening Unit am FMP leitet, bedeutet die Öffnung hin zu Europa eine
Umstellung: „Das Layout der Versuchsanordnungen, die Formatierung der Daten inner-
halb der Datenbanken, all das muss vereinheitlicht werden, und auch wir am FMP müssen
uns dann an den europäischen Standard anpassen.“
Für die Europäische Kommission gehört das Vorhaben zu den wichtigen länderüber-
greifenden Forschungsinfrastrukturen der Zukunft. Sie fördert deshalb eine dreijährige
Vorbereitungsphase mit 3,7 Millionen Euro. Wenn alles gut geht, dann werden europäische
Wissenschaftler künftig auf die Experten am FMP zurückgreifen können, die sie je nach
Fragestellung an eine besonders geeignete Screening-Einrichtung in Europa verweisen. Die
Ergebnisse der Tests sollen dann wiederum in die gemeinsame Datenbank einfließen. Das
öffentlich finanzierte Projekt soll die Erforschung neuer, innovativer Ansätze fördern. Da-
mit können die Grundlagen für zahlreiche Anwendungen entstehen – die Therapie bisher
unheilbarer Krankheiten ist nur eine davon!
Dr. Silke Radetzki bereitet
das Screening vor.
Kunststoffplatten mit
384 Versuchsgefäßen.
Ein Robotersystem befüllt
sie automatisch.
Chris Eckert und Dr. Jens von Kries
werten das Screening aus. Innerhalb
weniger Sekunden können sie sehen,
ob ein „Hit“ dabei ist, eine Substanz,
die die gewünschte Wirkung zeigt.
26 27Besucht man zum ersten Mal das FMP, dann fallen bald zwei kleine Anbauten auf, die
sich hinter dem Hauptgebäude befinden. Um sie herum sind kräftige Dornensträucher
gepflanzt, und dieser Schutzwall ist kein Zufall: „Wir wollen verhindern, dass ein Gärtner
mit einem Rasenmäher oder anderen metallischen Werkzeugen dem Gebäude zu nahe
kommt“, sagt Hartmut Oschkinat, der Leiter der Abteilung Strukturbiologie. Auch drinnen
müssen Besucher alle Münzen, Armbanduhren und sonstige metallene Gegenstände ablegen.
Sie könnten die extremstarken Magnetfelder stören, das Herzstück der Versuche, die hier
stattfinden.
Kilometerlange dünne Fäden aus speziellen Metalllegierungen sind hier zu riesigen Spu-
len aufgedreht und werden mit flüssigem Stickstoff und Helium bis knapp über den absoluten
Nullpunkt gekühlt. Bei dieser Temperatur entfalten sie ihre supraleitenden Fähigkeiten: Ein-
mal aufgeladen, fließt in den geschlossenen Spulen ein reibungsloser, unendlicher Strom und
erzeugt ein Magnetfeld, das bis zu 5oo.ooo-mal so stark wie das irdische sein kann. Nur in
einem kleinen Bereich im Inneren der Spule ist das Magnetfeld völlig homogen. In diesem
Bereich befinden sich die Proben, deren Inhalt analysiert wird. Die Probenröhrchen durch-
messen gerade einmal vier Millimeter, doch das genügt, um dem Material die entscheidenden
Informationen zu entlocken. Buchstäblich der Kern der Dinge wird hier sichtbar: Kompli-
zierte Biomoleküle – meist Proteine, die zusammengefügt „molekulare Maschinen“ ergeben –
kann man so in atomarer Auflösung sichtbar machen und ihre Funktionsweise verstehen.
S I G N A L E D E R AT O M K E R N E
Die NMR-Spektroskopie, auf Deutsch Kernspinresonanzspektroskopie, beruht auf der Ei-
genschaft mancher Atomkerne, in einem starken Magnetfeld selbst zu kleinen Magneten zu
werden, die sich entsprechend dem äußeren Magnetfeld ausrichten. Sie lassen sich dann mit
Radiowellen bewegen, und zwar je nach chemischer Umgebung bei unterschiedlichen Wel-
lenlängen. Spezielle Meßtechniken erlauben die Ermittlung von Abständen zwischen den
Kernen, und durch komplizierte Rechenverfahren kann schließlich die Lage der Atome in-
nerhalb von Molekülen bestimmt werden.
Die NMR-Spektroskopie ist nicht die einzige Methode, mit der das möglich ist. Auch
durch Beugungsmuster von Röntgenstrahlen kann man die Struktur von Proteinen ermit-
teln – allerdings nur, wenn Proteine in einem Kristall gleichmäßig angeordnet sind. Ausge-
rechnet viele besonders interessante Biomoleküle kann man nur schwer kristallisieren. Dazu
gehören zum Beispiel die Membranproteine – das sind die Eiweißstoffe, die aus Zellen her-
ausragen und die daher einen häufig genutzten Angriffspunkt für Medikamente darstellen.
Ebenso schwer lassen sich Proteine, die größere Komplexe bilden, in regelmäßige Kristall-
strukturen zwingen.
Lebende Systeme bis ins atomare Detail betrachten – mit NMR-Spektroskopie wird
es möglich. Dies kann zur Entwicklung von maßgeschneiderten Medikamenten für an-
sonsten schwer therapierbare Erkrankungen beitragen.
Prof. Dr. Hartmut Oschkinat
ist Chemiker. Er leitet die
Abteilung Strukturbiologie
und die Forschergruppe NMR-
unterstützte Strukturbiologie
Der Kern der Dinge:
Sascha Lange, Dr. Ümit Akbey
und Dr. Barth-Jan van Rossum
bereiten eine Probe vor, die in
einem extrem starken Magnet-
feld analysiert werden soll.
Der Magnet muss in dem großen
Behälter bis knapp über dem
absoluten Nullpunkt (ca. -200 °C)
gekühlt werden.
D E R B L I c K I N S I N N E R S T E
w I E M A N A T O M E
S I c H T B A R M A c H T
28 29Zu diesen besonders spannenden Kandidaten gehört auch das AlphaB-Crystallin, dessen
Struktur Hartmut Oschkinat und sein Team gerade mittels NMR untersucht haben. Ent-
deckt wurde der transparente Eiweißstoff im Auge – hier ist er mit dafür verantwortlich,
dass unsere Linse über viele Jahrzehnte hinweg durchsichtig bleibt. AlphaB-Crystallin wird
später aber auch an vielen weiteren Schlüsselstellen im Körper gefunden. Patienten mit
Multipler Sklerose haben zu wenig davon in ihrer Rückenmarksflüssigkeit, und in ersten
Versuchen ließ sich bei Mäusen mit vergleichbaren Symptomen der Verlauf der Krankheit
bereits durch AlphaB-Crystallin umkehren. Mutationen in diesem Protein spielen zudem
eine Rolle bei anderen neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer und der Alexan-
der-Krankheit.
Generell spielt AlphaB-Crystallin im Körper die Rolle einer Zell-Polizei. Die vielen
verschiedenen lebenswichtigen Eiweißstoffe sind im Grunde nichts anderes als lange Ket-
ten aus Aminosäuren, die sich jedoch je nach Abfolge der Aminosäuren zu knäuelartigen
Gebilden zusammenballen und dadurch erst funktionsfähig werden. In manchen Fällen
aber läuft etwas schief, ein Protein faltet sich nicht richtig oder verliert die vorgesehene
Form. Diese „ungefalteten“ Proteine lagern sich zusammen und bilden für den Körper
schädliche Ansammlungen, Aggregate, die einen Aufruhr verursachen. Dann kommen Re-
paratur-Proteine wie das AlphaB-Crystallin zu Hilfe. Doch wie funktioniert ein solcher
Vorgang eigentlich?
Wie das Team um Hartmut Oschkinat inzwischen gezeigt hat, lagern sich 24 bis 32
Moleküle AlphaB-Crystallin zu einem ringförmigen Gebilde zusammen, das entfernt an
einen Fußball erinnert. Das Wesentliche dabei ist, dass diese Zusammenlagerung nicht starr
und immer gleich ist, sondern stark von den Umgebungsbedingungen abhängt. Jedes ein-
zelne Crystallin-Molekül hat die Form eines Bogens, dessen Krümmung vom pH-Wert
abhängt: Je saurer die Umgebung, desto mehr biegt sich das Molekül. Auf diese Weise
können sich die Crystallin-Moleküle unter bestimmten Bedingungen für andere Partner
öffnen. Der Crystallin-Komplex kann sich dann an aus der Form geratene andere Eiweiß-
stoffe heften und diese Zusammenlagerung verhindern.
D E R G R O S S E T R A U M V O N „ G O O G L E - C E L L “
Die Aufklärung der Struktur und Funktion eines Proteins bis zu atomarer Auflösung durch
Strukturbiologen kann man sich als Beschreibung eines Forschungsreisenden vorstellen,
der ein unbekanntes Land erkundet. Wenn man in einem solchen Land mit bloßem Auge
nur Dörfer und Städte sehen könnte, dann würde man mit einem herkömmlichen Mikros-
kop einzelne Häuser und Straßen erkennen. Mit modernen Fluoreszenz-Mikroskopen, wie
sie in der Gruppe von Volker Haucke eingesetzt werden, sähe man immerhin schon Wesen
mit Armen und Beine, die herumlaufen oder einen Ball über ein Feld spielen. Mithilfe der
NMR-Spektroskopie aber könnte man die Zeitung lesen, die eines dieser Wesen aufge-
schlagen in der Hand hält und so vielleicht erfahren, dass die Bewohner sich gerade wegen
einer Finanzkrise sorgen.
„Der große Traum, der hinter unserer Arbeit steckt, ist die Erstellung einer Art ‚Google-
Cell’ analog zu ‚Google Earth‘, mit dem man in Zukunft beliebig nahe an jedes Detail in
lebenden Organismen heranzoomen und die Vorgänge vollständig verstehen kann“, sagt
Hartmut Oschkinat. Auf diese Weise könnte man dann auch ein völlig neues Verständnis
von bislang noch rätselhaften Krankheiten gewinnen und für die Entwicklung von neuen
Wirkstoffen nutzen.
Zell-Polizei: AlphaB-Crystallin
greift im Körper ein, wenn etwas
schief gewickelt ist. Der Protein-
Komplex durchmisst nur 8 Nano-
meter (Millionstel Millimeter).
Herzstück der Versuche: In den
Nebengebäuden des FMP befinden
sich die starken Magneten für die
NMR-Spektroskopie.
Die Vorbereitung:
Liselotte Handel, Dr. Britta Kunert
und Anja Voreck präparieren ein
Eiweißmolekül, dessen Struktur
aufgeklärt werden soll.
30 31
Eines Tages wird ein herzkranker Patient vielleicht ins Krankenhaus gehen und eine
Spritze mit einem speziellen Biosensor bekommen, der sich zielgenau an besonders
gefährliche Atheriosklerose-Plaques in seinen Blutgefäßen heftet. Wenige Stunden später
wird dieser Patient dann ungiftiges Xenon-Gas einatmen, dass sich in seinem Körper verteilt
– und in einem Kernspintomografen wird der Arzt dann die exakte Position der Plaques in
den Herzkranzgefäßen erkennen können. Die Grundlagen für diese Vision entstehen der-
zeit unter der Leitung von Leif Schröder am FMP. Mit der Entwicklung der vielleicht bahn-
brechend neuen Technik des „hyperpolarisierten“ Xenon-Gases hat der junge Physiker be-
reits an der Universität von Berkeley begonnen. Bei seiner Entscheidung für das FMP waren
drei Dinge ausschlaggebend: „Ich habe hier das geeignete Umfeld, um all die neuen Tech-
niken, zum Beispiel eine leistungsstarke Laser-Apparatur, aufzubauen. Wichtig ist auch,
dass bereits andere Arbeitsgruppen mit NMR, also mit Kernspinresonanz arbeiten. Und
drittens kommt mir am FMP die Erfahrung der Chemiker bei der Entwicklung der Biosen-
soren zugute, die für die medizinische Anwendung entscheidend sind.“ Die experimentelle
Technik ist ein großes Wagnis für einen jungen Forscher, das erste Jahr haben er und zwei
Mitarbeiter allein damit verbracht, die Apparatur zur Erzeugung des hyperpolarisierten
Xenon-Gases einzurichten. Inzwischen hat er ein Team aus unterschiedlichen Fachdiszipli-
nen versammelt und leitet eine der Junior-Gruppen des Instituts. „In Berkeley haben alle
Physiker auch einmal einen Kurs an der Werkbank absolviert, das kommt mir jetzt zugute.
Die Technik, die wir hier entwickeln, ist so neu, dass wir die Komponenten dafür manchmal
selbst entwerfen müssen.“
„In lebende Zellen hineinzuschauen, ohne diese dabei zu zerstören,“ ist das erklärte Ziel von
Philipp Selenko. Mit Hilfe der hoch auflösenden Kernresonanzspektroskopie (NMR) gelingt
es seiner Arbeitsgruppe biologische Prozesse im Zellinneren mit atomarer Genauigkeit auf-
zulösen und in Echtzeit darzustellen. „Man kann das am Besten mit einem Video-Mikroskop
vergleichen, welches es uns erlaubt, mit bisher nicht gekannter Detailtreue einzelne Protei-
nen zu studieren und ihnen geradezu bei der Arbeit in ihrer natürlichen Umgebung zuzuse-
hen“, meint der Forscher, der 2oo7 von der Harvard Medical School ans FMP wechselte.
„Der Vorteil unseres ‚Mikroskops‘ liegt vor allem darin, dass zum Sichtbarmachen der Prote-
ine keinerlei chemische Veränderungen notwendig sind und wir sie somit völlig ungestört
beobachten können.“ Proteine, die an der Entstehung von Neurodegenerativen Erkrankun-
gen eine Rolle spielen, sind dabei von besonderem Interesse. Das Ziel seiner Arbeitsgruppe
ist es herauszufinden, unter welchen Bedingungen diese Proteine in neuronalen Zellen
krankheitsrelevante Veränderungen in ihren Strukturen und Funktionen auszubilden begin-
nen. „Diese initialen Stadien der Krankheitsentstehung besser verstehen zu lernen, ist für die
Entwicklung neuartiger Medikamente von fundamentaler Bedeutung,“ meint der Forscher.
Störungen in den Abläufen des Gehirns hat auch eine andere der Juniorgruppen im Blick.
Andrew Plested ist es mit seiner Gruppe gerade gelungen, den räumlichen Aufbau des Glu-
tamatrezeptors aus molekularen Untereinheiten darzustellen. Dieser Rezeptor ist bei vielen
Synapsen in unserem Gehirn für die Reizweiterleitung verantwortlich. Erreicht ein Signal
eine Nervenzelle, dann schüttet sie eine geringe Menge Glutamat aus – der Neurotransmit-
ter bindet dann an den Rezeptor an der benachbarten Zelle. Der Glutamatrezeptor ist zu-
gleich eine winzige Pore in der Zellmembran, durch die bei Aktivierung Ionen in die Zelle
strömen und so ein neues Signal auslösen. Das Team von Andrew Plested ist in der Lage, die
Aktivierung eines einzelnen Ionenkanals in Zellkulturen zu messen. Zugleich arbeiten sie
mit trickreichen, zielgerichteten Mutationen, um die molekulare Maschinerie zu verstehen.
Die Gruppe ist Teil des Exzellenzclusters NeuroCure an der Charité. „Unser langfristiges
Ziel ist es, die Rolle dieses Kanals im lebenden Gehirn zu untersuchen“, sagt Andrew Ples-
ted. „Wir möchten verstehen, welche Rolle er beim Lernen und bei Erinnerungen spielt.
Das könnte auch für die Behandlung mancher Störungen von Bedeutung sein, wie zum
Beispiel bei einem Schlaganfall: Hier wird in kurzer Zeit gefährlich viel Glutamat an den
Synapsen ausgeschüttet.“
Die jungen Wissenschaftler am FMP haben ehrgeizige Ziele. Die Hochtechnologie des
Instituts bietet ein einzigartiges Umfeld für experimentelle Techniken, mit denen man
vielleicht einmal viele Krankheiten besser verstehen wird.
w A S N O c H N I E M A N D Z U V O R
G E S E H E N H A T
Wie unterscheidet man ein kran-
kes von einem gesunden Gehirn?
Dr. Andrew Plested ist auch
Mitglied des Exzellenzclusters
NeuroCure.
Dr. Philipp Selenko:
In lebende Zellen hineinschauen,
ohne diese zu zerstören.
Für die Diagnosen der Zukunft:
Dr. Leif Schröder und
Dr. Chris Witte entwickeln eigen-
händig neue Messtechnik.
w I E D A S F M P w E L T w E I T
D I E K L Ü G S T E N K Ö P F E A N Z I E H T
333o
Für das FMP bedeutet das, den Schritt von der Grundlagen- und Wirkstoffforschung hin
zur konkreten Medikamentenentwicklung anzustoßen. Diese ist sehr aufwändig und
streng reglementiert – selbst die präklinische Phase, die alle Studien vor der Unbedenklich-
keits- und Wirksamkeitsprüfung am Menschen umfasst, kann in der Regel nicht von einer
wissenschaftlichen Arbeitsgruppe allein bewältigt werden.
Professionelle Beratung erhalten die Forscher am FMP durch eine Pharmaexpertengruppe,
deren Fokus auf der Initiierung und Begleitung Wirkstoff-orientierter Projekte liegt. Die
Technologiebewertung und -vermarktung erfolgt durch die Ascenion GmbH, die in Koope-
ration mit der Patentstelle des Forschungsverbund Berlin e.V. alle nötigen Schritte von der
Erfindungsmeldung bis zur Suche nach Verwertungs- und Kooperationspartnern in der
Wirtschaft unternimmt.
S C H M E R Z B E H A N D L U N G U N D K R E B S T H E R A P I E
Die Pharmaexpertengruppe unterstützt zur Zeit acht Projekte mit Transferpotential, darun-
ter Projekte zur Verbesserung der lokalen Schmerzbehandlung nach Operationen, zur The-
rapie der Hyperthyreose, einer krankhaften Überfunktion der Schilddrüse, oder der Hem-
mung der Metastasierung von Tumoren (Kooperation zwischen Max-Delbrück-Centrum
für Molekulare Medizin und Leibniz-Institut für Molekulare Pharmakologie). Das FMP
agiert zudem als treibende Kraft, die Wirkstofffindung und -entwicklung in der Gesund-
heitsregion Berlin-Brandenburg zu stärken. Dazu initiierte das FMP bereits vor fünf Jahren
das „Network for Drug Discovery & Development Berlin Brandenburg“, das NetDDD, ein
regionales Netzwerk akademischer Forschungsinstitute und Biotechnologie-Firmen.
Weitere Informationen finden Sie unter www.fmp-berlin.de/technologietransfer
Es liegt im öffentlichen Interesse, dass Forschungsergebnisse möglichst rasch nutzbar
gemacht werden. Noch wichtiger ist es, dass schließlich die Patienten davon profitie-
ren. Am FMP unterstützt ein professionelles Team den Transfer in die wirtschaftliche
Anwendung.
D O K T O R A N D E N A U S B I L D U N G I N D E R L E I B N I Z - G R A D U A T E
S C H O O L O F M O L E C U L A R B I O P H y S I C S B E R L I N
In Zusammenarbeit mit anderen Instituten und Universitäten konzipiert und organi-
siert das FMP ein Ausbildungsprogramm für Doktoranden in molekularer Biophysik.
Die Leibniz Graduate School of Molecular Biophysics nimmt 24 Berliner Doktoranden
aus den Fächern Biologie, Chemie, Physik oder Medizin auf, die sich in ihrer For-
schungsarbeit mit den Wechselwirkungen von Proteinen beschäftigen, also mit zentra-
len Vorgängen und Regelmechanismen in Zellen und Organismen. Dabei kann es sich
zum Beispiel um das Entstehen von viralen Infektionen handeln, oder auch um den
Entstehungsprozess einer Alzheimer-Erkrankung. Entscheidend für den Erfolg dieser
Forschung ist eine große Bandbreite an biophysikalischen Techniken, wie zum Beispiel
NMR-Spektroskopie. „Um die Komplexität biologischer Systeme besser erfassen zu
können, streben wir die Anwendung eines breiten Methodenspektrums an“, erklärt der
Koordinator Bernd Reif. Neben ihrer Forschungsarbeit besuchen die Doktoranden der
Graduate School Praktika und Seminare, und sollen damit ihr Wissen erweitern und
andere Disziplinen kennenlernen. Auf diese Weise erhalten die jungen Wissenschaftler
auch Gelegenheit, sich mit Forschern auf verwandten Gebieten zu vernetzen. „Eine
Besonderheit“, so Reif, „sind leistungsbasierte Prämien für Doktoranden: Wer eine her-
ausragende Publikation erarbeitet hat, wird dafür belohnt. Ein derartiges System kenne
ich aus keiner anderen Doktorandenausbildung.“
Die Leibniz-Graduate School war im Gründungsjahr 2oo7 die erste Graduierten-
schule der Leibniz-Gemeinschaft. Mittlerweile ist das Programm in der zweiten För-
derperiode. Die Partnereinrichtungen sind: Technische Universität Berlin, Humboldt-
Universität zu Berlin, Charité-Universitätsmedizin Berlin, Freie Universität Berlin,
Universität Potsdam, Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC).
Die Förderung junger, talentierter Studenten und Wissenschaftler ist ein zentrales An-
liegen am FMP. Am Institut werden Bachelor-, Master-, Diplom- und Doktorarbeiten
betreut.
w I S S E N w E I T E R G E B E N
Fortbildung für junge
Wissenschaftler :
Doktorand Jonas Protze
und Studentin
Die Pharmaexpertengruppe:
Prof. Dr. Matthias Bräutigam
Prof. Dr. Peter Oehme und
Dr. Birgit Oppmann beraten
bei der Vermarktung von
potentiellen Wirkstoffen.
V O N D E R I D E E Z U R A N w E N D U N G
34 35
S E M I N A R E U N D P R A K T I K A F Ü R S T U D E N T E N
In jedem Semester findet am FMP das Seminar und Praktikum „Molekulare Pharmakologie
und zelluläre Signaltransduktion“ statt (PD Dr. Ralf Schülein). Im Seminar vermitteln Wis-
senschaftler/innen aus verschiedenen Berliner Einrichtungen Grundlagenwissen (FMP,
Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin, Freie Universität Berlin, Charité – Uni-
versitätsmedizin Berlin). Während des zweiwöchigen Praktikums lernen die Studenten Me-
thoden kennen, die das gesamte Spektrum der molekularen Pharmakologie abdecken und in
dieser Form von den Universitäten nicht angeboten werden. Neben dem Design von Wirk-
stoffen und deren Zielstrukturen am Computer werden Versuche an isolierten Organen und
an lebenden Tieren durchgeführt. Das Erlernen moderner bildgebender Verfahren ist ein
weiterer Schwerpunkt des Praktikums.
D I E S C H Ü L E R V O N H E U T E S I N D D I E W I S S E N S C H A F T L E R V O N M O R G E N
Schüler für Wissenschaft zu begeistern oder sogar für ein naturwissenschaftliches Studium
zu motivieren, gelingt dann am besten, wenn sie selbst einmal erleben können, wie Forscher
arbeiten. Im Schülerlabor ChemLab schlüpfen Schüler der Oberstufe in die Rolle von Che-
mikern. Unter der Anleitung von FMP-Wissenschaftlern führen sie selbstständig Experi-
mente durch, wie sie in Schullaboren nicht möglich wären. Zur Wahl stehen drei ganztägige
Kurse, mit den Themen Coffein, Farbstoffe und Kunstoffe, die im Bildungszentrum „Glä-
sernes Labor“ auf dem Campus Berlin-Buch angeboten werden. Neben dem ChemLab gibt
es im „Gläsernen Labor“ noch die Schülerlabore GenLab und MaxLab. Mehr als 12.5oo
Schüler aus Berlin und Umgebung nehmen jedes Jahr an den Kursen teil.
Weitere Informationen finden Sie unter www.fmp-berlin.de/ausbildung
In der Rolle von Forschern:
Schüler im Schülerlabor ChemLab
37
M I TA R B E I T E R
Das Leibniz-Institut für Molekulare Pharmakologie (FMP) hat 25o Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter: 86 Wissenschaftler, 72 Doktoranden und 54 technische Angestellte. Verwal-
tungsangestellte, Techniker und IT-Spezialisten unterstützen die Arbeit der Wissenschaftler.
F I N A N Z I E R U N G U N D D R I T T M I T T E L
Das FMP bezieht seine Grundfinanzierung zu gleichen Teilen vom Bund und dem Land
Berlin. Hinzu kommt ein hoher Anteil an Drittmitteln. Diese Mittel, die vor allem bei der
Europäischen Union und der Deutschen Forschungsgemeinschaft eingeworben werden,
fließen ausschließlich in die Forschungsarbeit. Über sie werden Stellen für Wissenschaftler,
technische Angestellte und Doktoranden sowie Sachmittel finanziert.
V E R N E T Z U N G I N B E R L I N
Durch gemeinsame Berufungen und der Beteiligung seiner Wissenschaftler an wissen-
schaftlichen Projekten kooperiert das FMP eng mit der Freien Universität Berlin, der Hum-
boldt Universität zu Berlin, der Technischen Universität Berlin und der Charité-Universi-
tätsmedizin Berlin.
L E I B N I Z - G E M E I N S C H A F T
Die Leibniz-Gemeinschaft vereint 87 Einrichtungen, die anwendungsbezogene Grundla-
genforschung betreiben und wissenschaftliche Infrastruktur bereitstellen. Insgesamt be-
schäftigen die Leibniz-Einrichtungen rund 16.8oo Menschen – darunter 7.8oo Wissen-
schaftlerinnen und Wissenschaftler – bei einem Jahresetat von insgesamt knapp 1,4
Milliarden Euro.
C A M P U S B E R L I N - B U C H
Der Campus Berlin-Buch ist ein Wissenschafts-, Gesundheits- und Biotechnologiepark im
Norden von Berlin. Das Leibniz-Institut für Molekulare Pharmakologie (FMP) und das
Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC) sind auf dem Campus benachbart
und arbeiten auch thematisch eng zusammen.
I M P R O F I L
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I M P R E S S U M
H E R A U S G E B E R
Leibniz-Institut für Molekulare Pharmakologie (FMP)
im Forschungsverbund Berlin e.V.
Campus Berlin-Buch
Robert-Rössle-Str. 1o
13125 Berlin
www.fmp-berlin.de
Copyright FMP
Nachdruck nur mit Genehmigung der Redaktion sowie
Angabe der Quelle. Berlin, Januar 2o12
K O N Z E P T U N D R E D A K T I O N
Silke Oßwald
A U T O R I N
Dr. Birgit Herden
K O R R E K T O R AT
Dr. Janet Zapke, Heidi Petschick
F O T O G R A F I E
Silke Oßwald
W E I T E R E F O T O G R A F I E N
Maj Britt Hansen (S. 16, 24), Kai Bienert (S. 34)
W I S S E N S C H A F T L I C H E A B B I L D U N G E N
Dr. Matthias Heidenreich, FMP (S. 2, 19)
Gwendolyn Billig, FMP (S. 18)
Dr. Barth-Jan van Rossum, FMP (S. 27)
Dr. Oleg Shupliakov, Karolinska Institut (S. 14 oben)
Dr. Arndt Pechstein, FMP (S. 14 unten)
G R A F I K
Apfel Zet, Berlin
D R U C K
Pinguindruck, Berlin
In den Texten wird ausschließlich die grammatikalisch
männliche Form verwendet, um einen besseren Lesefluss
zu gewährleisten. Selbstverständlich sind alle weiblichen
Personen immer eingeschlossen.
U N S E R D A N K G I LT A L L E N
K O L L E G I N N E N U N D K O L L E G E N , D I E Z U M
G E L I N G E N D I E S E R B R O S c H Ü R E B E I G E T R A G E N
U N D U N S U N T E R S T Ü T Z T H A B E N !
D A S G E H E I M N I S D E R W I R K S T O F F E
I N D E R A U S S T E L L U N G
„ P I L L E N U N D P I P E T T E N “
Medikamente können Leben retten. Aber was genau steckt in ihnen? Woher stammen die Wirkstoffe und
wer findet sie? Im Deutschen Technikmuseum in Berlin zeigt das Leibniz-Institut für Molekulare Pharmakologie (FMP), was ein Forscher macht, der nach neuen Wirkstof-fen sucht. In der Dauerausstellung „Pillen und Pipetten“ wird beispielhaft ein Forschungsprojekt multimedial ver-mittelt. Schüler und Studenten lernen die Arbeitsweise der Screening-Unit am FMP kennen, dazu gibt es eine Comic-Bildergeschichte über die Suche nach Wirkstoffen.
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I M D E U T S c H E N
T E c H N I K M U S E U M
I N B E R L I N
© SDTBFoto: Musiol