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managerSeminare | Heft 207 | Juni 2015 24 | management Wer wem was zu sagen hat, darüber entscheidet seit jeher die jeweilige Position im Unternehmen. Zunehmend zeichnet sich jedoch ab: Dieses Modell der strukturellen Macht stößt an seine Grenzen. Macht in Organisationen muss neu legitimiert und anders ausgeübt werden, um die Herausforderungen der gestie- genen Komplexität zu meistern. Macht in Bewegung FÜHREN OHNE HIERARCHIE

Macht in Bewegung · das bereits Realität. Einblicke in Organisationssysteme, die ohne ... In der Prais sieht das dann ungefähr so aus Die Arbeit ist in Proekten organisiert. Wer

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Page 1: Macht in Bewegung · das bereits Realität. Einblicke in Organisationssysteme, die ohne ... In der Prais sieht das dann ungefähr so aus Die Arbeit ist in Proekten organisiert. Wer

managerSeminare | Heft 207 | Juni 2015

24 | management

Wer wem was zu sagen hat, darüber entscheidet seit jeher die

jeweilige Position im Unternehmen. Zunehmend zeichnet sich

jedoch ab: Dieses Modell der strukturellen Macht stößt an seine

Grenzen. Macht in Organisationen muss neu legitimiert und

anders ausgeübt werden, um die Herausforderungen der gestie-

genen Komplexität zu meistern.

Macht in Bewegung

FÜHREN OHNE HIERARCHIE

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managerSeminare | Heft 207 | Juni 2015

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Literaturtipps

A Andrea Bittelmeyer: Führung ohne Führungskräfte –

Tschüss, Chef! www.managerSeminare.de/MS196AR01

Führen ohne Hierarchie – in einigen progressiven Unternehmen ist

das bereits Realität. Einblicke in Organisationssysteme, die ohne

formale Macht funktionieren, wenn auch nicht immer reibungslos.

A Andrea Bittelmeyer: Organisationsmodell Soziokratie

– Argument schlägt Hierarchie. www.managerSeminare.de/

MS204AR08

Das Organisationsmodell der Soziokratie ist eigentlich ein alter

Hut. Aktuell wird es aber von einer Generation junger, innovativer

Firmen entdeckt, die sich dem posthierarchischen Management

verschrieben haben. Das Versprechen: Führen – fast – ohne for-

male Hierarchie. Die Macht liegt beim Argument.

A Christine Bauer-Jelinek: Die geheimen Spielregeln der

Macht. Ecowin, Salzburg 2007, 22,90 Euro.

Ein Klassiker der modernen Machtliteratur. In einem Kapitel

geht es allein um die Spielregeln der Macht in Hierarchien.

Preview: A Der macht das schon: Warum klassische

Machstrukturen Mitdenken verhindern A Mächtiges

Missverständnis: Warum sich die Macht in Organisati-

onen nicht reduzieren lässt A Wissen macht mächtig:

Information und Erfahrung als Machtbasis A Füh-

rung und Identitätsstiftung: Die beiden mächtigsten

Machtbasen A Macht als intelligentes Wechselspiel:

Das Modell der fluiden Organisation A Macht sozial

gedacht: Was Führungskräfte fürs Führen ohne Hie-

rarchie mitbringen müssen

C Bei Sven Fissenewert vom Beratungsun-ternehmen Process One steht eine Nacht-schicht an. Lucas Lossen stand gerade bei ihm auf der Matte. „Sven, ich brauche von Dir dringend die Marktskizze für die Busi-ness-Simulation. Spätestens morgen.“ Eine klare Ansage, wie man sie in Unternehmen täglich hört – dennoch bemerkenswert. Denn Fissenewert ist Geschäftsführer und Gesellschafter und Lossen, der ihm gerade die knappe Deadline gesetzt hat, angestellter Berater. Der Hintergrund, warum Letzte-rer Ersterem trotzdem etwas zu sagen hat:

Das Beratungsunternehmen ist nach einem Modell organisiert, in dem Macht in einer Art Wech-selspiel betrieben wird. In dem Macht, so der verwendete Fach-begriff, fluide oder flüssig ist.

Das ist außergewöhnlich, immer noch. Im Normalfall ist die Macht in Unternehmen – also die Chance, Entscheidungen gegen Widerstände durchzuset-zen – klar festgemacht. Wer wem wann was zu sagen hat, hängt von der jeweiligen Position im Unternehmen ab. Die Organi-sationsforschung spricht vom Modell der strukturellen oder legitimen Macht. Das gibt es so lange, solange es Organisationen gibt. Doch zunehmend setzt sich die Erkenntnis durch, dass das Machtmodell, das sich zig Jahre bewährt hat, an Grenzen stößt. Dass Macht neu gedacht werden muss. A

Service

Foto: Fotolia/Mopic

Den Beitrag gibt es auch zum Hören. Er kann unter www.managerSeminare.de/podcast als Audiodatei heruntergeladen werden.

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Sichtbar wird diese Einsicht an der Flut neuer Manage-menttools und -konzepte, mit denen Unternehmen gerade experimentieren: Scrum, Canvas, Design Thin-king, Holacracy, konsultatives Entscheiden, integra-tive Entscheidungsfindung … alle diese Tools dienen letztlich einem Zweck: die Macht im Unternehmen neu zu konfigurieren. So komplex die Tools sind, so

einfach ist die Überlegung, die ihrer Anwendung zu-grunde liegt. Der Organisationsberater und Trainer Thomas Schleiken, der Unternehmen bei deren An-wendung unterstützt, bringt sie so auf den Punkt: „Um der gestiegenen Komplexität Herr zu werden, braucht

es hochgradig vernetzte intelli-gente Interaktion. Solche kann sich in klassischen Machtstruk-turen allerdings nicht oder nur sehr bedingt entwickeln.“

Macht verhindert Mitdenken

Der Hauptgrund laut Schleiken: „Strukturelle Macht verführt dazu, sich gedanklich zurück-zulehnen – und zwar diejenigen, die sie nicht haben.“ Nach dem Motto: Der, der die Macht hat, der macht das schon. Zudem wirke ein, wie die Sozialpsy-chologie es ausdrückt, evolu-tionär gelerntes Bedürfnis der intelligenten Interaktion ent-gegen: der Wunsch, der Macht zu gefallen. Schleiken; „Ob sich der Machthaber nun Häuptling, Clanführer oder Vorgesetzter nennt – sich seine Sympathie zu sichern, war immer schon essenziell.“ Deshalb neigt jeder – je nach Typ mehr oder weniger – dazu, den Machthabern nach dem Mund, ihren Wünschen und Vorstellungen zu reden. Zugespitzt lässt sich formulieren: Je mehr strukturelle Macht in einem System steckt, desto we-niger wird im Sinne der Sache (mit-)gedacht.

Der wahrscheinlich erste Impuls, den diese Erkenntnis auslöst: Dann machen wir’s doch ohne Macht – oder zumin-dest mit weniger. Vor allem in den USA – aber auch hierzu-lande – sind erste Unterneh-

men diesem Impuls bereits vor knapp zehn Jahren gefolgt. Sie haben systematisch strukturelle Macht zurückgebaut, Hierar-chien herausgenommen und

geführte Teams in selbstorganisierte umgewandelt.

Was in Arbeitsgruppen passiert, wenn ihr strukturelles Machtge-füge aufgelöst wird, hat der US-Sozialpsychologe Mauk Mulder in aufwendiger Feldforschung und in Experimenten analysiert. Seine zentrale Beobachtung: Sobald es zu den ersten Entscheidungssitu-ationen kommt, bildet sich sofort ein neues Machtsystem heraus. Das läuft ungefähr folgendermaßen ab: Jene, die besser argumentieren, schlagfertiger reagieren, weniger konfliktscheu oder einfach nur sturer sind als die anderen, werden sich wahrscheinlich durchsetzen. Und mit jedem Mal, bei dem sie sich durchsetzen, orientieren sich die anderen bei der nächsten Ent-scheidung stärker an ihnen, womit sie sukzessive an Macht gewinnen.

Im freien Spiel der Kräfte setzt

sich der Stärkere durch

„Im freien Spiel der Kräfte bildet sich zumeist das ursprünglichste aller Machtgefüge heraus“, bringt Christine Bauer-Jelinek, Wirt-schaftscoach in Wien, die Quint-essenz von Mulders Forschung auf den Punkt. „Und zwar eines, das auf dem Recht des Stärkeren beruht.“ Dass solche Art Macht für intelli-gente Interaktion noch hinderlicher ist als strukturelle Macht ist leicht einsichtig. Eine Chance, dass sich gar kein neues Machtgefüge heraus-bildet, besteht laut Bauer-Jelinek, die zu den bekanntesten Machtex-perten in Europa gehört, nicht: „Die Macht in einem sozialen System verhält sich wie Energie in einem physischen – sie kann sich um-verteilen, umformen, umwandeln – wird aber niemals mehr oder we-niger, sondern bleibt immer gleich groß“ (siehe dazu auch Kasten links, Die Natur der Macht).

Wer dieser Logik folgt, versteht sofort: Wenn sich Macht nicht aus der Organisation herausnehmen, sondern nur umformen lässt, muss man sie in eine Form bringen, die intelligente Interaktion fördert, statt sie zu behindern, die zum Mit-denken animiert statt zum Nach-dem-Mund-Reden. Dazu muss man zweigleisig fahren. Wer auf

Die Natur der Macht

A Die meisten Experten legen heute eine Machtdefinition

zugrunde, die an der klassischen von Max Weber angelehnt ist.

Sie lautet: Macht ist die Chance, Interessen und Ent-

scheidungen – auch gegen Widerstände – durchzusetzen.

A In sozialen Systemen ist die Macht, genauso wie Energie in

einem physischen, eine feste Größe. Sie kann sich umvertei-

len, umformen, umwandeln – wird aber niemals mehr

oder weniger, sondern bleibt immer gleich groß. Die thermo-

dynamische Metapher leuchtet ein, wenn man sich der Einfach-

heit halber das kleinste soziale System vorstellt, das aus zwei

Personen besteht, die gegensätzliche Interessen in ihrer Bezie-

hung durchsetzen wollen. Steigt die Chance des einen, sein

Interesse durchzusetzen, sinkt die des anderen um den glei-

chen Faktor.

A Machtgefälle zwischen den Mitgliedern sind sozialen Syste-

men emergent. Einfacher ausgedrückt, sie sind der Normalzu-

stand. Soziale Systeme mit vollkommen gleichmäßig auf

die Mitglieder verteilter Macht kommen so gut wie nicht

vor. Das liegt vor allem daran, dass Menschen unterschiedlich

durchsetzungsstark sind. Jene, die auch nur etwas besser

argumentieren können, etwas weniger konfliktscheu sind,

etwas schlagfertiger oder einfach nur sturer als die anderen,

werden sich bei einer Entscheidung wahrscheinlich durchset-

zen. Und mit jedem Mal, bei dem sie sich durchsetzen, orien-

tieren sich die anderen bei der nächsten Entscheidung stärker

an ihnen, womit sie sukzessive an Macht gewinnen.

„Die Macht in einem sozialen

System kann sich umwandeln und

umverteilen, wird aber niemals

mehr oder weniger.“

Die Machtexpertin Christine Bauer-Jelinek arbeitet als Wirt-schaftscoach in Wien. Kontakt: [email protected]

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menbereich am besten auskennt, übernimmt die Pro-jektleitung, wobei diese Position eben nicht mit struk-tureller Macht verknüpft ist, heißt, der Projektleiter ist den Mitgliedern gegenüber nicht weisungsbefugt: „Leite

das Team, aber leite es nicht“, benennt Trainer Schleiken die dazugehörige anspruchsvolle Rollenanforderung.

Anspruchsvoll auch deshalb, weil Informations-macht hochspezifisch ist, also immer beschränkt auf einen bestimmten Erfahrungs- oder Wissensbereich. In divers aufgestellten Teams gibt es immer jemanden, der in einem bestimmten Teilaspekt mehr weiß als der Pro-jektleiter, womit dessen Machtbasis bereits zu wackeln beginnt. Die dazugehörige Grundregel für die Führung

ohne strukturelle Macht lautet: das Wissen des Experten aner-kennen. Etwa in der Art: „Herr Schmitz ist unser Experte für IT-

Prozesse, er weiß wahrscheinlich mehr als jeder andere im Unter-nehmen über dieses Thema und wird uns sehr weiterhelfen.“ Der doppelte Effekt: „Zum einen wird damit dem Fachmann die gege-benenfalls vorhandene Motiva-tion genommen, seinen Infor-mationsvorsprung zur Schau zu

„Intelligente Interaktion kann sich

in klassischen Machtstrukturen

nicht oder nur sehr bedingt ent-

wickeln.“

Thomas Schleiken, Organisationsberater und Trainer, Ganderke-see. Kontakt: [email protected]

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der einen Seite die strukturelle Macht zurückbaut, muss auf der anderen alternative Machtbasen stärken. Aus Führungsperspek-tive formuliert: Die Führung muss anders als bisher legiti-miert werden.

Wer viel weiß, hat viel zu sagen

Die Führungs- und Organisa-tionsforschung unterscheidet drei alternative Machtbasen zur strukturellen Macht, die sie un-terschiedlich stark bewertet. Eine davon ist die Informationsmacht. Deren Wirkung lässt sich auf eine einfache Formel bringen, die im doppelten Sinne gilt: Wer viel weiß, hat viel zu sagen.

Vor allem in Matrix orga ni-sationen wird seit einiger Zeit strukturelle Macht systematisch in Informationsmacht umge-wandelt. In der Praxis sieht das dann ungefähr so aus: Die Arbeit ist in Projekten organisiert. Wer sich im entsprechenden The-

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vorzurufen – und zwar nicht nur zu sich selbst, sondern auch und vor allem für eine gemeinsame Sache. Orga-nisationsberater Schleiken: „Diese Machtbasis stärkt, wer immer wieder auf die größeren Zusammenhänge verweist, das große Ganze in den Blick rückt.“ Was sind die für uns relevanten Trends? Welche interessanten Impulse aus anderen Unternehmen gibt es? Wie tragen wir mit unserer Arbeit zur Innovationskraft des Unter-nehmens bei? Warum ist es für die Gesellschaft wichtig, was wir tun?

In diesem Punkt sind sich die Führungs-, Organi-sations- und Machtexperten einig: Je stärker die Füh-rung in einer Organisation auf diesen drei alternativen Machtbasen fußt, desto eher kann strukturelle Macht im Unternehmen zurückgebaut werden, desto flacher kann

sich das Unternehmen aufstellen, ohne dass sich ein rudimentäres, auf dem Recht des Stärkeren basierendes Machtgefüge bildet. „Theoretisch ist es denkbar, dass Unternehmen mit besonderen kulturellen Umfeldern sogar weitgehend auf strukturelle Macht verzichten“, erklärt der Organisationsforscher Thomas Ginter von der Hochschule Nürtigen-Geislingen.

Was es neben besonders starken alternativen Macht-basen dafür laut dem Wissenschaftler noch braucht: Klar formulierte Kernwerte, auf die sich die Organi-sationsmitglieder gemeinschaftlich verständigt haben. „Sie würden im hierarchiefreien Unternehmen den Orientierungsrahmen bieten, in dem sich ein intelli-gentes Wechselspiel von Informations-, Experten- und Identifikationsmacht entwickeln kann.“

Das ist allerdings noch Zukunftsmusik, so weit, oder wie Ginter es ausdrückt, so reif sind die Organisationen noch nicht. Der State of the Art dieser Entwicklungslinie wird durch besagte Managementmodelle und -tools wie Scrum, Canvas und Design Thinking abgebildet, die zwar nicht ganz ohne strukturelle Macht auskommen, aber mit deutlich weniger. Wenn man so will, sind sie eine Art Zwischenlösung auf dem Weg zur hierarchiefreien Organisation. Eines der Modelle, das mit vergleichsweise besonders wenig struktureller Macht auskommt, ist das der fluiden Organisation.

Die Macht an Themenbereiche koppeln

Die Berater von Process One haben ihr Unternehmen vor etwa drei Jahren nach dem dazugehörigen Bauplan

umstrukturiert. „Die Macht ist bei uns nicht an Hierarchien oder Personen gebunden, son-dern an Themenbereiche“, er-läutert Geschäftsführer Fissene-wert die Kernidee des Modells. „Sie begründet sich auf die Einsicht in die Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit einer Ent-scheidung für die Organisa-tion.“ Konkret sieht das so aus: Die Unternehmensbereiche sind als Kreise organisiert. So gibt es beim Beratungsun-ternehmen etwa einen Kreis Marketing, einen Kreis Perso-nal, einen Kreis Finanzen und Controlling und einen Kreis Produktentwicklung.

Die Beschäftigten gehören mehreren Kreisen an, allerdings auf unterschiedlichen Verant-wortungsgraden, sogenannten VGs. So ist Fissenewert etwa als sogenannter VG1 im Kreis Strategie hauptverantwortlich für die strategische Ausrichtung des Unternehmens. Im Kreis Produktentwicklung bewegt er sich auf der Ebene VG3, VG2 ist dort Lucas Lossen. Bedeu-tet: Wenn es ums Thema neue Produkte geht, hat Lossen Fis-senewert was zu sagen – und ordnet eben auch schon mal eine Nachtschicht an.

Niels Van Quaquebeke, der an der Kühne Logistics Uni-versity in Hamburg im Bereich Organizational Behavior und Führung lehrt, hat seinen For-scher-Fokus seit einiger Zeit auf Unternehmen gerichtet, die sich an Modellen versuchen, in denen Macht an Themen statt an hierarchische Strukturen oder Personen gebunden ist. Ein zentraler Mechanismus, der das Modell der fluiden Organisation ihm zufolge am Laufen hält, ist gegenseitiger Respekt in Kom-bination mit erwarteter Rezi-prozität. Motto: Ich folge Dir in Deinem Expertisebereich, weil ich erwarte, dass Du mir in meinem folgst. Als zentrale Voraussetzung, damit das Wech-selspiel funktioniert, hat er einen hohen persönlichen Reifegrad der Organisationsmitglieder ausgemacht: „Dieser kennzeich-

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stellen“, erklärt Machtanalytike-rin Bauer-Jelinek. Zum anderen: „Jedes Mal, wenn der Fachmann mit seinem Wissen weiterhilft, bestätigt er die Einschätzung des Projektleiters – wodurch er dessen Expertenrolle stärkt.“

Führung erzeugt Gefolgschaft

Das Expertenwissen, also das methodische Know-how, das jemand für eine Aufgabe oder zur Ausfüllung einer Rolle mit-bringt, ist die zweite alternative

Machtbasis. Im Falle des Projekt-leiters bedeutet das: Je mehr Ex-pertise er als Projektleiter besitzt und je besser er das Team führt, desto größer ist die Bereitschaft der Projektmitglieder, ihm zu folgen – auch wenn er keine strukturelle Macht besitzt. Zur guten Führung gehört es etwa, die Interaktion zu moderieren, konfligierende Meinungen zu integrieren und immer wieder den Prozess zu reflektieren: Wo stehen wir gerade? Wie sind wir hierhin gekommen? Kommen wir in der Diskussion voran, oder drehen wir uns im Kreis? Manche Experten sprechen von der faktischen Macht der Führung: Menschen folgen den Menschen, die sie führen. Führung als selbsterfüllende Prophezeiung.

Eng verwandt mit der Exper-tenmacht ist die Identifikations-macht, die am besten im Wech-selspiel mit dieser ihre Wirkung entfaltet. Diese Machtbasis speist sich aus der Fähigkeit einer Per-son, bei Bezugspersonen ein Gefühl der Verbundenheit her-

„Fürs Führen in lachen Hierarchien

braucht man ein ausgeprägtes

sozialisiertes Machtmotiv.“

Jörg Rumpf, Experte für Leadership beim Beratungsunternehmen Hay Group, Frankfurt/M. Kontakt: [email protected]

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1. Fachwissen

Fachwissen ist eine informelle Quelle der Macht, die Organisationsforschung spricht von

Informationsmacht. Wer andere führt, ohne sich auf formale Macht berufen zu können oder

wollen, sollte sich bei inhaltlichen Themen auskennen – zumindest so gut, dass er mit den

ausgewiesenen Fachleuchten diskutieren und die richtigen Fragen stellen kann und so auf

Augenhöhe kommt. Diese muss mindestens erreicht werden, um andere führen zu können.

2. Moderatorenkompetenz

Die Regel ist so einfach wie essenziell: In flachen Hierarchien wird der als Führender akzep-

tiert, der führt. Im Gruppenprozess gehört dazu vor allem, die Diskussion zu moderieren. Ganz

wesentlich ist es dabei, immer wieder einen Schritt zurückzutreten und aus der Metaper-

spektive auf die Situation zu blicken. Wo stehen wir gerade? Wie sind wir hierhin gekommen?

Kommen wir in der Diskussion voran, oder drehen wir uns im Kreis?

3. Konfliktmoderation

Wenn im eigenen Team oder in der Abeiltung ein Konflikt eskaliert, kann die mit struktureller

Macht ausgestattete Führungskraft ein Machtwort sprechen und die Parteien zur Räson

rufen. Ohne strukturelle Macht ist dies nicht nur sehr bedingt bis gar nicht möglich. Daher

brauchen Führungskräfte in flachen Hierarchien Kompetenzen der Konfliktmoderation und

gegebenenfalls sogar der Mediation, um Konflikte sanft zu deeskalieren.

4. Das große Ganze zeichnen

Menschen folgen Menschen, die groß denken. Wer als Führungskraft das Ganze im Blick hält,

kann die stärkste Quelle alternativer Machtquellen anzapfen, die Identifikationsmacht. Zu

beobachten und berichten gilt es etwa: Was sind die für uns relevanten Trends? Welche

interessanten Impulse aus anderen Unternehmen gibt es? Wie tragen wir mit unserer Arbeit

zur Innovationskraft des Unternehmens bei? Warum ist es für die Gesellschaft wichtig, was

wir tun?

5. Persönliche Reife

Führen in flachen Hierarchien ist anspruchsvoll, weshalb Führungskräfte dafür eine gewisse

persönliche Reife besitzen sollten. Vor allem in Systemen, in denen die Macht an Organisa-

tionsthemen gebunden ist, ist diese wichtig. Denn persönliche Reife macht es leichter, Sache

und Person zu trennen. Die Entscheidung ist gut, weil sie der Sache dient, und nicht weil der

Vorschlag von der oder der Person kommt. Persönliche Reife entwickelt sich durch Erfahrung,

lässt sich zudem im Coaching entwickeln.

Führen in flachen Hierarchien: 5 Lernfelder

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zwei Eigenschaften, die Führungskräfte für solche Wechselspiele der Macht im Spezi-ellen wie fürs Führen ohne oder mit wenig struktureller Macht im Allgemeinen benö-tigen. Der erste ist eine geringe Isolierungs-tendenz. „Über diese Präferenz lässt sich vorhersagen, wie sich jemand in kritischen Situationen verhält“, erklärt Jörg Rumpf, Experte für Leadership beim Beratungs-unternehmens Hay Group. Grob umrissen: Wer eine geringe Isolierungstendenz besitzt, sucht den Austausch mit anderen. Menschen mit hoher Isolierungstendenz machen bei Problemen die Tür zu.

Macht nicht als Selbstzweck betrachten

Die zweite Eigenschaft hält der Berater für noch wichtiger: „Ein ausgeprägtes soziali-siertes Machtmotiv.“ So bezeichnet der US-Motivationspsychologe David McClelland den Antrieb, im Sinne einer gemeinsamen Sache oder anderer Personen entscheiden und handeln zu können. Macht wird nicht als Selbstzweck betrachtet, sondern als Mit-tel, um etwas für andere oder im Sinne des großen Ganzen zu ermöglichen. Das Ge-genstück zum sozialisierten Machtmotiv bezeichnet McClelland als personalisiertes Machtmotiv. „Wer so motiviert ist, der strebt vor allem nach struktureller Macht, weil er in ihr zum einen die größte Garantie zur Machtausübung sieht, die für ihn ein Be-dürfnis darstellt, und er sie zum anderen als Statussymbol schätzt.“ Wer so motiviert ist, der, spitzt Rumpf zu, ist fürs Führen ohne strukturelle Macht oder für Organisations-modelle, in denen Macht wechselseitig aus-geübt wird, nicht gemacht.

Für Führungskräfte, die dafür gemacht sind, kann dagegen ein Machtsystem, das auf Mitmachen – man könnte auch sagen Mitmachtausüben – basiert, Erleichterung bedeuten: „Die Verantwortung, die an Macht klebt, ist nicht immer angenehm“, sagt Füh-rungsforscher Van Quaquebeke. Praktiker Fissenewert formuliert es so: „Es ist schön, nicht immer nur zu sagen, wo es langgeht, sondern sich einfach mal was sagen zu lassen.“

Und auch für jene, die nicht führen, bedeuten die neuen Formen der Macht Verbesserung. Denn sie beruhen vor allem auf freiwilliger Gefolgschaft – und nicht auf Druck oder Zwang. Das entspricht dem wohl stärksten Machtmotiv überhaupt, eines das zu den menschlichen Kernbedürfnissen gehört: Das Streben nach Autonomie, oder einfacher ausgedrückt, der Wunsch, sein eigener Herr zu sein.

Andree Martens C

„Es ist schön, nicht immer

nur zu sagen, wo es lang-

geht, sondern sich einfach

mal was sagen zu lassen.“

Sven Fissenewert, geschäftsführender Gesell-

schafter des Beratungsunternehmens Process

One mit Hauptsitz in Fulda. Kontakt: fissenewert@

process-one.de

net sich vor allem durch die Fähigkeit, zwi-schen Sache und Person zu trennen“, erklärt Van Quaquebeke. Aussagen und Argumente werden allein nach Stichhaltigkeit und Logik

bewertet und nicht danach, von wem sie kommen.

Neben persönlicher Reife sind es laut Experten vor allem