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Lokomotiven für die Front Als Rüstungsstandort war Kassel ein vorrangiges Ziel für Bombenangriffe S treng geheim waren die Daten über das Zielgebiet Kassel. Nur bestimmt für das Bomberkommando der briti- schen Luftwaffe. Das Infor- mationsblatt durften die Pilo- ten der Royal Air Force nicht mit an Bord nehmen. Es sollte auf keinen Fall in feindliche Hände geraten, falls der Bom- ber abgeschossen würde. Lange nach Kriegsende hat der Kasseler Historiker Wer- ner Dettmar (siehe nebenste- henden Artikel) in einem Lon- doner Archiv eines der Infor- mationsblätter kopiert. Stra- tegisch kühl wird das An- griffsziel analysiert. Die Bri- ten wussten offenbar ganz ge- nau Bescheid. Sie stuften Kas- sel als ein vorrangiges Ziel im Luftkrieg ein. Ganz oben auf ihrer Liste standen die Hen- schel-Werke mit den Stand- orten Holländischer Platz (heute Universität), Rothen- ditmold, Mittelfeld und der Flugzeugmotorenbau in Al- tenbauna. Henschel ist der größte Lokomotivhersteller Europas, produziert Panzer, Militärfahrzeuge, schwere Lastwagen und Flugmotoren, so die Zusammenfassung der britischen Informationen. Seit Kriegsbeginn im Sep- tember 1939 wurde die Pro- duktion enorm gesteigert. Die Zahl der Beschäftigen verdop- pelte sich bis 1943 nahezu von 11 960 auf 22 150. Bis zu 13 000 ausländi- sche Zwangsar- beiter schufteten bei Henschel für die deutsche Rüs- tungsindustrie. Im Blickpunkt der militärischen Aufklärung be- fand sich auch der Flugzeugbau von Fieseler mit den Standorten in Bet- tenhausen, Wal- dau und Lohfel- den sowie die Spinnfaser AG und Junkers in Bettenhausen. Weitere strate- gische Ziele für Bombenangriffe waren die Wag- gonbaufabrik Cre- in Niederzwehren, der Flughafen Waldau, Wegmann, die Gaswerke in Bettenhau- sen, Hauptbahnhof, Güter- bahnhof und das Ausbesse- rungswerk der Bahn. E Die nächste Folge unserer Serie erscheint am Montag, 8. September. Von Thomas Siemon Kriegslokomotiven auf der Fahrt zum Osteinsatz: Henschel war Europas größter Hersteller im Lokbau. QUELLE: STADTMUSEUM 60 60 60 60 JAHRE JAHRE JAHRE JAHRE BOMBENNACHT BOMBENNACHT BOMBENNACHT BOMBENNACHT HNA Mitten durch die Stadt: Die erste Stromlinienlok rollt über den Holländischen Platz zur Wolfhager Straße Richtung Unterstadtbahnhof. Hier kam die gesam- te Lokomotivproduktion von Henschel vorbei. QUELLE: STADTARCHIV Selbst der Fieseler-Storch zieht in den Kampf D ie Wehrmacht brauchte ein Flugzeug, das auf ei- nem Acker starten oder landen konnte. Hubschrauber gab es noch nicht. Diese Lücke schloss der Fieseler-Storch, der in Kassel gebaut wurde. Er kam als Aufklärungs- und Kurierflugzeug sowie im Sa- nitätsbereich zum Einsatz. Zwei Tragen für Verletzte passten in den Storch. Zeit- zeugen erinnern sich daran, dass er auf dem Friedrichs- platz startete und landete. Bei Fieseler wurde auch die V 1 (Propagandaname für Vergel- tungswaffe 1) entwickelt, aber nicht gebaut. Bekanntester Panzer aus der Henschel-Produktion war der Tiger. In den Werken wur- den auch dreiachsige Lkw für die Wehrmacht hergestellt. Wegmann baute Türme mit Kanonen für die Panzer. Enorm wichtig für den Nach- schub waren die Lokomotiven. Das galt für alle Fronten, aber insbesondere für die weiten Wege in Russland. Wo heute die Hallen von VW stehen, wurden in Altenbauna Flug- zeugmotoren hergestellt. (TOS) Truppenbewegung mit Storch: Das bei Fieseler in Kassel produzierte Flugzeug wurde für die Auf- klärung und zum Transport von Verletzten eingesetzt. QUELLE: STADTMUSEUM Erst London und Coventry, dann Kassel D as Leid und die Zerstö- rung in Kassel steht im Mittelpunkt unserer Serie zum 60. Jahrestag der Bom- bennacht vom 22. Oktober 1943. Britische Flieger haben damals die Stadt in Schutt und Asche gelegt.Auslöser da- für war der deutsche Angriffs- krieg mit Luftangriffen auf die englischen Städte Coventry (550 Tote) und London (40 000 Tote) mit der Bombardierung von Warschau, Rotterdam, Belgrad und Sta- lingrad (zusam- men über 60 000 Tote). Die Zeichnung mit den Flugzeu- gen über London stammt aus der Kasseler Fieseler- Zeitschrift vom September 1940 und war im Werk ausgehängt. Da- runter stand fol- gender Appell an die Beschäftigten: „Die Maßarbeit unserer Flieger setzt deine Maßar- beit voraus. Denk bei deiner Arbeit daran - arbeite ge- nau!“ (TOS) Angriffsziel London: In der Fieseler-Zeit- schrift wird zu Maßarbeit bei der Produktion von Flugzeugen aufgefordert. QUELLE: FIESELER/STADTMUSEUM Rückblick auf Krieg und Zerstörung 60. Jahrestag der Kasseler Bombennacht E s gibt ein Datum in der Kasseler Stadtgeschich- te, das sich brutal in das Ge- dächtnis der Menschen ein- gegraben hat. Am 22. Okto- ber 1943 gingen große Teile der Stadt im Feuersturm nach den verheerenden Bombenangriffen unter. 10 000 Menschen kamen da- bei ums Leben. Das war der für Kassel folgenschwerste Angriff im Luftkrieg gegen Nazideutschland, ein trau- riger Höhepunkt. Doch es gab auch vor und nach diesem Datum Luft- angriffe auf die Stadt.Viele ältere Menschen erinnern sich noch daran, haben heu- te noch ein ungutes Gefühl, wenn sie ein Flugzeug hören oder Augenzeuge eines Feu- erwerks werden. Die HNA will dazu beitragen, dass dieser Teil der Stadtge- schichte nicht in Vergessen- heit gerät. Deshalb haben wir einen ausgewiesenen Fachmann zur Mitarbeit gewonnen. Der 75-jährige Werner Dett- mar hat Bücher über die Zerstörung Kassels und zu- sammen mit Helmut Brier über die Veränderungen des Stadtbildes seit 1928 ge- schrieben. Als Historiker ist der ehemalige stellvertre- tende Leiter des Kulturam- tes weit über die Grenzen Kassels bekannt. Dettmar hat englische und amerika- nische Militärarchive durchforstet und so die Ge- schichte des Luftkriegs auf- gearbeitet. Für die hochge- lobten Publikationen über die Zerstörung Kassels wur- de Dettmar mit der Stadt- medaille und dem Paul-Die- richs-Preis ausgezeichnet. Die von ihm konzipierte Ausstellung zum 40. Jahres- tag der Zerstörung sahen 100 000 Menschen. Werner Dettmar hat die Bombenangriffe im Oktober ’43 als 16-jähriger Flakhel- fer miterlebt. Sie haben sein ganzes Leben geprägt. Den Höllenlärm wird er nie ver- gessen. Das Brummen eines viermotorigen Flugzeuges könne man sich wohl noch vor- stellen, sagt er. Vor 60 Jahren war das nur der Anfang. 300 dieser Flugzeu- ge, deutsche Nachtjäger, die Flak mit Dauerfeuer, explo- dierende Bomben, Luftmi- nen und dazu noch das Pras- seln und Lodern des Feuers: Ein Inferno. „Jahre nach dem Krieg hatte ich noch Albträume“, sagt Dettmar. Er wollte das Erlebte auf- arbeiten, es so verarbeiten. Das hat er mit großem En- gagement gemacht. Auch sechs Jahrzehnte nach der großen Zerstörung sind noch längst nicht alle Wunden verheilt, die Dis- kussion über Sinn und Zweck des Luftkrieges noch nicht verstummt. In den kommenden Wo- chen werden wir die Ent- wicklung von Kassel als Rüstungsstandort, vom ers- ten Bombenangriff auf den Flughafen Waldau bis zum 22. Oktober und dem Kriegsende beleuchten. Werner Dettmar Goebbels: Für den Sieg geopfert Aus der Rede von Propagan- daminister Joseph Goebbels in der Kasseler Stadthalle am 5. November 1943: „Und ich glaube, wenn einmal die weni- gen in Deutsch- land noch vor- handenen Glo- cken den Sieg einläuten wer- den, dann werden auch Sie be- glückt durch die Trümmerfel- der dieser Stadt marschieren. (...) Sie werden diese Ruinen als die Unterpfänder und die Garanten des Sieges betrach- ten. Sie werden dann vor je- dem Haus still stehen und wer- den sagen: Auch dieses Haus haben wir für den Sieg geop- fert. Jedenfalls wird man von dieser Stadt nicht sagen kön- nen, dass ihr der Sieg unver- dient in den Schoß gefallen wäre. Und ich glaube, es ist das schönste Gefühl für jede Stadt, für jede Provinz, für je- den Soldaten und für jeden Ar- beiter und für jeden Kämpfer des deutschen Volkes, dass er in der Stunde des Sieges von sich sagen kann: Ich bin auch dabei gewesen.“ QUELLE: DEUTSCHES RUNDFUNKARCHIV

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Lokomotiven für die Front Als Rüstungsstandort war Kassel ein vorrangiges Ziel für Bombenangriffe

Streng geheim waren dieDaten über das Zielgebiet

Kassel. Nur bestimmt für dasBomberkommando der briti-schen Luftwaffe. Das Infor-mationsblatt durften die Pilo-ten der Royal Air Force nichtmit an Bord nehmen. Es sollteauf keinen Fall in feindlicheHände geraten, falls der Bom-ber abgeschossen würde.

Lange nach Kriegsende hatder Kasseler Historiker Wer-ner Dettmar (siehe nebenste-henden Artikel) in einem Lon-doner Archiv eines der Infor-mationsblätter kopiert. Stra-tegisch kühl wird das An-

griffsziel analysiert. Die Bri-ten wussten offenbar ganz ge-nau Bescheid. Sie stuften Kas-sel als ein vorrangiges Ziel imLuftkrieg ein. Ganz oben aufihrer Liste standen die Hen-

schel-Werke mit den Stand-orten Holländischer Platz(heute Universität), Rothen-ditmold, Mittelfeld und derFlugzeugmotorenbau in Al-tenbauna. Henschel ist dergrößte LokomotivherstellerEuropas, produziert Panzer,Militärfahrzeuge, schwere

Lastwagen und Flugmotoren,so die Zusammenfassung derbritischen Informationen.

Seit Kriegsbeginn im Sep-tember 1939 wurde die Pro-duktion enorm gesteigert. DieZahl der Beschäftigen verdop-pelte sich bis 1943 nahezu von11 960 auf 22 150. Bis zu

13 000 ausländi-sche Zwangsar-beiter schuftetenbei Henschel fürdie deutsche Rüs-tungsindustrie.

Im Blickpunktder militärischenAufklärung be-fand sich auch derFlugzeugbau vonFieseler mit denStandorten in Bet-tenhausen, Wal-dau und Lohfel-den sowie dieSpinnfaser AGund Junkers inBettenhausen.

Weitere strate-gische Ziele fürBombenangriffewaren die Wag-gonbaufabrik Cre-

dé in Niederzwehren, derFlughafen Waldau, Wegmann,die Gaswerke in Bettenhau-sen, Hauptbahnhof, Güter-bahnhof und das Ausbesse-rungswerk der Bahn.

E Die nächste Folge unsererSerie erscheint am Montag,8. September.

Von Thomas Siemon

Kriegslokomotiven auf der Fahrt zum Osteinsatz: Henschel war Europas größter Hersteller im Lokbau. QUELLE: STADTMUSEUM

60606060 JAHREJAHREJAHREJAHRE BOMBENNACHTBOMBENNACHTBOMBENNACHTBOMBENNACHT

HNA Mitten durch die Stadt: Die erste Stromlinienlok rollt über den HolländischenPlatz zur Wolfhager Straße Richtung Unterstadtbahnhof. Hier kam die gesam-te Lokomotivproduktion von Henschel vorbei. QUELLE: STADTARCHIV

Selbst der Fieseler-Storch zieht in den Kampf Die Wehrmacht brauchte

ein Flugzeug, das auf ei-nem Acker starten oder landenkonnte. Hubschrauber gab esnoch nicht. Diese Lückeschloss der Fieseler-Storch,der in Kassel gebaut wurde.Er kam als Aufklärungs- undKurierflugzeug sowie im Sa-nitätsbereich zum Einsatz.Zwei Tragen für Verletztepassten in den Storch. Zeit-zeugen erinnern sich daran,dass er auf dem Friedrichs-platz startete und landete. BeiFieseler wurde auch die V 1(Propagandaname für Vergel-tungswaffe 1) entwickelt, abernicht gebaut.

Bekanntester Panzer ausder Henschel-Produktion warder Tiger. In den Werken wur-den auch dreiachsige Lkw fürdie Wehrmacht hergestellt.Wegmann baute Türme mitKanonen für die Panzer.Enorm wichtig für den Nach-schub waren die Lokomotiven.Das galt für alle Fronten, aberinsbesondere für die weitenWege in Russland. Wo heutedie Hallen von VW stehen,wurden in Altenbauna Flug-zeugmotoren hergestellt. (TOS)

Truppenbewegung mit Storch: Das bei Fieseler in Kassel produzierte Flugzeug wurde für die Auf-klärung und zum Transport von Verletzten eingesetzt. QUELLE: STADTMUSEUM

Erst London und Coventry, dann Kassel

Das Leid und die Zerstö-rung in Kassel steht im

Mittelpunkt unserer Seriezum 60. Jahrestag der Bom-bennacht vom 22. Oktober1943. Britische Flieger habendamals die Stadt in Schutt

und Asche gelegt.Auslöser da-für war der deutsche Angriffs-krieg mit Luftangriffen auf dieenglischen Städte Coventry(550 Tote) und London (40 000Tote) mit der Bombardierungvon Warschau, Rotterdam,

Belgrad und Sta-lingrad (zusam-men über 60 000Tote).

Die Zeichnungmit den Flugzeu-gen über Londonstammt aus derKasseler Fieseler-Zeitschrift vomSeptember 1940und war im Werkausgehängt. Da-runter stand fol-gender Appell andie Beschäftigten:„Die Maßarbeitunserer Fliegersetzt deine Maßar-beit voraus. Denkbei deiner Arbeitdaran - arbeite ge-nau!“ (TOS)

Angriffsziel London: In der Fieseler-Zeit-schrift wird zu Maßarbeit bei der Produktionvon Flugzeugen aufgefordert.

QUELLE: FIESELER/STADTMUSEUM

Rückblick auf Krieg und Zerstörung 60. Jahrestag der Kasseler Bombennacht

Es gibt ein Datum in derKasseler Stadtgeschich-

te, das sich brutal in das Ge-dächtnis der Menschen ein-gegraben hat. Am 22. Okto-ber 1943 gingen große Teileder Stadt im Feuersturmnach den verheerendenBombenangriffen unter.10 000 Menschen kamen da-bei ums Leben. Das war derfür Kassel folgenschwersteAngriff im Luftkrieg gegenNazideutschland, ein trau-riger Höhepunkt.

Doch es gab auch vor undnach diesem Datum Luft-angriffe auf die Stadt. Vieleältere Menschen erinnernsich noch daran, haben heu-te noch ein ungutes Gefühl,wenn sie ein Flugzeug hörenoder Augenzeuge eines Feu-erwerks werden. Die HNAwill dazu beitragen, dassdieser Teil der Stadtge-schichte nicht in Vergessen-heit gerät.

Deshalb haben wir einenausgewiesenen Fachmannzur Mitarbeit gewonnen.Der 75-jährigeWerner Dett-mar hat Bücher über dieZerstörung Kassels und zu-sammen mit Helmut Brierüber die Veränderungen desStadtbildes seit 1928 ge-schrieben. Als Historiker istder ehemalige stellvertre-tende Leiter des Kulturam-tes weit über die GrenzenKassels bekannt. Dettmarhat englische und amerika-nische Militärarchivedurchforstet und so die Ge-schichte des Luftkriegs auf-gearbeitet. Für die hochge-lobten Publikationen überdie Zerstörung Kassels wur-de Dettmar mit der Stadt-

medaille und dem Paul-Die-richs-Preis ausgezeichnet.Die von ihm konzipierteAusstellung zum 40. Jahres-tag der Zerstörung sahen100 000 Menschen.

Werner Dettmar hat dieBombenangriffe im Oktober’43 als 16-jähriger Flakhel-fer miterlebt. Sie haben seinganzes Leben geprägt. DenHöllenlärm wird er nie ver-gessen. Das Brummen eines

viermotorigenFlugzeugeskönne man sichwohl noch vor-stellen, sagt er.Vor 60 Jahrenwar das nur derAnfang. 300dieser Flugzeu-ge, deutscheNachtjäger, die

Flak mit Dauerfeuer, explo-dierende Bomben, Luftmi-nen und dazu noch das Pras-seln und Lodern des Feuers:Ein Inferno. „Jahre nachdem Krieg hatte ich nochAlbträume“, sagt Dettmar.Er wollte das Erlebte auf-arbeiten, es so verarbeiten.Das hat er mit großem En-gagement gemacht.

Auch sechs Jahrzehntenach der großen Zerstörungsind noch längst nicht alleWunden verheilt, die Dis-kussion über Sinn undZweck des Luftkrieges nochnicht verstummt.

In den kommenden Wo-chen werden wir die Ent-wicklung von Kassel alsRüstungsstandort, vom ers-ten Bombenangriff auf denFlughafen Waldau bis zum22. Oktober und demKriegsende beleuchten.

Werner Dettmar

Goebbels: Für den Sieg geopfert Aus der Rede von Propagan-daminister Joseph Goebbels inder Kasseler Stadthalle am5. November 1943:

„Und ichglaube, wenneinmal die weni-gen in Deutsch-land noch vor-handenen Glo-cken den Siegeinläuten wer-den, dann werden auch Sie be-glückt durch die Trümmerfel-der dieser Stadt marschieren.(...) Sie werden diese Ruinenals die Unterpfänder und dieGaranten des Sieges betrach-

ten. Sie werden dann vor je-dem Haus still stehen und wer-den sagen: Auch dieses Haushaben wir für den Sieg geop-fert. Jedenfalls wird man vondieser Stadt nicht sagen kön-nen, dass ihr der Sieg unver-dient in den Schoß gefallenwäre. Und ich glaube, es istdas schönste Gefühl für jedeStadt, für jede Provinz, für je-den Soldaten und für jedenAr-beiter und für jeden Kämpferdes deutschen Volkes, dass erin der Stunde des Sieges vonsich sagen kann: Ich bin auchdabei gewesen.“ QUELLE:

DEUTSCHES RUNDFUNKARCHIV

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Produktion trotz Zerstörung Fieseler verlagerte die Fertigung auf 65 Orte - Henschel machte in Stollen weiter

So schlimm es nach derBombardierung des Ran-

gierbahnhofs auch aussah(siehe Foto oben), innerhalbvon wenigen Tagen waren diezerstörten Gleise wieder repa-riert. Je heftiger der Krieg wü-tete, umso gnadenloser wurdezur Arbeit angetrieben. Trotzder verheerenden Angriffe aufKassel erreichten die Produk-tionszahlen von Panzern,Loksund Flugzeugen 1944 ihrenHöhepunkt.

Wie war das möglich? Aufder einen Seite durch den Ein-satz von Zwangsarbeitern.Aber auch durch die Verlage-rungen der Produktion ausKassel heraus. So gelang eszum Beispiel einer Firma wieFieseler, sich weniger angreif-bar zu machen. Dazu gab esklare Anweisungen aus demReichsluftfahrtministerium.Unterlagen von Fieseler bele-gen, dass die Fertigung, Ent-wicklung und Verwaltung abHerbst 1943 auf 65 Ortschaf-ten verteilt wurde. Einer dergrößten neuen Standorte warder Fliegerhorst in Rothwes-ten. Nach der Endmontagewurden dort die Maschineneingeflogen und getestet.Eschwege, Witzenhausen,

Hessisch Lichtenau, die Glas-fabrik in Immenhausen, Brün-dersen und Frankenberg ge-hörten zu den Fieseler-Stand-orten in der näheren Umge-bung.

Bei Henschel hat man ab1944 zum Schutz gegen Luft-

angriffe einen Teil der Ferti-gung in einem Stollen unter-gebracht. Der verband dieWerke in Rothenditmold undMittelfeld miteinander. EinKonstruktionsbüro wurde inFelsberg eingerichtet. Rund 30Zulieferfirmen unterstützten

die Produktion der Hammer-schmiede. Die Bomben konn-ten bis 1944 die enorme Ef-fektivität nur unwesentlichbremsen. Bis zum letztenKriegstag wurde weiter pro-duziert. Als die Amerikanerschon von Westen nach Kassel

einrückten, rollte in Rothen-ditmold noch eine fertige Lokaus der Halle.

Genaue Zahlen liegen überdie Panzerproduktion vonHenschel vor. Dabei handeltees sich um Panzerkraftwagenvon 15 und 22 Tonnen, denPanther (54 Tonnen), Tiger I(58 Tonnen) und den Tiger II(70 Tonnen). E 1939: 210 Stück (4200 Ton-nen). E 1940: 164 Stück (3608). E 1941: 334 Stück (7348). E 1942: 597 Stück (15 942). E 1943: 850 Stück (46 736). E 1944: 1000 Stück (62 524). E 1945: 100 Stück (7000).

E Die nächste Folge unsererSerie erscheint am Freitag, 12.September.

Trümmerfeld: Zerstörte Waggons und Gleisanlagen im Bereich des Rangierbahnhofs. Im Hintergrund ist der Kirchturm von Ro-thenditmold zu sehen. QUELLE: STADTARCHIV

Aufräumungsarbeiten bei Henschel: Das bislang unveröffent-lichte Foto stammt aus dem Nachlass eines Henschel-Direktorsund entstand am 9. Oktober 1943. QUELLE: STADTMUSEUM

Von Thomas Siemon

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HNA

12 000 Tote bei 40 Angriffen in fünf Jahren Erst die Rüstungsbetriebe, dann die ganze Stadt als Angriffsziel

Die Bilanz des Luftkriegsfür Kassel ist erschre-

ckend: Die Stadt wurde zwi-schen dem 22. Juni 1940 unddem 21. März 1945 mit 6658Flugzeugen 40-mal angegrif-fen. Dabei fielen rund 18 000Tonnen Bomben - 34 862Spreng- und 436 324 Brand-bomben. Man muss davon aus-gehen, dass schätzungsweise12 000 Menschen bei den An-griffen ums Leben kamen.

Als zu Beginn des ZweitenWeltkrieges das Bomberkom-mando der britischen RoyalAir Force die Luftkriegszielein Deutschland in einer Prio-ritätenliste zusammenfasste,wurde Kassel wegen seinerBedeutung als Standort fürdie Rüstungsindustrie als vor-rangiges Ziel eingestuft.

Obwohl nach dem ErstenWeltkrieg in den Zwanziger-und Dreißigerjahren wieder-holt Versuche unternommen

wurden, die Bombardierungoffener Städte zu verbieten,war die militärische Führungnun der Ansicht, dass unterden Bedingungen einer mo-dernen Kriegsführung dieBombardierung von Rüs-tungsbetrieben legal sei. Jetztgalt es,die wirtschaftliche undindustrielle Kapazität desFeindes zu zerstören.

Die Industrie wurde unterdem Einsatz aller Ressourcenund der gesamten Bevölke-rung für den Krieg mobilisiert.Und damit war die gesamteNation das Kriegsziel. Darausentwickelte sich die Strategie,dass mit einem steigendenTer-ror gegen die Zivilbevölke-rung deren Moral und Durch-haltewillen untergraben unddie Nation dadurch zur Kapi-tulation gebracht werdenkönnte. Die Folge waren dieverheerenden Flächenbom-bardierungen. (DET)

Bombenhagel: Die Aufnahme aus einem amerikanischen Bom-ber zeigt die Einschläge bei Fieseler und der Spinnfaser AG am30. Juli 1943. QUELLE: ARCHIV DETTMAR

Bombenangriffe rund um die Uhr

Die Strategie der Alliierten im Luftkrieg

Entgegen den Erwartungenkam der Luftkrieg zu Be-

ginn des Zweiten Weltkriegesnur zögernd in Gang. Mit Be-ginn des Frankreichfeldzugesam 10. Mai 1940 begann diebritische Luftwaffe alsVergel-tung für die deutschen Bom-benangriffe auf England,deutsche Städte anzugreifen.Diese anfänglichen Tagesan-griffe waren jedoch so verlust-reich, dass sich die Royal AirForce (RAF) auf Nachtbom-bardements umstellen musste.Da das Bomberkommando je-doch mit der damaligen Tech-nik nicht in der Lage war, beiNacht Präzisionsangriffe ge-gen so kleine Ziele wie Rüs-tungsfabriken oder Verkehrs-anlagen zu fliegen, entschiedman, Wohngebiete der deut-schen Industriearbeiter flä-chendeckend anzugreifen, umdie Menschen von den Produk-tionsstätten zu vertreiben.Ob-wohl später die britischenBomber in der Lage waren,exakte Bombardierungen aufkleinere Ziele vorzunehmen,wurde bis zum Kriegsende dieStrategie des Flächenbombar-dements mit großer Beharr-lichkeit fortgeführt.

Eine neue Phase des Luft-krieges begann 1942, als dieAmerikaner mit ihrer UnitedStates Army Air Force(USAAF) auf dem europäi-schen Kriegsschauplatz er-schienen und ab Januar 1943Ziele in Deutschland angrif-fen. Die Amerikaner nahmenden Bombenkrieg mit eineranderen Konzeption auf alsihre englischen Verbündeten.Sie wollten sich trotz schlech-ter Erfahrungen nicht vonPräzisionsbombardierungengegen kriegswichtige Ziele ab-

bringen lassen. Um präzise zutreffen, mussten sie allerdingsbei Tageslicht angreifen.

Beiden Luftwaffen, RAFund USAAF, wurde ihre Auf-gabe neu umrissen. Der Auf-trag lautete: „Die Bomberver-bände führen eine gemeinsa-me Luftoffensive zur fort-schreitenden Zerstörung undDesorganisation des deut-schen militärischen und in-dustriellen Systems und zurUnterminierung der Moral desdeutschen Volkes durch. (...)Die Widerstandskraft soll soweit geschwächt werden, dasseine Invasion des Kontinentsmöglich wird.“

Die Amerikaner griffen mitmassierten Bomberverbänden(teilweise über 1000 Maschi-nen) bei Tage Produktions-stätten, Werften, Hafenanla-gen, Verkehrswege und Hy-drierwerke an. Und da dieRAF weiterhin nächtliche Flä-

chenangriffe durchführte,wurde Deutschland von einem„Round the Clock Bombing“(Bombardierung rund um dieUhr) überzogen. Gegen Endedes Krieges rückten nun auchdie Mittelstädte ins Visier derbritischen Bomberoffensive,die in dieser Phase oft mit ei-nem Übermaß an Feuerkraftbei militärisch fragwürdigenZielen zuschlug.Trauriger Hö-hepunkt dieser Kampagnewar Dresden.

1945 zeigten alliierte Un-tersuchungen, dass die Wir-kung der Bomberoffensive ge-ringer war als angenommen.So erreichte im Laufe des Jah-res 1944 die Rüstungsindus-trie ihre höchsten Produkti-onszahlen.

Von Werner Dettmar

Ein Übermaß an Feuerkraft

Der Himmel voller Bomber: Das Foto entstand bei einem ame-rikanischen Angriff auf Kassel. Das genaue Datum lässt sich nichtmehr ermitteln. QUELLE: PRIVAT

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„Wir waren Kindersoldaten“ Mit 16 Jahren wurde Hanno Warlich als Luftwaffenhelfer eingezogen

Die Mutter wollte es zu-nächst nicht glauben, was

ihr da im Sommer 1943 beimElternabend der Hermann-Göring-Schule mitgeteiltwurde. Gemeinsam mit denKlassenkameraden sollte ihrSohn, der Hitlerjunge HannoWarlich, zum Militärdiensteingezogen werden. „Das sinddoch noch Kinder“, so die Re-aktion der bestürzten Eltern.Doch es half nichts. Die 16-Jährigen mussten als Flakhel-fer ran. Und im Gegensatz zuihren Eltern fanden sie das zu-nächst richtig spannend undtoll. „Wir waren begeistert“,erinnert sich der 76-jährigeHanno Warlich. Für ihn unddie anderen Jungs sei das eingroßes Abenteuer gewesen.Fliegeralarm statt Klassenar-beit, ran ans Geschütz stattLatein. „Wir waren stolz, dass

wir unsere Heimatstadt ver-teidigen sollten“, so HannoWarlich.

Erst allmählich wurde denjungen Flakhelfern klar, dassKrieg kein Spiel ist. Viermalraus pro Nacht, wieder insBett, schlafen, Schule, erneu-ter Alarm. Hanno Warlich er-innert sich an einen Zwischen-fall im Winter. Da hatte er sichgegen die klirrende kälte Oh-renschützer aufgesetzt. Strengverboten war das, denn sokonnte man die feindlichenFlugzeuge schlechter hören.„Noch einmal, und du kommst

vors Kriegsgericht“, so dieDrohung seines Vorgesetzten.

In Obervellmar lag dieschwere Flakbatterie, der dieJungs der Hermann-Göring-Schule (heute Goethegymna-sium) zugeteilt waren.Wie vie-le Bomber sie getroffen haben,weiß Hanno Warlich nicht. Beidem Großangriff am 22. Ok-

tober 1943 traf die Flak jeden-falls kein einziges Flugzeug.Verluste erlitten die britischenBomberverbände lediglichdurch deutsche Nachtjäger.

Trotzdem wurde von denFlakbatterien geschossen, wasdas Zeug hielt. „Es hat ge-knallt, und das war in ersterLinie gut für das Sicherheits-

gefühl“, so HannoWarlich. GroßeGedanken hat ersich damals nichtgemacht. „Wir wa-ren Kindersolda-ten“, sagt er heute.Wirklich Angsthabe er als Flak-helfer nur in einerbrenzligen Situa-tion gehabt. Dasetzte ein ange-schossener briti-scher Bomber zurNotlandung nurwenige hundertMeter von derStellung in Ober-vellmar auf einemAcker auf. Ein oh-renbetäubenderLärm sei das ge-wesen, bedrohlich

nah und gefährlich. Die Flak-helfer mussten die Verletztenund Toten aus dem Flugzeug-wrack holen. Junge Männerwie sie selbst, nur zwei oderdrei Jahre älter.

Von den zehn Flakhelfern,die in Obervellmar im Einsatzwaren, ist nur einer im Krieggestorben.

Andere hat es schlimmergetroffen. Am 3. Oktober 1943schlug eine schwere Spreng-bombe der Royal Air Force ineiner Flakstellung in Sanders-hausen ein und tötete 48 Sol-daten. 23 von ihnen warenSchüler aus Eschwege,die hierals Flakhelfer eingesetzt wur-den.

„Wir haben Glück gehabt,aber es war eine verlorene Ju-gend“, sagt Hanno Warlich.Nach Gefangenschaft und La-zarett ist er ab Dezember 1945wieder zur Schule gegangenund hat 1947 sein Abitur ge-macht. Die Lust auf Kriegs-abenteuer ist ihm ein für alleMal vergangen.

E Die nächste Folge unsererSerie erscheint am Freitag, 19.September.

Von Thomas Siemon

Üben für den Ernstfall: Kasseler Luftwaffenhelfer beim Exerzieren. FOTO: ARCHIV DETTMAR

Kindersoldaten: Hanno Warlich, Hans Gimbel, Berthold Aßmann (1988 ge-storben), Herbert Oppermann (im Krieg gefallen), Heinz Dittmar, HermannHoll, Helmut Volland, Rainer Rebstein, Karl-Heinz Köhler (von links).

FOTO: WERNER DETTMAR

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HNA

Schüler und Lehrlinge als Helfer in Flakbatterien Die Bomber blieben für leichte Geschütze unerreichbar - bei Großangriff auf Kassel 43 Flugzeuge durch Nachtjäger abgeschossen

Zum Schutz der Städte, indenen sich kriegswichtige

Industriebetriebe und Eisen-bahnanlagen befanden, wur-den Fliegerabwehrkanonen(Flak) eingesetzt. Es gabSchwere Flak-Batterien mit8,8- und 10,5cm-Geschützen,die Ziele bis zu 11 600 MeternHöhe bekämpfen konnten. DieFeuergeschwindigkeit lagzwischen 12 und 20 Schuss proMinute. Die Bedienung be-stand aus einem Geschützfüh-rer und sechs bis neun Mann.1943 waren in Kassel 15 dieserBatterien mit je 6 Geschützenund 10 Großbatterien mit je12 Geschützen stationiert (sie-he Grafik). Da die feindlichenBomber Kassel aus jeder Rich-tung anfliegen konnten, muss-ten die Flakstellungen in ei-nem Kreis um die Stadt auf-gestellt werden. Sie waren soangeordnet, dass die Bomberwährend ihres Zielanflugesetwa eine Minute beschossen

werden konnten. Die Geschüt-ze eröffneten das Feuer, wenndie Flugzeuge in ihre maxima-le Reichweite einflogen (etwa10 000 Meter bei der 8,8cm-Flak). Das Auffinden vonLuftzielen durch Flak undNachtjäger wurde von Schein-werfer-Abteilungen und beischlechten Sichtverhältnissendurch Funkmess-Geräte (Ra-dar) unterstützt.

Die britischen Nacht- unddie amerikanischen Tagesan-griffe wurden hauptsächlichaus Höhen über 5000 Meterdurchgeführt. Die im RaumKassel in großer Zahl statio-nierte Leichte und MittlereFlak,ausgerüstet mit 2 cm und3,7 cm Kanonen, mit einer Hö-hen-Reichweite von maximal4800 m, konnte die Bombernicht erreichen. Durch große

Mengen vonLeuchtspurmuni-tion - die 2 cm-Flak hatte eineFeuergeschwin-digkeit von bis 180Schuss pro Minute-wurde jedoch denBombern die Ziel-findung er-schwert. Nicht zuunterschätzen warauch der morali-sche Effekt auf dieBevölkerung, diebei dem starkenGeschützfeuer dasGefühl hatte, bes-

ser verteidigt zu sein. LeichteFlak war auch auf mehrerenGebäuden der Innenstadt in-stalliert, wo die Bedienungenden Bomben schutzlos ausge-setzt waren.

1943 hatte der verstärkteLuftkrieg der Alliierten inDeutschland selbst eine neueFront geschaffen, an der Sol-daten kämpfen mussten, diean anderen Fronten dringend

benötigt wurden. Nunmehrwurden schrittweise reguläreFlak-Soldaten durch andereKräfte ersetzt. In diesem Jahrbekamen ortsfeste Flakeinhei-ten der Reichsverteidigung„hilfswillige“ Kriegsgefange-ne, vor allem Russen, zugewie-sen. Ebenfalls wurden Flak-batterien aus Abteilungen desReichsarbeitsdienstes (RAD)aufgestellt. Deutsche Arbeiterzog man zu Nachteinsätzenbei Flakbatterien in der Nähe

ihrer Fabriken ein. Schließlichprüfte man die Möglichkeit,Schüler und Lehrlinge alsLuftwaffenhelfer in Flakbat-terien einzusetzen. Neben demmilitärischen Dienst sollte derSchulunterricht in modifizier-ter Form weitergeführt wer-den.

Dieser konnte jedoch in derPraxis nur mit Mühe und Notbeibehalten werden, da vor al-

lem der häufige Dienst beiNacht die 15- und 16-Jährigenso strapazierte, dass sie diefrühen Tagesstunden zumSchlafen und Ausruhenbrauchten. Die ersten Luft-waffenhelfer des Jahrgangs1926 wurden im Februar 1943eingezogen. Jahrgang 1927folgte fünf Monate später.

Als 1940 das Bomberkom-mando der RoyalAir Force we-gen der unerträglichenVerlus-te bei Tageseinsätzen aufNachtangriffe überging, be-stand die Nachtjägertruppeder deutschen Luftwaffe nuraus wenigen einmotorigenMaschinen.Aus diesen kleinenAnfängen heraus entwickeltesich jedoch schnell eine effek-tive Waffe. Sie griffen nachSicht oder mithilfe des Radar-gerätes an,das auf Frequenzenarbeitete, die nicht gestörtwerden konnten.

Dieses Verfahren führtebeim Großangriff auf Kasselzum Abschuss von 43 viermo-torigen Bombern.

Tödlicher Ernst: Beim Abschuss dieses britischen Bombers am Ortsrandvon Obervellmar starben drei Besatzungsmitglieder. FOTO: ARCHIV DETTMAR

Von Werner Dettmar

Schulunterricht blieb auf der Strecke

Die Tragödie von Sandershausen 23 Schüler kamen bei Angriff ums Leben

Bei dem britischen Nacht-angriff am 3. Oktober 1943

wurden in der FlakbatterieSandershausen durch einenReihenwurf von schwerenSprengbomben, die eigentlichdie Altstadt treffen sollten, 23Luftwaffenhelfer getötet. Eswaren 16- und 17-jährigeSchüler der Friedrich-Wil-helm-Schule in Eschwege.

Dieses verheerende Ereig-nis war ein Schock für dieüberlebenden Jungen. Einerder Schüler, die nach Ende desAngriffs die zerfetzten Körperihrer Klassenkameraden ber-gen mussten, schreibt in seinTagebuch: „Die Reihe der To-ten wächst ständig. Links undrechts des Weges legen wir sienieder und decken sie zu. Fas-sungslos stehe ich vor ihnenmit den anderen, die nicht ver-wundet sind, vor ihnen, mitdenen wir in den wenigen ver-gangenen Schuljahren Freudund Leid geteilt haben.

„Kein schön’rer Tod ist inderWelt, als wer vom Feind er-schlagen.“ Haben wir diesesLandsknechtlied wirklich imMusikunterricht gelernt? Ichlerne diesen Tod hier anders

kennen. Du bist nicht schön!Die andere Zeile des Liedestrifft zu: „hier aber find’t erGesellen fein, fall’n mit wieKräuter im Maien.“ Es istwahr, sie fielen wie Kräuter imMaien, im Mai ihres Lebens.

Nach der großen Beerdi-gung in Eschwege wurden dieLuftwaffenhelfer in Gruppen

zu je vier aufgeteilt, um dieGefallenen zu bestatten, dieaus den umliegenden Dörfernstammten.

Der Dramatiker Rolf Hoch-huth, ebenfalls Schüler derFriedrich-Wilhelm-Schule,aber kein Luftwaffenhelfer,musste mit anderen Pimpfendas Spalier bilden. Er berich-tet, dass sein Bruder, Klassen-kamerad der Toten, eine Hit-lerjugend-Fahne in jedes Grabhineinhalten musste, währendParteiredner und Pfarrer denstaatlichen und kirchlichenSegen sprachen und eine Ab-ordnung des Kasseler Flakre-giments über jedem der vielenausgehobenen Gräber und dentrostlosen Angehörigen Salutschoss.

Von Werner Dettmar

Sie fielen wie Kräuter im Maien

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Den Koffer immer griffbereit Die 78-jährige Gretel Germandi erinnert sich an die Nächte im Luftschutzkeller

Der Boden hat gebebt, dieMauern erzitterten, und

immer war da die Angst, dassder Keller einstürzen könnte.„Wir hatten Todesangst“, er-innert sich Gretel Germandi(78), die damals noch GretelKortals hieß. Als die Bomben-angriffe auf Kassel immerhäufiger und zerstörerischerwurden, waren die Luft-schutzkeller die schnellste Zu-

flucht. GretelKortals wohntemit ihren Elternund der ein Jahrälteren Schwes-ter Erika mittenin der Stadt amMartinsplatz.Zwischen denKellern der Häu-ser gab es Durch-

brüche, die ihr später das le-ben retten sollten.

Als im August 1942 die ers-ten Bomben im Zentrum derStadt detonierten,kamen Gre-tel Kortals und die Nachbarnrecht schnell wieder aus denKellern nach oben. „Wir woll-ten sehen, was passiert ist“,er-innert sie sich. Das Schiff derMartinskirche wurde getrof-fen, einige Dachstühle brann-ten, doch das große Chaosherrschte noch nicht. Die 18-jährige Gretel arbeitete als

Verkäuferin bei KinderwarenHerzer, einem Fachgeschäft imErdgeschoss des großen Wag-nerschen Hauses, das an derEcke Hohentorstraße/Mittel-gasse stand.

Von der Oma bis zum Enkeltrafen sich alle Bewohner beiFliegeralarm im Keller. „Wirhatten das Köfferchen mit denwichtigsten Papieren immergriffbereit“, so Gretel Ger-mandi, die mit ihrem MannHans heute noch im gleichenQuartier wohnt. Teilweise ka-men die Bomber dreimal proNacht. In den wenigen Stun-

den dazwischen versuchte dieFamilie, etwas Schlaf zu fin-den. „Wir haben uns gar nichterst ausgezogen, damit wirschnell vom Bett aufspringenund in den Keller laufen konn-ten“, erinnert sich Gretel Ger-mandi. Eine gute Stunde bis90 Minuten dauerten die An-griffe im Schnitt. Bei jedemBombeneinschlag haben dieMenschen im Keller gezittertund gebetet,dass ihr Haus ver-schont bleiben möge.

Bei dem verheerendenGroßangriff am 22. Oktober1943 halfen alles Bitten und

Beten nichts mehr. Als derFliegeralarm ertönte, saß dieFamilie in der Küche. DerVer-lobte von Erika Kortals wargerade zu Besuch da. DieFlucht in den Keller war nochRoutine, doch dann beganndas Inferno. Das WagnerscheHaus stürzte zusammen, denMenschen im Keller blieb nurnoch die Flucht.

Von Haus zu Haus und vonKeller zu Keller schlugen siesich durch. Ihr Ziel war die

Bärenkammer, eine Brauerei,deren verzweigte Gewölbe zueinem großen und vermeint-lich sicheren Luftschutzkellerausgebaut worden waren.Vonallen Seiten kamen die Men-schen, rund 100 kauerten sichdicht an dicht zusammen. DerSauerstoff wurde immerknapper, rund 30 Menschen,darunter derVerlobte von Eri-ka Kortals, schliefen ein. Siesind nie wieder aufgewacht.Der Tod durch Kohlenmon-oxydvergiftung ereilte in die-ser nacht tausende.

Die Überlebenden habenheute noch mit der Erinnerungzu kämpfen. Das könne nie-mand nachempfinden, der esnicht selbst erlebt habe, sagtGretel Germandi.

Von Thomas Siemon

Blick aus dem Turm der Martinskirche: Im August 1942 wurde der Dachstuhl durch einen Bombentreffer beschädigt. FOTOS: ARCHIV GERMANDI/NH

Start der Odyssee: Vom Wagnerschen Haus (ganz rechts) ander Hohentorstraße flüchtete Gretel Germandi durch die Keller.

Gretel Germandi

100 Menschen in der Bärenkammer

Weinbergbunker für 3000 Menschen

1943 standen der Kasseler Be-völkerung folgende Bunker-bauwerke im Stadtgebiet zurVerfügung: E 1. Rettungsstelle und Wohn-bunker Agathofstraße für 280Personen E 2. Wohnbunker LeipzigerStraße 225 für 930 Personen E 3. Verkehrs- und Wohnbun-ker Bahnhofsplatz für 2800Personen E 4. Rettungsstelle und Wohn-bunker am Karlshospital(heute Altmarkt) für 600 Per-sonen. Die Bunker 3 und 4

mussten bei dem Großangriffvom 22. Oktober 1943 wegenSauerstoffmangels geräumtwerden. E 5. Wohnbunker Gräfestraßefür 630 Personen E 6. Bunker im Stadtkranken-haus für 600 Personen E 7. Wohnbunker Grebenstei-ner Straße für 600 Personen E 8. Bunker Marienkranken-haus für 360 Personen E 9. Weinbergbunker für ca.3000 Personen E 10. Wohnbunker Hafenstra-ße für 630 Personen.

Zufluchtsort: Der Weinbergbunker hielt allen Angriffen stand.Betten und Stühle wurden ausgeräumt, ansonsten hat sich in denKatakomben bis heute wenig verändert. FOTO: ROSENTHAL

TotaleVerdunkelung und Mauerdurchbrüche Spätestens zehn Minuten vor dem Anflug der Bomber heulten die Sirenen - Selbstschutzgeräte waren Pflicht

Wegen ihrer Lage und Ein-richtungen war die Stadt

Kassel als Luftschutzort I.Ordnung eingestuft. Das be-deutete, dass hier Einrichtun-

gen geschaffen wurden,um beiLuftangriffen Schäden undVerluste möglichst gering zuhalten. Schon vor Beginn desZweiten Weltkrieges gab esdazu Verordnungen. Darunterfielen die Verdunkelung, dieEntrümpelung von Bodenräu-men wegen der erhöhtenBrandgefahr, das Absichernvon Kellerräumen gegen Ein-sturz und die Einrichtung vonöffentlichen Luftschutzräu-

men zum Schutz der Straßen-passanten im gesamten Stadt-gebiet.

Für jede Hausgemeinschaftmussten Selbstschutzgerätebereitgestellt werden; hierzugehörten eine Hausapothekeund Feuerlöschgeräte. In re-gelmäßigen Abständen wur-den Luftschutzübungendurchgeführt, um die Bevöl-kerung einzuweisen. BeiKriegsbeginn trat als Erstesdie totale Verdunkelung derStadt in Kraft, und vor allemnach den ersten Flächenbom-bardierungen anderer Städteschaffte man zusätzlicheFluchtmöglichkeiten, indemman die Kellerwände zwi-schen den Häusern durch-brach und leicht mit Ziegel-steinen schloss. Wenn ganzeStraßenzüge brannten, be-stand so die Aussicht, sich vonKeller zu Keller ins Freie aufgroße Plätze oder breite Stra-

ßen zu retten. Diese Mauer-durchbrüche haben in Kasseltausenden von Menschen dasLeben gerettet. Mit dem Bauvon Hoch- und Tiefbunkernund Stollen wurde begonnen.

Für einige dieser Bunkerwurden Platzkarten für in derNähe wohnende Familien aus-gegeben, die in ihren Kellern

unzureichende Schutzräumehatten. Industrie und Bevöl-kerung vor drohenden Luft-angriffen rechtzeitig zu war-nen,war die Aufgabe des Luft-schutzwarnkommandos Kas-sel, das in Kellerräumen desHessischen Landesmuseumsund gegen Kriegsende imWeinbergbunker unterge-bracht war. Angeschlossenwaren circa 60 Warnstellen,Industriebetriebe, Kranken-

häuser, Reichsbahn, Reichs-post und Verwaltungen, dieüber Telefon vor dem eigent-lichen Fliegeralarm über dieLuftlage informiert wurden.

So hatten eine Reihe vonRüstungsbetrieben und dieReichsbahn Verdunkelungser-leichterungen, um effektiv ar-beiten zu können. Diese Be-triebe mussten je nach Wetter-lage und Sichtverhältnissenbeim Näherkommen der Flug-zeuge aufgefordert werden,schrittweise zu verdunkeln,wobei die Lichter der Reichs-bahn erst voll gelöscht wur-den, wenn sich die Maschinenunmittelbar vor Kassel befan-den. Akustischer Alarm mitSirenen zur Warnung der Be-völkerung war zehn Minutenvor Eintreffen der Maschinenobligatorisch.

E Die nächste Folge unsererSerie erscheint am Freitag, 26.September.

Von Werner Dettmar

Übung für den Ernstfall: Der Luftschutz-Sanitätsdienst am Alt-markt. Im Hintergrund ist die Hirsch-Apotheke an der Ecke zurMittelgasse zu sehen. FOTO: STADTARCHIV/NH

Sonderregelungen für Rüstungsbetriebe

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HNA

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Schäden ein Besuchermagnet Die ersten schweren Treffer gab es an der Gräfestraße und am Flughafen Waldau

Der heute 78-jährige Gün-ter Bente hat damals alles

ganz genau beobachtet. Ausdem Dachfenster der Woh-nung am Königstor sah er hel-les Scheinwerferlicht und ei-nen Bomber, der immer tieferheranflog. Und dann krachteund donnerte es auch schonein par hundert Meter weiteran der Gräfestraße.

Nach dem damaligen Be-griff gab es erstmalig einenGroßschaden in der Nachtvom 16. zum 17. August 1940.34 Bomber griffen verschiede-ne Ziele über dem Reichsge-biet an. Einer davon warf überKassel zwei Fünfzentnerbom-ben ab, die in der Gräfestraßedrei Häuser stark beschädig-ten. 37 Familien wurden ob-dachlos. Es gab zweiTote, achtschwer- und fünf leicht Ver-letzte. Sie waren alle nicht imSchutzraum. Damals konntesich noch kaum jemand vor-stellen,dass der Krieg auch dieeigene Stadt betreffen könnte.Die Bombeneinschläge an derGräfestraße waren für dieKasseler eine Attraktion.Tau-sende sahen sich die Schäden

an Ort und Stelle an und fass-ten sicher den Entschluss, zu-künftig bei Alarm den Kelleraufzusuchen. Die ersten Bom-ben auf Kassel fielen im Juniund Juli 1940. Etwa 30 Flug-zeuge griffen in drei Nächtenmit 172 Sprengbomben undüber 700 Brandbomben Indus-trie- und Wohngebiete in Bet-

tenhausen undWaldau an. Erheb-liche Sachschädenentstanden inSalzmannshausenund der Unterneu-stadt, jedoch gabes keine Personen-verluste. Haupt-ziel war der Flug-platz Waldau.

Nach dem deut-schen Überfall aufPolen am 1. Sep-tember 1939 be-gann mit derKriegserklärungEnglands undFrankreichs dreiTage später derKrieg im Westen.Und an diesem 4.September wurde- laut Eintragungim erhalten ge-bliebenen Alarm-

buch des Luftschutz-Warn-kommandos Kassel - um 15.45Uhr der erste Fliegeralarm inKassel ausgelöst.

Bis zum Beginn des Frank-reichfeldzuges im Mai 1940sind noch elf weitere Alarmeverzeichnet, bei denen aberkeine wesentlichen Störungenentstanden. Dann trat jedoch

eine rapide Änderung ein.Jetzt flogen die britischenzweimotorigen Bomber in kla-ren Nächten in größerer An-zahl ein und suchten einzelnihre Ziele über einen längerenZeitraum. Nun dauerten dieFliegeralarme oft mehrereStunden und waren eine er-hebliche Belastung für die Be-völkerung. Obwohl in diesemStadium die meisten Men-schen bei Alarm entgegen denLuftschutzverordnungennicht die Schutzräume auf-

suchten, war an Schlaf nichtzu denken, denn es konntenbei jedem Überflug Bombenfallen.

Im Jahre 1940 wurde ins-gesamt 91-mal Fliegeralarmgegeben, die meisten nachtsund dauerten oft mehr als dreiStunden. Nach den erstenschweren Luftangriffen mitPersonenschäden ab diesemAugust suchten jedoch diemeisten Bewohner freiwilligihre Schutzräume auf.

Von Werner Dettmar und Thomas Siemon

Die ersten schweren Treffer: An der Gräfestraße in Wehlheiden starben im August 1940 zwei Menschen, mehrere Häuser wurdenstark beschädigt. FOTOS: STADTARCHIV

Aufräumarbeiten: Die Menschen aus derGräfestraße versuchten zu retten, was zuretten war.

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HNA

Der Untergang als Spiel beim Großflugtag 1933 sollte ein Modell der Kasseler Altstadt bombardiert werden - Regen verhinderte makabre Pläne

Die Katastrophe begannbereits 1933.DieVorberei-

tungen für einen mörderi-schen Krieg, die Vertreibungund Ermordung der jüdischenMitbürger, aber auch die Zer-störung Kassels. Sie war alsPlanspiel bereits am 16. Juli1933 Bestandteil des erstenKasseler Großflugtages unterdem Nazi-Regime. Man mages sich heute kaum noch vor-stellen, aber für diese Massen-veranstaltung auf dem Flug-hafen Waldau wurde unterdem Motto „Bomben auf Kas-sel“ geworben. Am Rande desFlugfeldes war ein Modell derKasseler Altstadt aus Holzund Papier aufgebaut. Als Ab-schluss und Höhepunkt derVeranstaltung sollte es „unterBomben verenden“, wie es dieKasseler Post in der Ankündi-gung damals formulierte.

Die Flugtage inWaldau wa-ren immer eine Attraktion ge-wesen, mit bis zu 80 000 Be-

suchern rechneten die Veran-stalter. Kunstflieger wie KurtKatzenstein oder GerhardFieseler begeisterten in frühe-ren Jahren das Publikum. ImJuli 1933 warf das Wetter dasProgramm gehörig durchei-nander. Es schüttete wie ausEimern, ein wahres Unwetterbraute sich zusammen, einigespektakuläre Flüge konntenspäter doch noch stattfinden.15 000 Menschen, die trotz derRegengüsse ausgeharrt hat-ten, warteten allerdings aufden vermeintlichen Höhe-punkt vergebens.

Das Bombardement fielbuchstäblich ins Wasser, dennder starke Regen hatte dasModell der Altstadt völlig auf-geweicht, Kassel war zumin-dest bei diesem Flugtag nocheinmal davongekommen. Gutzehn Jahre später, am 22. Ok-tober 1943, wurde aus demmakabren Spiel blutigerErnst. Da ging die Altstadt imFeuersturm unter und 10 000Menschen ließen ihr Leben.

Von Thomas Siemon

Von Regen und Wind zerfetzt: Das Modell der Kasseler Altstadt, das durch Bomben beim Groß-flugtag zerstört werden sollte. FOTO: ARCHIV DETTMAR

Bomben auf Kassel: Chronologie E Am 22. Juli 1940 fielen dieersten Bomben in Bettenhau-sen. Der Angriff dauerte von0.29 bis 2.35 Uhr. Ziel war derFlugplatz von Fieseler. Auchdas Kurbad Jungborn an derFulda wurde getroffen. ZweiTage später (24. Juli, 0.26 bis2.57 Uhr) gab es einen weite-ren Angriff. Getroffen wurdedas Spinnfaser-Werk.

*E Der erste größere Schadenentstand in der Nacht vom 16.zum 17. August 1940. In derGräfestraße wurden die Häu-ser 2, 4 und 6 durch Bombenstark beschädigt. Zwei Men-schen starben, 13 wurden ver-letzt.

*E In der Nacht vom 16. zum17. Oktober 1940 (22.02 bis1.13 Uhr) wurden fünfSprengbomben abgeworfen.Eine traf die Stadtgärtnerei.

*E In der mondhellen Nachtvom 8. zum 9. September 1941- nach fast elfmonatiger Pau-se - griffen 30 Bomber an(23.32 bis 3.00 Uhr). Getroffenwurden das Werk II von Hen-schel, Grüner Weg, Haupt-bahnhof, Rotes Palais amFriedrichsplatz, Hermann-straße und Philosophenweg.

*E Zum ersten Mal in einerNacht ohne Mondschein gabes am 24./25. Oktober 1941 ei-nen Angriff (22.37 bis 0.21Uhr). Beschädigt wurden ei-nige Häuser am Jungfernkopf,ein Bahnübergang und Teiledes Gleisdreiecks.

*E 1942 gab es nur einen grö-ßeren Angriff, allerdings mit

erheblichen Zerstörungen imStadtgebiet. In der mondhel-len Nacht vom 27. zum 28. Au-gust 1942 (23.54 bis 2.08 Uhr)schlugen Bomben auf demFriedrichsplatz (Theater), inder Unterneustadt, am Aue-damm mit den Bootshäusern,der Badeanstalt sowie in derKarlsaue ein. Getroffen wur-den die Train-Kaserne an derFrankfurter Straße, der Fried-hof in Wehlheiden, die Grä-festraße, die Murhardstraßesowie die Emmerichstraße.Ziele waren auch die Hen-schelwerke in Rothenditmold.Weitere Zerstörungen gab esan der Wolfsanger Straße, amOstring und dem Stadtkran-kenhaus.

*Die Angaben stammen aus denProtokollen des Luftschutz-warnkommandos Kassel.

Die Vorboten: Zielmarkie-rungsbomben am Nachthim-mel. FOTO: NH

1943: Das Jahr der

Zerstörung E In den frühen Morgenstun-den vom 17. Mai 1943 dauerteder Fliegeralarm fast vierStunden lang (0.31 bis 4.19Uhr). Mit Tagesanbruch kamdie Nachricht, dass die Eder-talsperre zerstört wurde undKassel mit einer Hochwasser-flut zu rechnen hat. Gegenzehn Uhr begann das Wasserder Fulda sichtbar zu steigen.Es überflutete die Fuldadäm-me, stand in der Aue, der Un-terneustadt, der Altstadt undbis hin zur Weserspitze. ZweiMenschen kamen ums Leben,es entstanden große Gebäude-schäden.

*E Am 28. Juli ist der erste Ta-gesangriff der Amerikaner mit100 Flugzeugen verzeichnet.Angegriffen wurden Junkers,Fieseler und Spinnfaser. Diemeisten Bomben verfehltenallerdings ihr Ziel. Getroffenwurden die Fieselersiedlungund die Eichwaldsiedlung. 45Menschen kamen ums Leben.

*E Am 30. Juli 1943 von 8.50bis 10.44 Uhr hatten amerika-nische Flugzeuge nahezu diegleichen Angriffsziele. 157Menschen starben.

*E Am 3. Oktober 1943 zwi-schen 21.58 und 23.43 Uhr flo-

gen 540 britische Bomber überKassel. Sie verfehlten ihreZiele in der Innenstadt, rich-teten aber östlich vom Zen-trum große Schäden an. 116Menschen starben, rund 300wurden verletzt.

*E In der Nacht vom 22. aufden 23. Oktober 1943 ging dieAltstadt im Feuersturm unter.

Wassermassen: Am 17. Mai1943 wurde die Edertalsperrezerstört. FOTO: NH

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Der Horizont in hellen Flammen Aus den Aufzeichnungen desKasseler LuftwaffenhelfersGebhard Niemeyer (16) zu demAngriff vom 3. Oktober.

Dann ging alles sehrschnell: Etwa 22.10 Uhr

fielen über Kassel die erstenLeuchtbomben, Zielmarkie-rungsbomben. Dann folgtendie Christbäume, Kaskaden,abgesprühter Phosphor; undBrand- und Sprengbombenfielen. Andererseits knallteauch unsere Flak ganz gewal-tig. Deutsche Jäger erschienenüber Kassel; um unsere eige-nen Nachtjäger nicht zu ge-fährden, hatten wir für be-stimmte Höhen Feuerverbot.

Etwa bis 22.45 Uhr tobtensich die Feinde über unsererStadt aus. In hellen Flammenstand der ganze Horizont undließ einen immer wieder dasSchlimmste für zu Hause be-fürchten.

Während des Angriffes nunsahen wir drei Maschinen ab-

stürzen, lichterloh brennend.Das war jedesmal ein stolzerAnblick. Die eine Maschinestürzte etwa in südlicher Rich-tung von uns ab. Wir vermu-

teten etwa am Bahnhof Har-leshausen, da auch die Entfer-nung nicht allzu groß war; diezweite Maschine stürzte überder Stadt ab (wie man in den

folgenden Tagen in Erfahrungbrachte, ist sie im Philippinen-hof aufgeschlagen!); von derdritten Maschine will ich nunberichten: Scheinwerfer hat-

ten nördlich von uns eine Ma-schine aufgefasst; im Nu rich-teten wir die Maschine an: op-tisches Schießen dann. Wenigspäter flogen unsere erstenGruppen dem Feind entgegen.Da begann die Maschine zubrennen, und bald stürzte sieab. Das war zweifellos unserWerk! ...

Allmählich ging der Angriffzu Ende; da flog im Osten vonuns etwa gegen 23 Uhr die Mu-nitionsanstalt Ihringshausenin die Luft, eine fürchterlicheStichflamme, eine gewaltigeExplosion und ein ungeheurerLuftdruck; noch viele Sekun-den später hörte man das Rol-len und Grollen der Detonati-on in weiter Ferne immer undimmer wieder! Wir sahen eineblutrote Wand am Himmel.Der Widerschein der Brändestieg hoch empor!

E Die nächste Sonderseite zurBombennacht erscheint amFreitag, 10. Oktober.

In Reih und Glied: Trauerfeier vor dem Kasseler Rathaus für die Opfer des Angriffs vom 3. Oktober1943. FOTO: STADTARCHIV

Die Zielmarkierung ging daneben Bereits am 3. Oktober 1943 sollte die Kasseler Innenstadt zerstört werden

Auf diesen Sonderurlaubhätte der damals 18-jäh-

rige Hans-Karl Jacob gernverzichtet. In Eisenach war erstationiert, und dort erreichteihn das Telegramm mit derMitteilung, dass seine Elternam 3. Oktober ausgebombtwurden. Sie hatten zum Glücküberlebt, die Mutter im Aga-thof-Bunker, derVater im Kel-ler des Hauses an der Buttlar-straße 5 in Bettenhausen. „Eswar alles zerstört, wir haben

kein Stuhlbein mehr gerettet“,erinnert sich Hans-Karl Jacob(siehe Foto unten rechts).

Dabei war Bettenhausengar nicht das Ziel. Die Kasse-ler Innenstadt sollte am 3. Ok-tober 1943 durch einen Flä-chenangriff zerstört werden.So sah es der Plan des briti-schen Bomberkommandos vor.Im Laufe des Jahres war man- wie schon 1942 in Lübeck -bei der Analyse der Auswir-kungen der Nachtangriffe aufWuppertal und Hamburg zuder Erkenntnis gekommen,dass sich die dicht bebautenInnenstädte durch den massi-ven Einsatz von Brandbombendurch Feuer selbst zerstörten.Seit dem Frühjahr 1943 warfür die Royal Air Force dasHauptangriffsziel die Moralder deutschen Zivilbevölke-rung, vor allem der Arbeiter-

schaft. Und so beschäftigtensichWissenschaftler undTech-niker mit der Feuerempfind-lichkeit der zu bombardieren-den Städte und ermitteltenBombenmengen und Abwurf-schema. Kassels Innenstadtmit seinem mittelalterlichenKern war ein geradezu idealesZiel für einen Flächenangriff.Der Zielpunkt des Angriffs,der Martinsplatz, war so ge-

wählt, dass dieMasse der abge-worfenen Spreng-und Brandbombenin ein Gebiet fal-len musste, das ei-ne rapide Ausdeh-nung von Brändenbegünstigte.

Die Zielfin-dung wurde in-zwischen durchdie Schaffung ei-ner so genanntenPfadfindereinheitperfektioniert.Diese, vor demBomberstrom ope-rierenden Flug-zeuge, markiertenmit Leucht- undfarbigen Markie-rungsbomben dasZiel.

Am 3. Oktoberwar derBeginn desAngriffs auf 22.15

Uhr festgelegt, mit einer An-griffsdauer von 27 Minuten.Der britische Bericht über denAngriff führt aus, dass 540schwere Bomber eingesetztwaren. Die zur Zielmarkie-rung eingesetzten Maschinenverfehlten jedoch den Ziel-punkt in südöstlicher und öst-licher Richtung mit dem Er-gebnis, dass das außerhalb lie-gende Stadtviertel schwer be-schädigt und das nahe gelege-

ne Dorf Sandershausen halbzerstört wurde. Eine spätereVerschiebung nach Nordenbeschädigte die Dörfer Wolfs-anger und Ihringshausenschwer. Außerhalb des Wohn-gebietes wurde der Industrieschwerer Schaden zugefügt,hauptsächlich den Lokomo-tiv- und Rüstungswerken vonHenschel & Sohn; ein großesMunitionsdepot westlich vonIhringshausen wurde zu 75Prozent zerstört. 24 Bombergingen verloren.

Dem Umstand, dass dergrößte Teil der 1500 Tonnenabgeworfenen Spreng- undBrandbomben in freies Feldfiel, ist zu verdanken, dass nur118 Menschen getötet und ca.300 verwundet wurden. 382

Wohngebäude wurden zer-stört. Es entstanden folgende„Großschadenstellen“: Fiese-lerwerk 1 und Spinnfaser,Henschelwerk 1 und Umge-bung, Holländischer Platz,Bernhardistraße, Salzmann &Co., Sandershäuser Straße,Schule Hohenlohe,Vogts Müh-le und Umgebung, Weserstra-ße, Mönchebergstraße, Stadt-krankenhaus, Fasanenhof,

Wolfsanger. 50 landwirt-schaftliche Betriebe wurdenbeschädigt oder zerstört.

Nur kurze Zeit danach, am22. Oktober, wiederholte dasBomberkommando den An-griff. Dieses Mal waren dieZielmarkierungen exakt ge-setzt. Die Innenstadt wurde ineinem schrecklichen Brandzerstört. Zehntausend Bewoh-ner mussten ihr Leben lassen.

Trümmerfeld: Die Henschelstraße mit Blickrichtung Holländischer Platz nach dem Angriff vom 3. Oktober. FOTO: STADTARCHIV

Alles zerstört: Das Elternhaus von Hans-Karl Jacob an der Butt-larstraße. FOTO: JACOB/NH

Ausgebombt: Nur einige Möbelstücke blie-ben übrig. FOTO: STADTARCHIV

Ziel war Feuersturm durch Brandbomben

Von Werner Dettmar und Thomas Siemon

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HNA

Bomben auf Kassel: Chronologie E Im Januar 1944 wurde eineRundfunk-Sendeanlage ins-talliert, die während derWarnzeiten die Position derangreifenden Flugzeuge fürden Gau Kurhessen bekanntgab. Sie konnte mit den gän-gigen Radios abgehört wer-den.

*E Die ersten Bomben des Jah-res fielen am 21. Januar 1944(Alarmzeit 21.51 bis 22.08Uhr). Getroffen wurde einHaus in Niederzwehren. Esgab Tote und Verletzte.

*E Am 18. März 1944 (21.45 bis22.29 Uhr) wurden 15 Spreng-bomben abgewofen.Sie schlu-gen in Lohfelden, im BereichWolfsanger- und Ihringshäu-ser Straße (hinter dem Kran-kenhaus) ein.

*E Am Schlangenweg und Phi-losphenweg schlugen am 30.März 1944 Bomben ein. Wei-tere Treffer gab es am Stra-ßenbahn-Betriebshof in Wil-helmshöhe, in Kirchditmoldund an der IhringshäuserStraße.

*E Die Werke von Fieseler undHenschel-Flugmotoren warenZiele am 19. April 1944 (9.59bis 11.34 Uhr). Bis zu 80 Bom-ber waren im Einsatz. AuchWohngebiete in Bettenhausenwurden getroffen.

*E Großbrände an der Park-straße und der Schlachthof-straße waren die Folge des An-griffs am 22. September 1944.Ebenfalls getroffen wurdender Hauptbahnhof, der Güter-bahnhof, Henschel, Tannen-wäldchen, Unterstadt, Mittel-feld,KölnischeStraße,Hohen-zollernstraße, Kaiserstraße,Prinzenstraße,Elfbuchenstra-ße, Holländische Straße, Fied-lerstraße, Eisenschmiede undIhringshäuser Straße sowieGebiete in Wolfsanger undBettenhausen.

*E Am 27. September 1944(10.11 bis 11.38 Uhr) wurdenWohngebiete in Ihringshau-sen,am Fasanenhof und an derEisenschmiede getroffen.

*E Bereits einen Tag später, am28. September 1944, fielen er-neut Stabbrandbomben undSprengbomben (11.34 bis14.29 Uhr). Getroffen wurdendie Stadtteile Harleshausen,Kirchditmold, das Umfeld derHeinrich-Schütz-Schule, Ro-thenditmold, das Henschel-werk Mittelfeld und das Fasa-nenhofviertel. Weitere Schä-den gab es an der Harleshäu-ser Straße, der TodenhäuserStraße, am Huttenplatz, demDiakonissenhaus, der Quell-hofstraße und am Hegelsberg.

*E Rothenditmold, Wolfsanger,Wehlheiden, Brasselsberg undHarleshausen waren Ziele desAngriffs vom 2. Oktober 1944(10.12 bis 12.12 Uhr).

*E Am 7. Oktober 1944 gab eseinen größeren Angriff (11.07bis 14.07 Uhr). Treffer gab esin Harleshausen, in derWarte-bergsiedlung, am Jungfern-kopf, im Weserviertel, an derMönchebergstraße und amStadtkrankenhaus.

*E Sprengbomben trafen am18. Oktober 1944 (10.50 bis 12Uhr) die Stadtteile Wilhelms-höhe, Kirchditmold, Harles-hausen, die Wegmann-Obst-plantage, Rothenditmold,Nordstadt, Fasanenhof, Bet-tenhausen, Wolfsanger sowieIhringshausen.

*

Die Angaben stammen aus denProtokollen des Luftschutz-warnkommandos Kassel.

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400 Bomber im Anflug auf die Stadt Erst Scheinangriff auf Frankfurt, dann Kursänderung auf Kassel - Fliegeralarm um 20.17 Uhr

Nach dem missglücktenAngriff am 3. Oktober auf

Kassel greift das britischeBomberkommando mit je-weils über 400 Maschinen achtweitere deutsche Städte an.Am 22.Oktober,einem Freitag,ergibt sich eine günstige Wet-terlage für den Anflug undüber Mitteldeutschland. Soentscheidet LuftmarschallHarris im Hauptquartier inHigh Wycombe, westlich vonLondon,dass an diesemAbendKassel endgültig zerstört wer-den soll.

Fernschreiber übermittelndie Einsatzbefehle an 38 Flug-plätze in Ost- und Mitteleng-land. 569 viermotorige Bom-ber der Typen Lancaster undHalifax werden bis zum frü-hen Nachmittag betankt undmit Bomben beladen. Für ei-nen Flächenangriff auf einendichtbebauten mittelalterli-chen Stadtkern mit Fachwerk-häusern wie in Kassel, ist die

übliche Beladung einer Lan-caster eine 40 Zentner Luft-mine oder Sprengbomben mitgleichem Gesamtgewicht,zwölf Container mit je 90Stabbrandbomben (1,7 Kilo-gramm) oder acht Flüssig-keitsbrandbomben (13,5 Kilo-gramm). Zu Beginn des An-griffs abgeworfene Luftminendecken mit ihrer gewaltigenDruckwirkung in weitem Um-kreis Dächer ab,lassen Fensterzersplittern und an Fachwerk-häusern das Holz freilegen.Das Zielgebiet - in Kassel istder Zielpunkt wiederum derMartinsplatz - wird „aufgelo-ckert“, um den riesigen Men-

gen der folgenden Brandbom-ben Nahrung geben zu könnenund das schnelle Entstehenvon Flächenbränden zu er-möglichen.

Der Start der Bomber vonden Flugplätzen, auf denen je20 bis 30 Maschinen statio-niert sind, erfolgt je nach La-ge zwischen 17.30 Uhr und

18.30 Uhr. Kassel soll in vierWellen von 20.55 Uhr bis 21.11Uhr bombardiert werden.

Die schwerbeladenen Bom-ber brauchen über eine Stun-de, um auf 6000 Meter Höhezu kommen, in der die hollän-dische Küste über der Schel-demündung überflogen wer-den soll. Aber bereits nach

dem Start werden die Bombervon den deutschen Radarge-räten erfasst und Meldungenüber 400 feindliche Maschinenmit östlichem Kurs gehen andie Gefechtsstände der Nacht-jäger.

Schon um 19 Uhr werdendie Besatzungen auf ihrenPlätzen alarmiert. Als die

Spitze des Bomberstroms voncirca 150 Kilometer Längeund 30 Kilometer Breite dieholländische Küste erreicht,sind die ersten der fast 300einsatzbereiten Nachtjägerschon in der Luft.

Die Meldungen der Luft-raumbeobachter lassen bis inden Raum von Aachen einen

nach Süddeutschland gerich-teten Kurs erkennen. Dann je-doch, etwa um 20.15 Uhr drehtder Bomberstrom in RichtungKoblenz. Frankfurt wird, wievon den Planern beabsichtigt,als mögliches Ziel angenom-men. Dies wird noch durch ei-nen Scheinangriff einiger Ma-schinen bestärkt. Eine weitereKursänderung des Bomber-stroms,diesmal direkt in Rich-tung Kassel, wird nicht er-kannt.

Diese Tatsache, verbundenmit falschen englischenDurchsagen in deutscherSprache auf den Nachtjäger-frequenzen, führt dazu, dassein großer Teil der Nachtjägernach Frankfurt geleitet wird.Erst als Kassel eindeutig alsZiel erkannt wird, drehen sieab nach Norden.

Da die geplante Angriffs-dauer von nur 20 Minuten von

einem großen Teil der briti-schen Bomber wegen schlech-ter Wetterbedingungen aufdem Anflug nicht eingehaltenwerden kann, kommen fastdoch noch alle Nachtjägerzum Einsatz.

In den Kellerräumen desKasseler Landesmuseumsentschließt sich der Leiter desLuftschutz-Warnkommandos,Wilhelm Dettmar, wegen derwidersprüchlichen Luftlage-meldungen bereits um 20.17Uhr den Fliegeralarm auszu-lösen. Nach dem Abklingender Sirenen breitet sich eineunheimliche Ruhe über derStadt aus.

E FORTSETZUNG MORGEN

Von Werner Dettmar

Trümmerfeld: Der Morgen nach dem Angriff vom 22. Oktober am Rande des Friedrichsplatzes mit Blickrichtung Schöne Aussicht.DieFarbfotos hat der Feuerwehrmann Friedrich Unkel aus Marburg gemacht, der in Kassel im Einsatz war. FOTOS: STADTARCHIV

Einsatzbefehle an 38 Flughäfen in England

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HNA

„Es regnete Feuer, es zischte und krachte“ Augenzeugen erinnern sich an den 22. Oktober 1943 und die Erlebnisse in der Bombennacht - Teil 1

E Ingeborg Schäfer war da-mals fünf Jahre alt. Sie erin-nert sich: „Die Decken wurdenin Eimer mit Wasser getaucht.Sie waren zentnerschwer, aberich bekam eine über mich ge-hängt. Meine Mutter hieltmich ganz fest, zog mir die De-cke über den Kopf, und wirgingen nach oben. Es wurdeimmer wärmer, es wurde ganzheiß. Überall war es rot, einganz heißer Wind. Meine Mut-ter hielt mir die Decke überdem Kopf fest, aber ich konn-te doch kurz etwas ganz Un-geheuerliches sehen: einenleuchtend roten Himmel mitvielen sprühenden, glühendenFunken. Es regnete Feuer, eszischte und krachte neben uns,die Füße wurden ganz heiß.“

*E Anneliese Käuffelin (86):Die Moltkestraße, wo unsereWohnung lag, gibt es heutenicht mehr. Bei dem großenAngriff am 22. Oktober 1943ist sie ausradiert worden.Kaum jemand in der Straßehat überlebt. Auch unsereGroßeltern und andere Ange-hörige waren unter den Toten.Mein Sohn und ich wohntendamals nicht mehr in Kassel.Als wir aber nach der Zerstö-rung einmal vor dem Trüm-merfeld standen, sagte meindamals zweijähriger Sohn mitgroßen, ängstlichen Augen:Oh, Mama, alles, alles paputt- aber warum? - Ja, warum?So werden auch heute nochKinder in Kriegsgebieten fra-gen. Und die Mütter wissenkeine Antwort.

*E Otto Pfützenreuter war da-mals 14 Jahre alt: Meine älte-re Schwester hatte Erbsen-suppe gekocht - meine Mutterlag im Krankenhaus am Mön-

cheberg. -, und die Teller wa-ren schon gefüllt. Also Alarm,nichts wie ab in den Keller, diePapiere hatten wir immergriffbereit in einem Koffer.Wirwohnten in der Henschelstra-ße 23, 3. Stock (Nähe Hollän-discher Platz). Vor der Aus-gangstür des Luftschutzkel-lers im Gildehaus war jemandpostiert. Als der wahnsinnigeAngriff begann und dieWände

nur so wackelten und wir nachjedem Einschlag froh waren,dass wir nicht unter denTrüm-mern begraben wurden, ließ erniemanden mehr raus auf dieStraße. Wir mussten also ab-warten und weiterzittern.

*E Edith Oechsner (81):An die-sem Abend war meinVerlobtermit mir im Ufa, es gab Münch-hausen. Während der Vorstel-

lung Alarm. Auf dem verdun-kelten Nachhauseweg stürm-ten uns bereits Menschenmas-sen entgegen, die alle in dieBunker rannten....Mein Ver-lobter hat sich mit den ande-ren Soldaten am Morgen dieInnenstadt angesehen. Er kamkreideweiß zurück. Er musstesehen wie massenweise Toteund Gliedmaßen auf Lastwa-gen geladen und in die Reihen-

gräber abtransportiert wur-den.“

*E Rolf Lang war damals vierJahre alt: Während des An-griffs fanden meine Mutter,meine Großmutter und ich imKellergang der Bürgerschule 8Schutz vor dem Bombenhagel.Meinen Großvater haben wirdie ganze Nacht gesucht. Wiedurch ein Wunder war er amanderen Morgen wieder da.Von unserem Wohnhaus amUnterneustädter Kirchplatzwar bis auf ein paar Mauer-reste nichts mehr übrig. Nachdem Krieg ging ich dann in dieBürgerschule 8. Wenn dieSchulspeisung im Keller ver-teilt wurde, musste ich jedesMal an den Bombenangriffdenken.

*E Ursula Westermann erlebtedie Zerstörung als Siebenjäh-rige: Wir wurden schon am 3.Oktober in Wolfsanger ausge-bombt und nach Treysa eva-kuiert. Am 23. Oktober kamenwir mit einem Kohlenwagenzurück. Am Hauptbahnhofgab es kaum ein Durchkom-men. Wir wollten aber unbe-dingt nach Wolfsanger, weilwir meinen Vater gesucht ha-ben. Auf dem Weg durch dieGroße Rosenstraße roch esganz furchtbar. Meine Mutterwollte mir aber nicht sagen,was das ist. Erst später habeich erfahren, dass die kleinen,schwarzen Bündel die Über-reste von Leichen waren.

*E Ingrid Schumann war da-mals 15 und flüchtete bei demAngriff in einen Luftschutz-keller an der Jägerstraße: Einegroße Anzahl Menschen be-fand sich schon im Keller, undes dauerte nicht lange bis wir

die ersten Bomben hörten unddie Erschütterungen von Ein-schlägen wahrnahmen. DieLuft wurde knapp, stickig undrauchig. Einige Soldatendrehten die Kurbel an einemGerät, das uns Sauerstoff zu-führen sollte. Stattdessenwurde die Luft immer rauchi-ger und schlechter. MeineFreundin und ich steckten un-sere Jacken und Schartücherder Uniform in einWasserfass,zogen die Jacken nass wiederan und dasTuch über den Kopfund begaben uns die Keller-treppe hoch. Als wie die Kel-lertür öffneten waren wir ent-setzt von dem Feuer rundhe-rum.

*E Helga Ohlmeier war damals15 Jahre alt: Am übernächstenTag gehe ich mit Mutti durchdie Stadt. Da erst kommt unsdas unvorstellbare Geschehender Bombennacht voll zu Be-wusstsein. Von allen Seitenschaut uns das Grauen an. Esbrennt und qualmt überall.Mauerreste ragen in den Him-mel und drohen jeden Augen-blick einzustürzen. Derschlimmste Anblick aber sinddie Menschen, die tot auf Stra-ßen, Plätzen und in ehemali-gen Schaufenstern liegen -verbrannt, verkohlt, ersticktoder aufgedunsen. Königs-platz, Friedrichsplatz, Luther-platz, Holländischer Platz undviele andere haben in derBombennacht tausenden vonMenschen das Leben gerettet,die vor den Feuerwalzen dort-hin fliehen konnten. Nun sinddiese Plätze bedeckt mit denLeichen von Männern, Frauenund Kindern.Traurige Gestal-ten gehen suchend umher.

* Zusammengestellt von Thomas Siemon

Helfer im Einsatz: Die Feuerwehr am Staats-theater.

Wasser auf Ruinen: Die stark beschädigteKriegsschule am Friedrichsplatz.

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Christbäume alsVorboten des Angriffs Die über 1000 Jahre alte Stadt wird in einer Nacht zerstört - Massengräber für 10 000 Menschen

Es ist noch früherAbend miteinem klaren Sternenhim-

mel.Obwohl das Staatstheaterund die Kinos schon geschlos-sen haben, sind noch vieleMenschen unterwegs. Die Res-taurants und Cafés der Innen-stadt sind gut besucht.Überallnehmen die Menschen nun ihrLuftschutzgepäck und suchendie Schutzräume in ihren Kel-lern auf.Viele hasten durch dieStraßen, um einen der öffent-lichen Luftschutzräume oderBunker zu erreichen. Angstbreitet sich aus. Aus südöst-licher Richtung kommt Moto-rengeräusch. Scheinwerfer er-fassen in großer Höhe einFlugzeug. Die schwere Flakbeginnt zu schießen. GebhardNiemeyer, Luftwaffenhelferbei einer Flakbatterie in Ober-vellmar, schreibt in seinemTa-gebuch: „Der Himmel über derStadt beginnt sich zu röten. Esist ein schauriges Bild wie dieZielmarkierungen herniedergehen: wie eine Unzahl vonSternen breitet sich das Zeugin verschiedenen Farben -grün und rot - aus: überall.Dann wieder Leuchtbomben,dann wieder Markierungen.Wenn sie sich entfalten, dannzerfallen sie in tausend kleineSterne und sinken langsamherab."

Die Zielmarkierungsbom-ben, bei der Bevölkerung als„Christbäume“ bekannt und

alsVorboten eines Angriffs ge-fürchtet, sind bis zu 2,5 Zent-ner schwere Bomben mit einerBarometerzündung. In etwa700 Metern Höhe explodierensie und geben 60 Leuchtstäbefrei. Diese entzünden sich undsinken mit dem Geräusch vonabbrennenden Feuerwerks-körpern auf die Erde herab,oft fälschlich als herabregnen-der Phosphor wahrgenom-men. Dort bilden sie einen ki-lometerweit sichtbaren roten,

grünen oder gelben Farbfleckmit einem Durchmesser bis zu100 Metern. Die Brenndauerauf der Erde beträgt drei Mi-nuten, dann werden sie durchweitere Abwürfe erneuert. Die

Bombenschützen zielen aufdas Zentrum der vorher fest-gelegten Farben. Es werden197 Zielmarkierungsbomben

abgeworfen. Bei diesem An-griff ist die Markierung be-merkenswert genau. Zwei Mi-nuten vor Beginn brennen 80rote Zielmarkierungen in ei-ner kompakten Gruppe nahedes Zielpunktes.

Die auf das Innenstadtge-biet und teilweise auf die Au-ßenbezirke abgeworfenen 35220, 40 und 80 Zentner schwe-ren Luftminen und 594Sprengbomben üben auf dieumliegenden Häuser schwere

Druck- und Sogwirkungenaus, so dass im Umkreis von500 Metern kein Haus ohneBeschädigungen bleibt. Dä-cher werden abgedeckt, Fens-terrahmen und Türen heraus-gerissen und leicht gebauteZwischenwände stürzen zu-sammen. Flure, Treppen undsonstige Zugänge sind unpas-sierbar.

Durch den Abwurf von386 747 Stabbrandbomben(1,7 Kilogramm), 10 743 Stab-

brandbomben mit Sprengsatzund 19 366 Flüssigkeitsbrand-bomben stehen innerhalb von15 Minuten die Häuser der In-nenstadt in hellen Flammenund die Fachwerkhäuser stür-zen mit Getöse ein. So kommtes zu einer außerordentlichschnellen Entwicklung derFlächenbrände, die links undrechts der Fulda entstehen.Dadurch, dass fast jedes Hausvon Brandbomben entzündetwird, braucht der etwa 4,7 Ki-lometer umfassende Brandnur wenig mehr als eine Stun-de, um sich voll zu entfal-

ten.Gegen 21.30 Uhr verlassendie letzten Bomber den Luft-raum über Kassel.

Sie haben die Brände ent-facht. Die mehr als tausendJahre alte Stadt zerstört sichnun von selbst und nimmt 10000 ihrer Einwohner, - Män-ner, Frauen und über zweitau-send Kinder - mit in den Tod.An den folgenden Tagen wer-den sie unter großen Schwie-rigkeiten auf sechs KasselerFriedhöfen in Massengräbern- im damaligen Sprachge-brauch „Kameradschaftsgrä-bern“ - in zwei Schichtenübereinander beigesetzt.

E FORTSETZUNG MORGEN

Kaum eine Chance im Inferno: Die Feuerwehr im Dauereinsatz am Morgen nach dem verheerenden Angriff auf Kassel. Friedrich-platz. FOTOS: STADTARCHIV

Trümmerfeld: Der Friedrichsplatz mit dem Fridericianum und der zerstörten Kriegsschule (ganzrechts) am Morgen des 23. Oktober.

Gerettet: Überlebende auf dem Friedrichsplatz. Links die ausgebrannten Häuser der Oberen Kö-nigsstraße, rechts die Ruine des Weißen Palais.

Von Werner Dettmar

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HNA

197 Bomben zur Zielmarkierung

„Wahrscheinlich wären wir nicht wieder aufgewacht“ Augenzeugen erinnern sich an den 22. Oktober 1943 und die Erlebnisse in der Bombennacht - Teil 2

E Willy Vasserot (78): Mit 18Jahren bin ich als Melder ei-nem Selbstschutztrupp in derObersten Gasse zugeteilt...Ichbekommen den Befehl, imRenthof Meldung zu machen.Viele Häuser brennen schon.Weil ich kaum noch atmenkann, habe ich den Filter derGasmaske etwas gelockert, so-fort tränen mit die Au-gen...Zum Königsplatz warkein Durchkommen mehr. DieFlammen trafen auf der Mitteder Straße zusammen. Einejunge Frau schrie fürchterlich.Sie hatte in der Aufregung ihrBaby verloren. Am Drusel-platz brach ich zusammen. Ichwurde plötzlich wach, als je-mand sagte: Den müssen wiran die Seite legen, der lebtnoch.Man war dabei,dieTotenabzutransportieren.

*E Gerd Nöding (68): Als wiraus der Haustür (amWestring)kamen, erwartete uns ein In-ferno: Brennende Häuser, he-rabstürzende Mauern und glü-hendes Gebälk.Auf der Straßelagen noch Brandbomben.Wirliefen in Richtung Schlacht-hofstraße, den Kinderwagenmit nassen Decken bedeckt,

ich an der Hand meiner Mut-ter. Um ein Haar wären wirvon einem herabstürzenden,brennenden Balken getroffenworden. P.S. Es ist wichtig, dieErinnerung für die Generati-on unserer Enkel wachzuhal-

ten, um sie vor so schlimmenZeiten zu bewahren.

*E Alfred Peppermüller (69):Als Neunjähriger erlebte ichdie Bombennacht im Luft-schutzkeller des Bahnhofs

Bettenhausen. Meine Elternhatten damals die Bahnhofs-gaststätte gepachtet.Währenddes Angriffs kamen plötzlichdurch den Notausstiegs-schacht Funken herein. Wirsind raus auf den Bahnhofs-

vorplatz. Ich erinnere mich be-sonders an das eigenartigeRauschen, das heulende Ge-räusch einer Bombe, die hinterdem Salzmannhof niederging.Das schaurigste Bild, das mirimmer wieder vor Augenkommt, war der Anblick jenerenormen Rauchwolke, die wievon Geisterhand innen glutrotbeleuchtet war.

*E HansDickmann (72): In demKellergewölbe des GasthausesBärenkammer war dann End-station. Der große Keller warvoller Menschen, denn von al-len Seiten kamen die Leuteaus den Durchbrüchen. Wirsuchten uns einen Platz zumAusruhen.Wenn einer von unsdrohte einzuschlafen, wurdeer sofort von unserer Muttergeweckt. Wahrscheinlich wä-ren wir nicht wieder aufge-wacht. An den Wänden lagenhaufenweise aufgestapelt dieMenschen als wenn sie schlie-fen - sie waren tot. Wahr-scheinlich reichte auch des-halb der Sauerstoff für die an-deren.

*E Waltraud Pape (68), die ihreKindheit und Jugendjahre in

Bad Karlshafen verbracht hat:Gegen 20 Uhr gab es auch inKarlshafen Fliegeralarm. Vonmeinem Elternhaus sahen wiram südlichen Nachthimmeldie hellen Scheinwerfer derFlak wie lange Leuchtstäbe.Zunehmend war Flugzeug-brummen zu hören, zuweilenschrill und lauter werdend.Der Nachthimmel wurde imsüdlichen Bereich immer hel-ler und in rötliche Farben ge-taucht.

*E Jürgen Rübesam (74): Amnächsten Morgen sahen wirdann die armen Menschen, dieaus der Stadt die Wilhelms-höher Allee entlang kamen.Viele trugen Verbände undhatten entzündete Augen, ihreGesichter waren vom Schre-cken gezeichnet. Wir hörtendas erste Mal von der furcht-baren Nacht in der Stadt,wollten das aber alles nicht sorecht wahrhaben. Mein Bru-der ging also los. Als er gegenMittag zurückkam, war erganz verstört. Er erzählte uns,die ganze Stadt liege in Trüm-mern.

*Zusammengestellt von Thomas Siemon

Sammelpunkt: Auf dem Friedrichsplatz (Blickrichtung Frankfurter Straße) wurden Verwundete be-handelt und abtransportiert.

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Der Luftschutzkeller wurde zur Todesfalle Die meisten Menschen starben an Erstickung - Bis zum Kriegsende 27 weitere Angriffe

Die Soldaten und Luftwaf-fenhelfer an den Geschüt-

zen der Flakbatterien habenvergeblich versucht, das Un-heil von Kassel abzuwenden.Aber die Nachtjäger könnennoch eingreifen. Beim Abflugvon Kassel in nordwestlicherRichtung werden bis in die Ge-gend von Gütersloh noch 38viermotorige Bomber mit jesechs Mann Besatzung abge-schossen.

Rückblickend ist die Fragezu stellen, wie es, imVergleichmit anderen Städten, zu derhohen Zahl von 10 000 Totenkommen konnte. Darüberkann man Folgendes aus demam 7. Dezember 1943 gefer-tigten Erfahrungsbericht desKasseler Polizeipräsidentenerfahren: „Bei über 70 ProzentderToten wurde Tod durch Er-stickung festgestellt. DieseGefallenen haben einen sanf-tenTod erlitten, sie sind in Fol-ge des durch den Feuersturmeingetretenen Sauerstoffman-gels, zum Teil auch durch die

Einwirkung von Kohlenoxyd-gas im Schutzraum ermüdetoder ohnmächtig gewordenund schließlich ohne Kampf inden Tod hinübergeglitten.“

Doch wie hätten sie sichverhalten sollen? Die weitausmeisten dieser Toten habensich im Schutzraum sicher ge-fühlt, auch dann noch, als daseigene Haus und dessen Um-gebung bereits in hellen Flam-men stand. Da gerade im Alt-stadtgebiet die meisten Kellerunter Erdgleiche gelegen sind,

erschien der Aufenthalt imSchutzraum auch dann nocherträglich, als ein Betreten derStraße kaum noch möglichwar. Hier spielten sich er-schütternde Szenen ab. Eswird von Ehemännern berich-tet, dies es weder mit Bittennoch durch Gewalt fertigbrachten, ihre Frauen zumVer-lassen des Schutzraumes zu

bewegen. Sie sind dort geblie-ben und erstickt. Die Ermü-dung durch schlechte Luft undvielleicht eingetretene Atem-not haben dazu beigetragen,dass viele Menschen nichtmehr den Entschluss zur Tatfassen konnten.

Ein anderer Teil hat ver-sucht, den Keller zu verlassen,um sich auf Fluchtwegen in

Sicherheit zu bringen. Zu-nächst wurde dies durch dieMauerdurchbrüche versucht.Da das Altstadtgebiet vonMauerdurchbrüchen undStollen blockweise durchzo-gen war, sind geradezu Wan-derungen unter den Häusernauf der Suche nach einem bes-seren Luftschutzraum oderbesseren Ausgang angetreten

worden. Dabei ist es zu An-sammlungen bis zu hundertenvon Menschen gekommen, diedann dort tot aufgefundenwurden. Es ist erklärlich, dassviele Menschen, insbesondereFrauen und Kinder, bei demim Gang befindlichen Bom-bardement nicht den Mut fan-den, den Schutzraum zu ver-lassen.

Der großen Zahl von Gefal-lenen muss aber die viel hö-here Zahl der Geretteten ge-genübergestellt werden. Imeng begrenzten Altstadtgebietwohnten zur Zeit des Angriffsetwa 25 000 Menschen. Umge-kommen sind im Fachwerk-kern der Stadt etwa 2500.Demnach sind nicht wenigerals 22 500 Menschen aus die-sem Gebiet, das sind 90 Pro-zent, gerettet, beziehungswei-se rechtzeitig herausgeführtworden. Gerade am Tage desAngriffs war ein Fluchtwegdurch Schaffung von breitenFußgängerbrücken von derFuldabrücke aus zum Ufer der

Fulda fertig gestellt worden,die Tausende von Altstadtbe-wohnern benutzt haben unddie diesen Menschen das Le-ben retteten.

Im Oktober 1943 weiß nie-mand der Überlebenden, dassder Krieg noch 18 Monatedauern wird. 27 weitere, vorallem amerikanischen Luft-angriffe, werden folgen. Mehrals 4000 Bomber setzen dasZerstörungswerk fort. Durchdie Auswirkungen des Luft-krieges hat Kassel, wie vieleandere Großstädte, nicht nursein durch Jahrhunderte ge-prägtes Erscheinungsbild,sondern auch Struktur undIdentität verloren. Gebliebenist nach 60 Jahren ein völligverändertes Stadtbild und dieGräber auf den Friedhöfen.Die Überlebenden werden dieEreignisse nie vergessen.

Von Werner Dettmar

Ein Flammenmeer: Ein zerstörtes und brennendes Haus in der Kasseler Innenstadt nach dem Angriff vom 22. Oktober. FOTO: STADTARCHIV

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HNA

Ohnmächtig hinübergeglitten

„Ich hielt krampfhaft die nasse Decke fest“ Aus den Augenzeugenberichten unserer Leser : Flucht aus dem Feuersturm in der Nacht zum 23. Oktober 1943

Karl Schumann (LederhausSchumann am Königsplatz)war damals 23 Jahre alt. Ausseinen Tagebuchnotizen: Ichgehe durch Reihen von Toten.Viele haben Zettel in der Handmit ihrem Namen darauf. Hierund da liegt ein Blumenstraußauf der Brust. Ich sehe die er-schütternden Szenen - Ange-hörige, die ihre Toten finden.Und stehe dann vor demSchutthaufen, der einmal un-sere Wohnung und Geschäftwar. die lebensarbeit meinerEltern. Ich kann es gar nichtfassen.Alles verloren,alles,al-les. Werkstatt, Lager, Büro,Geschäft, die Wohnung, alles,alles ist dahin. Erst die vielenLeichen erinnern mich daran,dass wir unser wichtigstes Gutnoch besitzen - unser Leben.

*

Unmittelbar nach der Bom-bennacht schrieb HermannSchleenstein seine Erlebnissenieder:

Die ersten Sprengbombenfielen,dieTüren flogen auf,einDruck legte sich auf die Ohren.Ein Junge, der dauernd Äpfelaß, lachte hysterisch. Immerwieder detonierten Spreng-bomben, starke Zugluft ent-stand, Brandgeruch. Ich rietFrau Trost (sen.) ein nassesTa-schentuch vor den Mund zubinden, ich fand in meiner Ta-sche noch zwei Sicherheitsna-deln und befestigte ihr dasTuch, sie band mir das meinevor den Mund. Inzwischenhatte das Haus über uns Feu-er gefangen, immer wiederschlugen Sprengbomben ein.HansTrost und Dr. Stern stell-ten fest, dass der Ausgang zurHedwigstraße bereits ver-schüttet war. Kaffee Rhein-gold brannte, hell leuchtetendie Flammen durch die bei je-

der Detonation aufspringen-den Türen. Es fing an warm zuwerden. Hans Trost lief dieTreppe voraus, kam nach kur-zer Zeit zurück und berichte-te, dass nur der Ausgang nachder Obersten Gasse zu bege-hen sei, allerdings durchFlammen und Feuersturm.

Ein unheimliches Knisternund Rauschen der Flammenund Zusammenstürzen derHäuser ließ uns noch in demHausflur Oberste Gasse 61,Gastwirtschaft „Zur Börse“verweilen. Die Räume derGastwirtschaft rechts undlinks leuchteten hell auf. DasBrechen der Balken, Herbas-türzen der Ziegel und dasHeulen des Sturmes wurdeimmer unheimlicher. Wir ris-sen die Tür auf und standenvor einem Feuermeer.Noch zö-gerten wir, aber wir musstendurch.

Hans fasste sein Kind, ichnahm das zweite. Nochmalsschärften wir den Frauen undgrößeren Kindern ein, dichthinter uns zu bleiben, danngings hinein in den Feueror-kan. Brennende Menschen,Hilferufe, wir rannte zur EckeDruselgasse - nach rechts keinDurchkommen, also links dieDruselgasse herab. Der Atemging in kurzen Stößen. Immerwieder schlug ich die Funkenvom Mantel. Die dicken Hand-schuhe, die ich quatschnassangezogen hatte, waren schonwieder trocken. Im Haus Nr.5, das einzige was noch nichtbrannte, wurde die Tür auf-gerissen, wir rannten hereinund atmeten wieder, lebtennoch!

*

Margret Stimpel war Konfir-mandin. Am Nachmittag hat-ten sie noch die Martinskirche

besichtigt, die wenige Stundenspäter in Schutt und Aschelag:

Als es ruhiger wurde, woll-ten wir den Keller verlassen,Wolldecken in eineTonneWas-ser getaucht, und versucht ausder Wohnung zu kommen. Un-sere Wohnung war im Erdge-schoss. Die Wohnungstür lagirgendwo, und in derWohnungschlugen die Flammen hoch.Als wir auf die Straße wollten,eine Flammenmeer. Die ganzeStraße brannte.

Als wir draußen waren, sa-hen wir das Elend.Unser schö-

nes Haus war bis auf den Kel-ler abgebrannt. Durch dieFensterhöhle sah ich mein Bettauf einem Fuß stehen (so wieheute die Plastik auf dem Ho-tel am BahnhofWilhelmshöhe)und es züngelten noch ein paarFlammen. Zu sehen waren inder Straße Trümmer, Rauch-schwaden, noch kleinerePhosphorschlangen und noch-mals Trümmer. Als wir unsaufgerappelt hatten, gingenwir in Richtung Rothendit-mold, ein Trauerspiel. Aberwas ich nie vergessen kann, alswir Richtung Kirchditmold

waren, schien die Sonne, alswäre nichts gewesen - und einKind spielte Ball. Da bekamenwir auch unseren erstenSchluck Wasser zu trinken.

*Ursel Martin war 16 undmachte Tagebuchaufzeich-nungen:

Vati war zum Löschen inder Uhlandstraße gewesen.Aber sie mussten damit auf-hören, weil kein Wasser mehrda war. Alle mussten im Bun-ker bleiben.

Nur die Männer und diePanzersoldaten mussten zumLöschen raus. Immer mehrRauch kam herein und dieLuft wurde immer schlechter.Mein Schwesterchen bekamein nasses Tuch über den Kin-derwagen gehängt. Mitten inder Nacht kamTante Änne mitanderen aus der Orleanstraßein unseren Bunker. Im Armhatte sie in einem nassenKopfkissen ein Baby.

Sie waren durch die Flam-men gelaufen und hatten vieleTote gesehen. Sie hatten ange-sengte Schuhe und rot entzün-dete Augen.

Einige Leute habe ich zumKrankenhaus in der Jugend-herberge gebracht. Auch un-sere Wohnung mal angesengt.Wir haben Glück im Unglückgehabt.Alle Fenster undTürenraus, aber nicht abgebrannt.

*

Gerhard Ickler erlebte alsNeunjähriger den Feuersturm:

Eine leichte Panik machtesich breit, als sich herum-sprach, dass der einzigeFluchtweg vermutlich ver-sperrt sei, viele forderten jetztschreiend die sofortige Mau-eröffnung, man rief nach Ta-schenlampen, wollte Lichtund rang nach frischer Luft.

Jemand rief dann endlich indas Dunkel hinein, dass derRettungsgang in RichtungWolfhager Straße jetzt offensei, wie von Geisterhand ge-führt drängten nun alle hek-tisch im Dunkeln von Durch-bruch zu Durchbruch, vonKeller zu Keller unter derHäuserreihe in der Gießberg-straße hindurch bis zur nahenStraßenecke. Als die Men-schen diesen erhofftenAuswegspürten, blieben sie trotz allerHektik gespenstisch ruhig.

Im Eckhaus Wolfhager-/Gießbergstraße hatte man dasFeuer löschen können, dasErdgeschoss war noch einiger-maßen unzerstört. Hier kamenwir aus der Kellerebene wie-der an die Oberfläche.... MitEntsetzen sahen wir durch dieErdgeschossfenster, dass diemeisten Häuser in der Nach-barschaft brannten, der Him-mel war glutrot, draußen wardie Hölle los....

Die Helfer forderten unsauf, sofort loszurennen, unter-wegs nicht stehen zu bleiben,und vor allem nur auf der Mit-te der Wolfhager Straße biszum Holländischen Platzdurchzulaufen. Dort solltenwir uns dann beim Luftschutzmelden. Die Hitze war uner-träglich, auf beiden Straßen-seiten brannten die Häuserlichterloh,die Flammen schlu-gen meterhoch aus hohlenFensterlöchern,es tobte ein or-kanartiger Feuersturm.

Unterwegs standen ausge-brannte Fahrzeuge am Stra-ßenrand, teilweise lagen ver-kohlte Leichen herum, dieWolldecke war schon nach denersten Metern völlig trocken,und die gut 150 Meter auf derWolfhager Straße wollten imFunkenregen einfach nichtenden...

Suche nach Opfern: In den Ruinen nach der Bombennacht.ARCHIVFOTO: PAUL

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Eine Stadt in Trümmern: Blick vom Turm der Lutherkirche über die zerstörte Altstadt. Sie ging im Feuersturm des 22. Oktober 1943 unter. FOTO: STADTMUSEUM

Gedicht zum 22. 10. ’43 Casalla imTrauerkleidVerfasser unbekannt

Frau Casalla trägt schmerz-voll ihr Trauerkleid In ihren Mauern birgt sie un-sagbares Leid. Was Menschengeist ernst er-sonnen, was fleißiger Händewerk voll-bracht, vor tausend Jahren schon be-gonnen, vernichtet war’s in einerNacht. Am Himmel hellroter Feuer-schein, unzählige Brandbombenschlugen ein, ein Zittern der Erde, ein Wan-ken, ein Schwanken, Sprengbomben, dass die Häu-ser zusammensanken. Tausende gerieten in bittereNot, Tausende fanden den Flam-mentod. Tausende für die es keine Ret-tung gab. Fanden unter Trümmer einewiges Grab, Feuerstürme brausten überdie Straßen her, das Herz der Stadt gleicht ei-nem Flammenmeer. Schmerz wurde tausend-fach geborgen, drei kleine Kinder haben dieMutter verloren. Sie fassten sich bei der Hand Und suchten nach ihr inQualm und Brand. Die Not des Ältesten war rie-sengroß, doch ließ er im Tod selbst dieKleinen nicht los, noch gefasst, die blondenLöckchen verbrannt, die Füßchen verkohlt, so hat man sie später heraus-geholt. Nach Stunden ist erst dieVernichtung vollbracht, öde Fensterhöhlen zeugen vomSchrecken der Nacht. Dann, beim ersten Morgen-grauen, sind überall rauchende Trüm-mer zu schauen. Die Sonne beginnt ihren Ta-geslauf, in ewiger Schönheit steigt sieherauf, doch weinend verhüllt sie ihrAngesicht, sie sucht eine Stadt und findetsie nicht. Nur Trümmer hört sie zumHimmel schreien. Krieg kann nur Wahnsinn derMenschheit sein.

Dank an die Zeitzeugen

der Bombennacht KASSEL. Die Erinnerung andie Schrecken des Luftkriegsund insbesondere an den 22.Oktober 1943 ist noch fest imGedächtnis verwurzelt. Dashaben uns die überaus zahl-reichen Zuschriften von Au-genzeugen deutlich gemacht.Die Angst in den Luftschutz-kellern, die Flucht durch bre-nennde Häuserschluchten, derAnblick der Leichenberge amMorgen danach: das vergisstniemand, der es am eigenenLeib erlebt hat.

Wir bedanken uns bei allen,die dem Aufruf gefolgt sindund ihre Erinnerungen aufge-schrieben haben. Bitte habenSie dafürVerständnis,dass wirdie Erlebnisberichte nur inAuszügen drucken könnenund uns bei ähnlichen Be-schreibungen auf eine Versionbeschränkt haben. In vielenpersönlichen Gesprächen mitZeitzeugen wurde deutlich,wie wichtig es ist, die Erinne-rung wachzuhalten. Deshalbübergeben wir alle zusendun-gen an das Kasseler Stadtar-chiv, wo sie der Nachwelt er-halten bleiben. (TOS)

Rettung nach acht Stunden

Irgendwann war die Muttereingeschlafen und der klei-

ne Junge rutschte ihr vomSchoß. Ob er geweint hat? Esgibt niemanden mehr, der da-rüber berichten kann. ImLuftschutzkeller der Bürger-säle am Karlsplatz kamen in

der Nacht zum23. Oktober über400 Menschenums Leben. Nurzwei wurdennach acht Stun-den lebend ge-borgen. Eine ge-lähmte ältereFrau in einemRollstuhl und

der kleine Junge. Dass er acht Stunden in

dem Keller verbracht hat, ha-ben ihm die Erwachsenen vielspäter erst erzählt. „Ich wardamals zwei Jahre und einenMonat alt, erinnern kann ichmich nicht mehr“, sagt Gun-ther Dötenbier.

Im Durcheinander nach derBombennacht erlebte er eineOdyssee. Die Retter, die ihnaus dem Keller holten, brach-ten den kleinen Jungen zu-nächst ins Auguste-Förster-Haus in Rothenditmold. Auchdas musste kurze Zeit späterevakuiert werden. Die nächsteStation war das SteinerneSchweinchen am Brassels-berg. Niemand wusste, wo derJunge hingehörte. Bis eineNachbarin der Familie auf-tauchte. Die hatte einWochen-endhaus am Brasselsberg undkam deshalb am SteinernenSchweinchen vorbei. Plötzlichstand sie vor einem Jungen,der ihr bekannt vorkam. „Hal-lo, Tante Friedel“, sagte derZweijährige, der sie erkannte.

Gunther Dötenbier hatüberlebt. Trotzdem ist der 22.Oktober ein trauriger Ge-denktag für ihn. Die Mutterund die vierjährige Schwesterstarben damals, vom Eltern-haus blieben nur Maurreste.Ihn prägt ein besonderes Ver-hältnis zum Tod.Vor über dreiJahrzehnten hat er das väter-liche Bestattungsunterneh-men übernommen. (TOS)

Gunther Dötenbier alsZweijähriger

„Um einen raschen Tod gebetet“ Die Schriftstellerin Christine Brückner berichtete erst spät von ihren Erlebnissen

Alle Menschen,die die Bom-bardierung Kassels und

den nachfolgenden Feuer-sturm in den Kellern oder an-deren Verstecken überlebt ha-ben, sind dadurch bis an ihrLebensende geprägt. So istdas, was viele heute 70- und80-Jährige als Kinder undjunge Menschen erlebt haben,den meisten so gegenwärtig,als wäre es gestern passiert.Dank dieser wachen und niezu verdrängenden Erinnerun-gen haben uns zahlreiche Au-

genzeugenbe-richte erreicht,die unglaublicheDetails aus die-ser Schreckens-nacht zu Tagefördern. Längstkönnen wir nichtalles drucken,aber aus derViel-zahl der Einsen-

dungen ergibt ein in sich stim-miges Erinnerungsbild.

Die Augenzeugenberichtesind reine Erlebnisschilderun-gen - ohne einen literarischenAnspruch. Das gibt ihnen ihreUnmittelbarkeit und Leben-digkeit.

Wie aber geht jemand da-mit um, der gewohnt ist, zuschreiben und Erfahrungender Wirklichkeit in Literaturumzusetzen? Die Schriftstel-lerin Christine Brückner(1921-1996) wohnte im Jahre

1943 in Kassel und sollte,nachdem sie schon einmal zumKriegsdienst eingezogen wor-den war, ihr Abitur nach ma-chen.

Viele ihrer Romane und Er-zählungen spiegelten Kriegs-erlebnisse, doch vor einer ge-naueren Beschreibung derBombennacht hatte sie sichlange gescheut. Erst 1993stellte sie sich der schreckli-chen Erfahrung - unter demTitel „Warum nicht ich?“ (in„Ständiger Wohnsitz“, Ull-steinTaschenbuch).Aber beimLesen des Textes wird schnelldeutlich,dass sie zu viele dras-

tische Bilder nicht hochstei-gen ließ. Ihr war es zuerstwichtig, die Erlebnisse in eineForm zu bringen, zum Teil ei-ner literarischen Biografiewerden zu lassen. Deshalb istes wohl auch eine Verklärung,wenn sie einleitend schreibt:„Ich habe versucht, mein Ge-dächtnis wachzuhalten, ichhabe berichtet, ich habe Über-lebensgeschichten geschrie-ben...“

Christine Brückner ließsich nicht so intensiv wie dieAugenzeugen, die uns schrie-ben, auf die Einzelheiten ein.Sie schuf kein großes Gemäl-de, sondern begnügte sich miteiner kurzen Skizze, die in we-nigen Sätzen das festhält, wasauch viele andere erlebten:

„Das Haus der Eltern, dasnur wenige Jahre gestandenhat, wurde von mehrerenPhosphorbomben getroffen,brannte aus, wurde total zer-

stört, total, eine Steigerungdes Unheils. Unter nassenFliegerdecken liefen wir durchdie Flammen ins Freie, dasHaus hatte einen Garten - daswar die Rettung. Die letztePhosphorbombe explodierteim Zimmer meiner Mutter, alsich noch ein Bild von derWandholen wollte, ich habe das Bildgerettet, ich habe mich geret-tet. Ich wollte nicht mit dem

Leben davonkommen. Ichwollte dieses Inferno nichtüberleben. Ich habe um einenraschen Tod gebetet. Aber: Ichblieb am Leben.“

Die Schriftstellerin fandmit geübter Feder gleich insAllgemeine. Wichtiger alsmanche Details erschien ihrdie Frage: Warum überlebtegerade ich? Mit vielen anderen

war Christine Brückner amnächsten Tag Überlebendeund Heimatlose zugleich. Isteine solche Situation im Bildzu fassen? Sie fand das Bild,das ihr Orientierung gab. Esist das hier reproduzierte Fotovon einem Mädchen, das aufeinem Koffer in der zerstörtenStadt sitzt. Werner Dettmarhatte das Foto als Umschlag-bild für sein Buch „Die Zer-störung Kassels“ ausgewählt.

Aber auch das war Christi-ne Brückner im Gedächtnisgeblieben - wie sich dasSchreckliche mit dem Schö-nen verband: „Was für einBlick: die mehrstöckigen Häu-ser undVillen amWeinberg, ander Terrasse, standen in lo-dernden Flammen vormschwarzen Himmel. Nero - ichbegriff Neros Begeisterung fürdas brennende Rom. DasSchöne ist nichts als desSchrecklichen Anfang.“

Von Dirk Schwarze

ChristineBrückner

Überlebende und Heimatlose

Erst 1993 beschrieben

Das Entsetzten ins Gesicht geschrieben: Eine unbekannte junge Frau am Holländischen Platz.

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Bomben auf Kassel: Chronologie E Ohne vorherige Luftwar-nung oder Alarm fielen am 9.November 1944 kurz nach 22Uhr drei Bomben.Eine traf einHaus an der Schönfelder Stra-ße, zwei fielen ins freie Feld.

*E Vorwiegend Sprengbombenfielen am 4. Dezember 1944(11.55 bis 13.37 Uhr). Es gabSchäden an der Druseltalstra-ße,am BahnhofWilhelmshöhe,an den Kasernen, am Zucht-haus Wehlheiden, dem Unter-neustädter Kirchplatz, Bet-tenhausen, Sandershausen,Wolfsanger, Philippinenhofund am Holländischen Platz.

*E Am 15. Dezember 1944 dau-erte der Angriff von 11.41 bis12.40 Uhr. Getroffen wurdendie Stadtteile Niederzwehren,Bettenhausen, Erlenfeld undFasanenhof.

*E In den frühen Morgenstun-den am 28. Dezember 1944 (ab3.23 Uhr) fielen vier Bombenauf das Gelände Mittelfeld.

*E Der letzte Angriff des Jahresbegann am 30. Dezember 1944um 12.35 Uhr. Wegen einesStromausfalls gab es keinenSirenenalarm. Starke Schä-den entstanden in allen Stadt-teilen und den umliegendenOrten.Getroffen wurden unteranderem der Königsplatz, derFriedrichsplatz, die Frankfur-ter Straße, die WilhelmshöherAllee, das Postamt an der Ho-henzollernstraße und das Po-lizeipräsidium am Königstor,Schloss Wilhelmshöhe, derHauptbahnhof sowie dieBahnhöfe Wilhelmshöhe undBettenhausen. Die Wasser-und Gasversorgung brach zu-sammen, Telefon- und Fern-schreibverbindungen fielenaus. Alle Hauptstraßen warenblockiert, die Straßenbahnkonnte nicht fahren, und derEisenbahnverkehr war erheb-lich gestört.

Bomben bis zum März 45

E Erstmals wurden am 1. Ja-nuar 1945 Bomben mit Zeit-zünder abgeworfen (11.57 bis14.08 Uhr). Bis zu 800 Flug-zeuge griffen Kassel an. Etwazwei Stunden nach dem An-griff explodierten die erstenBomben. Das setzte sich bis indie Nächte vom 2. und 3. Ja-nuar fort.

Besonders betroffen wur-den dieVerkehrsknotenpunktewie der Hauptbahnhof, dieBahnhöfe Wilhelmshöhe undBettenhausen, derVerschiebe-bahnhof, die Friedenskirchesowie Quartiere im Druseltal,an der Rasenallee, der Eisen-schmiede, am Fasanenhof undin Bettenhausen.

*E Am 21. Januar 1945 (20.15bis 20.54 Uhr) wurden leucht-und Sprengbomben (teilweisemit Zeitzünder) abgeworfen.Es gab Treffer Im BereichVor-derer Westen bis Niederzweh-ren sowie einige Einschläge inBettenhausen und Mittelfeld.

*E Schwere Schäden brachteder Angriff vom 29. Januar1945 (ab 1.12 Uhr). Dabeibrannte das SchlossWilhelms-höhe ab. Treffer gab es in Bet-tenhausen, Rothenditmold,Mittelfeld, Wilhelmshöhe undam Hauptbahnhof.

*E In der Nacht vom 7. zum 8.Februar 1945 fielen 14Sprengbomben und Luftmi-nen (23.56 bis 0.41 Uhr). Ein-schläge gab es unter anderemam Bahnhof Wilhelmshöhe,am Generalkommando undPolizeipräsidium.

*E 300 Bomber flogen am 28.Februar 1945 (13.46 bis 15.39Uhr) in 20 Wellen Angriffe.1200 Minen und Sprengbom-ben sowie 100 000 Stabbrand-bomben wurden abgeworfen.Verschont wurde nur der Nor-den. Es kam zu großen Brän-den bis weit in den nächstenTag. 35 Menschen kamen umsLeben.

*E Am 2. März 1945 (19.58 bis20.12 Uhr) flogen 80 Maschi-nen auf Kassel. Von den 160Sprengbomben hatten vieleeinen Langzeitzünder. Treffergab es insbesondere in Wil-helmshöhe und in der Innen-stadt.

*E Alle westlichen Stadtteilewurden bei dem Angriff vom8. März 1945 (21.25 bis 22.17Uhr) schwer getroffen. Es gabmehrere Großbrände, die denNachthimmel zum Glühenbrachten.

*E Die Munitionsfabrik in Ih-ringshausen wurde am 9. März1945 getroffen. Bei dem An-griff (9.08 bis 11.10 Uhr)schlugen die Bomben in dennördlichen Stadtteilen ein.

*E Eine Luftmine traf amAbend des 16. März 1945 denFriedhof von Harleshausen.

*E Wohnhäuser in Bettenhau-sen wurden am 19. März 1945getroffen (4.04 bis 5.09 Uhr).

*E Zwischen 2.36 und 4.52 Uhram 21. März 1945 trafenSpreng- und BrandbombenBettenhausen, die Stadtmitteund Fasanenhof.

*Das waren die letzten Bombendie über Kassel abgeworfenwurden. Am 1. April 1945,Ostersonntag, heulten mor-gens um 3.20 Uhr die Sirenenfünf Minuten lang.Von Westenrückten amerikanische Trup-pen nach Kassel ein.

*Alle Angaben stammen ausden Protokollen des Luft-schutzwarnkommandos Kas-sel.

Das meiste war in Sicherheit Die Kunstschätze wurden ab 1942 systematisch ausgelagert - 800 Bilderrahmen verbrannt

Erst 1935-37 war die Ge-mäldegalerie an der Schö-

nen Aussicht (heute: Neue Ga-lerie) renoviert und neu geord-net worden. Doch mit Kriegs-beginn wurde sie 1939 ge-schlossen. Allerdings kamendie 1936 begonnenen Arbeitenfür einen Schutzbunker zurBergung der Gemälde nichtvoran. Außer einem riesigenLoch war bis zum Herbst 1939nichts weiter entstanden, weildie Arbeitskräfte fehlten.

Daher wurden die aus ihrenRahmen gelösten und in Kis-ten verpackten Gemälde zu-sammen mit den anderenKunstschätzen der KasselerSammlungen auf verschiede-ne und wechselnde Orte ver-teilt. Als Ausweichquartieredienten: E Kloster Haina E Das Bade-Hotel sowie an-dere Räume in Bad Wildungen E Gut Hohenborn E Schloss Beberbeck E Gut Laar E Gut Stammen E Tresorraum der Landeskre-ditkasse E Reichsbahnbunker nebendem Hauptbahnhof.

Für die 63 wichtigsten Ge-mälde der Galerie allerdingswurden diese Notunterkünfteals nicht ausreichend betrach-tet. Da die Verantwortlichenoffenbar das ganze DeutscheReich in seinen alten Grenzennicht als sicher ansahen, be-mühten sie sich 1942, dieHauptwerke der Galerie in die

Obhut des KunsthistorischenMuseums in Wien zu geben.Das allerdings sah sich ange-sichts der eigenen Nöte undähnlicher Anfragen nicht inder Lage, Platz anzubieten.Schließlich konnte man aber

im Oktober 1942. Die Gemäl-de nach Wien schicken, wo sieerst einmal imTresor des Post-sparkassenamtes in Sicher-heit gebracht werden konnten.

Aber damit war keineswegsalles gerettet. In den vergan-

genen Jahren und Jahrzehntenwaren immer mal wieder imKunsthandel Bilder und Ob-jekte aufgetaucht, die eigent-lich den Staatlichen Museengehörten. Wo kamen sie her?Es gab drei Möglichkeiten: E Vor Beginn des Krieges wa-ren zahlreiche Kunstwerke,insbesondere Gemälde, anstaatliche Behörden, vor allemdas Regierungspräsidium, alsZimmerschmuck ausgeliehenworden.Da die meisten Behör-den-Gebäude ebenfalls ge-räumt werden mussten, ver-schwanden viele Werke aufNimmerwiedersehen. E Nicht alle Museumsräumewaren komplett geleert wor-den. Zwar sind keine genauenUnterlagen überliefert, dochgibt es Zeugenberichte, nachdenen in der Gemäldegalerienoch Bilder zurückgelassenworden waren. Entweder sindsie verbrannt oder entwendetworden. Mit Sicherheit weißman nur, dass in der Galeriean die 800 wertvolle (histori-sche) Bilderrahmen verbranntsind. E Viele Bilder und Objektesind auch bei Kriegsende ge-stohlen worden. So ist höchst-wahrscheinlich das KasselerSilber aus dem Reichsbahn-bunker verschwunden, als dieAmerikaner nach ihrem Ein-marsch in Kassel am 1. April1945 für drei Tage die Stadtfür die Zwangsarbeiter zurPlünderung freigegeben hat-ten. Etliche Deutsche undauch einige Soldaten müssendabei mitgeholfen haben.

Von Dirk Schwarze

Zerstörtes Treppenhaus: So sah es im Fridericianum nach demBombentreffer aus. FOTO: STADTARCHIV

Eine Bibliothek in Flammen Über 350 000 Bände verbrannten schon 1941 im Museum Fridericianum

Offenbar hatte man sich biszum 8. September 1941

keine Vorstellungen gemacht,was der Luftkrieg für dieStadt bedeuten könnte. Inso-fern trafen die Bomben, die inder Nacht zum 9. September1941 auf die Innenstadt fielen,dieVerantwortlichen unvorbe-reitet. Die 400 000 Bücher, diezu dem Zeitpunkt in der Lan-desbibliothek im Museum Fri-dericianum standen, botendem schnell ausbrechendenFeuer reichlich Nahrung.

Die Flammen schlugen ausdem Gebäude und vernichte-ten sieben Achtel der Bestän-de. Und das, was nicht ver-brannt war, war durch Rußund noch mehr durch dasLöschwasser der Feuerwehrbeschädigt. Im Landesmu-seum, so wird berichtet, wurdeein regelrechtes Bücherlaza-rett eingerichtet, in dem dienassen Bücher zum Trocknen

auf Bretterrosten ausgelegtwurden.

Fast tragisch klingt die Ge-schichte von der Zerstörungder kostbaren, in Leder ge-bundenen Bücher und Hand-schriften.Sie waren in Panzer-schränken untergebracht. Da-rin waren sie zwar vor demZugriff der Flammen ge-schützt, doch durch die sichentwickelnde Hitze, die sichauf die Schränke übertrug,verformten sich und ver-schmorten viele Bände. Diemeisten Handschriften konn-ten aber zumindest teilweisegerettet werden. Der größereTeil der Handschriften befandsich zum Glück im Zwehren-turm,der von den Bomben unddem Feuer verschont blieb.

Nach dem Brand wurdendie wertvollsten Bücher undHandschriften erst in Tresoregebracht und dann auf ver-schiedene Standorte in BadWildungen, Merkers undWahnfried verteilt. Bei

Kriegsende jedoch wurdenzwei der Ausweichquartieregeplündert.

Fortan war das MuseumFridericianum eine Ruine. Umein Haar wäre der Bau zweiJahre später gesprengt wor-den, doch das in seinen Fassa-den erhaltene Gebäude konn-te gerettet werden und diente,

provisorisch in Stand gesetzt,ab 1955 der documenta. ErstEnde der 70er-Jahre begannder endgültige Wiederaufbau,sodass die Ausstellung zum200-jährigen Bestehen desFridericianums in der Oran-gerie gezeigt werden musste.

DieVernichtung der Bücherwar ein Alarmsignal. In derFolgezeit wurden in allen Mu-seen noch bessere Vorkehrun-

gen getroffen, um die Samm-lungen vor der Zerstörung zuretten (siehe unten stehenderBericht).

Bei dem verheerenden An-griff vom 22. Oktober 1943wurde die Gemäldegaleriezerstört. Dabei verbranntennicht nur die rund 800 Bilder-rahmen, sondern auch einigeStücke aus der Antiken- undSchatzkunst-Abteilung, dieman dort, wie man geglaubthatte, in Sicherheit gebrachthatte. Die Galerie wurde not-dürftig geflickt, und erneutwurden dort Bilder eingela-gert. Es gibt aber keine zuver-lässigen Quellen darüber, wel-che Bilder bei nachfolgendenAngriffen zerstört und welcheschlicht entwendet wurden.

Das vor den Toren liegendeSchloss Wilhelmshöhe warvon den Angriffen weit gehendverschont geblieben. Doch am29. Januar 1945 wurde auchdiese Schlossanlage, vor allemder Mittelbau, vernichtet.

Von Dirk Schwarze

Das Fridericianum brennt: Die in dem 1779 erbauten Museum untergebrachte Landesbibliothek wurde im September 1941 zumgrößten Teil vernichtet. ARCHIVFOTO: HNA

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HNA

Landesmuseum als kunterbuntes

Warenhaus Als einziges unter den Kas-

seler Museen ist das Lan-desmuseum am Brüder-Grimm-Platz nicht zerstörtworden. Zwar erlitt es einigeBeschädigungen, aber das Ge-bäude war und blieb dieKriegsjahre hindurch vollerLeben. Allerdings hatte diesesLeben mit einem Museumsbe-trieb wenig zu tun.

Im Jahr 1942, nach der ver-heerenden Vernichtung derBuchbestände im MuseumFridericianum, waren massivdie Museumsbestände ausge-räumt und in Sicherheit ge-bracht worden. Aber aus demLandesmuseum waren sämtli-che Bestände erst 1943 aus-geräumt worden. Dafür zogennach und nach andere ein: ImKeller richtete sich die Warn-zentrale für den Luftschutzein,und in den Etagen darübermachten 20 Geschäfte fürTex-tilien, Lampen, Schuhe undSchreibwaren auf, deren Räu-me in der Innenstadt zerstörtwaren. Zeitzeugen beschrei-ben das Landesmuseum alseinWarenhaus, in dem es auchWohnungen und Klassenräu-me für das Wilhelmsgymnasi-um gab. DasTorwachtgebäudedaneben, in dem eigentlich dieGrafik und die Bibliothek un-tergebracht waren, dientezeitweise als reines Schulge-bäude.

Für das Landesmuseum en-dete diese chaotische Zeit erst1946. Von da an musste es alsverbliebenes Mutterhaus derStaatlichen Kunstsammlun-gen dienen. (D.S.)

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Wirtschaftsweise mit vorsichtigem

Optimismus BERLIN. Die deutsche Wirt-schaft kehrt offenbar auf denWachstumspfad zurück. Nachdrei Jahren Stagnation gehendie sechs führenden Wirt-schaftsforschungs-Institutefür 2004 von 1,7 ProzentWachstum aus. Einen wirkli-chen Aufschwung sehen sie je-doch noch nicht. Die Krise amArbeitsmarkt wird sich aller-dings trotz des Aufwärts-trends weiter verschärfen, sa-gen die Institute in ihremHerbstgutachten voraus.

Die Konjunkturforscherverweisen außerdem darauf,dass 2004 vier Arbeitstagemehr hat, was etwa 0,6 Pro-zentpunkte ausmacht. Die ge-samtwirtschaftliche Produk-tion im Jahresdurchschnittstagniere und werde auch 2004nur mäßig zunehmen. „Von ei-nem Aufschwung kann mandaher nicht sprechen“, heißtes in dem Gutachten. (DPA)

E POLITIK

Umfragemehrheithält Rentenpläne

für ungerecht Sie haben 40 oder 50 Jahre indie Rentenversicherung einge-zahlt, nach dem Krieg auf vie-les verzichtet und betrachtenihre Rente als unantastbareFrucht ihrer Lebensarbeits-zeit: Diese Meinung vertraten

die meisten Teil-nehmer unseresLeserforums.

324 Meinun-gen erreichtendie Redaktionper Fax, Telefonoder E-Mail. Da-von kritisierten

rund zwei Drittel die Renten-pläne der Bundesregierung.Ein Drittel hielt die Maßnah-men für hart, aber unvermeid-lich.

Durch beide Teilnehmer-gruppen zog sich jedoch dieForderung, dass auch Politikerund Beamte zu spürbaren Ein-schnitten bereit sein müssen.

E SONDERSEITE,HINTERGRUND

Heftiger Streit um Fußfesseln

für SchulschwänzerHANNOVER. NiedersachsensKultusminister Bernd Buse-mann (CDU) hat denVorschlagvon Parteifreunden, kriminel-le Schulschwänzer mit einerelektronischen Fußfessel zuüberwachen,als „blanken Un-sinn“ bezeichnet. Die Schulehabe einen Bildungs- und Er-ziehungsauftrag zu erfüllen.„Das geht nicht mit Maßnah-men aus dem Bereich desStrafvollzugs.“

Brandenburgs Innenminis-ter Jörg Schönbohm (CDU)hatte den Einsatz von Fußfes-seln gefordert. Bereits jederdritte Schulschwänzer begeheStraftaten. Die elektronischeFußfessel könnte nach denWorten des Ministers „eineMöglichkeit sein, um die Ge-sellschaft vor extrem krimi-nellen Schulschwänzern zuschützen“. Der Innenexperteder CSU im Bundestag, Nor-bert Geis, unterstützt denVor-schlag. (DPA) E MENSCHEN

Die zeitlos elegante Catherine Deneuve

wird heute 60 PARIS. Catherine Deneuvewirkt verführerisch, unnah-bar, elegant und lasziv. Dieschöne Pariserin setzt auf Wi-dersprüche und pflegt ihre

doppelte Identi-tät - ein Marken-zeichen, das siezu einem Welt-star werden ließ.

Deneuve, dievom amerikani-schen Magazin„Look“ zurschönsten Frauder Welt ernannt

wurde,wird heute 60 Jahre alt.Nach mehr als 40 Jahren Kar-riere und 70 Filmen verkörpertdie Schauspielerin noch im-mer erfolgreich „das ewigWeibliche“.

Doch Deneuve verbirgtnicht nur auf der Leinwandihre wahre Person. Auch pri-vat hüllt sie sich in Schweigenund gibt nur preis, was zumMythos passt. (AP) E KULTUR

Catherine Deneuve

WETTER

Kalt und ungemütlich Schauer, Regen,Schnee und un-gemütlich kühleTemperaturen:DasWetter bleibtunfreundlich. 6666 ---- 1111

BÖRSE

Dax knapp im Plus A Dax 3580 (+0,58%)A TecDax 541 (+0,54%)A M-Dax 4289 (+0,61%)F Dow Jones* 9764 (- 0,14%)

* Stand um 20 Uhr

Idylle: Die Fachwerkstadt Kassel vor der Bombardierung. Inferno: 10 000 Menschen starben 1943 im Feuersturm. FOTOS: ARCHIV GERMANDI

Als das Inferno hereinbrach Vor 60 Jahren: In der Bombennacht vom 22. Oktober 1943 ging Kassel im Feuersturm unter

KASSEL. Der 22.Oktober 1943war ein klarer Herbsttag. DieMenschen, die an diesem Frei-tag in den Gassen der KasselerAltstadt unterwegs waren,ahnten nicht, dass sie ihreprachtvolle Fachwerkstadt niewieder so sehen würden. Eshatte schon einige Bomben-angriffe und auch Tote gege-ben, doch an diesem Tag solltedas Inferno über Kassel he-reinbrechen.

Als Wilhelm Dettmar, derLeiter des Luftschutzwarn-kommandos, am Abend um20.17 Uhr den Fliegeralarmauslöste, waren 400 britischeBomber im Anflug auf Kassel.Sie hatten zunächst einenScheinangriff auf Frankfurtgeflogen und drehten dannRichtung Norden ab. Wenigspäter konnte man das Dröh-nen der Flugzeugmotorenschon hören. Die Menschenhasteten durch die Straßen aufdem Weg zu den Bunkern oderliefen die Treppen in ihren

Häusern herunter bis zu denLuftschutzkellern.

Wenig später begann derfurchtbarste Angriff, den Kas-sel je erlebt hat. Die Besat-zungen der Bomber warfenZielmarkierungsbomben, dieals Vorboten des Angriffs ge-fürchteten Christbäume, ab.Danach fielen Luftminen undSprengbomben vom Himmel,die die Dächer abdeckten so-wie Fenster undTüren heraus-rissen. Das Feld für den Feuer-sturm war bereitet.

Über 400 000 Brandbom-ben entfachten ihn. Innerhalbvon 15 Minuten standen dieHäuser in der Innenstadt inFlammen, jahrhundertealteFachwerkgebäude stürztenkrachend zusammen. DieBomber hatten ihren Auftragnach nur einer Stunde ausge-führt. Gegen 21.30 Uhr zogensie ab. In den Kellern und aufden Straßen kämpften dieMenschen noch viele Stundenums Überleben. Wer es trotzdes Feuers ins Freie schaffte,hatte bessere Chancen davon-

zukommen. In den Luft-schutzräumen wurde die Luftimmer schlechter. In dieserNacht starben in Kassel 10 000Menschen, unter ihnen 2000Kinder. Bei rund 70 Prozentwurde als Todesursache Ersti-ckung festgestellt. Aus demBericht des Kasseler Polizei-präsidenten: „Sie sind infolgedes durch den Feuersturm ein-getretenen Sauerstoffman-gels, zum Teil auch durch dieEinwirkung von Kohlenoxyd-gas im Schutzraum ermüdetoder ohnmächtig gewordenund schließlich ohne Kampf inden Tod hinübergeglitten.“

Ganze Straßenzüge wurdenausradiert.Wer überlebte,hat-te am nächsten Tag seine Fa-milienangehörigen, Nachbarnund Freunde verloren. Das In-ferno war noch viele Kilome-ter entfernt von Kassel zu se-hen. Der Nachthimmel leuch-tete glühend rot.

Bis heute sind viele derWunden nicht verheilt. Am 22.Oktober 1943 ist das alte Kas-sel untergegangen.Was an his-

torischen Gebäuden nochstand, wurde allzu oft ein Op-ferderAbrissbirnen beimWie-deraufbau.

Heute um 16 Uhr findet imKasseler Rathaus eine Ge-denkstunde mit Oberbürger-

meister Georg Lewandowskiund dem britischen Botschaf-ter,Sir Peter JamesTorry,statt.Dazu laden neben der Stadtauch die HNA und der Hessi-sche Rundfunk ein. Um 17.30Uhr zeigt das Ufa-Kino denFilm „Münchhausen“, der vor60 Jahren ebenfalls in Kassellief.

Ab 18.45 Uhr werden dieKasseler Kirchtürme beleuch-tet. Um 20 Uhr beginnt in derMartinskirche ein ökumeni-scher Gedenkgottesdienst mitPrälatin Roswitha Alterhoffund Weihbischof JohannesKapp. Das Gedenkkonzert imAnschluss leitet Prof. HansDarmstadt. E ZUM TAGE

Von Thomas Siemon

Liste der Opfer: Ganze Familien wurden vor 60 Jahren ausgelöscht.

Gedenken im Rathaus und in der Martinskirche

SPORT

1:1 - Bayern holt Punkt in Lyon

Bayern München hat seine Ta-bellenführung in der Grup-pe A der Champions Leagueverteidigt. Der deutsche Fuß-ball-Rekordmeister trenntesich von Olympique Lyon mit1:1 (0:1). (DPA)

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Ephesus & Kupille

Klassenausflug zum Herkules

Morjen Leute, was soll nurwerden aus unserer Jugend.Die einen halten unseren Her-kules für einen Helden aus ei-ner Walt-Disney-Geschichte,die anderen meinen, er habevor 200 Jahren von Kassel ausmal Deutschland regiert. Dasteht diese riesige Figur ausder griechischen Mythologienun schon seit über 200 Jahrenda oben auf dem Berg, und un-ser Nachwuchs hat keine Ah-nung, wer das ist. Pisa, ick hördir trapsen. Also, ihr Lehrer indieser Stadt, schnappt eucheure Schüler und macht mitihnen mal einen schönen Aus-flug in den Bergpark. Unddann erzählt ihr den Jungs undMädels von den Heldentatendes starken Mannes. Undwenn ihr selber auch keineAhnung habt, dann könnt ihrja auf die Kupille und michals Fremdenführer zurück-greifen. Gegen Spesen, ver-steht sich. Euer Ephesus

So erreichen Sie die Lokalredaktion: Dr. Tibor Pézsa T 0561 / 203 - 14 26 Fax: 0561 / 203 - 24 00 [email protected]

Der Untergang Kassels im Feuersturm Es waren die schwärzesten Stunden in derGeschichte der Stadt. Heute vor 60 Jahrenging das alte Kassel im Bombenhagel unddem anschließenden Feuersturm unter. Das

Foto entstand nach den Angriffen vom 3.Oktober an der Henschelstraße in der Nord-stadt. Damals gingen die Zielmarkierungender britischen Luftwaffe daneben, die In-

nenstadt wurde noch einmal verschont. DasFoto ist das Titelbild des Buches zur HNA-Serie, die wir heute abschließen.

E ZWEITE UND DRITTE LOKALSEITE

Auf einer Stufe mit Dresden Jörg Friedrich über den Luftkrieg und die Zerstörung Kassels

KASSEL. Der Berliner Histori-ker Jörg Friedrich ist einer derprofiliertesten deutschen Wis-senschaftler, die sich mit demLuftkrieg beschäftigt haben.Zum 60. Jahrestag der Zerstö-rung Kassels haben wir mitihm gesprochen.

BeimStichwortFeuersturmdenkendie meisten Menschen an Dresdenoder Hamburg. Welchen Stellen-wert hat die Zerstörung Kassels? Friedrich: Es gab nur sechsdeutsche Städte, die bei einemAngriff 10 000 oder mehr Op-fer zu beklagen hatten. Dassind in der Reihenfolge derAngriffe Hamburg, Kassel,Darmstadt, Dresden, Pforz-heim und Swinemünde. Ent-scheidend für den Grad derZerstörung ist die Frage, wieviel Prozent der Bevölkerungden nächsten Morgen nichtmehr erlebten.Da steht Kasselauf einer Stufe mit Dresden.Schlimmer hat es nur Darm-stadt und Pforzheim getroffen.

Welchen militärischen Sinn hatte

der Großangriff auf Kassel vom 22.Oktober 1943? Friedrich: Die Stadt war einwichtiges Zentrum der Rüs-tungsindustrie. Dafür stehtschon der Name Henschel. Eswurden aber auch andereStädte ohne nennenswerte In-dustrie zerstört. Ein Beispieldafür ist Pforzheim. Die Tak-tik ging in beiden Fällen nichtauf. Die Ausfälle in der Pro-duktion wurden innerhalb vonein bis zwei Wochen aufgefan-gen.Das war die Schlacht zwi-schen Zerstörern und Aufbau-ern. Auch die Zerstörung des

Durchhaltewillens in der Be-völkerung hat nicht funktio-niert. Es gab keinen Aufstandgegen das Hitlerregime. DieBombenangriffe führten eherzu einem engeren Zusammen-schluss von Bevölkerung undStaat.

So viele Tote und so wenig militä-rischer Nutzen. Wie bewerten Siediesen Zusammenhang? Friedrich: Briten und Ameri-kaner hatten keine Erfahrun-gen mit dieser Form derKriegsführung. Auf die deut-schen Luftangriffe auf Coven-try und London mit 14 000 To-ten im Herbst 1940 konntendie Briten noch nicht reagie-ren. Sie haben fast drei Jahregebraucht, um technisch auf-zurüsten. Bis heute sind Bom-ben die Zentralwaffe des Krie-ges. Gegen Nazi-Deutschlandwurde diese Technik erstmalsin ihrer ganzen brutalen Kon-sequenz genutzt.

Welchen Sinn haben Gedenkver-anstaltungen 60 Jahre später? Friedrich: Sie haben ihren Sinnin der Suche nach einer Form

derTrauer. Uns fehlt ein Namefür dieToten.Was sind sie? Ge-fallene eines totalen Krieges?Opfer eines Kriegsverbre-chens? Die Ernte einer Saat,die Hitler gesät hat?

Welche Bezeichnung liegt Ihnenam nächsten? Friedrich: Darauf kann ich kei-ne Antwort geben. Ich binnicht der Vordenker der Nati-on. Jede Gedenkveranstaltungsollte eine Selbsterforschungsein. Jeder muss. für sich dieFrage beantworten, ob die Er-eignisse damals eine Quittungfür den Angriff Deutschlandswaren oder eine nicht hin-nehmbare Barbarei, die denKrieg auf alles Lebendige aus-gedehnt hat.

Bei den Recherchen für Ihr Buchhaben Sie sich intensiv mit Kasselbeschäftigt. Was sind aus IhrerSicht die Besonderheiten? Friedrich: Hier wurde die Zer-störung durch die Bomben mitder Abrissbirne fortgesetzt.Der Wiederaufbau hat nahezualles Historische in Kassel eli-miniert.

Von Thomas Siemon

Zur Person Jörg Friedrich(Jahrgang 1944)hat mit seinemBuch „DerBrand“ eineheftige Diskus-sion über denLuftkrieg gegendeutsche Städte ausgelöst.Der Historiker ist heute aufEinladung der KasselerBank zu Gast in Kassel.

Theatersanierung doppelt so teuer Jetzt ist von 50 Millionen Euro die Rede - sonst droht Schließzeit von drei Jahren

KASSEL. Die Sanierung desStaatstheaters wird voraus-sichtlich wesentlich teurer alsbisher geplant und 50 Millio-nen Euro kosten. Nach HNA-Informationen ist dies dasüberraschende Ergebnis einerÜberprüfung durch das hessi-sche Finanzministerium. De-ren Ziel war es zu ermitteln,ob tatsächlich 27 MillionenEuro in die Erneuerung der Si-cherheitstechnik und der elek-trischen Anlagen gestecktwerden müssen, wie dies einProjektsteuerer berechnethatte (die HNA berichtete).

Nach den neuen Erkennt-nissen wären die sicherheits-technisch erforderlichen Maß-

nahmen für 27 Millionen garnicht vollständig zu leisten.Vor allem aber nicht in demveranschlagten Zeitraum vonzwei Jahren. Stattdessen wür-de sich die Schließzeit in die-sem Fall auf bis zu drei Jahreverlängern.

Das Ministerium für Wis-senschaft und Kunst bestätig-te gestern, dass die Sanierung„weit umfangreicher als ge-plant“ werde - bei „höherenKosten“. Man müsse jetzt voneiner „Komplettsanierung“sprechen, sagte Ministeriums-sprecherin Adrienne Lochte.Zahlen wollte sie nicht nen-nen. Über die erforderlicheSchließzeit und die Finanzie-rung werde Anfang Novemberzwischen Kunstministerium,

Finanzministerium und StadtKassel verhandelt. Bisher wareine Kostenteilung imVerhält-nis von 80 (Land) zu 20 (Stadt)vereinbart.

Nach HNA-Informationenwill Finanzminister Weimardiesen Schlüssel aber nur fürdie einst von KunstministerinWagner veranschlagten Sa-nierungskosten von 15 Millio-nen Euro anwenden und dierestliche Summe gemäß demTheatervertrag im Verhältnis52 zu 48 teilen. Für die StadtKassel würde dies Sanie-rungskosten von bis zu 23 Mil-lionen Euro statt der erwarte-ten fünf Millionen bedeuten.

Nach HNA-Informationensoll nun geprüft werden,ob dieSanierungskosten finanztech-

nisch auf einen längeren Zeit-raum zu strecken sind.

Der künftige Intendant desStaatstheaters, Thomas Bo-ckelmann, äußerte auf Anfra-ge seine „große Sorge“, dassdie Sanierung nicht, wie ver-einbart, pünktlich im Sommer2004 beginnen könnte. „DasSchlimmste, was uns passie-ren kann: Wir ziehen nächstenSommer aus, und die Hand-werker fangen nicht an.“

Bockelmann will die Operwährend der Bauphase in ei-nem Theaterzelt auf demFriedrichsplatz und dasSchauspiel in der documenta-Halle spielen lassen. Beidesmüsste rechtzeitig vor der do-cumenta 12 geräumt sein.

E KOMMENTAR

Von Werner Fritsch

L Kommentar

Farbe bekennen Werner Fritsch über die Theatersanierung Wenn die Sanierung desKasseler Staatstheatersnicht zur üblen Posse wer-den soll, dann müssen dieTräger jetzt schnellstenseinige Dinge klären.

Erstens: Jetzt, wo sichder Nebel lichtet, wirddeutlich, dass eine Billig-Sanierung nicht möglichist. Wollen also das Landund die Stadt dafür sor-gen, dass das Haus ent-sprechend den Notwen-digkeiten saniert wird,und zwar so, dass der Um-bau rechtzeitig vor Beginnder documenta 12 abge-schlossen werden kann?

Zweitens: Steht dasLand dazu, Kassel nichtschlechter zu behandelnals Darmstadt oder Wies-baden, wo mehr als 100bzw. 70 Millionen Euro indie Theatersanierung ge-steckt wurden? Wenn ja,darf am Finanzierungs-schlüssel 80 zu 20 nicht ge-rüttelt werden. Die Minis-ter Corts und Weimarmüssen Farbe bekennen.

Aber auch ein andererGedanke drängt sich auf:Eben hat die Stadt Erfurtfür 61 Millionen Euro einhochmodernesTheater ge-baut.Wäre ein Neubau aufDauer vielleicht nicht so-gar die günstigste Lösung?

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Willkommen: 3700Erstsemester

werdenempfangenKASSEL. 3700 Erstsemesterwerden heute Abend um 17.30Uhr in der Zentralmensa ander Uni Kassel empfangen.Siestarten in dieser Woche in ihrStudium. Willkommen gehei-ßen werden sie vom Uni-Prä-sidenten, Professor Dr. Rolf-Dieter Postlep, der Geschäfts-führerin des Studentenwerks,Christina Walz, und von Bür-germeister Ingo Groß.

Unter den neuen Studentenwerden an diesem Abend au-ßerdem von den Kassel Hus-kies und von FFH 500 Frei-karten verschenkt. Sie werdenab 17 Uhr vor der Zentralmen-sa verteilt. Gültig sind sie fürdas Spiel am Freitag, 24. Ok-tober, ab 19.30 Uhr, bei demdie Huskies in Kassel gegendie Metro Stars aus Düssel-dorf antreten. (ABG)

Letzte Hürde für Teilstrecke der Regiotram

KASSEL. Das Kasseler Regie-rungspräsidium (RP) will nacheigenen Angaben in dieserWo-che das Planfeststellungsver-fahren für den Teilabschnitder Regiotramstrecke zwi-schen Kurfürstenstraße undLutherstraße einleiten. Nachder öffentlichen Auslegungder Unterlagen können sichvon den Plänen Betroffene da-zu äußern. In welchem Zeit-

raum und wo genau die Pläneausliegen werden, war gesternnicht mehr zu erfahren. DerErörterungstermin, bei demdie Betroffenen ihre Einwän-de vortragen können, soll imFrühjahr 2004 stattfinden.

Danach wird der Planfest-stellungsbeschluss gefasst,womit Baurecht geschaffenwird. Denn das Planfeststel-lungsverfahren stellt die letz-te formale Hürde dar. Somitkann im Sommer 2004 mitdem Bau begonnen werden,vorausgesetzt, der Beschlusswird nicht mehr vor dem Ver-waltungsgericht angefochten.

Die Regiotram, die Stadtund Umland miteinander ver-bindet, soll spätestens 2006durch Kassel rollen. (ELS)

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Rat und Hilfe nach der

Chemotherapie KASSEL. Nicole Müller war 32Jahre alt, als der Brustkrebsihr Leben veränderte. Nichtnur innerlich, auch äußerlich.Nach der Chemotherapie fie-len ihr die Haare aus, siemochte nicht mehr in denSpiegel schauen. Eine onkolo-gische Gemeinschaftspraxisin Kassel steht Frauen wie ihrin der besonders schwierigenZeit nach der Chemotherapiemit Rat und Tat zur Seite.

Angeboten werden regel-mäßige Informations- und Ge-sprächsnachmittage sowiekosmetische Beratung und Be-handlung.Demnächst soll einepsychotherapeutische Betreu-ung hinzukommen.

E FÜNFTE LOKALSEITE

Page 14: Lokomotiven für die Front - baunsberg.de · Lokomotiven für die Front Als Rüstungsstandort war Kassel ein vorrangiges Ziel für Bombenangriffe Streng geheim waren die Daten über

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„Ein einziges Flammenmeer“ Erzähl-Salon mit Zeitzeugen zur Erinnerung an die Bombardierung Kassels

KASSEL. „Um 20 nach achtheulten die Sirenen“, erzähltGünter Kozica. Er blickt aufdie Uhr. Es ist viertel nachacht. Eben noch hatte dieKirchturmuhr der Lutherkir-che die volle Stunde geschla-gen und die Wände des Turm-zimmers leicht erschüttert.Nicht nur erschüttert vomBombenhagel, sondern inSchutt und Asche gelegt wur-de Kassel vor 60 Jahren am 22.Oktober 1943.

Am symbolträchtigen Ort,dem Turm der damals zerstör-ten Lutherkir-che, fand der vonJournalist RalfPasch moderier-te Erzähl-Salonstatt, in demZeitzeugen ihreErlebnisse vor 60Jahren schilder-ten. „Die Zerstö-rung“, so der Ti-tel der Veranstaltung, zu derdas Evangelische Forum Kas-sel gemeinsam mit Frankfur-ter Rundschau, KasselerStadtmuseum und Medienbü-ro Karin Rohnstock, Berlin,eingeladen hatten.

Günter Kozica hat den Tagals neunjähriger Rothendit-molder Bub erlebt. „Ein ein-ziges Flammenmeer“ bot sichden Augen des kleinen Jungen,als er aus dem Schutzkellerheraustrat. „Ringsum brann-ten alle Häuser lichterloh, dieHitze war nicht auszuhalten.“

Dort, wo vorherintakte Häuserzei-len gestanden hat-ten, sah er nun„zerfressene,flammenge-schwärzte Skelet-te oder nur nochSchutthaufen“.Gebannt hören dieMenschen im bisauf den letztenPlatz gefülltenTurmzimmer denplastischen Schil-derungen des 69-Jährigen zu.

Hans German-di, dem der Vaterdie Liebe zur Hei-matstadt mit in dieWiege gelegt hat-te, lief amTag nachder Bombardie-rung mit derKriegsmarine inder DeutschenBucht ein. „Ger-mandi, es ist einTelegramm für Sieda, Sie sind bom-bengeschädigt“, empfängt derdamals junge Mann die Hiobs-botschaft. In Kassel dann ein„Anblick, den man nie verges-sen kann“.

Als er durch die Stadt zumElternhaus laufen will, siehter „links und rechts nurTrüm-mer“. Das Haus dem Erdbo-den gleichgemacht,Vater,Mut-ter und Schwester tot. Nochheute, 60 Jahre danach, ringt

der 77-Jährige um die Fas-sung, muss innehalten.

In der Flakstellung in Ober-vellmar verbrachte HannoWarlich die Nacht vor 60 Jah-ren, „im Feuersturm, der sichüber Kassel ergossen hat, denwir ganz nah erlebt haben,undder uns das Grauen gelehrthat, dass Kassel in dieserNacht wohl untergegangenist“. Trotz der schmerzhaften

Erinnerung mahnt er, dassman nicht nur Opfer gewesensei, sondern auch dieTäterrol-le annehmen müsse. „Wir wa-ren Täter, die Opfer gewordensind.“ (PDO)

E Ausschnitte aus der Veran-staltung werden am kommen-den Freitag von 18-20 Uhr imFreien Radio Kassel (105,8mHz UKW) gesendet.

Hans Germandi

Erinnern und erzählen: Günter Kozica (rechts) und Hanno Warlich haben dieBombardierung Kassels vor 60 Jahren miterlebt. FOTOS: RUDOLPH

Britischer Botschafterredet bei Gedenkstunde Veranstaltungen erinnern an die Zerstörung

KASSEL. Am 22. Oktober 1943ging Kassel im Bombenhagelunter. 10 000 Menschen verlo-ren damals ihr Leben. Heuteist eine Gedenkstunde im Kas-seler Rathaus geplant.E Um 16 Uhr findet diese imSitzungssaal der Stadtverord-neten statt. Zu Beginn derVer-anstaltung, die gemeinsamvon der Stadt Kassel, der HNAund dem HR organisiert wird,ist eine Handsirene zu hören.Danach spricht Oberbürger-meister Georg Lewandowski.Anschließend wird der Filmdes Hessischen Rundfunks zurBombennacht gezeigt. Im Mit-telpunkt dürfte die Rede desbritischen Botschafters SirPeter James Torry stehen, dererstmals in Kassel ist (15.30Uhr Eintrag ins GoldeneBuch). Nach dem Film gibt eseine Gesprächsrunde mit Zeit-zeugen. Die Moderation über-nimmt HNA-Lokalchef TiborPézsa. Beim Rathauspförtnergibt es Einlasskarten, die zumkostenlosen Eintritt berechti-gen. Es sind noch Plätze frei.HR 4 überträgt die Gedenk-stunde ab 16.05 Uhr live imRadio. Die Übertragung dau-ert bis zum Beginn des Films.E Bereits um 14 Uhr gedenktdie Stadt Kassel der Toten des22. Oktober 1943 mit einerKranzniederlegung. Oberbür-germeister Lewandowski wirdam Ehrenmal für die Bomben-opfer auf dem Hauptfriedhof

einen Kranz niederlegen.E Um 17.30 Uhr zeigt dasUfa-Kino den Film Münch-hausen, der auch am 22. Ok-tober 1943 in Kassel lief. Ein-tritt drei Euro, der Erlös istfür den Verein Rat und Tat.E Die Ortsbeiräte Mitte undUnterneustadt laden mit demVdK um 18.30 Uhr zu einerGedenkveranstaltung in dieBrüderkirche ein. 19 Uhr:Kranzniederlegung. E Ein Zeichen gegen Kriegund Gewalt soll ab 18.45 Uhrdurch das Beleuchten Kasse-ler Kirchtürme gesetzt wer-den. Eine Aktion von KasselTourist und der Oskar-von-Miller-Schule auf Initiativevon Peter Zypries, Geschäfts-führer der Firma Kunstlicht.E Um 20 Uhr findet in derMartinskirche ein ökumeni-scher Gedenkgottesdienststatt.ImAnschluss (21.15 Uhr)beginnt ein Konzert unter derLeitung von Prof. Hans Darm-stadt. Bis zum 23. Novemberist in der Martinskirche eineAusstellung mit Bildern derZerstörung und des Wieder-aufbaus zu sehen (täglich von9 bis 17 Uhr). Anmeldungenfür Schulklassen unterT (0561) 16 78 4.E Der LuftkriegsexperteWer-ner Dettmar berichtet amSonntag, 26. Okober, in derMartinskirche über die Zer-störung. Sein Diavortrag be-ginnt um 19 Uhr. (TOS/USE)

Ungefilterte Erinnerungen Neue Bücher im Wartberg-Verlag über das zerstörte Kassel

KASSEL. Über 10 000 Men-schen verloren am 22. Oktober194e bei dem Bombenangriffauf Kassel ihr Leben. DerWartberg-Verlag hat anläss-lich des 60. Gedenktages zweiBücher herausgegeben. Nebendem Buch zur HNA-Serie„Der Horizont in hellen Flam-men“ von den HNA-Redak-teuren Thomas Siemon undDirk Schwarze sowie von His-toriker Werner Dettmar istauch „Die Nacht, als Kasselunterging“ von Jörg AdrianHuber erschienen.

„Der Horizont in hellenFlammen“ soll dazu beitra-gen, dass dieser Teil der Kas-seler Stadtgeschichte auch beiden jüngeren Menschen nichtinVergessenheit gerät, so Tho-mas Siemon. Themen sind un-ter anderem die BedeutungKassels als Rüstungsstandort,die Zuspitzung der Angriffebis zum 22. Oktober und dieNächte in den Luftschutzkel-lern.

Neben der Chronologie derAngriffe bietet das Buch zahl-reiche Berichte von Zeitzeu-gen und eineVielzahl von Bil-dern,die zumTeil noch nie ver-öffentlicht wurden.

Den Bildband „Die Nacht,als Kassel unterging“ stelltenAutor Huber und Verleger Pe-ter Wieden jetzt Oberbürger-

meister Georg Lewandowskiim Rathaus vor. In derVergan-genheit sei zwar schon sehrviel über den Bombenkriegproduziert worden, so Huber,der als Fernsehreporter und -redakteur für den HessischenRundfunk arbeitet.

Dabei habe es sich aber im-

mer umAutoren gehandelt,diedie Zerstörung Kassels selbstmiterlebt haben. Autoren, dieaus einem Schutz herausschnell eine Hornhaut gebil-det hätten. Er, so Huber, derdie Zerstörung selbst nichtmiterlebt hat, gehe aus der 60-jährigen Distanz dichter he-ran, ohne die Schutzvorrich-tung der Betroffenen.

In seinem Buch greift er aufZeitzeugenprotokolle aus demStadtarchiv zurück. 100 Men-schen waren nach der Zerstö-rung Kassels interviewt wor-den.Menschen die noch „unterSchock“ gestanden hätten,ungefiltert von dem Bomben-angriff berichteten. (USE) E Im Buchhandel sowie in al-len HNA-Geschäftsstellen er-hältlich ist für zehn Euro „DerHorizont in hellen Flammen“von HNA-Redakteur ThomasSiemon und HistorikerWernerDettmar.E Der 64-seitige Bildband„Die Nacht, als Kassel unter-ging“ von Jörg Adrian Huberist für 17,80 Euro im Buch-handel zu erhalten.

Präsentierten Bildband im Rathaus: Der Autor Jörg Adrian Hu-ber, Verleger Peter Wieden und Oberbürgermeister Georg Le-wandowski (von links).

Autoren-Trio: HNA-Redakteur Thomas Siemon, der HistorikerWerner Dettmar und HNA-Redakteur Dirk Schwarze (von links)schrieben „Der Horizont in hellen Flammen“. FOTOS: HERZOG