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Leitlinien aus fachärztlicher Sicht
Gerd Rettig-Stürmer
Klinik für Innere Medizin
Knappschaftskrankenhaus Sulzbach
Akademisches Lehrkrankenhaus der Universität des Saarlandes
Medizinische Leitlinien
Systematisch entwickelte Entscheidungshilfen über die angemessene ärztliche Vorgehensweise bei speziellen
gesundheitlichen Problemen
(„Systematically developed statements to assist practitioner and patient decisions about appropriate health care for specific clinical
circumstances“) Institute of Medicine. Clinical practice guidelines. Directions for a new
program. Washington, DC: National Academy Press; 1990
Desirable attributes of clinical practice guidelines (CPG)
Validity, reliability and reproducibility, clinical applicability, clinical flexibility, clarity, documentation, development by a multidisciplinary process, and plans for review.
Institute of Medicine. Guidelines for Clinical Practice: From Development to Use. Washington, DC: National Academy Pr; 1992.
Medizinische Leitlinien
Orientierungshilfe im Sinne von "Handlungs- und Entscheidungskorridoren“ auf der Basis des aktuellen Wissensstandards („state of the art“)
Versuch, die steigende Informationsflut unter Zuhilfe-nahme von Expertenmeinungen zu einem praktikablen Format zu destillieren
Wissenschaftlich begründet, praxisorientiert
Instrument, Entscheidungen der medizinischen Versorg-ung auf rationale Basis zu stellen .
Übersicht Entscheidungsanalyse
sammelt Daten quantifiziert Optionen
Leitlinie Empfehlungen
Consensus-Papier Vorschläge
Qualitative Bewertung
Medizinische Leitlinien (2)
Leitlinien haben also normativen und wertenden Cha-rakter, indem sie Handlungsalternativen und einen be-grenzten Handlungsspielraum aufzeigen und vorgeben.
Bedeuten dennoch keine Programmierung nach festge-legten Standards.
Die Umsetzung liegt im Ermessensspielraum des Arztes bei der fallspezifischen Betrachtung unter Einbeziehung der Präferenzen des Patienten.
Leitlinien sind rechtlich nicht bindend und haben daher weder haftungsbegründende noch haftungsbefreiende Wirkung.
Empfehlungen der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen
Fachgesellschaften
Sinn von medizinischen Leitlinien
Qualitätsverbesserung für den individuellen Patienten
Verbesserung der medizinischen Versorgung der Bevölkerung
Vermeidung Über-Unter-Fehlversorgung
Kostenbegrenzung Liegedauer
Diagnostik
Rationelle Therapie
Resourcenverbrauch
Nutzen nicht einheitlich, da Definition von Qualität verschieden
Patient
Arzt (Krankenhaus- vs. niedergelassener, Gebiets- vs Allgemeinarzt, versch. Fachrichtungen)
Krankenhausträger
Kostenträger
Öffentliches Gesundheitswesen, Politik (IQWiG)
Gesellschaft, Öffentlichkeit, Medien
(Forschende) Pharmaindustrie
Patient - Nutzen
Steigerung der Qualität der medizinischen Versorgung Vereinheitlichung der Versorgung Wissenschaftlicher Fortschritt schneller in die Praxis
umsetzbar Bessere Möglichkeiten der Information, Auswahl, kriti-
scher Wertung durch vielfältige Mediennutzung Stärkere Einflußnahme auf Politik über Mißstände,
Unterversorgung, Ungerechtigkeiten, Wahrung der Interessen von Minderheiten
Medizinische Leistungsträger: Nutzen
Steigerung der Qualität der medizinischen Versorgung Fördert Sicherheit der Entscheidung durch rasche
autorisierte Information Fördert kritische Bestandsaufnahme des Wissens-
standes, Steuerungsfunktion Basis für Rechtfertigung gegenüber Politik, Verwaltung,
Kostenträgern Schutz bei juristischen Auseinandersetzungen Basis für professionelle Weiterbildung
Kostenträger und Öffentliches Gesundheitswesen: Nutzen
Verbesserte Effizienz der Versorgung Erhöhte Transparenz Bessere Steuerbarkeit Kostenbegrenzung durch Rationalisierung Positives Bild in der öffentlichen Meinung
Merkmale qualitativ hochstehender Leitlinien
Fachliche Kompetenz eines repräsentativen Berater-gremiums
Repräsentative Darstellung der wissenschaftlichen Belege Qualitative Wertung für praktische Entscheidungsfindung Umfassende, erschöpfende Darstellung von quantitativem
Nutzen, Risiko, praktische Voraussetzungen, Praktikabili-tät, Kosten (-effektivität), Patientenpräferenzen
Aktualität Imprimatur renommierter Fachgesellschaften Externe Qualitätskontrolle
Logische Analysedes Versorgungsablaufs, der Entscheidungsprozesse
Evidenzbasierte MedizinSystematische Recherche und Bewertung der Literatur
Formulierung der ersten StatementsLeitlinienführungsgruppe bildet den Rahmen
Erster Konsensusprozessüber die ersten Statements: Eckpunkte der Leitlinie
Outcome-AnalyseErmittlung relevanter Endpunkte, qualitative Analyse
EntscheidungsanalyseQuantitativer Vergleich der Endpunkte: Kosten, Nutzen, Risiko
Zweiter Konsensusprozessüber die veränderten Statements und den Gesamttext
Disseminierung, Implementierung, Evaluation
Auswahl des LeitlinienthemasPrioritärer Versorgungsaspekt
EbM-GruppePaare: Kliniker+ Methodiker
LeitlinienführungsgruppeAutoren, Verantwortliche
LeitliniengruppeBeteiligung aller relevanten
Professionen und Betroffenen
Externe Begutachtung, Pilottestung
Finale Formulierung der LeitlinieKurzversion, Langversion, Patientenversion, Methodikreport
Leitlinienführungsgruppeund
EbM-Gruppe
LeitliniengruppeBeteiligung aller relevanten
Professionen und Betroffenen
LeitlinienführungsgruppeAutoren, Verantwortliche
AWMF
Ergebnisse bei angemessener Befolgung von qualitativ hochstehenden Leitlinien
Adherence to guidelines is a predictor of outcome in chronic heart failure
Komajda M et al. Eur Heart J 2005;26:1653-1659
Association Between Hospital Process Performance and Outcomes Among Patients With Acute Coronary
Syndromes: CRUSADE
Peterson ED et al. JAMA 2006;295:1912-1920
Implementation of an evidence-based "standard operating procedure" and outcome in septic shock.
Kortgen A et al. Crit Care Med 2006;34:943-949
Jan – Aug 2002 Sept 2002- Aug 2003
Patient No 30 30
Dobutamine use 2/30 12/30
Glucose <150 mg/dl day 4 13/25 26/28
Hydrocortisone 13/30 30/30
rcAPC 0/30 7/30
Mortality 53% 27%
Umsetzung in der Realität ?
McGlynn EA et al. NEJM 2003;348:1635-1645
McGlynn EA et al. NEJM 2003;348:1635-1645
In Deutschland sind nur 7-22 % der Hypertoniker kontrolliert
BBK + bekannt, behandelt, kontrolliertBBK - bekannt, behandelt, nicht kontrolliertBB - bekannt, nicht behandelt
Patienten mit bekanntem, behandeltem und kontrolliertem Blutdruck in Deutschland (%)
Bevölkerungs-repräsentative Querschnittsstudie, 1997–2001; n= 3304)
2444
7
25
BBK+BBK+
BBK-
BB-
Unbek.
26
29 22
23
BBK+BBK+
BBK-BB-
Unbek.
Männer Frauen
Löwel H et al. Dtsch Med Wschr 2006; 131: 2586-2591
The EuroHeart Failure Survey programme - a survey on the quality of care among patients with heart failure in
Europe Part 2: treatment
Eur Heart J 2003;24:464-474
Rate of prescription of the major heart failure medication in the overall population (%)
Spironolactone 20.5 (5.7–58.5)
ACE inhibitors 61.8 (40–85.1)
Angiotensin II receptor antagonists 4.5 (1.9–14)
Antithrombotic therapy (any) 77.6 (57.7–92.7)
Aspirin 29.1 (27.1–73.0)
Beta-Blockers 36.9 (10.0–65.8)
Calcium channel blockers 21.2 (9.8–33.4)
Cardiac glycosides 35.7 (17.3–53.5)
Diuretics 86.9 (64.2–96.4)
IV inotropic agents 7.2 (0.5–19.5)
Nitrates 32.1 (6.3–70.6)
The EuroHeart Failure Survey programme - a survey on the quality of care among patients with heart failure in
Europe Part 2: treatment
Eur Heart J 2003;24:464-474
Was ist das Problem ?
Zwölf Arzneien in neunzehn Dosen
Hat die Medizin die betagten Menschen noch immer nicht auf der Rechnung ?
Leitlinien stiften bisher mehr Verwirrung als klare Anweisungen für die behandelnden Ärzte
FAZ, 12. Feb. 2008
Clinical Practice Guidelines and Quality of Care for Older Patients With Multiple Comorbid Diseases
Boyd CM et al. JAMA 2005;294:716-724;
Why Don't Physicians Follow Clinical Practice Guidelines? A Framework for Improvement
Cabana MD et al. JAMA 1999;282:1458-1465
Leitlinie nicht bekannt (median) 1-84 (54.5)% 78% d Erhebungen >10%
Inhalt nicht bekannt 0-89 (56.5)% 90%
Nicht einverstanden 7-85% 95%
Fachliche Interpretation
Praktikabilität
Übersimplifiziert
Einschränkung der Therapiefreiheit
Störung der Arzt-Patientenbeziehung
Unglaubwürdigkeit der Autoren
Fehlende Selbstwirksamkeitserwartung 1-65 (13)% 79%
Eingeschränkte Ergebniserwartung 8-90 (26)% 88%
Trägheit gegenüber Neuerungen 23-66 (42)% 100%
Leitlinien schwierig, mühsam, verwirrend 38%
Widerstand von Patienten 100%
Zeitmangel, Organisation, Kosten 80%
Patient – Gefahren und Nachteile
Falsche Behandlung bei pauschaler und unkritischer Übernahme von Leitlinien
Verunsicherung durch mißverständliche simplifizierte Formulierungen
Kostensteigerung Fehlsteuerung von Resourcen
Antibiotic Timing and Errors in Diagnosing Pneumonia
Welker JA et al. Arch Intern Med 2008;168:357-362
8 hrs 4 hrs
Time to first antibiotic dose
Medizinische Leistungsträger: Gefahren und Nachteile
Qualitätsverlust durch falsche, irreführende, veraltete L. Fehlende Praktikabilität durch unrealistische, praxisferne
Vorgaben Widersprüche verschiedener Fachgesellschaften Ausufernde Kosten und Bürokratie Unfaire Beurteilung durch Kostenträger, Behörden Irreführung durch ja/nein - Algorithmen bei komplexen
Situationen, simplifiziert durch willkürliche Zahlen Quelle für Kunstfehleranschuldigungen Entzug von Fördergeldern Fehlsteuerung der Forschung
Öffentliches Gesundheitswesen: Nachteile und Gefahren
Verschwendung, Fehlsteuerung von Geldern Ausufernde Bürokratie Vermehrte Kosten
Lösungsansätze
Are Guidelines Following Guidelines? The Methodological Quality of Clinical Practice Guidelines in the Peer-
Reviewed Medical Literature
Shaneyfelt TM et al. JAMA 1999;281:1900-1905.
Are Guidelines Following Guidelines? The Methodological Quality of Clinical Practice Guidelines
in the Peer-Reviewed Medical Literature
Unzureichende Beschreibung von wissenschaftlicher „Evidenz“ Kostenfaktoren Patientenpräferenzen
Standards für Leitlinien müssen beachtet werden !
Shaneyfelt TM et al. JAMA 1999;281:1900-1905.
Disseminating Innovations in Health Care
Berwick DM. JAMA 2003;289:1969-1975
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Berwick DM. JAMA 2003;289:1969-1975
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Disseminating Innovations in Health Care
Berwick DM. JAMA 2003;289:1969-1975
Diffusion of innovations
Implementierung:Interventionen zur Unterstützung der Verhaltensänderung
Gross et al.: Optimal methods for guideline implementation. Med Care 39:85-92 (2001)Bero et al.: Closing the gap between research and practice. BMJ 314:465-468 (1998)
Konsistenter Effekt Variabler Effekt Wenig / kein Effekt
Besuche vor Ort(educational outreach visit)
Audit und feedback Disseminierung
von Informationen
Erinnerungshilfen(manuell/elektronisch)
Einbindung lokaler
Meinungsführer
Passive Edukation(z.B. Vorträge)
Interaktive Edukation(Qualitätszirkel)
Lokale
Konsensusprozesse
Kombinierte Strategie(multifaceted interventions)
Patientenzentrierte
Intervention
AWMF
Hospital Treatment of Patients With Ischemic Stroke or
Transient Ischemic Attack Using the "Get With The
Guidelines" Program
LaBresh KA et al. Arch Intern Med 2008;
168:411-417
Improving Guideline Adherence: Randomized Trial Evaluating Strategies to Increase ß-Blocker Use in Heart Failure
Ansari M et al. Circulation 2003;107:2799
Improving Guideline Adherence A Randomized Trial Evaluating Strategies to Increase ß-
Blocker Use in Heart Failure
Ansari M et al. Circulation 2003;107:2799
Stewart S, Horowitz JD. Circulation 2002;105:2861-2866
Häusliche Intervention bei chronischer Herzinsuffizienz
Standardbehandlung (n=148)
Häusliche Intervention (n=149)
1115
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Medianes ereignisfreies Überleben Medianes Überleben
Standardbehandlg Häusl Intervention
Stewart S, Horowitz JD. Circulation 2002;105:2861-2866
Häusliche Intervention bei chronischer Herzinsuffizienz
Chronische Herzinsuffizienz am
Knappschaftskrankenhaus Sulzbach
Stationäre Patienten mit chronischer Herzinsuffizienz
Optimale Therapie, umfassende Information und Schulung (Arzt, Pflege, physikalische Therapie, Diätberatung) vor Entlassung
Hausbesuche und Telefonkontakte durch speziell ausgebildete Pflegefachkräfte: ua Titration von BB und ACEI zu in Leitlinien festgelegten Zieldosen
Koordination und Rückkopplung mit Hausarzt und Klinik
Dokumentation, wissenschaftliche Auswertung
Kumulative Rekrutierung unserer Patienten
0
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40
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Pa
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2004 20062005
prosper CHI-ProgrammKnappschaftskrankenhaus Sulzbach
101
2007
101 Patienten36 Frauen, 64 Männer
Alter 49-89 (m=75.8) Jahre
4nicht begonnen
(3 verstorben, 1 nicht gewünscht)
97Nachsorge begonnen
21Verstorben (22.8%)
4Ausgeschieden
72Aktuell weitergeführt
21 Monate
CHI-Programm, Stand November 2007
>800 Kontakte (1-29, m=10/Pt)
AHA, Orlando, Nov 2007
Toward Improved Implementation of Evidence-based Clinical Algorithms: Clinical Practice Guidelines, Clinical Decision Rules, and
Clinical Pathways
Gaddis GM et al. Acad Emerg Med 2007;14:1015-1022
Zusammenfassung
Leitlinien
Entscheidungshilfen für die praktische klinische Tätigkeit
Entbinden nicht von kritischer Wertung, insbesondere für die Anwendung auf den individuellen Kranken
Gewähren Rahmen, von dem begründet d.h. unter Vor-aussetzung angemessener Kompetenz abgewichen werden kann (soll, muß) zugunsten patientenbezogener, ökonomischer, oder organisatorischer Argumente
Dem Mißbrauch um politischer Interessen willen muß entgegengetreten werden
3 Säulen der klinischen Entscheidung
Leitlinienempfehlungen
Individuelle Patientenproblematik
Präferenz des Patienten