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IWF Wissen und Medien gGmbHNonnenstieg 72, 37075 GöttingenFon: +49 (0) 551 5024 0www.iwf.de
© IWF Wissen und Medien gGmbH 2006 ISSN 0344-9300
Publikationen zu Wissenschaftlichen Filmen – Sektion Psychologie / Pädagogik
ELISABETH MOHN, KLAUS AMANN
Lernkörper Kamera-ethnographische Studien zum SchülerjobBegleitpublikation zur DVD -Video C 13 032
DVD Impressum
Autoren: Stundenweise Schulzeit, Taktik und Standby: Elisabeth Mohn
Im Stundentakt: Klaus Amann und Elisabeth Mohn
Schüler-Interaktion: Klaus Amann
Wissenschaftliche Kooperation: DFG-Projekt „Jugendkultur in der Unterrichtssituation“,
Zentrum für Schulforschung und Lehrerbildung (ZSL) der Universität Halle-Wittenberg,
PD. Dr. G. Breidenstein.
Literaturhinweis: Georg Breidenstein: Teilnahme am Unterricht. Ethnographische Studien zum Schülerjob.
(Arbeitstitel – bei Erscheinen der DVD lag der endgültige Titel noch nicht vor.)
Aus der Reihe: Studien zur Schul- und Bildungsforschung Band 24 ,
VS Verlag für Sozialwissenschaften 2006.
DVD-Authoring: Thomas Spielböck
Grafik: Anja Kottenhahn
Projektleitung: Beate Engelbrecht
Vertrieb der DVD: IWF Wissen und Medien gGmbH
Bestellnummer: C 13032 (http://mkat.iwf.de/indexasp?Signatur=C+13032
Begleitpublikation zur DVD -Video C 13 032 2/20
LernkörperKamera-ethnographische Studien zum SchülerjobELISABETH MOHN, KLAUS AMANN
InhaltEinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3
Stundenweise Schulzeit 1: Gesamtschule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
Stundenweise Schulzeit 2: Gymnasium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
Taktik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
Im Stundentakt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
Schüler-Interaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
Standby . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
AbstractDer Alltag jugendlicher Schülerinnen und Schüler ist Dreh- und Angelpunkt der kamera-ethnographischen
Studien im Klassenzimmer. Der Lernkörper, die ganz alltäglichen Praktiken des Schülerensembles, rückt bei
den Beobachtungen im Unterricht verschiedener Lehrerinnen und Lehrer an einer Gesamtschule und einem
Gymnasium in den Mittelpunkt des Interesses. Mit dieser Perspektive entwerfen Mohn/Amann analy tische
Blicke auf das kollektive Unterricht-Machen und Schulzeit-Verbringen. Durch die Konzentration auf das
Schülerhandeln geraten die didaktischen Modelle und Bemühungen der Lehrenden in den Hintergrund des
Gezeigten, doch gelingt es den konsequent auf den Schülerinnen und Schülern ruhenden Kamera-Blicken
stattdessen, Unterrichtssituationen in ihrer Komplexität von Körperlichkeit, Jugendkultur und Interaktion
zu skizzieren. Beim Drehen wurden die Beobachtungen der Kamera-Ethnographen in fokussierte Video-
bilder übersetzt und anschließend durch digitalen Schnitt interpretativ verdichtet. Die Kreativität und
visuelle Ausdruckskraft eines solchen Kameragebrauchs ist in den Erziehungs- und Sozialwissenschaften
noch wenig erprobt. Kamera-Ethnographie hat ein „dichtes Zeigen“ zum Ziel und erweitert in methodisch
innovativer Weise den forschenden Zugang zu schulischen Lebenswelten.
Begleitpublikation zur DVD -Video C 13 032 3/20
Einführung
ForschungszusammenhangDie auf dieser DVD versammelten sechs Videos verdanken ihre Entstehung der großzügigen Bereitschaft
und Offenheit von Schülerinnen und Schülern, sich in ihrem schulischen Alltag beobachten zu lassen. Die
Aufnahmen wurden im Rahmen des von 2002 bis 2005 laufenden Forschungsprojekts „Jugendkultur in der
Unterrichtssituation“ erstellt.1 Im Fokus dieses Forschungsprojektes, wie auch unserer Videostudien, stand
die Unterrichtssituation als eine soziale Realität eigener Art. Jenseits des üblichen Blicks auf die pädago-
gisch-didaktischen Aktivitäten der Lehrpersonen rücken in den Videos die Jugendlichen als ein lernendes
Ensemble – als Lernkörper – in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses. Im doppelten Sinne eines inter-
agierenden „Korpus“ und der über Jahre anhaltenden, gemeinsamen körperlichen Präsenz im Klassen-
raum interessierte uns zu allererst die Normalität des Schülerdaseins. Die von Breidenstein als „Schülerjob“
charakterisierte Form der Teilhabe am schulischen Alltag wird auch auf dieser DVD zur Anschauung
gebracht. Die Situation von Unterrichtsstunden in Klassenräumen zeigt sich als ein stündlich wiederholtes
Zusammenspiel der gleichen Akteure, die ‚Schule’ vor der Kamera zur Aufführung bringen. Dabei liegen die
performativen Qualitäten nicht in den großen Gesten oder spektakulären Ereignissen. Unser Blick sucht
kein ‚Zentrum des Geschehens’ und keine Hauptakteure. Er findet dagegen Protagonistinnen und Protago-
nisten, die uns ‚Schulzeit’ zur Anschauung bringen.
BeobachtungskontexteDie Möglichkeiten einer Videobeobachtung in
Schulen hängen ganz wesentlich von der Bereit-
schaft der Schulleitung und der Lehrerinnen und
Lehrer ab. Mit unserem Interesse am Geschehen
zwischen den Schülerinnen und Schülern – und
nicht unmittelbar an dem, was die Lehrenden
tun – war die Bereitschaft mitzumachen leichter
zu erreichen.2 Die Schulen – ein Gymnasium und
eine Gesamtschule – befinden sich in älteren Ge-
mäuern, die überwiegend in renovierungsbedürf-
tigem Zustand sind. Die Klasse des Gymnasiums
musste während des Untersuchungszeitraums
stündlich den Raum wechseln, wodurch eine sehr
starke Strukturierung des Tagesablaufs entstand:
Die Schülerinnen und Schüler mussten zu fast jeder Stunde ‚ihren’ Platz neu einrichten, Sitzordnungen
änderten sich regelmäßig, wobei die meisten Räume als Frontalsituation möbliert und überwiegend nicht
geschmückt waren.
In der Gesamtschule hatte die Klasse einen eigenen, engen Klassenraum, der nur für einzelne Fachunter-
richtsstunden, z.B. Biologie, gewechselt wurde. Die Gestaltung des Raumes genoss erkennbar keine große
Wichtigkeit.
Die Schülerinnen und Schüler hatten – mit Ausnahme der Fachräume – ihre festen Plätze an Gruppen-
tischen. Entsprechend dieser räumlichen Situation ergaben sich die Möglichkeiten der Kamerapositionie-
rung: Im Gymnasium ständiger Umbau, in der Gesamtschule stabilere Einsatzorte. In diesen Räumen nun
spielt sich die gesamte Unterrichtszeit ab.
1 Das von der DFG geförderte Projekt fand unter der Leitung von PD. Dr. Georg Breidenstein, Zentrum für Schulforschung und Lehrerbildung (ZSL) der Universität Halle-Wittenberg statt. Vgl. Georg Breidenstein: Teilnahme am Unterricht. Ethnographische Studien zum Schülerjob. Verlag für Sozialwissenschaften 2006.
2 Mit den Eltern wurden schriftliche Vereinbarungen zur wissenschaftlichen Nutzung und Veröffentlichung getroffen.
Begleitpublikation zur DVD -Video C 13 032 4/20
Die beiden Beobachter und ihre Kameras sind dabei
für alle sichtbar, halten sich meist an der Fenster-
front auf, um Gegenlicht zu vermeiden, die eine
Kamera vorne im Raum, die andere eher weiter
hinten, andere Tischgruppen im Blick. Die Schüle-
rinnen und Schüler sehen sich sowohl als einzelne
wie auch als Gruppe den Kameras gegenüber und
so werden die Beobachter zu einem Bestandteil der
Öffentlichkeit des Klassenraums. Sie werden selbst
unter Beobachtung gehalten, auf ihre Reaktionen
wird geachtet, worauf der Blick der Kamera ruht
wird ebenso immer wieder kontrolliert wie die
Blicke der Lehrerin oder des Lehrers. Diese nonver-
bale Kommunikation durch Blicke und Gegenblicke
aktualisiert die für eine Video-Beobachtung unabdingbare Übereinkunft, hier und jetzt filmen zu können.
Dabei entstehen Vertrauen und Blickflirt, Beachtung und Anerkennung oder auch etwa ein dezentes Weg-
schwenken der Kamera, wenn ein Schüler dies durch einen genervten Blick einfordert. Es mag im Kon-
text einer sozialwissenschaftlichen Videobeobachtung überraschen, dass es ausgerechnet der interaktive
Charakter der Beobachtungssituation ist, der es schließlich ermöglicht Alltägliches mit einer Kamera so in
den Blick zu bekommen, dass die Anwesenheit der Beobachter nicht ständig durch Blicke in die Kamera zum
Thema der Bilder wird. Die dokumentarische Nähe der Video-Sequenzen zum schulischen Alltag resultiert
nicht aus dem Verbergen der Beobachter, nicht aus ihrer Unauffälligkeit, sondern aus einer sozialen Bezie-
hung gegenseitigen Vertrauens und dem Einnehmen einer Rolle im Feld, die das Feld anbietet. Hospitanten
im Unterricht sind nichts Ungewöhnliches. Wir bewegten uns in einem ohnehin halböffentlichen Feld,
in dem mit der Grenze zum Privaten kokettiert wird. Den konsequent auf den Schülerinnen und Schülern
ruhenden Kamera-Blicken gelingt es schließlich, Unterrichtssituationen in ihrer Komplexität von Körper-
lichkeit, Jugendkultur und Interaktion zu skizzieren.
Kamera-EthnographieUnsere Beobachtungen mit der Kamera sind an den unterschiedlichsten sichtbaren (und hörbaren)
Äußerungsformen im Klassenraum orientiert. Sie sind nicht nur im Hinblick auf ein Schuljahr oder eine
Schülerbiographie hoch selektiv. Vielmehr bietet jede einzelne Unterrichtsstunde Selektionschancen, die
mit einer ethnographisch beobachtenden Kameraführung genutzt werden können, um ein lokales Gesche-
hen zu erkunden.
Im Gegensatz zu einer methodischen Strategie der „vollständigen“, „objektivierenden“ Erfassung einer
sozialen Situation (aus der Totalen und idealer Weise mit möglichst vielen Erfassungskameras) betrachten
wir Situationen als etwas höchst Komplexes, das weder Menschen noch Kameras jemals total überblicken
oder vollständig erfassen könnten. Sie sind unübersichtlich wie ein Dschungel. Mit einer Kamera lassen
sich Blickschneisen durch das „Dickicht“ der Situation schlagen – nicht mehr und nicht weniger. Und dies
kann höchst ergiebig sein.
Indem ethnographisches Forschen als ein Prozess angelegt wird, der sich zwischen noch nicht Gewusstem
und neuen Wissensaspekten aufspannt, entsteht ein Raum, der zu durchqueren ist - ein Feld der Bewegung.
In diesem Zusammenhang lohnt es sich, auch den Gebrauch einer Kamera einmal nicht vorrangig vom
Fixieren, sondern von der Suchbewegung aus zu denken. Kamera-ethnographisches Arbeiten ähnelt eher
einer Tanzprobe denn einem Überwachungsszenario: Beim Drehen werden stabile Positionen permanent
aufgegeben um in eine „Labilität“ zu geraten, in der sich auch Ungeplantes ereignen kann: Dies betrifft
gesicherte Wissenspositionen ebenso wie gesicherte Kamera- und Körperpositionen.
Begleitpublikation zur DVD -Video C 13 032 5/20
Klaus Amann und Stefan Hirschauer (1997) haben ein soziologisches Ethnographiekonzept formuliert,
das diese eigentlich der Ethnologie entlehnte Methode in das Licht einer empirischen Entdeckungs-
strategie rückt, die alles andere als „bloß deskriptiv“ ist. Hirschauer (2001) arbeitet den kreativen Anteil
ethnogra phischen Forschens explizit heraus, indem er von einem Artikulationsproblem spricht, vor dem
jede Ethno graphie zunächst steht, da sie es mit einer „Schweigsamkeit des Sozialen“ zu tun bekommt:
Situationen artikulieren ihre soziologische Beschreibung nicht selbst, mögen sie auch noch so geräusch-
voll und voller Worte sein. Der Forschung mit der Kamera geht es nicht anders: Kamera-ethnographische
Bilder fliegen nicht im Feld herum, so dass man sie mit der Kamera bloß einfangen müsste, auch wenn
erlebte Situationen noch so viel visuelle Reize bieten. Stattdessen gehen wir von einer „Bild-Losigkeit des
Sozialen“ aus, der gegen über sich Kamera-Ethnographie als eine bildende Gattung des Forschens erweist.
Ihre Kreativität unterscheidet sich kaum von der schreibender Ethnographen, die an Formulierungen
arbeiten. Während schreibende Ethnographen ihrem Artikulationsproblem begegnen, indem sie zunächst
Field notes pro duzieren, die sie später weiterverarbeiten zu Protokollen und dichten Beschreibungen, ver-
fährt eine Kamera-Ethnographie im Rahmen ihres Mediums ähnlich: Zunächst werden Beobachtungen
in fokussierte Videobilder übersetzt. Sie haben den Charakter audiovisueller Fieldnotes, denn in der Wahl
des Bildausschnitts und bei der Kameraführung wird formuliert, die Kamera „schreibt“ Bilder, wird zum
Caméra- Stylo. Diese Video-Notizen werden später intensiv weiter bearbeitet mit dem Ziel, interpretative
Rahmen zu erproben, anhand derer das Material verdichtet werden kann. Diese Arbeitsweise gibt auch am
digitalen Schnittplatz reichlich Anlass, den Entwurf interessanter Blicke und die Entdeckung spannender
Aspekte des Feldes aneinander reifen zu lassen.3
Hierin liegt die Expertise des ethnographischen Arbeitens, das leider häufig schlicht und einfach mit „teil-
nehmender Beobachtung“ gleichgesetzt wird. Ob schreibend oder filmend, in beiden Fällen gelingt ein
ethnographisches Beobachten, Beschreiben, Zeigen in dem Versuch, die eigenen Vorannahmen zunächst
zurückzustellen und die Formulierungsarbeit mit Notizblock oder Kamera aus einem offenen, aufnahme-
bereiten Zustand heraus zu kreieren, so dass die beforschten Phänomene gegenüber den etablierten
Wissensbeständen eine Chance erhalten, in den Blick zu geraten. Gleichzeitig – und in diesen Paradoxien
gewinnt Ethnographie ihre Erkenntnisdynamik – findet der Entwurf des neu Gesehenen im Rahmen
wissenschaftlicher Theorien und Diskurse statt, die ethnographische Beschreibungen zu etwas „Haus-
gemachtem“ (Geertz 1990) machen, was sich von Selbstbeschreibungen des Feldes, die per Interview erho-
ben werden könnten, unbedingt unterscheidet.4
Die vorliegenden Videos sind in einem solchen Prozess entstanden. Die Kunst des Sehens und Zeigens ist
immer auch eine Kunst des Weglassens und nicht Zeigens. Die Fokussierungsentscheidungen beim Filmen
– über Aufmerksamkeit und Nichtbeachtung, Zuwendung und Abwendung, das Verfolgen des Geschehens
auf einer Vorderbühne oder Hinterbühne – ähneln den normalen Formen individueller Wahrnehmung so-
zialer Situationen. Anders gesagt: für jeden Situationsteilnehmer erschließen sich alltägliche Situationen
ebenfalls über hoch selektive Beobachtungen. Kamera-ethnographische Ergebnisse haben sich daran zu
messen, ob Betrachter daran etwas zu sehen in der Lage sind.
Die visuelle Ausdruckskraft des Bilder produzierenden Kameragebrauchs ist in den Erziehungs- und Sozial-
wissenschaften noch wenig erprobt. Aufgrund der intensiven Arbeit am Blick taugt Kamera-Ethnographie
dazu, das Sehen voranzutreiben und dabei das Zeigen zu ermöglichen. Solche Versuche „Dichten Zeigens“5
erweitern in methodisch innovativer Weise den forschenden Zugang auch zu schulischen Lebenswelten.
3 Elisabeth Mohn 2002 untersucht die Paradoxien der Ethnographie als „Spielarten des Dokumentierens“. Sie entwirft dabei ein Modell methodologischer Registerwechsel, in denen beim Schreiben und Filmen empirische Wissensprozesse sinnvoll gestaltet werden können.
4 Stefan Hirschauer und Klaus Amann 1997 plädieren in ihrem soziologischen Ethnographiekonzept dafür, die Wissens-ordnungen des Feldes und die der eigenen Disziplin auseinander zu halten und diese Unterscheidung konstruktiv zu nutzen.
Birgit Griesecke 2001 spricht von einer produktiven Fiktionalität in der ethnographischen Forschung: Finden und Erfi nden ethnographischer Beschreibung sind ineinander verwoben. Sie argumentiert dies u. a. in einer aufschlussreichen Lektüre Ludwig Wittgensteins.
5 Angelehnt an den Begriff der „Dichten Beschreibung“ von Clifford Geertz (1983/1987), die auf ein Verstehen und Herausarbeiten sozialer und kultureller Sinnstrukturen zielt.
Begleitpublikation zur DVD -Video C 13 032 6/20
Zielsetzungen und Gebrauchsweisen der DVD
Dichtes Zeigen mündet nach diesem methodologischen Selbstverständnis in audiovisuellen Produkten wie
z.B. den hier vorliegenden sechs Videos. Obschon die Ausgangssituation der Materialgewinnung als eine
„natürliche“ realzeitliche Situation betrachtet werden kann, deren Settings alltäglichen Handelns nicht durch
die Beobachter arrangiert wurden, sind diese Videos unserem Verständnis nach keine Dokumentationen
sondern Beschreibungsversuche wissenschaftlicher Autoren. Hier wurden keine Unter richtssituationen
aufgezeichnet, keine Stunden mitgeschnitten. Stattdessen wurde beobachtet. Blicke und audiovisuelle
Beschreibungsansätze wurden erarbeitet und gestaltet: mit der Kamera, durch digitalen Schnitt.
Die Aufmerksamkeit der Betrachter wird bei den vorliegenden 6 Studien von pädagogischen oder didak-
tischen Beurteilungen (etwa im Sinne guten oder schlechten Unterrichts) auf die normalen Schüleraktivi-
täten gelenkt. Diese Aktivitäten erscheinen zunächst wenig überraschend: „Das kennen wir alles“ – so eine
mög liche Reaktion darauf. Doch die Betrachtung der Schulklasse als Lernkörper eröffnet Chancen, in diesem
allseits Bekannten etwas Neues zu entdecken.
Da ist zum einen das gemeinsame Verbringen von Schulzeit. Betrachtet man die beiden Videos „Stunden weise
Schulzeit“, eines aus der Gesamtschul- und das andere aus der Gymnasialklasse, bieten sich Vergleiche
von Lernkulturen an. Die sprachlichen Äußerungen der Lehrpersonen erscheinen wie ein variierendes
Hintergrundgeräusch für die Aktivitäten des Schülerensembles und auch das Fach selbst, der normale
Namensgeber der Stunden („Deutsch“, „Biologie“, „Englisch“…), bleibt im Hintergrund. Stattdessen wird
Schulzeit vorgeführt in einer besorgniserregenden Behäbigkeit. Die Schülerinnen und Schüler scheinen
niemals die Zeit zu vergessen und so verbringen sie Stunden, die kraftzehrend erscheinen. Es besteht die
Möglichkeit, alle der jeweils sieben Teilstücke des Videos hintereinanderweg zu betrachten und sich dabei
in gerafften 36 Minuten einen fiktiven siebenstündigen Schultag vorzustellen.
In den weiteren vier Videos werden unterschiedliche Perspektiven auf Unterrichtsverläufe eröffnet. Auch
hier ist es das Ziel, einen neuen Blick auf Schule und Unterrichtsinteraktion zu gewinnen: Ohne das Han-
deln der Schülerinnen und Schüler von vornherein als durch pädagogische Planungsschemata determiniert
zu sehen, wird versucht, die Perspektive des Schulzeit verbringenden Lernkörpers nachzuempfinden und
sein Tun und Lassen strukturell zu interpretieren, auch wenn die optische Perspektive auf das Schüleren-
semble natürlich nicht die Schülerperspektive selbst sein kann. Die als „Standby“ charakterisierte Ökono-
mie der Schüleraktivitäten kann beispielsweise als eine kollektiv praktizierte Lösung des Aufmerksamkeits-
problems betrachtet werden: Jede kollektiv organisierte Unterrichtssituation muss sowohl ein Zentrum der
Aufmerksamkeit organisieren, als auch eine Peripherie von Teilnehmern, die gerade nicht dran sind, jedoch
demnächst dran sein könnten.
Mit den hier vorgelegten audiovisuellen Studien in Unterrichtssituationen wollen wir allen, die sich mit
der Dynamik des schulischen Alltags auseinander setzen wollen, Anregungen für eigene Beobachtungen
geben. Die entfalteten Perspektiven sollen Chancen eröffnen, sowohl den eigenen pädagogischen Alltag
neu zu sehen, als auch im Kontext der Schul- und Unterrichtsforschung neue Betrachtungsmöglichkeiten
kennen zu lernen. Unserem Verständnis nach handelt es sich bei dieser DVD deshalb nicht um Lehrfilme für
Pädagoginnen und Pädagogen, sondern um Forschungsvideos, die zu neuen Blicken auf das pädagogische
Feld ermuntern.
Begleitpublikation zur DVD -Video C 13 032 7/20
Zu den AutorenDr. Klaus Amann (Dörsdorf), studierte Soziologie mit dem Schwerpunkt Wissenschafts- und Bildungsfor-
schung, Promotion über ‚Natürliche Expertise und Künstliche Intelligenz’, langjährige ethnographische
Forschungserfahrungen im Feld der Naturwissenschaften, lehrte über zehn Jahre qualitative Methoden an der
Universität Bielefeld. Leiter eines DFG-Projekts zur Visuellen Soziologie. Seit mehreren Jahren administrative
Leitung einer Privatschule in Hessen, Fortbildung für Promovierende und Lehrende in qualitativen Methoden,
insbesondere Ethnographie und Kamera-Ethnographie. Forschungsarbeiten in der Schulforschung. Publi-
kationen zu wissenschaftlichen Wissensprozessen, Ethnographie und Schulforschung.
Dr. Elisabeth Mohn (Berlin) studierte Kulturanthropologie und Wissenschaftssoziologie. Promotion im Rahmen
eines interdisziplinären kulturwissenschaftlichen Graduiertenkollegs über Spielarten des Dokumentierens
nach der Repräsentationskrise. Forschungsschwerpunkte Methodologie und Intermedialität geistes- und so-
zialwissenschaftlicher Erkenntnisprozesse. Elisabeth Mohn arbeitet freiberuflich als Kamera-Ethno graphin,
Dozentin, Autorin und Filmemacherin und gibt Workshops zur Kamera-Ethnographie. Ihre derzeitigen Video-
Projekte liegen in Feldern der Schulforschung, der Anthropologie der Arbeit und der Bewegungsstudien.
Weitere Informationen: www.elisabethmohn.de.
Literaturhinweise Breidenstein, Georg 2006:
Teilnahme am Unterricht. Ethnographische Studien zum Schülerjob. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissen-
schaften.
Geertz, Clifford 1983/1987:
Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Geertz, Clifford 1988:
Works and Lives. The Anthropologist as Author. Stanford: Polity Press. Übersetzt 1990: Die Künstlichen
Wilden. Anthropologen als Schriftsteller. München, Wien.
Griesecke, Birgit 2001a:
Japan dicht beschreiben. Produktive Fiktionalität in der ethnographischen Forschung. München: Fink
Griesecke, Birgit 2001b:
Zwischenglieder (er)finden. Wittgenstein mit Geertz und Goethe. In: W. Lütterfelds und D. Salehi (Hg.):
‚Wir können uns nicht in sie finden’ – Probleme interkultureller Verständigung und Kooperation. Frank-
furt am Main.
Griesecke, Birgit 2001c:
Mehr Aufhebens machen. Wittgensteins Beschreibungsmaxime. In: Journal Phänomenologie 16/2001,
12–18.
Hirschauer, Stefan und Klaus Amann (Hg.) 1997:
Die Befremdung der eigenen Kultur. Zur ethnographischen Herausforderung soziologischer Empirie.
Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Hirschauer, Stefan 2001: Ethnographisches Schreiben und die Schweigsamkeit des Sozialen. Zu einer Metho-
dologie der Beschreibung. Zeitschrift für Soziologie, 30, 6, 429–451.
Mohn, Elisabeth 2002:
Filming Culture. Spielarten des Dokumentierens nach der Repräsentationskrise. Stuttgart: Lucius& Lucius.
Mohn, Elisabeth 2006:
Permanent Work on Gazes. Video Ethnography as an Alternative Methodology. In: H. Knoblauch, J. Raab,
H.-G. Soeffner & B. Schnettler (Hg.): Video-Analysis. Methodology and Methods. Peter Lang.
Mohn, Elisabeth 2006:
Wissen in Bewegung: Kamera-Ethnographie als Dichtes Zeigen. In: Gabriele Brandstetter und Gabriele
Klein (Hg.): Tanz Scripte. Bielefeld: transcript Verlag.
Begleitpublikation zur DVD -Video C 13 032 8/20
Die folgenden Inhaltsangaben zu den einzelnen Videos und ihren Unterkapiteln umreißen mögliche Themen-felder für den Einsatz in der erziehungswissenschaftlichen Forschung und Lehrerfortbildung.
Stundenweise Schulzeit 1: GesamtschuleELISABETH MOHN
Sieben Schulstunden an einer Gesamtschule. Die
Kamera fokussiert auf den „Lernkörper“, auf das
Ensemble der Schülerinnen und Schüler. Indem
Unterricht einmal nicht von der Lehrerseite aus be-
trachtet wird, entstehen Beobachtungsfragmente
zur Unterrichtssituation, bei denen Jugendliche
in den Blick rücken, die Schulzeit verbringen, die
Mikrothemen ihres Unterrichtsalltags, die vielfäl-
tigen Ebenen der Interaktion und Körperlichkeit
im Klassenzimmer. Mit jedem der sieben Teile wird
ein eigener atmosphärischer Akzent gesetzt. Sie
können einzeln gesichtet werden, oder aber auch
direkt aufeinander folgend, so dass der Eindruck eines 7-stündigen fiktiven Schultages entstehen kann.
Methodisch demonstriert „Stundenweise Schulzeit“ ein ethnographisches Arbeiten mit beobachtender
Kamera und filmischer Montage. Anstelle von „Komplett-Aufzeichnungen“ von Unterrichtstunden werden
hier audiovisuelle Notizen mit der Kamera formuliert und beim Schnitt weiter bearbeitet. Die montierten
Bildfolgen werfen die für ein ethnographisches Arbeiten so typischen Fragen auf: Was genau ist hier über-
haupt zu sehen? Und auf welche Fragen geben die Kameraeinstellungen Antworten? Die Betrachter des
Videos sind aufgerufen sich zu neuen Sichtweisen auf schulischen Alltag anregen zu lassen und in die per-
manente Arbeit an Blicken und Formulierungen mit einzusteigen.
1. StundeBewegungsfreiheit. Die Schülerinnen und Schüler
sollen in Einzelarbeit ein vorgegebenes Thema
weiter bearbeiten. Sie sitzen ausnahmsweise nicht
an Gruppentischen, sondern in den Reihen des
Fachraums Biologie, dürfen sich aber beraten und
Materialien holen. „Seid ihr irgendwann am richti-
gen Arbeiten oder nur am Labern?“ mahnt die Leh-
rerin, die bei Fragen zur Verfügung steht. In dieser
Situation entsteht ein entspanntes Nebeneinander
von Gesprächen und Schreibhandlungen, Rückfra-
gen und Besuchen, Konzentration und Amüsement.
Die Kamera folgt einzelnen Schülern bei ihren Be-
wegungen im Raum.
Die Unterrichtsform bietet den Jugendlichen Ge-
legenheiten, den vorgegebenen Lernstoff zur wechselhaften Interaktion mit anderen zu nutzen. Die Frei-
heit, den Lerngegenstand selbst zu erarbeiten, hat seine Grenzen am gegebenen Rahmen der Schulstunde.
Eine weitere Unterrichtsstunde dieser Lehrerin und im selben Stil findet sich aus anderem Blickwinkel
betrachtet wieder unter: Taktik.
Begleitpublikation zur DVD -Video C 13 032 9/20
2. Stunde „Vielleicht haltet ihr mal den Mund dahinten?“
Der Tonfall hat gewechselt. Die Lehrerstimme gibt
beinah pausenlos vor, was Gegenstand der Stunde
sein soll – und was nicht. Ermahnungen, Warnun-
gen und Drohungen prallen am Publikum ab. Die
Jugendlichen führen Repertoires der Distanzierung
vor: Angefangen von der genervten Mimik über den
demonstrativen Umgang mit Nahrungsmitteln bis
hin zur Karikierung des eigenen Unterrichtsbeitra-
ges. Parallele Welten in einem rigiden Frontalunter-
richt. „Es ist heute die letzte Gelegenheit, eure Note
zu verbessern“, mahnt die Lehrkraft. „Ich bin mit
meiner Note zufrieden“, hebelt ihn die Schülerin
aus. Die Gesichter der Schülerinnen und Schüler – ebenso wie die „unterrichtsfremden“ Aktivitäten – ver-
mitteln Eindrücke, die von Gleichgültigkeit bis Genervtheit reichen. Weder der Schüler- noch der Lehrer-
job scheint rechte Freude aufkommen zu lassen.
3. StundeEine Beobachtung im Luftraum des Klassenzimmers:
Im Fokus der Kamerabeobachtung sind die sich mel-
denden Arme der Schülerinnen und Schüler. Ihre
Hände erzählen vom sich Melden und selten dran
kommen, von gedehnter Zeit, erstarrten Gelenken
und tanzenden Fingerspitzen, die etwas tun, was zu
beobachten bisweilen ähnlich exotisch erscheint,
wie etwa die Wortschöpfung: „Hand Lungen“.
4. Stunde „Welcher Ladungsträger befindet sich in der Atom-
hülle?“ Ein Test wird geschrieben. Vor dem Hinter-
grund mucksmäuschenstill sitzender Körper wird
mit Hilfe von Zeitlupen eine subtile Bewegungs-
form beobachtbar: Das Blickwandern. Blicke bewe-
gen sich durch den Raum an der Grenze zwischen
körperlichem Ausdruck und einer subtilen Form so-
zialer Mikro-Interaktion. Geht es darum, sich in der
Testsituation zu verorten, Gedanken schweifen zu
lassen oder den Ernst der Lage zu teilen? Kaum ist
die Testsituation vorüber, begleiten wieder diverse
Aktivitäten den O-Ton der Lehrerin. Doch gegen -
über dem Unterrichtsthema „Spannung, Ladung und
Energie“ scheint der Lernkörper in einem eher ener-
gie armen Zustand zu verharren. Die Stimme der Lehrperson bleibt auf Distanz zu diesem sich eher träge
zeigenden Publikum. Diese Unterrichtsstunde findet sich aus anderem Blickwinkel betrachtet wieder unter:
Schüler-Interaktion.
Begleitpublikation zur DVD -Video C 13 032 10/20
5. Stunde „Eure Überschrift lautet: Skizze mit Hilfe des Grad-
netzes.“ Im eng abgesteckten Rahmen soll eine
Aufgabe erledigt werden. Zugleich spricht die
Lehrperson von einem Test für Selbständigkeit und
Zuverlässigkeit. „Wie wär’s mal mit Arbeiten zur
Abwechslung?“ mahnt der Lehrer. „Sie sind topp“,
neckt ein Jugendlicher, „ja ich bin doch vorberei-
tet“, kontert die Lehrkraft. Arbeit und Spiel verzah-
nen sich ineinander. Während nebenbei zwischen
zwei Tischgruppen eine regelrechte Poststation
entsteht, provoziert der Blick eines Jungen in eine
fachfremde Mappe einen Machtkampf zwischen
Lehrer und Schüler. Der Lehrer redet vom anderen
Ende der Welt – zugleich stößt seine Welt hart auf
die der jugendlichen Schüler. Die Kamera beobachtet eine Unterrichtssituation paralleler Welten.
Diese Unterrichtsstunde findet sich aus anderem Blickwinkel betrachtet wieder unter: Im Stundentakt.
6. Stunde „Ich geb euch Zeit, an den anderen beiden Aufgabe-
stellungen weiter zu arbeiten. Jeder kümmert sich
um sich.“ Die Schüler nehmen auf unterschiedliche
Weisen den gebotenen Zeitraum wahr, um herum-
zugucken, sich auszutauschen, nachzudenken oder
zu schreiben. Sie lassen Zeit verstreichen, kom-
munizieren mit Freunden oder bleiben auf sich
und ihre Arbeit konzentriert. Ein Neben einander
verschiedener Typen und Arbeitsstile gerät in den
Blick. Phasen der Anspannung und Entspannung
wechseln einander ab. Die Atmosphäre dieser
Stunde lässt vermuten, dass die erkennbaren Spiel-
räume bei der Nutzung der Unterrichtszeit für das
Ergebnis produktiv sein können. Im Anschluss an
die Stunde zeigt sich tatsächlich, dass respektable Ergebnisse zustande kamen – scheinbar nebenbei. Vor
allem im Vergleich zu den anderen Methoden des Unterrichtens zeigt sich hier ein produktiver Arbeitsstil.
7. Stunde„Verteilt die Rollen und schreibt ein Drehbuch für
die jeweilige Szene.“ Die Kamera begleitet eine der
sich bildenden Arbeitsgruppen. Das sechsköpfige
Ensemble gerät in ein hierarchisches Rollengefüge.
Aus einem eher desinteressierten Unterrichtsteil-
nehmer wird überraschend der Energie geladene
Macher, während ein Mädchen mit Augen flitzen-
den Blickbewegungen den Eindruck erweckt, dass
ihr Platz im Ensemble unklar ist. Ins Zentrum ihrer
Inszenierung stellen die Jugendlichen das Zurecht-
stylen ihrer Mitschüler, dabei die Grenzen der Pein-
lichkeit genüsslich umspielend.
Zum ersten Mal gewinnen wir den Eindruck, dass ein Unterrichtsthema Interesse und Identifikation bei
den Jugendlichen hervorruft und die Chance eröffnet, im schulischen Rahmen etwas selbst zu gestalten.
Begleitpublikation zur DVD -Video C 13 032 11/20
Stundenweise Schulzeit 2: GymnasiumELISABETH MOHN
Sieben Schulstunden an einem Gymnasium. Die Kamera fokussiert auf den „Lernkörper“, auf das Ensemble
der Schülerinnen und Schüler. Indem Unterricht einmal nicht von der Lehrerseite aus betrachtet wird, ent-
stehen Beobachtungsfragmente zur Unterrichtssituation, bei denen Jugendliche in den Blick rücken, die
Schulzeit verbringen, die Mikrothemen ihres Unterrichtsalltags, die vielfältigen Ebenen der Interaktion
und Körperlichkeit im Klassenzimmer. Mit jedem der sieben Teile wird ein eigener atmosphärischer Ak-
zent gesetzt. Sie können einzeln gesichtet werden,
oder aber auch direkt aufeinander folgend, so dass
der Eindruck eines 7-stündigen fiktiven Schultages
entstehen kann.
Methodisch demonstriert „Stundenweise Schulzeit“
ein ethnographisches Arbeiten mit beobachten-
der Kamera und filmischer Montage. Anstelle von
„Komplett-Aufzeichnungen“ von Unterrichtstunden
werden hier audiovisuelle Notizen mit der Kamera
formuliert und beim Schnitt weiter bearbeitet. Die
montierten Bildfolgen werfen die für ein ethno-
graphisches Arbeiten so typischen Fragen auf: Was
genau ist hier überhaupt zu sehen? Und auf welche
Fragen geben die Kameraeinstellungen Antworten?
Die Betrachter des Videos sind aufgerufen sich zu neuen Sichtweisen auf schulischen Alltag anregen zu
lassen und in die permanente Arbeit an Blicken und Formulierungen mit einzusteigen.
1. StundeEine überwiegend aus Mädchen gebildete Klasse,
zwischen Bereitschaft und Regungslosigkeit. Die
Stimme der Lehrerin legt Tempo vor. Paarweise
aufeinander bezogen entsteht eine Teilnahme am
Unterricht, die sich zwischen morgendlicher Mü-
digkeit, Ungerührtheit und Folgsamkeit bewegt.
Die wachere Schülerin schlägt ihrer halbschlafen-
den Nachbarin das Buch auf und gegen Ende der
Stunde zeigt sich das Schülerensemble im routi-
nierten Umgang mit dem Zetteln: Parallel zur
Rede der Lehrerin wandert eine Botschaft durch
mindestens fünf verschiedene Hände. Die Kamera
konzentriert sich auf diese kleinsten Aktivitäten,
die schließlich sowohl den Eindruck eines ruhigen
Unterrichtsflusses als auch einer funktionierenden Binnenkommunikation im Lernkörper vermitteln. Diese
Unterrichtsstunde findet sich aus anderem Blickwinkel betrachtet wieder unter: Im Stundentakt.
Begleitpublikation zur DVD -Video C 13 032 12/20
2. StundeVerkehrte Welt? Ein Schüler wartet gespannt auf
den Gongschlag zur nächsten Stunde, woraufhin er
sich zum Unterrichtsbeginn entspannt. Die Lehrerin
kündigt an: „Letzter Tag für Zensuren“ und erteilt
die Aufgabe, jeweils den Text eines Mitschülers zu
überarbeiten. Man versenkt sich, konzentriert sich,
zeigt sich fleißig. Die Ergebnisse werden vorgetra-
gen und es scheint ermüdend, den Mitschülern zu
lauschen. Als es dann wieder etwas zu erarbeiten
gibt, pendeln die Blicke zwischen Heften, Nachbarn
oder Armbanduhren und gelegent lich entladen sich
einzelne Gesichter in Gekicher. Fleiß an den Schultag
zu legen wird routiniert gemischt mit ver gnüglicher
Kommunikation und Anflügen von Unlust.
3. StundeAufgabenzettel werden ausgeteilt und ein Test ge-
schrieben. Mucksmäuschenstill alle, Nasen zum
Blatt, während die durch die Reihen wandernde
Lehrerin ihre Zöglinge überblickt. Dann Gemur-
mel, Einsammeln der Blätter. Auf die Anspannung
folgt Entspannung: Film gucken. Einzeln oder paar-
weise richten sich die Schülerinnen und Schüler in
der Rolle der Rezipienten ein: Zuschauen, sich aus-
ruhen oder auch mal wegnicken, Maniküre oder
Kontakt mit der Nachbarin. Lachende Gesichter
der Freundinnen, die beim Filmschauen Zettelchen
hin und her gehen lassen, stets darauf bedacht, die
Verdecktheit aufrecht zu erhalten – auch wenn es
jeder sehen kann.
4. StundeHeiterer Stundenbeginn mit rhythmischem Klop-
fen auf eine Brotdose. Die Schulstundenpartnerin-
nen finden sich vergnüglich zusammen. „Erst sagt
ihr mir wo die nd-Form ist und dann übersetzt ihr!“
sagt die Schülerin an der Tafel, während sie Lehre-
rin spielt. Im Klassenraum unschuldige Müdigkeit.
Ein Junge überführt seine Antwort in einen Witz,
in dem er überbetont flüstert: „Der Wurm!“ Dies-
mal schreibt ein Mädchen Zettelchen mit ihrem
Schwarm in der vorderen Reihe. Die jugend lichen
Akteure sind stets in der Lage, am Unterricht der
Lehrerin teilzunehmen – auch dann, wenn sie zu-
gleich in der kaum verdeckten Öffentlichkeit der
Peer Group etwas völlig anderes tun. Ihre Scherze und kleinen Zwischen spiele scheinen die individuellen
Leerlaufphasen zu überbrücken, die durch die Einförmigkeit des Frontalunterrichts zwangsläufig entste-
hen.
Begleitpublikation zur DVD -Video C 13 032 13/20
5. StundeVor der Stunde wird getrunken, zu Stundenbeginn
das Haar gerichtet. Dann gibt es eine erste Aufga-
be: „Formuliert diese Argumentation einmal aus“.
Die Lehrerin wickelt ihre Stunde routiniert ab und
ähnlich professionell tun dies auch die Schülerin-
nen und Schüler: Ruhig und konzentriert heben
und senken sich beim Abschreiben von der Tafel die
Köpfe. Nach einer kurzen, die Mitschüler ermüden-
den, Sequenz des Vorlesens von Ergebnissen heißt
es: „Nehmt eure Hausaufgaben zur Hand!“ Für alle
Beteiligten scheint klar, dass es sich um schulische
Anforderungen handelt, denn man argumentiert
nicht „wirklich“, sondern „formuliert“ emotions-
los Argumente im Rahmen einer Aufgabe, deren Erledigung z.B. benotet werden kann. Ein Zettel wird zur
Schwalbe und nachträglich schämt sich ein Mädchen dafür, eine Antwort gegeben zu haben. Schließlich
vermischen sich Arbeits- und Spaßkultur. Beim Gong gibt die Lehrerin den aufbrechenden Schülern mit auf
den Weg: „Bis morgen erwarte ich dann, dass ihr den Hauptteil entsprechend ausformuliert“.
6. StundeDer Phönix soll sich noch einmal aus der Asche
erheben: Lateinstunde. Die Lehrerin unterrichtet
gegenüber einem zunehmend ermüdeten Klasse-
nensemble. In schlaffen Haltungen wird am Unter-
richtsangebot teilgenommen, lehnt man sich an die
Freundin, passt auf, hält durch, lacht auf. Als es ans
Übersetzen geht, werden eifrig die Wörterbücher
gezückt: „Dann haucht er unter verschiedenen Ge-
würzen seine Seele aus“. Geplapper und Gekicher
scheinen durchaus Text bezogen. Die Lehrerin sam-
melt die Arbeitsblätter einiger Schüler und Schüle-
rinnen ein – der Ernst des Lebens hält Einzug. Wir
gewinnen den Eindruck, dass sich das von den Lehrerinnen inszenierte Unterrichtsgeschehen immer weiter
von den Jugendlichen weg bewegt – ohne dass diese sich wirklich davon abzuwenden vermögen.
7. StundeDie Sonne knallt ins Klassenzimmer. Es geht um
den Widerstand im Nationalsozialismus. Hitlergruß
karikieren, von der Tafel abschreiben, zur Freundin
blinzeln, beim Blick nach vorne das Lächeln wieder
gefrieren lassen. Kichern, aufpassen, sich beteiligen,
den Körper räkeln, Gruppen bilden. „Militärischer
Widerstand die Herren“, ordnet die Lehrerin an.
Auf dem Stuhl pendelnd warten, bis sich die eigene
Gruppe gebildet hat, ohne Eile mit der Arbeit begin-
nen. Dann lesen und dabei das Lachen nicht verges-
sen oder kichern und nebenbei arbeiten, murmeln
und gähnen. Die Lehrerin gratuliert einem Mäd-
chen zur „2“ und erntet, während der Gong ertönt, ein strahlendes Gesicht. Gruppenarbeit wird hier zu einer
tolerierbaren Form, einen Schulvormittag locker mit Aufgaben beschäftigt ausklingen zu lassen.
Begleitpublikation zur DVD -Video C 13 032 14/20
TaktikELISABETH MOHN
Ursprünglich als Kunst der Anordnung und des
Aufstellens verstanden, ist die Suche nach dem
Taktischen im Schulischen schnell der Gefahr aus-
gesetzt, als Suche nach Vermeidungsstrategien
(von Arbeit, Anstrengung etc.) von Schülern miss-
verstanden zu werden. Dieser Video-Studie geht es
nicht um Vermeidung, sondern um ihr Gegenteil:
die Ermöglichung. Michel De Certeau hat alltäg-
liche Praktiken von Konsumenten untersucht
und deren taktischen Charakter herausgearbeitet.
Über Taktik schreibt er: “Sie ist immer darauf aus
ihren Vorteil im Fluge zu erfassen. Was sie ge-
winnt, bewohnt sie nicht. Sie muss andauernd mit
den Ereignissen spielen um „günstige“ Gelegenheiten daraus zu machen.“ Betrachten wir doch versuchs-
weise einmal Schüler als Konsumenten. Trifft es auch auf sie zu, dass sie sich ständig mit den Umständen
und dem Wollen eines Anderen auseinander setzen und im Unterricht nicht mit etwas Eigenem rechnen
können? Was machen Schüler aus dem, was sie machen sollen, durch das “wie“ sie es machen? Das Video
Taktik erprobt diese theoretische Rahmung als Optik und stöbert dabei verborgene Produktivität im
Alltagshandeln jugendlicher Schülerinnen und Schüler auf.
Bücher, Hefte, LocherUnterrichtsmaterialien können einerseits für uns
als Betrachter die selbstverständlichen Gegen-
stände sein, mit denen Räume als Schulräume und
Menschen als Schülerinnen und Schüler erkennbar
sind: Schulbücher, Hefte und verschiedene Büro-
materialien. Als Gegenstände sind sie in den beob-
achteten Situationen präsent und werden benutzt.
Aber wie? Und inwiefern werden Unterrichts-
materialien zu günstigen Gelegen heiten für
tak ti sche Praktiken? Die Schüler nutzen sie zu viel-
fältigen, z.B. rhythmisch-akustischen Zwecken.
Fast wie die Klappe beim Filmdreh kann das Buch
(oder Heft) eine akustische Zäsur des Geschehens
setzen. Ein quietschender Locher gibt Gelegenheit, sich klassenöffentlich zu zeigen. Die Betrachtung der
Unterrichtskonsumenten in ihrem kreativen Gebrauch schulischer Dinge verrückt unsere Alltagsperspektive:
Aus dem mehr oder weniger schulisch Nützlichen werden performative Mittel, mit denen flugs Jugend kultur
die Unterrichtssituationen erobert.
Über OrteDie schulischen Unterrichtsorte – Klassenzimmer, Fach räume – mögen zunächst wie ein Korsett erschei-
nen, in das der Lernkörper stündlich eingeschnürt wird. Schmucklos und funktional eingerichtet für die
Unter bringung von Lernenden und Materialien. Dort aller dings, wo sich Gelegenheiten ergeben, diese
Schnürung zu lockern, werden sie genutzt:
Begleitpublikation zur DVD -Video C 13 032 15/20
Ein gewisses Eigenleben entwickelt sich durch die
Umnutzung eben der Elemente die die Einbindung
ausmachen. Die genauere Betrachtung der Nut-
zung von Sitzreihen, Lehrerpult und Büchertisch
lassen auch hier andere Interpretationsansätze
aufkommen. Gelegentlich verlieren die Orte im
Klassenraum ihre scheinbar festen Bedeutungen
und verwandeln sich in Versammlungsorte, Treff-
punkte, Bühnen und Zuschauerräume selbst dort,
wo man es nicht unbedingt erwartet. Ergebnis
taktischer Praktiken?
Über WegeDie Möglichkeit, im Raum verschiedene Dinge
für die schulische Aufgabe zusammen zu suchen,
wird intensiv genutzt. Auf diesen Wegen wird die
Unterrichtssituation umdefiniert: ein Scherz, ein
kurzes Gespräch, eine Umarmung. Die kamera-
ethnographische Studie arbeitet eine unausge-
sprochene Choreographie heraus, bei der die stän-
digen Wechsel der herumlaufenden Schülerinnen
und Schüler einem Staffellauf oder „Perpetuum
Mobile“ ähneln. Wo in der traditionellen Frontal-
situation die Körper eher geparkt erscheinen, gerät
hier das Ganze in nicht enden wollende Bewegung.
Im Sinne einer „Kunst des Handelns“ werden aus
gelangweilten Unterrichtskonsumenten in De Certeaus Worten „die verkannten Produzenten kombinieren-
der und verwertender Konsumformen“ und vielleicht auch die „stillschweigenden Erfinder ihrer eigenen
Wege“.
Begleitpublikation zur DVD -Video C 13 032 16/20
Im StundentaktKLAUS AMANN UND ELISABETH MOHN
Thema des Videos ist die kollektive Aufführung
von Schulstunden. An zwei Schulen wird beob-
achtet, wie Schülerinnen und Schüler mit den
ehrerinnen und Lehrern ein rhythmisch struktu-
riertes Unter richtsgeschehen hervorbringen. Dies
in seinen Mikrostrukturen wahrnehmbar zu ma-
chen erfordert eine experimentelle Bearbeitung
des Video materials: durch angehaltene Bilder und
Wieder holungen, Verlangsamungen oder die Tren-
nung des Tons vom bewegten Bild wird das Phäno-
men des Takts auf einer akustischen und auf einer
visuellen Ebene erfahrbar. Die Praktiken des Lern-
körpers erscheinen im Rahmen einer Taktstruktur
als routi nierte und kreative Simultan übersetzungen der Prosodik des Lehrersprechens in die Metrik einer
nonverbalen Choreographie. An der Hervorbringung dieser rhythmischen Struktur sind die Schülerinnen
und Schüler aktiv beteiligt. Gelegentlich schlagen sie mal knallend mal bloß raschelnd den Takt der
Unterrichtsstunde. Der Takt bietet für Interaktionsteilnehmer elementare Möglichkeiten, sich jenseits
einer inhaltlichen Teilhabe in äußerlich erkennbarer Weise ins Geschehen einzuordnen. So gelingen im
taktvollen Abwickeln von Stunden die Schultage – auf einer formalen Ebene.
Frontalunterricht GymnasiumDie sekündlich geleistete Einpassung der Schüle-
rinnen und Schüler in den Takt der beobachteten
Schulstunde wird beobachtbar. Während die Ton-
spur des Videos die im Hintergrund hörbaren Bei-
träge der Lehrerin abspielt, richten sich die Kamera-
blicke auf einen Ausschnitt des Klassenraums.
Im Bild Schülerinnen, die den Ton der Lehrerin
ebenfalls hören. Deren Stimme vermag einige der
Aktivitäten des Lernkörpers gezielt hervor zu lo-
cken: Bücher werden geöffnet, Blicke auf den Text
gelenkt. Die Schülerinnen scheinen bei der Sache,
indem sie erkennbar den Takt des Stundenverlaufs
halten. Dabei fällt eine interessante Diskrepanz
auf: Lehrerin und Jugendliche takten sich zwar wohl aufeinander abgestimmt, tun dabei aber gelegentlich
die unterschiedlichsten Dinge! An einem einzelnen Ensemblemitglied wird schließlich sichtbar, wie Blick-
führungen, Körperhaltungen und mimisch-gestische Kommunikation – auch wenn sie sich dabei von den
Unterrichtsinhalten entfernen – im Takt bleiben und auf der formalen Ebene den Fortgang der Schulstunde
sichern.
Begleitpublikation zur DVD -Video C 13 032 17/20
Frontalunterricht GesamtschuleDieses Beispiel beginnt mit einem sichtbaren Spre-
cher, der allerdings von den Zuhörenden kaum in
Augenschein genommen wird. „Ich möchte (....)
noch einen ganzen Kontinent im Überblick an-
bieten.“ Mit dieser Offerte beginnt der Lehrer die
Unterrichtsstunde. Synchronisiert erscheinen die
Körperbewegungen der beobachteten Schülerin
mit dem Fortgang der Lehreräußerungen: Zeit-
punktgenau fällt der Zeichenblock auf die Tisch-
platte, wird das Blatt aufgeschlagen. Im Takt des
Redners bewegen sich ihre Blicke und mimischen
Äußerungen, über die sie ihre Distanzierung vom
Geschehen zum Ausdruck bringt. Selbst beim Biss
ins Gebäck oder beim Flug des Briefchens auf den
Nachbartisch werden Takte visuell ausgespielt. Zusammenfassend sind Szenen beider Schultypen zu sehen,
in denen Schüler im Takt visuelle, eigene „Sätze“ zur Unterrichtssituation beitragen und gelegentlich sogar
auch den akustischen Takt der Stunde schlagen. Was Melodie und Takt betrifft sind Lernende nicht arbeits-
los, auch wenn sie gar nicht „dran“ sind.
SchülerinteraktionKLAUS AMANN
In der Unterrichtsstunde wird die Tischrunde
einmal zur Bühne, einmal zum Publikum. Die
Sitzordnung eröffnet Kommunikationsmöglich-
keiten. In der Tischrunde wird die Unterrichtszeit
gestaltet. Das Unterricht-Machen der Lehrerin
erscheint nahtlos eingefügt in das Schulzeit-Ver-
bringen der Schüler. Der Gruppentisch als Ort der
hier beobachtbaren Interaktionsordnung steht
in diesem Stück aus einer Schulstunde in der Ge-
samtschule im Mittelpunkt. Die hörbare Lehrerin-
nenstimme vermittelt eine klare Ablaufstruktur,
die in den Handlungen der beobachteten Gruppe
ihre Berücksichtigung findet. Methodisch verfolgt
diese Analyse der Interaktionsordnung das Ziel,
die Verschränkung der Schulstunde der Lehrerin und der Schulstunde der beobachteten Schüler kenntlich
zu machen. Auffällig ist einerseits die Engführung des Stundenverlaufs durch die Lehrperson, durch die
bestimmte Schüleraktivitäten gefordert werden. Andererseits beobachten wir eine ähnlich klare und ein-
deutige Nutzung von – noch so kleinen – Spielräumen in diesem Verlauf durch die Schüler.
In der Zergliederung des Bilderflusses durch Sequenzen von Standbildern wird der dynamische Wechsel in
diesem Interaktionsgeschehen nachvollziehbar.
Begleitpublikation zur DVD -Video C 13 032 18/20
InteraktionsstrukturDie bereits vorgeführte Szene wird nun in einzel-
ne Schritte zerlegt. In der Abfolge von Standbildern
(je drei Sekunden Dauer) wird die Dynamik der In-
teraktion in dieser kurzen Szene sichtbar gemacht.
Der Ton bleibt dabei im Hintergrund erhalten.
ParallelaktionDiese Sequenz verfolgt den – wiederholten – Ver-
such eines Schülers, den richtigen Moment für
einen Schluck aus der Flasche ab zu passen. Die
Tischgruppe folgt diesem, zum Unterricht der Leh-
rerin konkurrierenden Geschehen mit gewisser
Aufmerksamkeit. Essen und Trinken wird den Be-
obachtern als eine „eigentlich“ illegitime Tätigkeit,
deren Timing eine sportliche Herausforderung ist,
dargestellt.
Ein WissenstestBewährungstest für die Interaktion am Tisch? Ein
kurzer, schriftlicher Wissenstest stellt eine weitere
Herausforderung dar. Wie gelingt es der Gruppe,
gemeinsam – aber unauffällig – die Aufgaben zu lö-
sen? Die zusammengestellten Standbilder und Aus-
schnitte zeigen zentrale Teilelemente dieser Grup-
penleistung. Die Intensität der unterschiedlichen
Blickführungen korrespondiert offenkundig mit der
Unsicherheit bei der Beantwortung der Testfragen.
Lehrer-Schüler-InteraktionDiese Frage-Antwort-Sequenz zwischen Lehrerin
und Schüler hebt den Einzelnen heraus. Er wird
zum Repräsentanten der Klasse in einem öffent-
lichen Geschehen. Der Schüler erscheint als Be-
standteil der Unterrichtsstunde der Lehrerin und
befindet sich auf ihrer Bühne.
Begleitpublikation zur DVD -Video C 13 032 19/20
ZwischensequenzDie Stunde scheint an einer Pausenstelle ange-
kommen. Die Gruppe wartet – mit allerlei Finger-
übungen zwischendurch – auf den nächsten
Schritt. „Die Übungshefte bitte weg“ beendet das
Warten.
Abschreiben als InteraktionsanlassJenseits der direkten Vertaktung des Stundenge-
schehens über das Sprechen der Lehrerin bietet
das gemeinsame Abschreiben von der Tafel unter-
schiedliche Gelegenheiten, den Gruppentisch wie-
derum zur Bühne für ihre Akteure (und potentielle
Zuschauer im Klassenraum) zu machen.
StandbyELISABETH MOHN
Körperliche Anwesenheit mit eingeschränkter
persönlicher Präsenz, in den späteren Jahren des
Schulbesuchs ein fortwährendes Thema. Die ex-
perimentell angelegte Collage interessiert sich
für Körperhaltungen, in denen der Lernkörper uns
Ruhezustände zeigt, die bis zur scheinbaren Leb-
losigkeit reichen. Ein auf den ersten Eindruck un-
passender Text wird an die Bilder herangetragen:
Technische Definitionen aus Wikipedia (www.
wikipedia.de) zum Energiesparmodus von Compu-
tern. Es entstehen provokative Analogien, die dazu
anregen, im Schülerensemble schließlich einen
Stromkreis zu entdecken, über den die Schüler das
rechtzeitige Wiedereinschalten kollektiv regeln –
wenn sie nur am Netz angeschlossen bleiben. Dies trägt erkennbar zum Funktionieren des Unterrichts bei.
„Standby“ regt dazu an, nicht nur über schulische Formen der Unterrichtsbeteiligung, sondern auch über
wohl organisierte Nicht-Beteiligung nachzudenken.
Begleitpublikation zur DVD -Video C 13 032 20/20
Energiesparmodus„Standby: Stromsparender Bereitschaftszustand von
Geräten, die zwar eingeschaltet sind, aber gerade
nicht benutzt werden. Der Standby-Modus eines PCs
wird verwendet, um den Rechner vorüber gehend
auszuschalten und in einen energiesparenden Mo-
dus zu versetzen, wobei bei Reaktivierung ein sofor-
tiges Weiterarbeiten möglich sein soll. Prinzipiell
funktioniert der Standby-Modus so: Auslösung des
Modus durch den Benutzer oder ein Programm,
beispielsweise nach einer bestimmten Zeitdauer
der Inaktivität. Sind alle Vorbereitungen getroffen
werden die Hardwarekomponenten abgeschaltet.
Der PC wirkt äußerlich nun, als sei er komplett aus.“ (www.wikipedia.de)
Deaktivierung„Bezüglich der Betriebsbereitschaft unterscheidet
man mehrere Stufen der Deaktivierung: Verringe-
rung von Systemressourcen, Standby-Modus, Ru-
hezustand. Beim Ruhezustand wird der PC in einen
stromlosen Zustand versetzt, um später an gleicher
Stelle weiterarbeiten zu können. Dabei wird der
gesamte Arbeitsspeicherinhalt auf die Festplatte
gesichert und danach der Computer herunterge-
fahren. Im Gegensatz zum Standby-Modus schal-
tet sich der Computer im Ruhezustand komplett
ab, sodass keine weiteren Stromkosten anfallen.“6
Die Bilder lassen erkennen, dass insbesondere
in den Frontalsituationen eine durchgängige Präsenz jedes Einzelnen weder möglich ist, noch überhaupt
erwartet wird. Erwartet wird vielmehr, dass „im Prinzip“ jeder Anwesende im Stundenverlauf auch mal
wieder präsent und aktiviert sein könnte.
Empfangsstromkreis „Sobald der Nutzer eine Taste drückt, werden die
abgeschalteten Komponenten wieder aktiviert.
Das Gerät kann auch durch eine Fernbedienung
aktiviert werden, ohne dass dabei ein direkter Ein-
griff am Gerät notwendig würde. Fernbedienungen
funktionieren allerdings nur, wenn mindestens der
Empfangsstromkreis des Gerätes aktiviert bleibt.
Das Gerät muss daher permanent am Stromnetz
angeschlossen sein.“ (www.wikipedia.de)
Beim „Wiedereinschalten“ still gestellter Kör-
per scheint es eine bedeutende Rolle zu spielen,
Schulzeit paarweise zu verbringen, denn selten
sind zwei nebeneinander sitzende Schüler gleichzeitig im Standby. So kann einer den anderen durch
Berührungen oder unter Einsatz einer Blick-Fernbedienung wecken.
6 www.wikipedia.de