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Leseprobe Bernd Fritz Geschichten aus dem Winzerdorf Originalausgabe 112 Seiten. Pappband 14,90 € [D] /15,40 € [A] ISBN 978-3-85535-137-4 Erstverkaufstag: 30. August 2010 www.atrium-verlag.com

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Leseprobe

Bernd FritzGeschichten aus dem Winzerdorf

Originalausgabe112 Seiten. Pappband

14,90 € [D] /15,40 € [A]ISBN 978-3-85535-137-4

Erstverkaufstag: 30. August 2010

www.atrium-verlag.com

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Eine Art Vorrede

Der Wein trat denkbar früh in mein Leben. In ge-wisser Hinsicht verdanke ich es ihm sogar. Nicht,

dass meine Erzeuger sich vorher hätten betrinken müs sen. Meine Mutter war eine der schönsten, was sage ich, die schönste Winzertochter Rheinhessens und mein Vater ein blutjunger Unteroffizier auf Hei-maturlaub. Doch noch vor meiner Geburt war Frieden, und die junge Nachkriegsfamilie brauchte einen Er-nährer. Mein Vater fiel vorerst aus. Mit leerem Bauch lässt sich zwar gut studieren, aber nur schlecht Kinder-mäuler stopfen. Also sprangen die Großväter ein, vä-terlicherseits mit Wohnraum, mütterlicherseits mit Wein. Jeden Monat brachte der Winzeropa Flaschen, so viel sein Borgward nur aushielt, und mein Vater verkaufte sie an Verwandte, Bekannte und Gastrono-men. Der Geldwert summierte sich, bis die Familie auf eigenen Füßen stand, auf insgesamt 12 000 Mark; eine Zahl, die mein dankbarer Vater zeit seines Lebens nicht vergessen hat, da er sie bei jedem Ehestreit zu hören bekam.

Neben seiner Bedeutung für den Erhalt von Ehe und Familie lernte ich auch die fragwürdigen Ei-

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genschaften des Weins früh kennen. Namentlich die, nach einem entsprechenden Quantum zum Vollrausch zu führen. Dass dieser bereits nach einem Liter ein-treten kann, lehrte mich ein Drama, das sich schon zwanzig Jahre vor meiner Geburt abspielte. Mein On-kel, der Bruder meiner Mutter und designierte Hof-erbe, war eines Morgens verschwunden. Familie und Gesinde waren in heller Aufregung, die umso heller wurde, je mehr es dunkelte. Am späten Abend fand man ihn schlafend unter der Treppe, neben ihm eine bis auf den letzten Tropfen geleerte Literflasche Wein. Nun mag man sich fragen, ob das ein rechter Win- zer sei, den schon ein Kubikdezimeter auf die Bretter zwingt. Ich würde sagen: wenn er so alt ist, wie ich es war, als mir diese Familienanekdote zum ersten Mal erzählt wurde, durchaus. Und ich war sechs.

Obgleich bei meinem Onkel keinerlei Folgeschä-den auftraten – was immer meine Tante bei ehelichen Zwistigkeiten auch behaupten mochte –, sollte Wein als Einschlafhilfe für Kinder nicht zur Regel werden. Denn sie wurden und werden im Weinbau gebraucht. Nicht nur bei der Lese, sondern auch in der Kellerwirt-schaft: beim Ausbürsten der Holzfässer, wo sie nach-gerade unersetzlich sind. Wer jetzt »Kinderarbeit!« schreit, darf gern einmal versuchen, durch das zwei Hand breite Fasstürchen zu kommen.

Ich mochte diese Arbeit. Sie gab mir das unbe-zahlbare Gefühl, mit meinen zehn oder elf Jahren et-was zu können, was kein Erwachsener konnte. Ich war wichtig. Mit Badehose und den Armen voran wurde

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jeweils hübschesten Leserin entgegen. Das brachte mir im Leseherbst 1959, in dem selbst die spätreifen-den Silvanertrauben braun und süß wie Datteln wur-den, den ersten Kuss und den ersten Liebeskummer ein. Mit vierzehn wurde man zwar gern geküsst, vor allem, wenn man so braun und süß war wie ich nach dem 1959er Jahrhundertsommer, doch zum Kerwe-tanz lie ßen sich die Mädchen nun mal von den sech-zehn- res pektive achtzehnjährigen Führerscheininha-bern bringen.

Dass mein erster Griff zur Flasche dennoch auf sich warten ließ, verdanke ich der Ferientätigkeit in ei- nem großen Weingut mit Sektkellerei. Dessen Besitzer war mit meinen Großeltern befreundet und ermög-lichte mir gern, das Geld zu verdienen, welches man in diesem Alter benötigt, um auch im Leben nach dem Unterricht einigermaßen zu bestehen. Dem positiven Beispiel, das mir mein Großvater gab, der jeden Tag eine Flasche seines Weins trank ohne merkliche Fol-gen für seine innere Verfassung oder äußere Erschei-nung, trat dort ein negatives entgegen, das an päda-gogischer Drastik nichts zu wünschen übrig ließ. Es war dies der Küfermeister, genauer gesagt seine Nase. Von dieser Nase kann sich ein Bild machen, wer sich an die des Schauspielers Helmut Qualtinger in dem Film »Der Name der Rose« erinnert. Man begegnet ihr aber auch bei Thomas Mann, in der Erzählung »Der Weg zum Friedhof«. Dort nämlich trat aus dem hage-ren Antlitz des Lobgott Piepsam, genau wie aus dem dicken Küfergesicht, »eine vorn sich knollenartig ver-

ich ins Fass bugsiert, und der Großvater reichte die große Wurzelbürste herein. Es roch wunderbar in dem nassen, dunklen, von hundert Jahrgängen parfümier-ten Holzbauch, den ich stets erst auf Aufforderung räumte und manchmal auch erst nach der Drohung, man werde sonst das Türchen zusperren. Eine bessere Prophylaxe gegen Klaustrophobie und andere Formen unverarbeiteter Geburtstraumata lässt sich kaum den-ken.

Neben dem gesundheitspolitischen Ertrag der Kin-derarbeit im Weinbau verdient auch der sozialpoliti-sche Aspekt Beachtung. Dieser trat bei der Lese in mein junges Bewusstsein. Die Lese ist eine gemein-schaft liche Tätigkeit mit Wettbewerbscharakter und Messbarkeit der Einzelleistung. Jeder hat, mit Schere und Eimer, eine Rebzeile abzu ernten. Der Start erfolgt für alle gleich, am Fuß des Weinbergs, und wer als Erster das Ende seiner Zeile erreicht hat, dem be-kränzt die Weinkönigin die Siegerstirn mit Weinlaub. Haha! Ich wäre schon zufrieden gewesen, wenn ich mich auf meinem Lorbeer wenigstens hätte so lange aus ruhen dürfen, bis es an den Start zur nächsten Etappe ging. Aber nichts da. Wer eher oben war, musste den Langsamen entgegenlesen. »Leistung darf nicht bestraft werden!« Mit diesem Argument hätte ich meinen Großvater fraglos in Verlegenheit, ja das ganze Lesesystem in eine Legitima tionskrise stürzen können. Aber das Schlagwort aus den Neunzigern stand Ende der Fünfziger nicht zur Verfügung. Also machte ich das Beste aus meinen Siegen und las der

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vor allem ihrer fantastischen, überaus geraden und re-gelmäßigen Nase wegen geheiratet hatte. Ich gebe zu, dass es für jemanden wie sie, die nach einer Flasche Wein erst richtig in Stimmung kommt, ärgerlich ist, wenn der Gatte zu nichts mehr zu gebrauchen ist. Dennoch sollte sie langsam davon ablassen, mir jedes Mal vor zuschlagen, doch wieder zurück in den Holz-fassbauch zu meiner Wurzelbürste zu kriechen. Denn mit von Jahr zu Jahr steigender Berechtigung könnte ihr irgendwann ein »Schon recht, Frau Küfermeister Piepsam!« unter die nicht nur vor Zorn rot glühende Nase gerieben werden.

Bernd FritzGau-Wackenheim im September

dickende Nase hervor, die in einer unmäßigen, unna-türlichen Röte glühte und zum Überfluss von einer Menge kleiner Auswüchse strotzte, ungesunder Ge-wächse, die ihr ein unregelmäßiges und fantastisches Aussehen verliehen«.

Nun, auch der Küfermeister ging bald seinen letz-ten Gang, und leider auch bald darauf mein Großvater. Weniger wegen des täglichen Literchens, es soll mehr wegen der täglichen Zigarre gewesen sein. Den 1959er hatte er bei guter Gesundheit genießen können, den 1960er verschmäh te er, und der 1961er blieb ihm er-spart.

»Da, Bub!« Meine Großmutter freute sich, dass sie mir zum Geburtstag etwas selten Gutes tun konnte. Es war eine Kiste 1959er Silvaner. Der Dattelwein! Der Jahrhundertjahrgang! Ich war sechzehn geworden, und da mich das Gesetz vor Weinkonsum in der Öf-fentlichkeit nicht mehr schützte, konnte ich ihn zu Hause, in meinem Zimmer, ja wohl erst recht trinken. Ich weiß heute nicht mehr zu sagen, wie gut dieser Silvaner wirklich war. Ich weiß nur, dass er so gut schmeckte, dass ich jeweils die ganze Flasche aus-trank, Glas für Glas versteht sich, und dass ich danach jedes Mal ganz hervorragend einschlief.

Ich schlafe übrigens noch immer nach dem ent-sprechenden Quantum Wein gut ein. Vor allem auf Partys, Vernissagen oder sonst in Gesellschaft, was regel mäßig den Zorn meiner Frau erregt. Sie war eine der schönsten Winzertöchter … – was rede ich da: Sie ist eine Psychologin aus Frankfurt, die ich seinerzeit

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selbstverständlich ohne sein Zutun. Sie war sanftmü-tig und fleißig, wofür er sie liebte, doch von schwacher Gesundheit. Der sichtbarste Ausdruck seiner Liebe war die Tatsache, dass Hedwig Full die erste und lange Zeit einzige Gau-Wackenheimer Winzerfrau war, die einen Nerz trug. Und es war gewiss nicht so, dass er ihr verboten hätte, das gute Stück an jenem bitterkalten Dezembertag anzuziehen. Sie fand es ein-fach affig, im Pelzmantel »ins Feld« zu gehen, Eiswein hin, Eiswein her.

Die Söhne, Paul und Achim, waren ein Jahr aus-einander und alles in allem wohlgeraten. Achim, der jüngere, besaß die sanfte, ruhige Art der Mutter, war aber, wie der Vater, von robuster Konstitution. Bru- der Paul wurde stets als Erster krank oder als Einzi-ger, verfügte jedoch über ein ziemliches Mundwerk, das es in Gau-Wackenheim bald zu dem Ehrentitel »Maul wie ein Schwert« brachte. Dass Edelbert Full mit Achim besser zurechtkam, wunderte niemanden, wes halb er Frau Hedwig in die erkaltende Hand hatte versprechen müssen, auch dem anderen eine Chance zu geben.

Die Brüder selbst kamen gut miteinander aus und machten sich über so manche Schrulle des Alten lustig. Etwa, dass er nur Korken mit der neutralen Aufschrift »Erzeugerabfüllung« verwendete, dass er seinen Ru-länder, den Full’schen Paradewein, eisern Tokajer nannte oder sein gewildertes Kaninchengulasch als Vollwertkost anpries. Wenn er dann dozierte, nie-mand brauche auf den Korken zu gucken, um seine

Man konnte über Edelbert Full sagen, was man wollte – und die Gau-Wackenheimer sagten

eine Menge –, dass er seine Frau unter die Erde ge-bracht habe, dass er rechthaberisch sei »bis zum tz«, dass er die Weinbergkarnickel mit der Schlinge fange und überhaupt sein bester Kunde sei. Aber der Voller-werbswinzer Full machte den mit Abstand besten Wein am Ort. Keines der andern Weingüter übertraf ihn an Kammerpreismünzen, niemand sorgte so oft und regelmäßig dafür, dass der Name Gau-Wacken-heim im Prämierungsverzeichnis weit vorn zu lesen war.

Auf seinen Etiketten firmierte er bescheiden mit »E. Full, Weinbau«, was er bei den achtzehn Morgen, die er mit seinen beiden Söhnen bewirtschaftete, für angemessen hielt. Ein »Weingut« begann für ihn ab hundert Morgen, wovon er umso weniger abzubrin-gen war, je mehr Winzer er damit der Hochstapelei bezichtigen konnte, ohne das böse Wort zu benut- zen. Denn in Gau-Wackenheim wogen Beleidigungen schwe rer als geworfene Schoppengläser.

Fulls Frau Hedwig war vor Jahren gestorben,

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doch hier alles auf Löss stehe, dem Boden mit der bes-ten Mineralstoffversorgung überhaupt. Was er denn glaube, wo die berühmte Bekömmlichkeit der Weine herkomme, wenn nicht von dem hohen Kalium-An-teil, der die Säure abpuffere. Was sie eigentlich auf der Weinbauschule lernen würden …

»Mineralität meint«, sagte Paul nachsichtig, »die Gesamtheit der Aromen, die an den Geruch des Bo-dens oder eines Gesteins erinnern.«

»Steine und riechen!« Full bohrte seinen Mittel-finger in die Sohnesstirn.

»Ge-stein, nicht Steine!« Paul blieb unbeeindruckt. Gips zum Beispiel rieche, wenn man ihn anrühre, oder nasse Kreide, was jeder, dem der Riechkolben nicht durchgerostet wäre, bestätigen könne.

»Von mir aus!« Edelbert Full beendete das Ge-spräch. »Deine Weine können mal nach nassem Gips riechen, meiner riecht nach Ruländ …, äh, Tokajer.« Dann knurrte er noch etwas von »Grindkopf« und »am liebsten vom Hof jagen« und trollte sich.

An diesem Abend erhöhte der Alte seine Fernseh-ration um eine Flasche seines Eisweins »Hedwig« und fasste einen Entschluss: Nach diesem Herbst war für ihn Feierabend! Den Betrieb würde er Achim über-schreiben, der »Andere«, wie er sich seit einiger Zeit ausdrückte, sollte sehen, wo er bliebe. Dann aber dachte er an seine Frau und das vor Zeugen gegebene Versprechen und seufzte. Nach dem dritten Eiswein-gläschen kam ihm die Idee. Klar und großartig stieg sie aus dem Trubgeläger seines Verdrusses, strahlend

Weine zu erkennen, und dass es »bei uns« schon im-mer Tokajer geheißen habe, verdrehte Achim die Au-gen, und Paul höhnte: »Seit der letzten Zwischeneiszeit nicht mehr!« Den Höhepunkt erreichte das brüderliche Einvernehmen, wenn sie den Vater mit zwei Flaschen, seiner abendlichen Fernsehration, ins Haus schlappen sahen und Achim »Erzeuger-Abfüllung« sagte und Paul »Voll-werd-Kost«.

*Allein, in dem kleinen Betrieb war auf Dauer nur für einen Platz, zumal beide ins heiratsfähige Alter gekom-men waren und, wenn auch mit unterschiedlichem Erfolg, ihren Winzermeister gemacht hatten. Der Va-ter seinerseits fühlte das Alter und die ersten Beschwer-den, wobei ihm weniger seine Leberwerte zu schaf- fen machten als einige Bandscheiben. Am meisten zu schaf fen aber machte ihm sein rechthaberischer Sohn Paul. Denn auch Edelbert Full war nur ein Mensch, und den Menschen erbost bekanntlich nichts mehr, als wenn er seine eigenen Fehler bei andern sieht.

So wäre es im Keller beinahe zum endgültigen Zer-würfnis gekommen, als sich Paul bei der Fassprobe des neuen Jahrgangs zu der Bemerkung verstieg, für einen Ruländer fehle ihm »ein bisschen die Mineralität«.

»Die Miner … – was?«»Die Miner-a-li-tät.«Das sei ja das Allerneuste, legte der alte Full da

los, dass seine Weine keine Mineralien hätten, wo

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wie der Mond über Gau-Wackenheim stand sie ihm vor Augen: Derjenige seiner Söhne sollte den Betrieb bekommen, der den besseren Wein machte! Was, nach den Noten der Meisterprüfung, nur Achim sein konnte.

Full kam damit, obwohl er fast platzte, nicht gleich am nächsten Tag heraus – der »Grindkopf« hätte sich womöglich noch etwas »eingebildet« –, sondern war-tete eine Untersuchung seiner Bandscheibenreste ab, um den sensationellen Entschluss mit dem erwartet niederschmetternden Befund »Operation!« begründen zu können.

Die jungen Herren waren begeistert. Einige Zeilen von Vaters Paradeweinberg, einer vier Morgen großen Parzelle in der Spitzenlage »Gau-Wackenheimer Nie-rentritt«, sollten sie in vollkommener Freiheit keltern und in je einem Halbstückfass ausbauen dürfen! Be-wertet würden die Weine nach Eintritt der Flaschen-reife, und zwar von einer Jury aus der örtlichen Win-zerschaft, die Edelbert Full noch am selben Abend ins Bild setzte.

Die Resonanz war enorm. Nicht einer der Kollegen versagte die Mitwirkung, in den Gastwirtschaften wurden Wetten auf den Sieger abgegeben, und durch Gau-Wackenheim zog die ahnungsvolle Vorfreude auf ein Ereignis mit offenem Ausgang und mindestens einem Dummen. Sorgen machte einzig der Termin: Denn bis nächsten März, wenn abgefüllt wurde, konnte allerhand passieren.

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Der Gemeindesaal war brechend voll. Im Publi-kum wurden letzte Wetten angenommen, die Jury war vollzählig. Der Bürgermeister selbst übernahm die Probe. Vor jeden Juror wurden zwei Gläser ge-stellt, auf dem einen Fuß klebte eine Eins, auf dem andern eine Zwei. Welche der Ziffern zu wessen Wein gehörte, wusste nur der Bürgermeister. Allein, Edel-bert Full wusste mehr: Der Wein seines Sohnes Achim war sein eigener. Im schwarzen Zorn hatte er be-schlossen, Versprechen hin, Hedwig her, einen even-tuellen Sieg des »Grindkopfs« mit einer kleinen Ver-tauschung zu verhindern. Sollte der doch in irgendein »Weingut« einheiraten, das Mundwerk, eine Gans von Hoferbin herumzukriegen, hatte er ja.

Das Votum der Jury war klar wie Gau-Wackenhei-mer Tokajer: Wein zwei hatte sämtliche Stimmen auf sich vereinigt. Gleich würde der Bürgermeister den Umschlag mit der Ziffer öffnen und den Namen des Weinmachers verlesen. Das Sälchen hielt den Atem an, die Brüder hielten sich an der Hand, und ihr Er-zeuger hielt sich in der Zukunft auf: Achim würde ihm die Arbeit abnehmen, eine sanfte, fleißige Frau finden und in kürzester Zeit Jungwinzer des Jahres werden. Er selbst würde drei muntere Enkel bekom-men und den Goldenen Ehrenpreis des Weinbauminis-ters für sein Lebenswerk.

Der Name aber, der den Mund des Bürgermeis- ters verließ, lautete: Paul! Was in diesem Moment im Full’ schen Oberstübchen vorging, ist nicht überliefert. Tatsache war, dass ihm weder bei seinem Weintausch

*Und es passierte etwas. Der alte Full, der den Sommer damit verbrachte, die Operation bis zum Herbst vor sich herzuschieben, und dann natürlich, wegen der Lese, bis nach Weihnachten vertagte, wollte sich über den Ausgang des Wettbewerbs vergewissern und zog von beiden Fässern heimlich Proben. Zu seiner Über-raschung waren beide Weine sehr ordentlich, wenn sie auch gegen seinen »Nierentritt« klar abfielen, und er hätte nicht sagen können, welcher ihm besser schmeckte. Sohn Paul verstand offenbar ebenfalls sein Handwerk, und der Alte konnte ein Gefühl des Stol-zes nicht ganz unterdrücken. So mag es, sagte er schließlich, treffen, wen es treffen soll, und begab sich mit Frieden im Herzen und Schmerzen im Rücken un-ters Messer.

Als er aus der Klinik zurückkam, traf ihn fast der Schlag. Am Haus stand ein Gerüst, und davor stand Sohn Paul, der einige Handwerker dirigierte, die eben den letzten Buchstaben eines großen, eisernen Schrift-zugs anbrachten: »Full’sches Weingut«. Den darauf-folgenden Dialog konnte das halbe Dorf mithören. Die Gau-Wackenheimer sahen den »Andern« schon hochkant vom Hof fliegen und sich selber um die lang erwartete Gaudi gebracht. Doch nach drei Fernseh-abenden und zwölf Flaschen hatte sich der Alte abge-regt, die hochstaplerischen Buchstaben kamen auf den Speicher, und der große Tag kam endlich heran.

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Näherte man sich Gau-Wackenheim von Westen, gewahrte man, lange vor dem Dorf selbst, ein

Wort, das in mannshohen weißen Lettern von den Weinbergen leuchtete: »Meuser«. Besucher oder Durchreisende hielten es anfangs für eine Lagenbe-zeichnung und fragten sich, wie wohl ein »Gau-Wa-ckenheimer Meuser« schmecke, ob er mäusele oder mehr nach Kater rieche, und was ihrer Scherze mehr waren. Der Name der Lage aber war »Hipperich« und Meuser ein Winzer, der hier ein paar Morgen Trami-ner besaß und auf den Vornamen Horst hörte. Sonst hörte er auf niemanden, ausgenommen seine Mutter, mit der zusammen er den Betrieb bewirtschaftete, seit sein Vater unter den Traktor geraten war.

Sich und seine Weine fand er gut, wenn er auch etwas mit dem Umstand haderte, dass seine Familie nie an einen Wingert in der Spitzenlage »Nierentritt« gelangt war. Doch diesen Nachteil glich er aus: durch seine Lieblingsthese, wonach es letztlich darauf an-komme, »was im Glas ist«, und eben durch jene pom-pöse Außenwerbung. Ansonsten lachte er gern, vor allem über andere, war mit seinen 35 Jahren bei den Mainachtstreichen noch vorne dabei und hielt sich

ein Versehen unterlaufen war noch dass die Winzer-kollegen den Wein eins, seinen großartigen »Nieren-tritt«, nicht unvergleichlich besser gefunden hätten. Die »Saubrut«, so Full, hatte nur die einmalige Gele-genheit genutzt, mit der Wahl des schlechteren Weins die Überlegenheit der Full’schen Gewächse nicht noch in die nächste Generation zu verlängern.

So wurden die eisernen Buchstaben wieder vom Speicher geholt, Paul benannte den Tokajer ab sofort in Ruländer um, später gar in Grauburgunder, und sorgte mit zwanzig angeheirateten Hektaren dafür, dass der Alte in puncto Weingut halbwegs Ruhe gab. Bruder Achim entsagte dem Weinbau ganz, wanderte in das Land einer Urlaubsliebe aus, eines fleißigen, sanften Thaimädchens, und machte sein Glück mit ei-nem Strandhotel auf Phuket. Vater Edelbert, dessen Rücken das warme Klima ebenso gut tat wie die lan-desüblichen Massagen, kam später nach und eroberte das Herz der Schwiegertochter mit werthaltigen Ge-schenken. Und wenn der Tsunami das gute Stück nicht weggeschwemmt hat, dann trägt sie Hedwigs Nerz noch heute.