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Sonntag, 18. Januar 2015 (20:05-21:00 Uhr), KW 3 Deutschlandfunk / Abt. Musik und Information FREISTIL My Favorite Things – Das Universum der Dinge Von Burkhard Reinartz Redaktion: Klaus Pilger [Produktion DLF 2011] M a n u s k r i p t Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich ge- schützt und darf vom Empfänger aus- schließlich zu rein privaten Zwecken ge- nutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - ggf. unkorrigiertes Exemplar -

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Sonntag, 18. Januar 2015 (20:05-21:00 Uhr), KW 3

Deutschlandfunk / Abt. Musik und Information

FREISTIL

My Favorite Things – Das Universum der Dinge

Von Burkhard Reinartz

Redaktion: Klaus Pilger

[Produktion DLF 2011]

M a n u s k r i p t

Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich ge-schützt und darf vom Empfänger aus-schließlich zu rein privaten Zwecken ge-nutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - ggf. unkorrigiertes Exemplar -

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Musik Hauschka: Ping tr 4

O-Toncollage 1

O-Ton 1 Astrid B.

Ich liebe Schuhe. Ich hab unzählige Paare, vielleicht 50,60 Stück. Wenn ich an einem Schuladen vorbei

gehe, na nicht immer, aber, ich weiß auch nicht, was ich machen soll. Es ist halt mein Tick.

O-Ton 2 Udo M.

Ich hab mir mit dreißig ein Bild gekauft von einem befreundeten Maler, so Farbschichtungen in ver-

schiedenen Weißtönen, das begleitet mich seit zwanzig Jahren.

O-Ton 3 Heidi H.

Ich mag Blumen. Jedes Wochenende hol ich mir nen Blumenstrauß vom Markt. Schön bunt und le-

bendig.

O-Ton 4 Leif B.

Diese Polizeiwache aus Lego, weil man so viele tolle Sachen damit machen kann

O-Ton 6 Laura S.

Mein I-Phone ist das schönste Spielzeug, das ich je hatte. Es ist super praktisch und sieht Klasse aus.

Wie das in der Hand liegt 18 15 S. Ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, ohne iphone zu sein

Musik Sarah Vaughan: My favourite Things

Cream colored ponies and crisp apple strudels

Doorbells and sleigh bells and schnitzel with noodles

Wild geese that fly with the moon on their wings

These are a few of my favourite things

Sprecher:

Aus eins wird zwei, aus zwei wird drei, aus drei werden zehntausend Dinge.

Sprecherin: Laotse

Zitatorin:

Es gibt Augenblicke, in denen kriegen die Dinge eine Zartheit, eine monströse, die man nicht von

ihnen erwartet.

Sprecherin: Herta Müller

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Zitator:

Wir suchen überall das Unbedingte, und finden immer nur Dinge.

Sprecherin: Novalis

Musik: John Coltrane: My favourite Things - Schlussakkord

Sprecherin:

My favourite Things - das Universum der Dinge

von Burkhard Reinartz

Atmo 1: Wien - Fiakergeräusche

Atmo 2: Wien Caféhaus

Autor:

Ein heißer Sommertag in Wien. Touristen in Fiakergespannen, genauso wie es dem Klischee ent-

spricht. Der Dingforscher Konrad Paul Liessmann lehrt an der Wiener Universität Philosophie. Er

schlägt ein Wiener Caféhaus gegenüber der Universität als Treffpunkt vor. Und steckt mitten in den

Abschlussprüfungen seiner Studenten. Aber eine dreiviertel Stunde zwischendurch bei einer Wiener

Mélange, das würde schon gehen

O-Ton 7 Konrad Paul Liessmann

Ich denke, diese Welt der Dinge offeriert nicht ein Versprechen, sondern die Einlösung nahezu jedes

Versprechens. Es scheint mir doch so zu sein, dass wir alle unsere Wünsche, Vorstellungen, alles was

wir vom Leben erwarten, erwarten wir in gewisser Weise über ein Ding, egal was das sein mag. Wir

können uns keine Tätigkeit, keinen Wunsch mehr vorstellen, wo nicht für die Erreichung dieses Ziels

ein Ding dazwischen geschaltet wäre. Manche Menschen gehen gern laufen. Ja was braucht man da-

zu? Natürlich die entsprechenden Turnschuhe, die entsprechende Funktionskleidung, die entspre-

chende Ausstattung, wo man seinen i-pod aufbewahren kann.10 Das heißt bei ganz einfachen Tätig-

keiten sind wir schon umzingelt, umgeben von Dingen.

Atmo 3: Straßenszene

O-Ton 8 Konrad Paul Liessmann

Wer durch eine moderne Stadt geht ,sieht überall Dinge, teils präsentiert in Schaufenstern teils als

Bestandteil eines urbanen Ambientes. Überall stehen Automobile, natürlich Dinge, das heißt die Din-

ge haben eine Omnipräsenz.

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Szene A

Sprecherin:

Plakatwände schreien von allen Seiten:

Sprecher:

Schau mich an! Ja, du bist gemeint. Sieh mir in die Augen und höre meine Botschaft: Sieh mich, mag

mich, kauf mich!

Sprecherin/ Sprecher: abwechselnd

Elektrische Apfelsinenpressen, Home-Trainer, Leder-Strings, Fahrspurassistenten, Bachblütentropfen

für Wellensittiche, 3-D-Brillen, Kondome mit Erdbeergeschmack, Brotbackmaschinen

O-Ton 9 Konrad Paul Liessmann

Was verschwunden ist, das sind die Produktionsstätten der Dinge. Wir haben keine Handwerksbetrie-

be mehr, wir haben keine Fabriken mehr, die sichtbar irgendwo im Zentrum stehen. Die Schornsteine,

die früher noch Fabrikanlagen andeuteten sind abgebaut oder gesprengt. Die Produktion hat sich ver-

lagert, ist ausgelagert worden, hat sich zu einem gewissen Grad auch virtualisiert, aber die Dinge als

sozusagen letzte Form von Materialität in unserem Dasein, die sind da. 15 Das Spannende ist, dass

wir zu Gegenständen, zu Dingen, über deren Herstellungs- oder Produktionsvorgang wir Bescheid

wissen, schon eine andere Beziehung haben, als Dinge, die gleichsam wie hingezaubert vor uns lie-

gen, und die nur noch in Besitz genommen, gekauft werden müssen und konsumiert werden müssen.

Deshalb ist diese Dingwelt, in der wir leben, immer auch gepaart mit Sehnsüchten nach anderen Pro-

duktionsverhältnissen.

Zitatorin:

Wir haben sie noch, die guten Dinge - Manufaktum

Atmo 4: Manufaktum Köln

Autor

Am frühen Montag streifen nur wenige Kunden durch den Laden. Und im Gegensatz zum Klischee des

typischen Manufaktum-Kunden – eher älter und traditionsbewußt – sind die Mehrzahl der Kunden

junge Leute um die dreißig.

O-Ton 10 KundenCollage 1

A. Hier gibt's noch so viel Traditionelles, was man in anderen Läden nicht findet.

B. Ich sehe hier auch viele Sachen, die ich aus meiner Jugend noch kenne -

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C. oder von den Großeltern, ob das Kellerleuchten sind oder Lichtschalter, oder Seifenbehältnisse,

Thermoskannen – ist schon toll

D. (Spanierin) Das ist für mich perfekt, hier eine Geschenk zu finde. Schönheit, nur Schönheit

O-Ton 11 Inka van Straelen:

Die emotionale Bindung an die guten alten Dinge, die die Kunden bei uns sehen, sind natürlich erin-

nerungswertig. Nehmen sie zum Beispiel den Cocucina, das ist ein Papierkleber. Da hören wir jedes

mal: ach, den hab ich bei meinem Großvater gerochen, als ich an seinem alten Schreibtisch saß.

Autor:

Inka van Straelen, die Geschäftsführerin, zeigt sich begeistert vom Warenangebot ihrer Firma, die seit

2007 Teil des Otto-Konzerns ist. Im Katalog wirbt Manufaktum für ein freundschaftliches Verhältnis

zwischen Menschen und den Dingen.

O-Ton 12 Inka van Straelen:

Wozu brauchen wir eine freundschaftliche Beziehung zu den Dingen? Wir leben heute sehr viel mit

Wegwerfprodukten und damit haben diese Dinge keinen Wert mehr für uns. Wenn jetzt aber ein Kü-

chenbegleiter, ich nehm mal ein Küchenmesser, das immer scharf bleibt und sie für 20 Jahre gut be-

gleiten kann, dann hat dieses Ding auch einen gewissen ideellen Wert . Und so gewinnen sie auch ein

einfaches Küchenmesser durchaus lieb.

Autor:

Es gibt auch einige Angebote unter zehn Euro, doch die meisten Manufaktum-Produkte sind eher

hochpreisig. Hartz 4-Empfänger würden den Edel-Laden wohl nicht ansteuern.

O-Ton 13 Kundencollage 2

A. Sie suchen sich eben Sachen, die alt aussehen und von der Mache her eben auch alt sind. Hand-

werklich, die Sachen sehen handwerklich aus, die sie hier kaufen.

B.. Ich bevorzuge besondere Schuhe, Handarbeit, weil, die kann ich mehrere Jahre tragen und ich bin

bereit mehr zu zahlen dafür.

C. Sind schon ordentlich im Preis, es sind ausgefallene Stücke, die man woanders nicht kriegt, aber

man muss zahlen.

O-Ton 14 Inka van Straelen:

Wenn ich jetzt für diesen Artikel vermeintlich mehr Geld zahle, aber zwanzig Jahre lang im Haus ge-

nutzt werden kann, weil ich auch nach zehn Jahren ein Ersatzteil dafür bekomme, ist die Sichtweise

eine ganz andere.

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Autor:

Stolz steuert Inka van Straelen auf eine monumentale Wanduhr zu.

Musik Alva Noto/Ryuichi Sakamoto trioon II - Vrioon

Zitator:

Wanduhren sind äußerst begehrte Gegenstände, weil sie die Zeit in die Intimität ihrer Gehäuse ein-

fangen, was äußerst beruhigend wirkt. Alle kennen die Wirkung des Tickens einer Uhr im Zimmer. Es

heimelt an, weil es mit dem Ticken im Innern unseres Körpers verwandt ist. Die Uhr ist ein mechani-

sches Herz, welches unserem eigenen Herzen Zuversicht einflößt.

Jean Baudrillard

O-Ton 15 Inka van Straelen:

Diese Wanduhr hat den stolzen Preis von über 5000 Euro, der sich durch ein ganz, ganz großes Präzi-

sionsgerät auszeichnet. Sie ist eines der genauesten mechanischen Uhren, die es überhaupt gibt. Die

Abweichung von der Zeit sind drei Sekunden pro Monat.

Musik-Insert: Sarah Vaughan "These are a few of my favourite Things"

Zitator:

Wer sind wir ? Woher kommen wir? Wohin gehen wir?

O-Ton 16 Konrad Paul Liessmann

Es ist doch so, dass die alte metaphysische Frage, die in Bezug auf den Menschen gestellt wird, dass

die sich gegenwärtig auf die Dinge bezieht. Das große Rätsel ist ja: woher kommen die Dinge, unter

welchen Bedingungen werden sie produziert, unter welchen sozialen, unter welchen moralischen Be-

dingungen werden sie produziert? Sind es Kinder, die sie herstellen, was verdienen die Menschen, die

in Ostasien unsere Kleider nähen? 18 Und ganz entscheidend für moderne Gesellschaften: wohin

gehen die Dinge? Grundprobleme unserer Technologie, unserer Ökonomie beziehen sich auf die Fra-

ge: wie entsorgen wir das, was wir an Dingen hergestellt haben?

O-Ton 17 Jule Reimer:

In Deutschland haben wir 800.000 Tonnen Elektroschrott, der auf die eine oder andere Weise entsorgt

wird.

Autor:

Jule Reimer arbeitet als Wirtschafts- und Umweltredakteurin beim Deutschlandfunk.

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O-Ton 18 Jule Reimer:

Es gibt die schlimmen Fälle, da landet er irgendwo im Wald, es gibt die Fälle da wird er ordentlich

abgegeben auf einem Recyclinghof. Dann ist er erst mal aus unseren Augen, verschwunden für uns als

Verbraucher. 27 1.50 Aber offenbar kommt da nicht alles an. Das heißt, je wertvoller die Metalle sind

desto begehrter werden sie und desto anfälliger für illegale Aktivitäten.

Ausschnitt eines Beitrags von Samuel Burri: DLF 21.8.2011 - autorisiert

Razat

"Mein Name ist Razat, mein Geschäft ist es, Kupfer heraus zu brennen. Wir kaufen Kabel, dann

brennen wir das Plastik weg. Wir machen Profit."

An guten Tagen verdient Razat mit dem Verkauf von Kupfer bis zu zehn Cedi - das entspricht fünf

Euro. Und ist mehr als das Durchschnittseinkommen in Ghana. Schnelles Geld für die Jungen aus

armen Verhältnissen. Doch der Profit geht zulasten der Gesundheit. Der Boden in Agbogbloshie ist

mit Schwermetallen verseucht, der Plastikrauch giftig - das weiß auch der 16-jährige Kwesi

Kwesi:

"Wenn der Rauch in deine Nase geht, wirst du krank. Die Augen und die Nase schmerzen. Aber wenn

wir es nicht tun, haben wir nichts zu essen".

Das Kabelverbrennen in Ghana ist nur ein kleiner Teil des weltweiten Problems Elektroschrott. 40

Millionen Tonnen, schätzt das UN-Umweltprogramm (UNEP), fallen jährlich an - Computer,

Bildschirme, Handys, Fernseher, Kühlschränke.

O-Ton 19 Konrad Paul Liessmann

Es sollte uns zu denken geben, dass wir von einem Kreislauf leben, von dem wir hier nur diese ange-

nehme, glitzernde, Oberflächenform der Präsenz und der Verwendbarkeit der Dinge haben.

O-Ton 20 Jule Reimer:

Es geht nicht nur darum, wo wir die Dinge entsorgen. Es geht darum, wo kommen die her. Und unser

großer Rohstoffbedarf bedeutet ja, dass wir ganz viel auf der Produktionsseite zerstören. Wir zerstören

ganz viel Natur, um an Rohstoffe zu kommen. Wir haben einen Run auf Goldabbau, einen Run auf

Kupferabbau. Ich mach da ganz viel an Wald, an Tierwelt, an potentieller Ackerfläche kaputt, die auch

ihren Wert hat. Und dieser Wert wird meines Erachtens zu wenig gesehen.

Der Respekt vor den Dingen ist geringer geworden. Wenn ich an meine Mutter denke, die während des

zweiten Weltkriegs groß geworden ist und die Nachkriegszeit miterlebt hat, die war von einem ganz

starken Respekt vor den Dingen geprägt und sie hat sehr lange gezögert, bevor sie etwas weg gewor-

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fen hat. Diejenigen, die 1920, 1930 geboren worden sind, die haben ein großes Bedürfnis gehabt, die

Dinge zu pflegen, was vielleicht auch aus dem Mangel resultierte. Das hat sich für uns ganz stark ge-

ändert wegen dieser Flut von neuen Angeboten.

Musik : Hauschka: Radar

Autor:

Täglich spuckt die globalisierte Produktionsmaschine neue Dinge aus. Gleichzeitig verschwinden - von

der technischen Entwicklung oder von Modeströmungen überholt - unzählige Dinge wie Telefonzellen,

Tropfkerzen und Kaugummiautomaten.

Szene B

Sprecherin:

Wann hast du deinen letzten Brief geschrieben?

Sprecher:

Du meinst so richtig mit der Hand, Briefmarke und allem drum und dran?

Sprecherin:

Ich kann mich noch gut an die Zeit erinnern, als ich aus dem Urlaub Postkarten verschickt habe. Die

Briefmarken bekam man auf Sizilien im Tabakladen:

"Liebe Eltern, mir geht es gut!"

Sprecher:

Mein persönlicher Favorit war in den 80er Jahren die sogenannte Kompakt-kassette. Auch um Platten

aufzunehmen, aber vor allem, um Abends vor dem Radio zu hocken und auf BFBS die John Peel-

Sessions aufzunehmen oder im WDR Alan Bangs' "Nightflight". Eine ganze Stunde Musik ging auf

das 60er Band inclusive Moderation. Die Ära der Compaktcassette war die Stunde des Radios.

Sprecherin:

Ich weiß noch wie mein älterer Bruder mit seinen Freunden über den Unterschied von Chromdioxid-

bändern und Eisenbändern fachsimpelte. Vertrug sich der Nakamichi-Recorder mit den BASF-

Kassetten obwohl Nakamichi Maxell-Kassetten empfahl?

Autor:

Walkman, Mini-Disk, dann der MP3-Player. Inzwischen hat das Handy die meisten technischen Funk-

tionen wie Musik hören, Internetzugriff, E-mail-Austausch und Kamera integriert. Die Tatsache, dass

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Menschen kaum noch ohne ihren kleinen Lebenshelfer unterwegs sind, hat Konsequenzen bis hin zur

Bedienungsweise.

Der Schritt vom eher aggressiven Eintippen bis zum zärtlichen Bildschirmstreicheln bei der Bedienung

der Smartphones zeigt die fast schon erotische Verbindung von Mensch und Ding.

O-Ton 21 Konrad Paul Liessmann

Wenn wir uns in ein Ding verlieben, verlieben wir uns nicht in einen konkreten Gegenstand, sondern in

eine abstrakte Gattung, wir verlieben uns in das i-phone, die Idee i-phone. Den konkreten Gegenstand

tauschen wir jedes halbe Jahr aus. 22 Wir haben ja nicht wie in einer handwerklich geprägten Kultur

lebenslange Beziehungen zu Dingen. Auf der einen Seite sind die Dinge für uns essentiell wichtig, sie

sind omnipräsent und auf der anderen Seite gibt es nichts flüchtigeres als Dinge.

Musik: Al Green: Lay it down

O-Ton 22 Konrad Paul Liessmann

Man muss aber auch sagen, dass moderne Technologien diese emotionale Bindung an einen konkre-

ten Gegenstand wirklich schwer machen. Ich kann mich noch erinnern, ich kann ne emotionale Bezie-

hung zu einer klassischen analogen Schallplatte in einer wunderschönen Hülle entwickeln. Es ist

schon wesentlich schwieriger, eine solche Beziehung zu einer CD zu entwickeln und es ist unmöglich,

eine Beziehung zu einem MP3-file zu entwickeln. Ich kann zu einer Datei, die nur aus Nullen und Ein-

sen besteht keine emotionale Beziehung entwickeln, obwohl diese Datei genau die Musik enthält, die

auf der Schallplatte gespeichert ist. 40 Wir haben es interessanterweise im Prozess der Digitalisierung

auch mit einer Entdinglichung der Dinge zu tun.

Musik : Hauschka: Ping

O-Ton Collage 2

O-Ton 23 Brigitte K.

Wir haben zuhause einen Travertintisch, einen Tisch aus Stein. Und diesen Tisch haben wir schon

ganz lange und der wird mich wahrscheinlich bis an mein Lebensende begleiten.

O-Ton 24 Udo B.

Ich habe so Anfang meines Studiums von meiner guten Freundin Lisa einen Kaktus bekommen, son

ganz kleinen winzigen Finger. Mittlerweile sind aus dem Finger zwanzig oder dreißig geworden. Das

Viech ist riesengroß. Der ist für mich auch sone Verbindung zu Lisa und der blüht jedes Jahr.

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O-Ton 25 Laura S.

Mein Klavier ist fast wie'n Freund für mich. Wenn ich schlecht drauf bin oder gut drauf bin, dann kann

ich das über mein Klavier zum Ausdruck bringen. Das ist mir auch nie böse, wenn ich mal sauer bin

und es mal Aggressionen von mir abbekommt.

O-Ton 26 Konrad Paul Liessmann

Natürlich haben Menschen emotionale Beziehungen zu Dingen, haben sie immer schon gehabt. 41

Und auch heute gibt's natürlich Dinge, die aus persönlichen Gründen oder auch weil diese Dinge ei-

nen bestimmten Wert haben, prädestiniert sind, dass wir eine ganz persönliche Beziehung dazu ent-

wickeln. 38 Dann gibt's Gegenstände, die uns so nahe sind, weil sie Teil unserer persönlichen Biogra-

phie sind. Das Buch, das verantwortlich ist, dass ich damals studiert habe. Die stellen wir in einen

Schrein, diese Gegenstände.

Zitator:

Sammler sind Physiognomiker der Dingwelt. Unordentliches Kind: jeder Stein, den es findet, jede ge-

pflückte Blume, jeder gefangene Schmetterling und alles was es überhaupt besitzt, macht ihm eine

einzige Sammlung aus. An ihm zeigt die Leidenschaft ihr wahres Gesicht. Es jagt die Geister, die es in

den Dingen wittert.

Walter Benjamin

O-Ton 27 Dorothee Kimmich

Walter Benjamin ist sicher einer der großen Ding-Literaten und Ding-Philosophen.

Autor:

Die Tübinger Literaturwissenschaftlerin Dorethee Kimmich erzählt, dass in Benjamins Werk Socken

auftauchen, Kinderspielzeug, Abfall, Telefone, Glasscherben, Korkenzieher. Ausgemusterte Dinge,

Unnützes, für das sich allenfalls Sammler und KInder interessieren. Dinge haben für ihn eine heraus-

ragende Eigenschaft: sie speichern die Zeit und stehen in einem besonderen Verhältnis zu den sie

umgebenden Menschen. Wer die Dinge wahr nehmen möchte, sollte lernen, ihren Blick zu lesen, emp-

fiehlt Walter Benjamin:

Zitator:

Nur was uns anschaut, sehen wir.

Walter Benjamin

O-Ton 28 Dorothee Kimmich

Die Vorstellung, dass man den Blick der Dinge erhaschen kann, macht deutlich, dass man eine eigene

Haltung dafür entwickeln muss, damit man einen Zugang zu diesen Dingen bekommt, die eben nicht

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nur Gegenstände und Objekte sind. Die Vorstellung, dass man sich selber zurück nehmen muss und

vorsichtig, aufmerksam fast, auf den Blick der Dinge lauern muss, den wiederholt er an verschiedenen

Stellen. Und eine gewisse Selbstzurücknahme. Das ist dann dieser Kasper Hauser Blick. 18.20 Diese

Form von Offenheit gegenüber der Dingwelt ist keine willentliche Konzentration, vielleicht eher so ne

Art von meditativem Loslassen.

Musik: Alva Noto/Ryuchi Sakamoto: Pioneer IOO

Szene C

Mann:

Ich kann eine Rose auf zwei ganz unterschiedliche Weisen wahrnehmen.

ich kategorisiere sie als mir bekanntes Symbol: "Rose, kenn ich schon.

Schön, prachtvoll, romantisch" - oder ich mach mich beim Anblick der Rose leer, werf mein Vorwissen

über Bord, bin für einen Augenblick nur derjenige, der schaut, der eine Verabredung mit der konkreten

Rose hat.

Autor:

Nicht Vorstellungen und Meinungen über die Dinge stülpen, sondern abwarten,

was sich ereignet. Dann geben die Dinge in manchen Momenten etwas von ihnen preis, was sonst

versteckt bleibt.

Sprecherin:

Schläft ein Lied in allen Dingen, die da träumen fort und fort.

Autor:

Die mystische Erfahrung, dass in bestimmten Augenblicken die Grenze von Ich und Welt durchlässig

werden kann und manche Menschen eine Erfahrung kosmischer Einheit erleben, ist näher an der All-

tagswelt als viele denken.

Zitator:

Das Ich ist auf die Dinge ausgedehnt. Menschen und Dinge sind fast nie säuberlich auseinander gera-

ten. Die Subjekt-Objekt Grenze ist unscharf.

Autor:

schreibt der Kulturphilosoph Hartmut Böhme,

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Sprecher:

was mir einleuchtet: Ich erlebe meine Brille nicht als ein fremdes technisches Objekt, sondern als na-

türliche Verlängerung meiner selbst, fast als Teil meines Körpers. Genauso mein weinrotes leicht tail-

liertes Lieblingshemd. Weniger ein Kleidungsstück aus 90 Prozent Baumwolle und zehn Prozent

Elasthan als meine zweite Haut.

Autor:

Der Schriftsteller Francois Ponge hat in dem kleinen Prosastück "Die Seife" beschrieben, wie Hand

und Reinigungsobjekt schrittweise ineinander übergehen bis die Seife sich am Ende in Nichts auflöst:

Zitatorin:

Wenn ich mir die Hände einreibe, schäumt die

Seife, jubelt sie...

Je mehr sie mir die Hände willfährig macht, schmiegsam,

glatt, weich, desto mehr schäumt sie, desto mehr schäumt sie perlmuttglänzend auf...

ein Zauberstein!

desto schneller bildet sie mit Lust und Wasser

Explosive Trauben duftender Beeren...

Luft, Wasser und Seife

greifen übereinander, springen Bock,

gehen Verbindungen ein, weniger chemisch

als physikalisch, turnerisch, akrobatisch-

Rhetorisch??

O-Ton 29 a Karl-Heinz Kohl

Wir kennen ja die alte Formel von der Tücke der Dinge, die ja davon ausgeht, dass die Dinge ja tat-

sächlich so was wie belebte Wesenheiten wären.

Autor:

Der Ethnologe Karl-Heinz Kohl

O-Ton 29 b Karl-Heinz Kohl

Und wir agieren ja auch mit den Dingen als könnten wir sie wie andere Menschen beeinflussen.

Szene D

Musik: Dans les arbres: La Froideur

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Sprecher:

Kennst du diese Wut auf Dinge, die nicht funktionieren?

Sprecherin:

Klar, wenn mein laptop genau das macht, was es nicht machen sollte und genau das verweigert, was

es tun sollte.

Sprecher:

Zur Hölle mit den Dingen!

Zitatorin:

Gegenstände, wisst ihr, was das ist: Leid?

Seid ihr einmal hungrig gewesen, verloren und einsam?

Habt ihr je geweint? Kennt ihr die Angst?

Die Scham? Habt ihr Neid und Eifersucht erfahren?

Habt ihr geliebt, habt ihr einmal im Sterben gelegen

nachts, wenn der Wind die Fenster öffnet und das kühle

Herz durchdringt? Habt ihr

das Alter, die Zeit, Vergänglichkeit erfahren? Die Trauer?

Stille -

An der Wand tanzt die Nadel des Barometers.

Adam Zagajewski: Aus dem Leben der Gegenstände

Autor:

In Herta Müllers Roman "Atemschaukel" gibt es Situationen, in denen sich die ganze Bandbreite der

Dinge zeigt: ihr Trost, ihre Bedrohlichkeit - und ihre Liebenswürdigkeit. Das Eigenleben der Gegen-

stände:

Zitator:

Einmal bekam ich ein Taschentuch geschenkt von einer Russin. Es war sehr kalt. Meine Nase tropfte.

Abadschij, sagte die Russin und brachte aus dem Nebenzimmer ein schneeweißes Taschentuch. Ich

wagte nicht, mich zu schneuzen. So etwas Schönes hatte ich im Lager schon lange nicht mehr gese-

hen. Diese Schönheit tat mir weh.

Ich war mir sicher, der Abschiedssatz meiner Großmutter ICH WEISS, DU KOMMST WIEDER hatte

sich in ein Taschentuch verwandelt.

Ich schäme mich nicht, wenn ich sage, das Taschentuch war der einzige Mensch, der sich im Lager

um mich kümmerte. Ich bin mir sicher, auch heute noch:

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Es gibt Augenblicke, in denen kriegen die Dinge eine Zartheit, eine monströse, die man nicht von

ihnen erwartet.

O-Ton Dorothee Kimmich

Das ist eines der großen Dinge-Themen, dieses Changieren zwischen tot und lebendig und alle großen

Ding-Denker, Ding-Schriftsteller, Ding-Maler haben diese Übergänglichkeit von tot und lebendig zum

Thema gemacht. Und da gehört natürlich Herta Müller genauso dazu wie Cezanne. Auf der einen Seite

kann das tröstlich, aber genauso ungeheuer bedrohlich sein.

Musik 10: Dans les Arbres: La somnolence

Zitator:

Manchmal überfallen mich die Gegenstände aus dem Lager nicht nacheinander, sondern im Rudel.

Darum weiß ich, dass es den Gegenständen, die mich heimsuchen, gar nicht oder nicht nur um meine

Erinnerung geht, sondern ums Drangsalieren. Kaum denke ich, dass ich das Nähzeug mitgenommen

habe, da mischt sich das Handtuch ein, Dazu noch ein Taschenspiegel, den es gab oder auch nicht.

Gegenstände, die vielleicht nichts mit mir zu tun hatten, suchen mich. Sie wollen mich nachts depor-

tieren, ins Lager heimholen wollen sie mich. Ich hab ein Magendrücken, das in den Gaumen steigt.

Die Atemschaukel überschlägt sich, ich muss hecheln.

Wenn mich nachts die Gegenstände heimsuchen und mir im Hals die Luft abdrosseln, reiße ich das

Fenster auf und halte den Kopf ins Freie. Am Himmel steht ein Mond wie ein Glas kalte Milch, sie

spült mir die Augen. Mein Atem findet wieder seinen Takt. Ich schluck die kalte Luft, bis ich nicht

mehr im Lager bin und leg mich wieder hin. Das Bettzeug weiß von nichts und wärmt. Die Luft im

Zimmer schaut mich an und riecht nach warmem Mehl.

Hertha Müller: Atemschaukel

O-Ton 30 Dorothee Kimmich

Ja, Die Dinge sind natürlich nicht nur nett und liebenswürdig und gucken einen mit großen Kullerau-

gen an. Die Dinge sind auch Kobolde. Sie haben diese fremde und gefährliche Seite und sind deshalb

auch unglaublich unberechenbar. 20.07 Es gibt viele koboldhafte Texte, die diese berühmte Tücke

des Objekts zitieren.

Musik: Ketil Björnstad/Svante Henryson: Adoro

Zitator:

Welche Dinge sind es, die mich befremden? Die unscheinbarsten. Meistens leblose Sachen. Was be-

fremdet mich an ihnen? Ein etwas, das ich nicht kenne. Aber das ist es ja eben! Woher nehme ich denn

dieses "Etwas"? Ich empfinde sein Dasein; es wirkt auf mich so als ob es sprechen wollte"

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Zitatorin:

Er ahnte nur dunkel, dass es mit jener rätselhaften Eigenschaft seiner Seele zusammenhänge, auch

von den leblosen Dingen, den leblosen Gegenständen, mitunter von hundert schweigenden fragenden

Augen überfallen zu werden.

Autor:

Der junge Törless in Robert Musils Roman "Die Verwirrungen des Zöglings Törless" fühlt sich von den

Dingen angeblickt. Zugleich werden ihm die Menschen zu leblosen Gegenständen.

O-Ton 31 a Dorothee Kimmich

Die Vorstellung, dass man mit den Dingen so etwas wie eine komplizenhaftes Verhältnis entwickeln

könnte, indem man als Mensch seine Dinglichkeit zulässt in den Momenten der Selbstvergessenheit

und der Meditation und auf der anderen Seite den Dingen etwas von ihrer Menschlichkeit ablauscht,

das ist eine komplett andere Vorstellung als es uns die Dialektik der Aufklärung anbietet.

Intro der Filmmusik von Chaplins "Moderne Zeiten"

O-Ton 31 b Dorothee Kimmich

Charlie Chaplin war eine Ikone der Moderne. In den Filmen entwickelt er diese Doppeldeutigkeit der

Komplizenschaft mit den Dingen, aber auch ihre Bedrohlichkeit, die die Dinge, wenn sie nicht funktio-

nieren für den Menschen haben. Und auf der anderen Seite ist ja seine akrobatische Leitung insofern

auch, weil der Körper ihm zum Teil ja zum Ding wird. Er funktioniert ja selbst zum Teil wie ne Maschi-

ne, etwa in Modern Times.

Zitator:

Charly Chaplins Tramp ist nur ein Gast in der Kausalität. Er zankt mit den Dingen in ihrer eigenen

Muttersprache.

Alfred Polgar

O-Ton 32 Dorothee Kimmich

Der moderne Mensch ist eben einer, der an Naturgesetze glaubt. Punkt. Und wer mit seiner Zahn-

bürste redet, der löst entweder Lacher aus oder im schlimmsten Fall kommt er in die Psychiatrie.

Trotzdem ist es so, dass wir alle zu allen unseren Dingen affektive Bindungen entwickeln und bei Tex-

ten und Bildern ist es selbstverständlich, aber auch bei Möbeln und Kleidung.

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Autor:

Das hat sich auch der englische Kulturwissenschaftler Daniel Miller gesagt. Und über hundert Londo-

ner Haushalte besucht, um mit dem Blick des unbefangenen Anthropologen zu schauen: Mit was für

Dingen umgeben sich die Menschen und was sagt das über sie aus? Mal sehen, ob ein Hausbesuch

im Kölner Stadtteil Lindental den Verdacht bestätigt: Zeige mir deine Wohnung und ich sage Dir, wer

du bist.

Atmo 7: Treppe/Türklingeln

Autor:

Sabine und Raimund haben sich vor zwei Jahren kennengelernt und sind gerade zusammengezogen.

Eine großzügige Wohnung im dritten Stock. An der Frontwand des Flurs neben einem prall gefüllten

Bücherregal drei Bildertafeln mit Fotos.

O-Ton 33 Sabine/Raimund

Sabine: Das sind so meine Lieblingsbilder, die ich von meiner Familie habe. Und da hab ich zum

Raimund gesagt; mach das von deiner Familie auch, von Deinen Kindern und von dir. Was sollen die

in so Alben schmoren? So sieht man die jeden Tag.

Raimund: Ich fand die Idee auch gut und da hab ich mal zusammen gesammelt, was ich so an Pa-

pierabzügen da hatte. Eins vom ersten Schultag da. Lachen Sabine: Das hab ich mir gewünscht, dass

das da auch Platz findet.

Autor:

Vor einem langgestreckten Süd-West-Balkon der Mittelpunkt der Wohnung: das großzügige Wohn-

zimmer. Hier wird gegessen, Fernsehen geguckt, im Netz gesurft, auf dem Sofa gelümmelt und Musik

gehört. Neben der Wohnzimmertür ein Klavier in einem mittelbraunen Farbton.

O-Ton 34 Sabine/Raimund

Sabine: Mir gehört das Klavier. Raimund: Ich hab ja auch Klavier spielen gelernt. Ich hab mich da mal

wieder dran gesetzt und geguckt, was noch geht. Ist nicht mehr viel, aber zum Begleiten, zum Singen

geht's noch.

Sabine: Wir sitzen schon mal zusammen und über für den Chor.

Autor:

Erstaunlich, wie sehr die Einrichtung der Wohnung die gemeinsame Ausrichtung der beiden unter-

streicht: Eintracht, Harmonie, Ergänzung.

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Schräg gegenüber dem Klavier ein kleiner Arbeitsplatz. Ein mittelalterlich wirkender, mit einem Wap-

pen verzierter Lederstuhl und der dazu gehörige Tisch, auf dem - in gewagter Kombination von Anti-

quität und neuester Technik - ein siberfarbenes Laptop steht.

O-Ton 35 Sabine

Das ist ein alter spanischer Tisch. Das hat mein Vater gekauft. Mein Vater hatte ein Grundstück auf

Mallorca gekauft und hat dann in dem Zuge vor dreißig Jahre, ach was , vor dreißig, vierzig, vor fünfzig

Jahren diesen Tisch und den Stuhl gekauft und dann hab ich das geerbt.

O-Ton 36 Raimund/Sabine

Raimund: Na gut, was ist von mir? Da haben wir einmal das schöne, große rote Sofa und passend

dazu den großen roten Schank, Vitrinenschrank und noch so kleinere Accessoires wie dieser Couch-

tisch und die Vorhänge.

Sabine: Und da natürlich deine ganze Plattensammlung, deine CD-Sammlung, ist auch alles von dir,

die ganze Technik.

Raimund. Der Verstärker ist fast so alt wie der spanische Tisch.

Autor:

Interessant, mit welchen Bildern Menschen sich umgeben. Ein schottischer Kilt-ähnlicher Wandbe-

hang und mehrere gerahmte Kunstdrucke: Franz Marcs rote Pferde, Boote am Meer von van Gogh

und eine Sonnenlandschaft Paul Signacs. Über dem Klavier ein kleines Original.

O-Ton 37 Raimund/Sabine

Raimund: Dieses Bild mit diesem bunten Papagei hat mir meine Tochter zum Geburtstag geschenkt.

Hat sie selber gemalt und das gefüllt mir sehr gut, dass das hier in meinem Wohnzimmer hängt. Ist

halt ein Stück von ihr.

Raimund: Ja wie empfindet ein Besucher diese Wohnung? Ich stell mir vor, das ist ja ziemlich lebhaft,

durchaus mit mehreren Stilen, durchaus ein bisschen ... zusammen geworfen will ich nicht sagen -

zusammen gestellt.

Sabine: Ich find's auch individuell und sehr bunt und das entspricht auch unserem Wesen. Wir ha-

ben's gerne farbig und bunt

O-Ton 38 Konrad Paul Liessmann

Die Ästhetisierung der Dinge ist zweifellos eine Folge der überbordenden Dingwelt. Das führt dazu

dass wir heute in einer wesentlich ästhetisierteren, bunteren Welt leben als je zuvor. 31. Dazu kommt

ja auch die Individualisierung, das heißt, alle haben den Anspruch, einen individuellen Geschmack zu

haben.

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Es gibt keine verbürgten Standards mehr wie Dinge auszusehen haben.

Musik: Flügelschlag: Meniani

O-Ton 39 Karl-Heinz Kohl

Schaun wir mal, ob wir nen Fetisch haben. Es muss hier irgendwo einer liegen. ... Das könnte einer

sein.

Autor:

Universität Frankfurt. In den Katakomben der Uni der Ethnologe Karl-Heinz Kohl.

Autor:

Die Sammlung des ethnologischen Instituts umfasst unter anderem über 5000 afrikanische Haus-

halts- und Ritualgegenstände sowie Objekte des Candomblé, einer afro-brasilianischen Religion. Eine

seltsame Ansammlung von Gottheiten unter die sich neben christlichen Heiligen auch westliche Iko-

nen wie Buffalo Bill und Hannibal Lecter aus dem "Schweigen der Lämmer" gesellen.

O-Ton 41 Karl-Heinz Kohl

Die klassische Form des afrikanischen Fetischs ist der sogenannte Inkessi Inkonde, eine Zauberfigur,

die man zunächst aktivieren muss. Und zwar, in dem man in ihren Rücken eine bestimmte Mischung

von Ingredienzien tut, zu denen in aller Regel auch der Knochen eines toten Menschen gehört. 27 Fe-

tische werden verwendet, um Übeltäter zu jagen oder zu bestrafen mit Krankheit oder auch mit dem

Tod, aber viel wichtiger ist gerade auch im Kongo ihre Wichtigkeit für Vertragsabschlüsse. Jemand, der

vertragsbrüchig wird, fürchtet dann, dass der Fetisch ihn dann bestrafen wird.

Autor:

Für den Ethnologen gibt es nur graduelle Unterschiede im magischen Denken der Kulturen.

Musik : Arvo Pärt / Estonian Philharmonic Chamber Choir: Magnificat

O-Ton Karl-Heinz Kohl

Wenn Sie in eine katholische Kirche gehen, und sehen dort das Standbild des hl. Blasius oder Wende-

linus, dann setzen sie auch vor dieses Standbild eine Kerze und senden dann ihr Gebet an den Heili-

gen. Die Differenz ist nicht so groß. 33 Ja, Sie kennen sicher den Glauben an das glücksbringende

Hufeisen, sie kennen den Glauben an das Unglück, das die schwarze Katze bringt, wenn sie den Weg

in einer bestimmten Art kreuzt. Wir haben ja noch alle möglichen Verhaltensweisen, die man als Rest-

bestände archaischen Magieglaubens deuten könnte.

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Atmo 10: Thunfischauktion Tokyo

O-Ton 42 Karl-Heinz Kohl

Ich hab Zweifel daran, ob die These von der Entzauberung der Welt überhaupt richtig ist. 45 Ich würde

eher behaupten, es gibt so etwas wie eine Wieder-verzauberung, die sich auch dadurch erklärt, das uns

die Mechanismen, die hinter den zahllosen Geräten, die uns umgeben, nicht mehr zugänglich sind.

Wer weiß, wie sein Computer funktioniert, wer weiß, wie sein Auto funktioniert? Und die Tatsache,

dass wir kaum mehr Möglichkeiten haben, die einzelnen Vorgänge, die für uns wichtig sind, nochmal

rational zu konstruieren, die führt meines Erachtens dazu, 46 dass wir heute vielleicht archaischer

denken, als es der archaische Mensch je getan hat.

Szene E

Sprecherin:

Weißt du was "Mana" ist?

Sprecher:

Keine Ahnung

Sprecherin:

"Mana" kommt aus der Südsee, aus Polynesien, und meint erst mal Macht oder Kraft. Dann aber auch

Macht über Menschen durch bestimmte heilige Gegenstände. Durch magische Zauberrituale soll die

Kraft dieser Dinge auf den Besitzer der Dinge übergehen.

Sprecher:

Machen wir doch genauso. Wenn heute Menschen nach Lourdes pilgern und hoffen, durch das ge-

weihte Wasser gesund zu werden.

Sprecherin:

Oder viel profaner: Schau dir manche Fahrer von hochgerüsteten Geländewagen an. Die glauben doch

auch, dass die Kraft des Boliden auf sie übergeht.

O-Ton 43 Karl-Heinz Kohl

Das ist ne ganz alte Geschichte. Man findet auch das in den frühen Kulturen,-

Sprecher:

Einmal ist ein T-Shirt ein normales T-Shirt für zehn Euro. Wenn es dann die Geliebte getragen hat,

wird es zum Fetisch und bekommt einen unersetzlichen Wert.

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Sprecherin:

Der BH von Madonna, die Boxhandschuhe Max Schmelings, der Bart des Propheten.

Soundtrack Indiana Jones I

O-Ton 44 Karl-Heinz Kohl

Es gibt seit den frühen 80er Jahren ein neues Genre des Abenteuerfilms, den man auch als sakralen

Objektfilm bezeichnen könnte, vor allem durch Steven Spielbergs Indiana Jones Filme. In jedem dieser

Filme spielt ein heiliger Gegenstand aus der europäischen Tradition eine Rolle. Im ersten Film ist es

die heilige Bundeslade, in einem späteren Film ist es der heilige Gral. Es sind Zauberdinge, die ver-

sprechen, die ganze Welt zu verändern, die Welt zu erlösen,

Musik: Hauschka: Ping

O-Ton Collage 3

O-Ton 45 Astrid B.

Ich hänge besonders am Ring meines Vaters, der vor sechs Jahren gestorben ist und diesen Ring hat

er immer getragen. Das ist ein Familienerbstück. Und seit dem Tag, an dem er gestorben ist, ist der

Ring immer bei mir und ich werd inzwischen schon ganz unruhig, wenn ich ihn mal nicht anhabe, und

der ist zu nem richtigen Talismann geworden.

O-Ton 46 Heidi S.

Ich häng mich eigentlich gar nicht so an die Gegenstände, aber ich hab da einen Teller, den hab ich

mal in Santorini gekauft und häng an dem, weil der so schön blau ist. Das ist ein blau, was mir ir-

gendwie ans Herz geht, wo ich mich immer wieder freue, wenn ich den da stehen sehe.

O-Ton 47 Christian K.

Bildbände mit Reproduktionen von Max Beckmann. Ich kann gar nicht sagen, was mich daran so fas-

ziniert, aber die Dinge sind für mich so toll, dass ich sie immer griffbereit da habe und auch oft raus-

hole.

Atmo: Museum Ludwig, Köln, Schritte, Stimmen

Autor:

Katia Budin, die stellvertretenden Direktorin des Museum Ludwig, liebt Stillleben. Sie fasziniert, wie

sich Alltags-Gegenstände, mit denen Menschen täglich umgehen, in ein Kunstwerk verwandeln kön-

nen.

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O-Ton 48 Katia Budin

Wir befinden uns vor einem Tableau-Piège oder Fallenbild des Künstlers Daniel Spoerri. Er hat die

definiert. Ich zitiere: "Gegenstände, die in zufälligen, ordentlichen oder unordentlichen Situationen

gefunden werden, werden in genau der Situation auf ihrer zufälligen Unterlage: Tisch, Schachtel,

Schublade befestigt. Verändert wird nur ihre Ebene. Indem das Resultat zum Bild erklärt wird, wird

Horizontales vertikal. Beispiel; die Reste einer Mahlzeit werden auf dem Tisch befestigt und mit dem

Tisch an der Wand aufgehängt".

Autor:

Tatsächlich hängt an der Museumswand die Original-Tischplatte, auf der Daniel Spoerri in Kopenha-

gen mit seinem Künstlerfreund Filiu einen Imbiss eingenommen und neue Projekte besprochen hat:

Fixierte Teetassen, Brotreste, Zigarettenkippen dokumentieren das Treffen der beiden Künstler.

O-Ton 49 Katia Budin

Ein bisschen wie es Marcel Duchamps Anfang des 20. Jahrhunderts auch gemacht hat. 6 Marcel

Duchamps war vielleicht der radikalste Künstler der Kunstgeschichte. 7 Der war anfangs ein angese-

hener Maler. Der hat seine Gemälde in Salons gezeigt und so weiter. Und dann an einem Tag im Jahr

1914 ist er im Pariser Warenhaus BHV gegangen und hat dort einen Flaschentrockner gekauft, hat den

dann auf son Sockel gestellt und hat gesagt: dass ist ein Kunstwerk, das möchte ich in einer Galerie

oder einem Museum zeigen. 8 Das hat er dann auch mit einem Urinal gemacht oder mit einem Fahr-

rad und hat diese Alltagsgegenstände zur Kunst erklärt. 14 Bei Künstlern wie Spoerri, diese Künstler,

die in den 50er und 60er Jahren gearbeitet haben, 14 36 S die wollen sich mit der Realität konfrontieren

und die Realität zum Glänzen bringen, dass die Realität auch ins Museum gehört. Und da gehörten

natürlich Alltagsobjekte voll rein.

Atmo 13: Museum – Gang zum nächsten Objekt.

O-Ton 50 Katia Budin

Jetzt befinden wir uns in einem Raum, der dem amerikanischen Künstler, Pop-Art-Künstler, Claes

Oldenburg gewidmet ist. 16 Oldenburg guckt sein genaues Umfeld, seine Wohnung genau an und

denkt: das ist ja interessant: so ein Lichtschalter, den wir nie richtig gesehen haben zuhause. Denn wer

guckt denn genau hin wie sein Lichtschalter aussieht oder das Wachbecken. Das sind so banale Objek-

te vom Umfeld. 17 Alle diese Dinge haben Oldenburg fasziniert und da fing er an, Skulpturen zu ma-

chen, die von diesen Dingen beeinflusst worden sind. 18 Wir stehen vor ein weiches Waschbecken,

eine Art Reproduktion eines ganz normalen Waschbecken, aber es ist nämlich aus Stoff, den er auch

gestrichen hat und zum Beispiel nicht Metall genommen hat für Armaturen, er hat sie aus Holz ge-

macht. 1.10 Anstatt dass man ein Portrait von einer bestimmten Person macht, macht man eben ein

Portrait von einem Alltagsgegenstand, was dann auch als Kunstwerk erhoben wird.

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Autor:

Bekannt geworden ist Claes Oldenburg einem breiterem Publikum durch seine Ding-Skulpturen im

öffentlichen Raum: Übergroße Messer und Gabeln oder ein überdimensionales Eiscremehörnchen,

das hoch über dem Kölner Neumarkt schwebt.

O-Ton 51 Katia Budin

In Wirklichkeit ist das fast so eine Huldigung an unsere Alltagsumgebung, von den Objekten, die uns

auch beeinflussen, die wir jeden Tag nutzen und wo wir gar nicht drauf aufpassen.

Musik: Alva Noto/Ryiuichi Sakamoto: noon

Zitator:

Tote Gegenstände sind immer in Ordnung und man kann ihnen leider nichts vorwerfen. Es ist mit

niemals gelungen, einen Stuhl ausfindig zu machen, der von einem Bein auf das andere träte, oder ein

Bett, das Kopf stünde. Auch Tische, sogar wenn sie müde sind, wagen es nicht, niederzuknien. Ich

habe den Verdacht, dass die Gegenstände es aus erzieherischen Dingen tun, um uns unsere Unbe-

ständigkeit vor Augen zu halten.

Zbigniew Herbert

O-Ton 52 Konrad Paul Liessmann

Was sind die Dinge eigentlich? Sind sie Produkte unserer Wunscherfüllung oder sind sie unsere neuen

Herren? Es gibt ja die These des Philosophen Günther Anders, dass wir von der Dingwelt beherrscht

werden und nicht die Dinge von uns beherrscht werden.

Autor:

Hans Christian Anderson hat diesen Verdacht in ein moralisches Lehrstück gepackt: das "Märchen

von den roten Schuhen". Weil die vergnügungssüchtige Karen sich mehr für die sinnlichen Freuden

des Tanzbodens und ihre neuen roten Tanzschuhe interessiert als für den sonntäglichen Kirchgang

und den lieben Gott, geschieht ihr Schreckliches:

Musik 18: Hauschka: Noam

Zitatorin:

Karen zog die roten Schuhe an, ging auf den Ball und fing an zu tanzen.

Doch als sie nach rechts wollte, tanzten die Schuhe nach links, und als sie den Saal hinauf tanzen

wollte, tanzten die Schuhe hinunter, die Treppe hinab, über den Hof durch das Tor aus der Stadt hin-

aus. Tanzen tat sie, und tanzen musste sie, mitten in den finsteren Wald hinein.

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Da erschrak sie und wollte die roten Schuhe fortwerfen; aber sie hingen fest. Sie riss ihre Strümpfe ab;

aber die Schuhe waren an ihren Füßen festgewachsen. Und tanzen tat sie und tanzen musste sie über

Feld und Wiesen, in Regen und Sonnenschein, bei Tage und bei Nacht. Und als sie auf die offene Kir-

chentür zu tanzte, sah sie dort einen Engel in langen weißen Kleidern. Sein Gesicht war streng und

ernst, und in der Hand hielt er ein Schwert, breit und leuchtend:

"Tanzen sollst Du" sagte er, "tanzen auf Deinen roten Schuhen, bist Du bleich und kalt bist, bis Deine

Haut über dem Gerippe zusammengeschrumpft ist. Tanzen sollst Du von Tür zu Tür, und wo stolze,

eitle Kinder wohnen, sollst Du anpochen, dass sie Dich hören und fürchten! "Gnade" rief Karen. Aber

sie hörte nicht mehr, was der Engel antwortete, denn die Schuhe trugen sie durch die Pforte auf das

Feld hinaus, über Weg und über Steg, und immer musste sie tanzen. Tanzen tat sie und tanzen muss-

te sie, tanzen in der dunkeln Nacht.

Hans-Christian Andersen: Die roten Schuhe

Szene F

Sprecher:

Da hat der Dichter ja mächtig die Moralkeule gezückt.

Sprecherin:

Wenn Menschen die ganze Nacht vor den Kaufhäusern lagern, um morgens das neue I-Phone zu er-

stehen - hat das nichts von Produktgier?

Sprecher:

Das ist schon extrem, aber - irgendwie kann ich's auch wieder verstehen.

Jeden Morgen freu ich mich über meinen Mac. Dieser mattsilberne Aluminiumglanz. Das perfekte

Design. Pure Schönheit.

Sprecherin:

Apple hat diesen Hype schon immer angestachelt. Für mich hatten die Präsentationen von Steve Jobs

was von Gottesdiensten mit immer neuen Heilsversprechungen.

Sprecher:

iPad, iPod, IGod.

O-Ton 53 Dorothee Kimmich

Meine Lieblingswanderschuhe, von denen ich mich nicht trennen konnte, nachdem ich jahrelang mit

denen über die Welt getrabt bin, die hab ich dann am Ende im Tessin, in einem rührenden Ab-

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schiedsmoment begraben an einem rauschenden Bergbach - unter einen großen Stein gelegt. Das

mach ich nicht mit allen Schuhen, das wär dann schon ein bisschen skurril, aber es gibt Dinge, zu

denen man ein anderes Verhältnis hat als zu einem Flaschenöffner.

Zitator:

Die Gegenstände waren wachsam, sogar nachts,

wenn er schlief und von Afrika träumte;

der Porzellankrug, zwei Kännchen, grüne Weinflaschen, das Messer.

Wenn er tief schlief, lachten die Gegenstände

und die Rebellion war nicht mehr weit

Das vorwitzige Kännchen mit dem langen Schnabel

überredete die anderen fieberhaft zu etwas,

und das Blut pulsierte wild im Porzellan,

das die Berührung durstiger Lippen nicht kannte,

nur die Augen, das Anschauen, den Blick.

Am Tage wurden sie zahmer und waren sogar stolz:

die ganze raue Existenz der Welt

verbarg sich in diesen Gegenständen

indem sie für einen Augenblick die blühenden Kirschbäume

und die schwarzen Herzen der Sterbenden verließ.

Adam Zagajewski: Morandi

Musik : Hauschka,Ping

Sprecherin:

My favourite things - das Universum der Dinge

Von Burkhard Reinartz

Sprecher:

mit Gedanken und Texten von Adam Zagajewsi, Walter Benjamin, Laotse, Hertha Müller, Novalis,

Francois Ponge, Alfred Polgar, Robert Musil, Jean Baudrillard, Hartmut Böhme, Zbigniew Herbert,

Hans-Christian Anderson

Sprecherin:

und Originaltönen des Philosophen Konrad-Paul Liessmann, der Literaturwissenschaftlerin Dorothee

Kimmich, der Manufaktum-Geschäftsführerin Inka van Straelen, der stellvertretenden Museumsdirek-

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torin Katia Budin, dem Ethnologen Karl-Heinz Kohl, der Umweltredakteurin Jule Reimer und vielen

anderen

Sprecher:

Es sprachen: Philipp Scheppmann, Martin Bross, Johanna Marx, Matthias Luehn und Anja Lais

Ton und Technik: Michael Morawicz und Berate Braun

Regie: Burkhard Reinartz

Redaktion: Klaus Pilger

Produktion: Deutschlandfunk 2012

ENDE