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MACHTPOLITIK UND KONTINENTALER IMPERIALISMUS ZU DEN MOTIVEN DER DEUTSCHEN BELGIENPOLITIK 1914-1918 von Dr.Frank WENDE Schwächere Nachbarn werden unterworfen und einverleibt oder irgendwie sonst abhängig gemacht, nicht, damit sie selbst nicht mehr feindlich auftre- ten, denn das ist die geringste Sorge, sondern da- mit sie nicht ein anderer nehme oder sich ihrer po- litisch bediene; man knechtet den möglichen poli- tischen Verbündeten eines Feindes. Jakob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen "Wäre der Vernunft irgend eine Macht zuzutrauen, so müssten wir uns ... verständigen, sur le dos du Beige." — Dieser Satz ent- stammt einer Tagebuchnotiz aus dem Oktober 1914, die Rede ist von einer Verständigungsmöglichkeit zwischen Deutschland und Frank- reich. Aber nicht dieser hypothetische Sachverhalt lässt den heutigen Leser stutzen, sondern die frappierende Selbstverständlichkeit mit der hier der Begriff "Vernunft" aus den allgemein menschlichen Be- zügen gelöst und in den Dienst der eigenen Interessenlage gestellt wird. Die Vernunft wird geWissermassen nationalisiert, denn von einem Belgier war wohl kaum zu erwarten, dass er solchen Worten zugestimmt und eine Einigung, wie sie hier reflektiert wurde, ausge- rechnet dem Walten der Vernunft zugeschrieben hätte. Die Art, wie hier eine offensichtlich innerlich akzeptierte und gar nicht mehr in Frage gestellte Gewalthandlung — die Vergewaltigung eines souve- ränen Staates — mit dem Prädikat "Vernunft" versehen wurde, hätte ihn stattdessen wahrscheinlich eher veranlasst, von Zynismus 55

Machtpolitik und Kontinentaler Imperialismus: zu den ... · gang trug dazu bei, dass das Kaiserreich fortan an keiner internationa-len Konferenz mehr teilnahm. Die so sehr dem Machtgedanken

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MACHTPOLITIK UND KONTINENTALER

IMPERIALISMUS

ZU DEN MOTIVEN DER DEUTSCHEN

BELGIENPOLITIK 1914-1918

von

Dr.Frank WENDE

Schwächere Nachbarn werden unterworfen undeinverleibt oder irgendwie sonst abhängig gemacht,nicht, damit sie selbst nicht mehr feindlich auftre-ten, denn das ist die geringste Sorge, sondern da-mit sie nicht ein anderer nehme oder sich ihrer po-litisch bediene; man knechtet den möglichen poli-tischen Verbündeten eines Feindes.

Jakob Burckhardt,Weltgeschichtliche Betrachtungen

"Wäre der Vernunft irgend eine Macht zuzutrauen, so müsstenwir uns ... verständigen, sur le dos du Beige." — Dieser Satz ent-stammt einer Tagebuchnotiz aus dem Oktober 1914, die Rede ist voneiner Verständigungsmöglichkeit zwischen Deutschland und Frank-reich. Aber nicht dieser hypothetische Sachverhalt lässt den heutigenLeser stutzen, sondern die frappierende Selbstverständlichkeit mitder hier der Begriff "Vernunft" aus den allgemein menschlichen Be-zügen gelöst und in den Dienst der eigenen Interessenlage gestelltwird. Die Vernunft wird geWissermassen nationalisiert, denn voneinem Belgier war wohl kaum zu erwarten, dass er solchen Wortenzugestimmt und eine Einigung, wie sie hier reflektiert wurde, ausge-rechnet dem Walten der Vernunft zugeschrieben hätte. Die Art, wiehier eine offensichtlich innerlich akzeptierte und gar nicht mehr inFrage gestellte Gewalthandlung — die Vergewaltigung eines souve-ränen Staates — mit dem Prädikat "Vernunft" versehen wurde,hätte ihn stattdessen wahrscheinlich eher veranlasst, von Zynismus

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zu sprechen und von einer Verachtung völkerrechtlicher Grundsätze,als Ergebnis ungehemmten Grossmachtdenkens. Gewiss ein zutreffen-des Urteil, — und dennoch will der Mann, von dem die zitiertenWorte stammen, nicht recht in die Schablone eines rücksichtslosenMachtpolitikers passen. Es war Kurt Riezler, der enge Vertraute desReichskanzlers Bethmann Hollweg, der mit dieser Notiz das kurzeResumé eines Gespräches mit dem Kanzler gab (1). Es ist nicht ganzersichtlich, ob Riezler dabei Worte Bethmanns wiedergab oder seineeigene Auffassung, aus dem Zusammenhang lässt sich jedoch ent-nehmen, dass zwischen beiden in dieser Frage Einmütigkeit herrsch-te. Einig waren sie sich auch in anderen Punkten, so etwa in ihrerAbneigung gegenüber Tirpitz, einer Abneigung, die bei RiezlerFormen blanken Hasses gegenüber dem "Vater der Lüge", wie er ihnnur nannte, annahm (2). überhaupt war der engstirnige preussischeMilitarismus, verkörpert besonders durch die OHL Hindenburg-Luden-dorff — die "Provinzialirrenanstalt" — (3) bevorzugte Zielscheibe vonRiezlers Kritik; am 12.1.1917 notierte er : "Die wenigen Sehenden inDeutschland haben insgeheim ein Kriegsziel, das ist die Vernichtungdes preussischen Militarismus... Niemand darf es sagen, weil es dasenglische Kriegsziel ist". (4)

Nein, Riezler lässt sich nicht einreihen in die Übergrosse Mengederer, die der Kriegsausbruch in einen Machtrausch versetzt hatte.Zu deutlich sprechen Pessimismus und Zweifel aus seinen Aufzeich-nungen, nie verlässt ihn der Blick für die Schrecken des Krieges. Unddennoch verraten seine eingangs zitierten Worte, dass auch er, unge-achtet seiner Skepsis und seiner meilenweiten Distanz zu den annexi-onistischen Rasereien alldeutscher Kreise, einem Grossmachtdenkenverhaftet bleibt, das anderen Möglichkeiten der Konfliktlösungkeinen Raum lässt, ja, zu dem Alternativen gar nicht mehr gesehenwerden. Dabei war Riezler keineswegs ein Einzelfall. Er steht hiernur als signifikantes Beispiel für eine Haltung, die im Bewusstseinweiter Kreise der deutschen Öffentlichkeit vorherrschte. Die Stel-lungnahmen zu der sogenannten "belgischen Frage", also zu dem

(1) Kurt RIEZLER, Tagebücher, Aufsätze, Dokumente, Hg. von K.D. Erdmann,Göttingen 1972, S. 216.(2) Ebd., S. 47,77.(3) Ebd., S. 437.(4) Ebd., S. 398.

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Motive der deutschen Belgienpolitik

künftigen Schicksal Belgiens, waren von der Einstellung geprägt, dassdieses Land "zur Verfügung stand", zum Objekt deutschen Handelnsgeworden war. Wie kam es zu dieser Selbstverständlichkeit, die anRiezlers Worten so schockierend wirkt und die dennoch im deut-schen Bewusstsein eine Art consensus omnium darstellte ?

Die Politik des zweiten deutschen Kaiserreiches ist in denletzten Jahren in besonderem Masse Gegenstand der deutschen Histo-riographie gewesen. Neu ist daran insbesondere der von H.-U. Wehlervorgetragene sozialimperialistische Ansatz, bei dem sich die Bemü-hungen darauf konzentrieren, die innenpolitischen Wurzeln desdeutschen Imperialismus freizulegen. Man begnügt sich nicht mehrmit der blossen Beschreibung des Phänomens Imperialismus, sondernstellt die Frage cui bono ? Das imperialistischer Politik zugrundeliegende vielfältige Interessengeflecht soll aufgedeckt werden. Danachwar es die "dezidierte Absicht" der auf Expansion gerichteten deut-schen Politik, den "gesellschaftlichen Status quo und das politischeMachtgefüge durch einen erfolgreichen Imperialismus zu legitimie-ren" und "systemgefährdende Reformbestrebungen — wie sie dieemanzipatorischen Kräfte des Liberalismus oder der organisiertensozialistischen Arbeiterbewegung verkörperten — nach aussen abzu-lenken". (5)

Die Vertreter der Theorie eines solchen "Sozialimperialismus"können diese durch eine stattliche Reihe von guten und treffendenArgumenten stützen (6), wenn auch die Vehemenz, mit der sie ihreThesen vortragen, zeitweilig den Eindruck aufkommen lässt, dieFührungsschichten des deutschen Kaiserreiches hätten, als sie dersteigenden "roten Flut" der Sozialdemokratie nicht mehr andersHerr zu werden wussten, schließlich als letztes Mittel den Impe-rialismus erfunden. Letztlich beweisen Wehlers und seiner Mitstreiter

(5) Hans-Ulrich WEHLER, Das Deutsche Kaiserreich 1917-1918, 2. Aufl. Göt-tingen 1975, S. 173.(6) Vgl. dazu besonders H.-U. WEHLER, Bismarck und der Imperialismus, 3.Aufl. Köln 1972; W.J. MOMMSEN (Hg.), Der moderne Imperialismus, Stuttgart1971; Volker R. BERGHAHN, Der Tïrpitz Plan. Genesis und Verfall einer innen-politischen Krisenstrategie unter Wilhelm II., Düsseldorf 1971 sowie die inH.-U. WEHLER (Hg.), Imperialismus, 3. Aufl. Köln 1975 verzeichnete Litera-tur. — Kritisch zur Theorie des Sozialimperialismus : W. BAUMGART, Der Im-perialismus. Idee und Wirklichkeit der englischen und französischen Kolonial-expansion 1880-1914, Wiesbaden 1975, S. 99ff.

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Lehrsätze nichts anderes als die Wirksamkeit eines uralten Prinzips po-litischen Handelns : innenpolitische Schwierigkeiten werden, wenneine Lösung nicht möglich erscheint, durch aussenpolitische Aktivitätaufzufangen und abzulenken versucht. (7)

Den Hintergrund der Auseinandersetzungen um die These vomSozialimperialismus bildet denn auch der Streit um den Primat vonInnen- oder Aussenpolitik, der teilweise mit einer Erbitterung ausge-fochten wird, als liege allein in dem einen oder dem anderen derSchlüssel zum Verständnis der Geschichte überhaupt. (8) Es ist keineFrage, dass die Motive imperialistischer Politik auch in strukturellenDivergenzen des Kaiserreiches zu suchen sind, und mittels der "Inte-grationsklammer" Imperialismus seitens der deutschen Führungs-schicht der Versuch unternommen wurde, die auseinandertreibendengesellschaftlichen Gruppierungen noch einmal zusammenzuzwingen,um auf diese Art das Gesellschaftsgefüge des Reiches und damit dieeigene Stellung zu konservieren. Diese These kann jedoch nur dieWahl des Mittels erklären, nicht das Mittel selbst. Dazu ist der Blicküber die Grenzen notwendig, wo die gleichen Phänomene in anderemZusammenhang begegnen. (9) Die internationale Interdependenzkann bei der Deutung des Imperialismus nicht vernachlässigt werden,ist sie doch dessen elementarer Bestandteil. Eben dies geschieht je-doch bei der These vom Sozialimperialismus, die, ebenso zutreffendwie einseitig, nur einen Teilbereich des Gesamtphänomens zu erklä-ren vermag. Doch selbst in dieser Einseitigkeit ist sie für unsere Fra-gestellung noch fruchtbar. Denn zweifellos hat die primär auf innen-politischem Kalkül gegründete breite Propagierung imperialistischerIdeen ~ ihr "sozialer" Einsatz also —, deren tiefes Eindringen in dasgesamte Gesellschaftssystem bewirkt. Die Propaganda für die Flot-

(7) Zur diesem Ergebnis kommt Wehler selbst, wenn er schreibt : "Sozialimpe-rialismus war die moderne, in entscheidendem Masse sozialökonomisch motivier-te Form einer alten... Herrschaftstechnik : um der Bewahrung des sozialen undpolitischen status quo willen die inneren Bewegungskräfte und Spannungen nachaussen abzulenken." WEHLER, Imperialismus, S. 86.(8) Vgl. dazu H.-U. Wehlers Kritik an Andreas HUlgruber : "Moderne Politikge-schichte oder 'Grosse Politik der Kabinette ?' ", in : Geschichte und Gesell-schaft, Jg. 1, H. 2/3, S. 344ft(9) Dazu W. BAUMGART,a.a.O., S. 127ff.

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tenbewegung stellte beispielsweise einen solchen gezielten Versuchdar, breite Kreise der Bevölkerung für eine deutsche Expansionspoli-tik zu begeistern — wie sich zeigte mit einem Erfolg, der schliesslichbis in Kreise der Sozialdemokratie hinein spürbar wurde. (10)

Imperialismus aber bedeutete Weltpolitik, und die von KaiserWilhelm zur 25jährigen Wiederkehr des Tages der Reichsgründung,am 18.1.1896 verkündete Devise "Aus dem Deutschen Reich istein Weltreich geworden" hatte in der Nation vielfältigen Widerhall ge-funden. Die Überzeugung, dass Deutschland nunmehr Weltpolitik be-treiben müsse, um den Schritt von der Grossmacht, die es bereitswar, zur Weltmacht zu tun und sich damit den viel zitierten "Platz ander Sonne" zu sichern, fand ihren fest verankerten Platz im Gefügedeutschen Selbstverständnisses. "Ohne eine starke Flotte", so eindem Reichs-Marine-Amt nahestehendes Jahrbuch, "wird Deutschlandam Ende des 20 Jahrhunderts keine Kolonien mehr besitzen können,ohne Kolonialbesitz aber in seinem kleinen Gebiet ersticken..." (11)

Der Durchbruch zur Weltmachtstellung erschien der Reichslei-tung unerbittliche Notwendigkeit. Doch vertraten diesen Standpunktnicht allein eine kleine Führungsschicht und eine der Zahl nachebenso kleine Klasse der Grossbourgeoisie. Deren Überzeugungvon der Notwendigkeit profitabler Absatzmärkte in Übersee wardie Initialzündung für das Aufkommen imperialistischer Ideengewesen, blieb aber keineswegs allein auf sie beschränkt."Weltmachtpolitik" als nationale Verpflichtung angesichts der"Verantwortung vor der Geschichte" — diese Forderung Max Webersin seiner akademischen Antrittsrede in Freiburg im Jahre 1895 re-flektiert treffend die in allen Bevölkerungsschichten anzutreffendeZeitstimmung. (12) Überschäumendes Kraftgefühl und ein extremer,militant aufgeladener und mit sozialdarwinistischen Zügen durch-

(10) Fritz FISCHER, Krieg der Illusionen, 2. Aufl. 1969, S. 367. Zur Agitationfür die Flottenvermehrung und speziell des Flottenvereins s. auch Volker R.BERGHAHN, Rüstung und Machtpolitik, Düsseldorf 1973, S. 21f.(11) Zitiert nach V.R. BERGHAHN, Rüstung und Machtpolitik, S. 21f.(12) Vgl. Wolfgang J. MOMMSEN, Max Weber und die deutsche Politik 1890-1920,2. Aufl. Tübingen 1974, S. 74.

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setzter Nationalismus (13) — die pervertierte Form des Nationalge-fühls der liberal-demokratischen Epoche — verwiesen dabei auf dieMachtpolitik als das alleinige Mittel zur Durchsetzung dieses Welt-machtstrebens. Macht und Gewalt sind zwar seit Urzeiten stets dieultima ratio politischen Handelns gewesen, doch findet sich in derdeutschen Geschichte nie zuvor eine derartige Häufung uneinge-schränkter Bekenntnisse zur Gültigkeit des Machtprinzips — esscheint fast, als habe hier eine zweifelhafte Entdeckerfreude denBlick für jegliche Relation vernebelt. Gerade diese Verabsolutierungdes Machtgedankens zu einem Axiom politischen Handelns abermachte ihn universal einsetzbar und sicherte ihm breite Wirksam-keit, indem sie ihn über klassengebundenes Interesse zu erhebenschien. Die Zeit nahe, so schrieb etwa der Historiker Otto Hoetzschim Januar 1914, wo es nur Herren und Knechte unter den Völkernder Erde geben werde. In den bevorstehenden Kämpfen werde es"keine geschichtlichen Rechte geben; dieses Recht wird in ihnen ha-ben, wer die Macht hat." (14) Solche Sätze waren mehr als ein per-sönliches Glaubensbekenntnis, auch die Diplomatie des Reicheszeigte sich von dieser Haltung geprägt. Im zwischenstaatlichen Ge-spräch wurde immer weniger ein Mittel zur Entschärfung von Kon-flikten gesehen, als vielmehr die Gelegenheit zur Demütigung desPartners und zur Demonstration eigener Stärke. Die Konferenz vonAlgeciras, 1906, war unter diesem Gesichtspunkt von deutscher Seiteaus initiiert worden, ihr für diesen Zweck so unbefriedigender Aus-gang trug dazu bei, dass das Kaiserreich fortan an keiner internationa-len Konferenz mehr teilnahm. Die so sehr dem Machtgedanken ver-

(13) Vgl. hierzu die ausseroidentliche Wirkung, die Friedrich von BERNHARDISim Frühjahr 1912 erschienenes Buch Deutschland und der nächste Krieg in derdeutschen Öffentlichkeit hervorrief. Bernhardis zentrale These, wonach derKampf ums Dasein zwischen den Völkern ebenso unausweichlich wie notwendigfür den nationalen Bestand war, führte ihn zu einem pointiert machtpolitischenProgramm als verpflichtender politischer Linie. Das Buch erschien 1913 bereitsin der 6. Auflage. — Dazu F. FISCHER, Krieg der Illusionen, S. 343f; K. WER-NECKE, Der Witte zur Weltgeltung, Düsseldorf 1970, S. 160ff; H.-U. WEHLER,Kaiserreich, S. 180f; H.-G. ZMARZLIK, "Der Sozialdarwinismus in Deutschlandals geschichtliches Problem", in : Vierteljahreshefte für Zeilgeschichte, ig. 1962,S. 261ff.(14) Otto HOETZSCH, Politik im Weltkrieg, Bielefeld 1916, S. 9.

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haftete Weltpolitik war letztlich die Ursache der zunehmenden Isolie-rung Deutschlands, dort freilich empfunden als gezielte "Einkrei-sung". Denn die Bedrohung, die in dem selbstsicher vorgetragenenMachtanspruch des Reiches für die Nachbarstaaten lag, begann aufjenes zurückzuwirken. "Allein gegen eine Welt von Feinden" zustehen, wurde zu einer Grunderfahrung in der politischen Existenzder Deutschen, schon lange bevor dies tatsächlich der Fall war. Einpermanentes Krisenbewusstsein begann sich auszubreiten, dessen ste-tig zunehmender Druck sich dann spontane Entladung verschaffte indem "Augusterlebnis" von 1914, der überschäumenden Begeisterungin allen Bevölkerungsschichten über den als Befreiung empfundenenKriegsausbruch. Scheinbar zwingend aber verwies dieses Krisenbe-wusstsein wiederum auf den Machtgedanken : nur die Vervollkomm-nung der Machtposition schien existentielle Sicherung zu garantieren.Der subjektiv als durchaus berechtigt empfundene defensive Einsatzmachtpolitischer Forderungen, wie er für die deutsche Kriegszielpoli-tik charakteristisch werden sollte, hat in dieser Grundhaltung seineWurzeln. Die Machtpolitik erwies sich so als circulus vitiosus; An-sporn und Zuflucht zugleich bildete die Macht das Agens der deut-schen Politik, das kein anderes Prinzip mehr neben sich aufkommenHess. Die Erweiterung der ökonomischen wie militärischen Machtba-sis erschien als die alleinige erfolgversprechende Möglichkeit zur Si-cherung des Bestehenden und zur Bewältigung der inneren wie äusse-ren Krisen. (15)

Nach dem Modell des "klassischen" Imperialismus führte derWeg zu dieser Machterweiterung über die koloniale Expansionzwecks Schaffung neuer Absatzmärkte für die prosperierende Wirt-schaft. Denn Stärkung der Wirtschaft bedeutete Stärkung der Macht-stellung, dieser enge Kausalzusammenhang wurde auch damals bereitsklar erkannt. "Wirtschaft und Macht sind auf das Innigste vermählt,und die Macht gewinnt dabei noch sicherer und sichtbarer als dasWirtschaftsleben", mit diesen Worten umriss der Historiker ErichMarcks diesen Sachverhalt in einem Vortrag aus dem Jahr1903 (16). Schon vor der Jahrhundertwende war jedoch neben denüberseeischen Kolonien auch der europäische Raum als wirtschaft-

(15) Vgl. Hannah ARENDT, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frank-furt 1955, Kapitel : Die politische Weltanschauung der Bourgeoisie, besondersS. 237 ff.(16) F. FISCHER, Krieg der Illusionen, S. 76.

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liches und politisches Betätigungsfeld in das Gesichtsfeld der deut-schen Politik geraten und hatte sich neben die Pläne zur Bildungeines Kolonialreiches geschoben. (17) Ausgangspunkt war dabei dieÜberlegung, eine mitteleuropäische Zollunion unter deutscher Füh-rung als Gegengewicht gegen die Wirtschaftsimperien der USA, Russ-lands und des britischen Empire zu schaffen. Nicht nur auf alldeut-scher Seite wurde dieser Gedanke begeistert aufgegriffen, sondern erfand seinen Weg auch bis in Regierungskreise und zum Kaiser, dersich zeitweise bereits als "Leiter der Politik der Vereinigten Staatenvon Europa" sah. (18) Doch gravierender als solche dem leicht ent-flammbaren Hirn des Kaisers entsprungenen Phantasmagorien wirktesich die Tatsache aus, dass der europäische Kontinent von nun an indie Entwürfe für eine Verfestigung der deutschen Machtstellungmite inbezogen wurde. Dabei blieb der Blick auch weiterhin stets aufden Kolonien haften; nicht als Alternative, sondern als die Vorausset-zung für die Schaffung eines Kolonialreiches wurde ein europäischesImperium konzipiert, als kontinentale Basis für die maritime Expan-sion. (19) Dieser Einbezug des europäischen Raums in die Katego-rien imperialistischen Denkens ist das Wesensmerkmal für den konti-nentalen Imperialismus deutscher Provenienz und unterscheidet ihnvon den Hegemoniebestrebungen anderer europäischer Staaten ausden vorangehenden Jahrhunderten.

Wir kehren nunmehr zurück zu unserer Ausgangsfrage nach denGründen für die Selbstverständlichkeit, mit der Belgien zum Objektdeutscher Kriegszielplanung wurde. Belgien spielte in den deutschenÜberlegungen während der Julikrise und beim Entschluss zur Kriegs-führung keinerlei Rolle, es war nicht per se vorbestimmtes Kriegsziel.Und dennoch wurde es Kriegsziel, ebenso schlagartig und auf Grundeines ähnlichen Mechanismus, wie es unmittelbar nach Kriegsaus-bruch militärischer Schauplatz wurde. Letzteres war das Resultat desSchlieffenplanes, zu dem es für die militärische Führung keine Alter-native gab. Die Zwangsläufigkeit, mit der Belgien zum Kriegszielwurde, erklärt sich dagegen aus der Überzeugung, der Kampf umDeutschlands Etablierung als Weltmacht und damit um die Entschei-

(17) Ebd., S. 69ff.(18) Ebd., S. 201f.(19) U.a. gehörte auch Riezler zu den Vertretern dieser Auffassung. Dazu dieEinleitung K.D. ERDMANNS in RIEZLER, Tagebücher, S. 56. Vgl. auch KlausHILDEBRAND, Deutsche Außenpolitik 1933-1945. Kalkül oder Dogma ?,Stuttgart 1971, S. 15.

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dung über seinen künftigen Bestand habe begonnen. Jetzt galt es, diekontinentale Basis für die erstrebte Weltmachtstellung zu gewinnen,darin lag aus deutscher Sicht die eigentliche Sinngebung des Krieges.Rücksichtnahme auf die Existenz von anderen Staaten liess einesolche am machtstaatlichen Prinzip orientierte Perspektive nicht zu,am allerwenigsten auf die Existenz von Kleinstaaten, denen — undhier zeigt sich wieder die für den Imperialismus eigentümliche Ver-quickung von Machtgedanken und Sozialdarwinismus — als den"Schwächeren" jede Daseinsberechtigung überhaupt abgesprochenwurde. Sehr schnell fanden sich Stimmen, die die ideologischeRechtfertigung für dieses Verhalten lieferten, wobei, wie schon im19. Jahrhundert etwa bei Treitschke oder Niebuhr, die kleinstaatlicheVergangenheit des Reiches eine Art Trauma zu sein schien, dem mitder Verachtung des kleinstaatlichen Prinzips begegnet wurde. BeiMax Weber treffen wir auf diese Haltung, (20) der Historiker Her-mann Oncken schrieb von den "Lebensgeschicken grosser Nationen",die "hinwegschreiten müssten über Existenzen, die sich nicht selbstschützen..., sondern schmarotzerhaft sich nähren von den Gegensät-zen der Grossen", (21) und an anderer Stelle hiess es gar : "Ein soge-nannter Kleinstaat ist gar kein Staat, sondern eine geduldete Gemein-schaft, die nur in lächerlicher Weise affektiert, ein Staat zusein..." (22). Die kleinen Staaten wurden somit zu Figuren degradiertauf dem Schachbrett der Grossen, die bei deren Auseinanderset-zungen beliebig eingesetzt und geopfert werden konnten. Belgien wardas erste Opfer dieser Grossmachtideologie, welcher der Krieg als zu-sätzliche Rechtfertigung diente. In der Offenlichkeit spielte dabei dieEmpörung über die für wahr gehaltenen Franktireurereignisse gewisseine grosse Rolle bei den jäh hervorbrechenden Forderungen gegen-über Belgien; in den internen Besprechungen innerhalb der Regierungsowie in Wirtschafts- und Militärkreisen wurde dessen mit keinemWort gedacht. Wenn Belgien mit allen Zeichen der Priorität in dendeutschen Kriegszielkatalog aufgenommen wurde, so vielmehr des-halb, weil es bei der Errichtung einer mitteleuropäischen Machtbasisfür das Reich einen Grössenfaktor erster Ordnung darstellen musste.Die Selbstverständlichkeit, mit der das Schicksal des Landes den

(20) W.J. MOMMSEN, Max Weber, S. 10.69.(21) Zitiert nach Klaus SCHWABE, Wissenschaft und Kriegsmoral, Göttingen1969, S. 230, Anm. 73.(22) Adolf LASSON, Kultur und Krieg, 1915. Zitiert ebd.

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deutschen Planungen für den Kriegsausgang untergeordnet wurde, se-hen wir mithin als die Konsequenz eines die Reichspolitik bestim-menden kontinentalen Imperialismus. Die Gültigkeit dieser These sollim Folgenden anhand des Verlaufs der deutschen Belgienpolitik wäh-rend der Kriegsjahre überprüft werden.

Unter Belgienpolitik verstehen wir die Gesamtheit der im poli-tischen Bereich bestehenden Ansichten und Bestrebungen, derenZielpunkt das Verhältnis zu dem belgischen Nachbarstaat war. "Poli-tischer Bereich" sind für uns nicht nur die politischen Entscheidungs-träger — hier also Kaiser und Reichsleitung — sondern gleichennassendas politische Vorfeld. Eine politische Entscheidung wird niemalsautonom gefällt, sondern vollzieht sich in Abhängigkeit von den be-stehenden politischen Kräften und Institutionen, die ihrerseits be-müht sind, ihren Einfluss auf den Ausgang dieser Entscheidung wir-ken zu lassen. Die Summe dieser Faktoren—Wirtschaftsverbände, Par-teien, Militär etc. — bezeichnen wir als das politische Vorfeld. Dabeiliegt es in der Natur der Sache, dass die Einflussmöglichkeiten ausdem politischen Vorfeld heraus zunehmen, je schwächer die Positionder Entscheidungsträger ist. Bei unserem Überblick über die deutscheBelgienpolitik 1914-1918 werden wir uns zunächst dem politischenVorfeld zuwenden, um dann die Haltung der politischen Entschei-dungsträger zu skizzieren. Dabei geht es uns nicht um einen Katalogvon Einzelforderungen (23), sondern wir fragen nach den Motiven,die hinter der Formulierung dieser Forderungen standen.

Als die hemmungslosesten Vertreter einer Annexionspolitik tra-ten, fast möchte man sagen "naturgemäss", die Alldeutschen auf. DieDenkschrift ihres Vorsitzenden Heinrich Class lag bereits im Septem-ber 1914 vor, sie und die Denkschrift des Deutschen Wehrvereinsvom März 1915 bilden die wichtigsten Dokumente alldeutscherKriegszielvorstellungen. So masslos diese ihrem materiellen Gehaltnach im Einzelnen waren, so entspricht die zugrunde liegende allge-meine Zielsetzung durchaus den in der Nation vorherrschenden Er-wartungen. Der Krieg müsse zu dem Ergebnis führen, so hiess es, dassdas Reich "nie mehr in aller Zukunft gleich grosser Gefahr ausge-setzt" sein dürfe, wie es jetzt der Fall war, diese "äussere Sicherung"

(23) Dazu s. im Einzelnen : Frank WENDE, Die belgische Frage in der deutschenPolitik des Ersten Weltkrieges, Hamburg 1969, S. 40ff.

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erfordere die Schwächung der Feindmächte "indem wir ihnen Landabnehmen, um ihre politische Macht zu mindern, das abzunehmendeLand ist in Europa vor unseren eigenen Toren und über See in denfremden Kolonialgebieten zu suchen...". Für Belgien bedeutete diesdie Einverleibung "kraft des Rechtes der Eroberung". (24) Ganzähnliche Motive bewogen Kronprinz Rupprecht von Bayern zu einemdetaillierten Annexionsplan. Im Vordergrund stand auch für ihn diemilitärische Behauptung Deutschlands in Europa, die nur erreichtwerden könne, wenn "Deutschland militärisch vorteilhafte Grenzenerhält und die Macht seiner Feinde ganz empfindlich geschwächtwird." Durch die Annexion Belgiens aber werde England das "Ein-fallstor nach Deutschland" entzogen, die einzige Möglichkeit, es inEuropa empfindlich zu treffen. (25) Den Annexionsforderungen sei-nes Vaters, des bayrischen Königs Ludwig III., lagen dagegen vor-wiegend wirtschaftliche Motive zugrunde. Von einer EingliederungBelgiens in das Reich und dem daraus resultierenden Zugang zumHafen von Antwerpen mittels eines bereits vor Kriegsausbruch pro-jektierten Rhein-Schelde-Kanals versprach er sich einen besseren An-schluss Süddeutschlands an den Weltverkehr und damit günstigereKonditionen für seine industrielle Entwicklung. (26) Anders als Rup-precht, der an eine Aufteilung Belgiens unter den deutschen Bundes-staaten dachte, schloss sich Ludwig dem Vorschlag seines Minister-präsidenten Hertling an, dem als Vorbild für die künftige staatsrecht-liche Stellung Belgiens "eine preussische Kronkolonie nachenglischem Muster" vorschwebte. (27)

Dieses dem britischen Imperialismus entlehnte Modell, das dasRückwirken kolonialen Denkens auf kontinentale Kriegszielvorstel-lungen deutlich dokumentiert, begegnet auch an anderer Stelle. DerBonner Nationalökonom Hermann Schumacher schlug in seiner inZusammenarbeit mit der rheinisch-westfälischen Schwerindustrie ent-standenen Denkschrift vom September 1914 für ein annektierties

(24) Denkschrift von Heinrich Class, hier zitiert nach : Weltherrschaft im Visier.Dokumente zu den Europa- und Weltherrschaftsplänen des deutschen Imperialis-mus von der Jahrhundertwende bis Mai 1945. Ostberlin 1975, S. 92f.(25) Karl-Heinz JANSSEN, Macht und Verblendung. Kriegszielpolitik derdeutschen Bundesstaaten 1914-1918. Göttingen 1963, S. 293ff.(26) Ebd., S. 27f.(27) Ebd., S. 60.

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Belgien gleichfalls den Status einer "self governing colony" vor, umdas Land "der kolonisierenden und nationalisierenden Tätigkeit" derGrossindustrie zu öffnen. Wichtigstes Motiv für diesen Schritt auchhier : die "Sicherung unserere Machtstellung gegenüber England",worin die "Grundlage für alle Forderungen zur Hebung unserer wirt-schaftlichen Schaffenskraft" zu sehen sei. (28)

Auf einer Sitzung des Unterausschusses des Kriegsausschussesder deutschen Industrie im November 1914 war es Gustav Strese-mann, der ebenfalls vorschlug, "Belgien als deutsche Kolonie zu be-handeln", womit er den Einwänden einer Minderheit zu begegnenhoffte, eine Annektion werde zu innenpolitischen Schwierigkeitenund unerwünschter Konkurrenz führen. Unterstützung fand er dabeibei Alfred Hugenberg, der ganz auf dem Boden sozialimperialistischerArgumentation stand, wenn er auf das "sehr gesteigerte Machtgefühlder Arbeiter und Arbeitergewerkschaften" nach dem Krieg hinwiesund deshalb die Annexion Belgiens befürwortete, "um innerenSchwierigkeiten vorzubeugen, die Aufmerksamkeit des Volkes abzu-lenken und der Phantasie Spielraum zu geben in bezug auf die Erwei-terung des deutschen Gebietes." (29)

Nach den Vorstellungen der 6 Wirtschaftsverbände in ihrer Ein-gabe an den Reichskanzler vom 20.5.1915 sollte Belgien in Zukunft"wegen der notwendigen Sicherung unserer Seegeltung, wegen unse-rer militärischen und wirtschaftlichen Zukunftsstellung gegenüberEngland, und wegen des engen Zusammenhanges des wirtschaftlichso bedeutenden belgischen Gebietes mit unserem Hauptindustriege-biet, militär- und zollpolitisch... der deutschen Reichsgesetzgebungunterstellt werden." Auch diese Forderungen basierten auf der allge-meinen Überzeugung, der Krieg müsse "politisch, militärisch-maritimund wirtschaftlich diejenigen Machterweiterungen" bringen, die "un-sere grössere Starke nach aussen gewährleisten", nicht zuletzt, da einsolcher Erfolg "auch für die innere Politik in kommenden Friedens-zeiten nutzbar gemacht werden kann." (30) Ahnliche Bekenntnissezur Sicherung der deutschen Machtstellung in Europa stellten diebürgerlichen Parteien, voran Konservative und Nationalliberale, anden Anfang ihrer Kriegszielforderungen und leiteten von daher die

(28) W. BASLER, Deutsche Annexionspolitik in Polen und im Baltikum, Ost-berlin 1962, S. 367ff.(29) Weltherrschaft im Visier, S. 96.(30) Salomon GRUMBACH, Das annexionistische Deutschland. Lausanne 1917,S. 123f.

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Motiven der deutschen Belgienpolitik

Notwendigkeit zu politischer, militärischer und wirtschaftlicher An-gliederung des im Westen zu diesem Zweck benötigten Gebietes, inerster Linie Belgiens, ab. (31) Zu den Parteigängern einer AnnexionBelgiens ist schliesslich auch noch Generalgouverneur von Bissing zurechnen. Nachdem er in Februar 1915 bereits als eine Art Richt-linie für die in Belgien tätigen Behörden die Devise ausgegeben hatte,es sei notwendig "sich immer mehr an den Gedanken (zu) gewöhnen,dass Belgien in irgend einer Form zur Machterweiterung Deutsch-lands benutzt wird" (32), führte er diesen Gedanken näher aus in dergrossen Denkschrift für den Kaiser vom April 1915, in der er den Be-sitz Belgiens als "Lebensfrage für die deutsche Zukunft" bezeich-nete. (33) In der Auffassung, dass Deutschland im Hinblick aufkünftige Auseinandersetzungen mit Frankreich und England seinePosition verbessern müsse, Belgien dabei aber einen unverzichtbarenVorposten darstellte und Deutschland daher "jetzt den Krieg um denBesitz Belgiens führt", traf er sich mit führenden Militärs wie Falken-hayn und Tirpitz. Für beide stand die Bedeutung Belgiens für die Er-weiterung der deutschen militärischen Machtbasis unverrückbar fest.Falkenhayn hielt das Land als Aufmarschbasis gegen Frankreich undEngland für "unbedingt notwendig" (34), und Tirpitz begründeteseine Forderung nach Angliederung Belgiens an das Reich sowie Be-sitz der belgischen Küste und Festungen ausdrücklich mit der anzu-strebenden Machtposition Deutschlands gegenüber England als Vor-aussetzung für die künftige Weltmachtstellung : "Ohne Festhaltender durch Belgien sich ergebenden Entwicklungsmöglichkeiten", soteilte er dem Reichskanzler mit "würde ich den Krieg in seinerBedeutung für Deutschlands Weltmachtstellung für verloren, mit Bel-gien für gewonnen erachten". (35)

Belgien als ein "Eckpfeiler beim Aufbau der deutschen Welt-machtstellung" — mit diesen Worten umschrieb der Leiter der Poli-tischen Abteilung in Brüssel, Lancken, die Bedeutung des Landes ineiner Denkschrift über die "Gesichtspunkte für die Politik in Bel-

(31) F. WENDE, Die belgische Frage, S. 43f.(32) Bissing an Sandt, 20.2.1915; Geh. Staatsarchiv München, MA I, Nr. 959,Produkt 5a.(33) F. WENDE, Die belgische Frage, S. 38.(34) Falkenhayn an Bethmann Hollweg, 18.3.1915; DZA Potsdam, Rk II, Nr.2442/11.(35) Zitiert nach F. FISCHER, Griff nach der Weltmacht, 3. Aufl., Düsseldorf1964, S. 127.

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gien," die er auf Veranlassung Bethmann-Hollwegs verfasste. (36)Sinngemäss finden sie sich als Präambel in nahezu allen Belgien be-teffenden Niederschriften. Nicht nur bei den Anhängern einer An-nexion des Landes, zu denen auch das Gros der deutschen Hoch-schullehrer gehörte, (37) sondern auch bei Annexionsgegnern wurdedieser Gedanke zu einer Art Glaubenssatz, der keinem Zweifel mehrunterlag. Der preussische Innenminister Loebell etwa wollte zwar voneiner Annexion nichts wissen, weil er die Tragweite eines solchenSchrittes für Englands Kriegswillen erkannte sowie innenpolitischeSchwierigkeiten befürchtete, jedoch hinderte ihn dies nicht an derFeststellung : "Wir kämpfen für unsere weltpolitische Zukunft. Zuihrer Sicherung gehört naturgemäss in erster Linie eine ausreichendeterritoriale und bündnispolitische Eindeckung auf dem Kontinent...Sie gebietet eine Beendigung des als unhaltbar erwiesenen belgischenZustandes". (38)

Bei aller Bereitwilligkeit, Belgien unverändert herauszugeben,mochte selbst der der SPD nahestehende "Bund Neues Vaterland",im November 1914 als Kampfgruppe gegen die alldeutsche Kriegsziel-bewegung gegründet, nicht auf "reelle Garantien für die Sicherungunserer Machtstellung" verzichten; dies zu erreichen sollten die be-setzten Gebiete, in erster Linie Belgien, als 'Tfand- oder Kompensati-onsobjekte" dienen. (39) Diffiziler war die Haltung der SPD selbstzur Kriegszielfrage und zu Belgien. Die Partei hatte jede Schuld amKriegsausbruch von sich gewiesen und den Krieg nicht unzutreffendals die "Folgen der imperialistischen Politik" bezeichnet. Nichtsde-stoweniger hatte sie der Bewilligung der Kriegskrediete einstimmigzugestimmt. Die Pflicht zur Landesverteidigung war stets Bestandteildes Parteiprogramms gewesen, und der Verteidigungsfall schien schondadurch gegeben zu sein, dass das zaristische Russland als Haupt-gegner auf dem Felde erschien. (40) Der in der Öffentlichkeit sich

(36) Lancken an Bethmann Hollweg, 24.4.1917; SCHERER GRUNDEWALD,VAllemagne et les Problèmes de la Pave pendant la Première Guerre mondiale,Bd. 2, Nr. 86, S. 143. — Vgl. auch Lanckens Gutachten über die "an Belgien zustellenden Friedensforderungen" vom 10.12.1916; AA Bonn, Wk20a., Bd. 1.(37) K. SCHWABE, Wissenschaft und Kriegsmoral, S. 85.(38) Zitiert bei E.O. VOLKMANN, Die Annexionsfragen des Weltkrieges, Berlin1929, S. 187ff.(39) S. GRUMBACH, Das annexionistische Deutschland, S. 4071(40) Susanne MILLER, Burgfrieden und Klassenkampf. Die deutsche Sozialde-mokratie im 1. Weltkrieg, Düsseldorf 1974, S. 69f.

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vollziehende Umschwung, der mehr und mehr, England zum verhass-ten Hauptfeind werden Hess, wurde jedoch auch innerhalb der Sozial-demokratie mitvollzogen, und auf dem rechten Flügel fand sich imKreis um die "Sozialistischen Monatshefte" schon bald eine Gruppie-rung zusammen, die den Sinn des Krieges in der Brechung vonEnglands Weltmachtstellung sah und den Zusammenschluss der euro-päischen Festlandstaaten gegen die englische Wirtschaftshegemoniepropagierte. (41) Die "Bildung eines kontinentaleuropäischen Wirt-schaftsimperiums, das uns vor britischen Eingriffen sichert" wurdezur zentralen Forderung dieser Gruppe, (42) deren Einfluss weit indie Partei hinein wirkte und zu der von der Mehrheit vertretenenÜberzeugung beitrug, "dass das Wohl der Arbeiterklasse aufs engstemit Deutschlands Fähigkeit sich wirtschaftlich gegenüber seinen Kon-kurrenten zu behaupten, zusammenhänge". (43) Wirkte sich dieseEinstellung auch auf die Haltung der Partei in der belgischen Frageaus ? Das ist schwer zu sagen, doch könnte sie eine Erklärung für diebis ins Jahr 1917 vorherrschende Gleichgültigkeit innerhalb der SPDgegenüber dem Schicksal Belgiens sein. Zwar war die Forderungnach "Wiederherstellung" des Landes in die im August 1915 aufge-stellten "Leitsätze für die Friedensgestaltung" aufgenommen wor-den, doch wurde damit weder eine eindeutige Position bezogen, daeine Präzisierung bewusst unterblieb, (44) noch wurde sie in derÖffentlichkeit oder gegenüber der Reichsleitung mit sonderlichemNachdruck vorgetragen. (45)

In der zweiten Kriegshälfte schien sich das Bild insofern zuwandeln, als der Gedanke an eine unbeschränkte Freigabe Belgienszunehmend Anhänger gewann. Am deutlichsten zeigte sich dies aufder parlamentarischen Ebene. Eine Mehrheit aus Zentrum, Fort-schrittlicher Volkspartei und Mehrheitssozialdemokraten sprach sich

(41) Ebd., S. 186.(42)' So ihr Wortführer, der Herausgeber der Sozialistischen Monatshefte, JosephBloch, am 4.10.1916 in einem dort erschienenen Artikel. Zitiert nach S. MIL-LER, a.a.O., S. 229f.(43) Ebd., S. 231.(44) Karl Liebknecht beantragte die Formulierung : Wiederherstellung Belgiens"unter Ablehnung jeder zwangsweisen politischen und wirtschaftiichen An-gliederung in uneingeschränkter innen- und aussenpolitischer Selbständigkeit undUnabhängigkeit" Dieser Antrag wurde mit grosser Mehrheit abgelehnt.- S. MILLER, a.a.O., S. 205ff.(45) Ebd., S. 206.

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im Zusammenhang mit der Friedensresolution des Reichstages vomJuli 1917 gegen "erzwungene Gebietserwerbungen und politische,wirtschaftliche oder finanzielle Vergewaltigung" aus und drängte aufeine klare Erklärung der Reichsleitung über die Wiederherstellungvon Belgiens Selbständigkeit (46). Auch unter den deutschen Profes-soren begannen Stimmen laut zu werden, die eine solche Kursände-rung in der Kriegszielpolitik verlangten, ihr Wortführer war Hans Del-brück. Auf die gesamte Öffentlichkeit bezogen, blieben dies aller-dings Ausnahmeerscheinungen (47), und auch die Sinnesänderungdes bayrischen Kronprinzen Rupprecht, der von seinen Annexions-plänen völlig abgerückt war und nunmehr für die uneingeschränkteWiederherstellung Belgiens eintrat, blieb ein Einzelfall (48). Sowurden diese Auflösungserscheinungen in der bis dahin festgefügtenFront der Anhänger einer Verbesserung der kontinentalen PositionDeutschlands auf Kosten Belgiens mehr als ausgeglichen durch diemassive Gegenpropaganda der Kriegszielbewegung : den Konservati-ven gelang es, nahezu das gesamte in Verbänden und Vereinen organi-sierte Bürgertum bis hin zu den konfessionell organisierten Teilen derArbeiterschaft zur Unterzeichnung ihrer am 3.5.1917 im Reichstagvorgebrachten Interpellation zu bewegen, in der es hiess : "Nur einFriede mit Entschädigungen, mit Machtzuwachs und Landerwerb kannunserem Volke sein nationales Dasein, seine Stellung in der Welt undseine wirtschaftliche Entwicklungsfreiheit dauernd sicherstel-len" (49). Die aus Protest gegen die Friedensresolution des Reichs-tages gegründete Vaterlandspartei mit Tirpitz an der Spitze sorgtedarüberhinaus für dié nachhaltigste Propagierung machtpolitischerGrundsätze und erhob gerade die Forderung nach einem Fortbestandder deutschen Herrschaft über Belgien zum zentralen Punkt ihresProgramms. (50)

Entscheidend aber war, dass die 3. OHL Hindenburg - Luden-dorff diese Position ebenfalls mit allem Nachdruck vertrat. Nahezubis Kriegsende hielt sie daran fest, dass Belgien als Kern des Gegen-

(46) F. WENDE,Die belgische Frage, S. 154f.(47) K. SCHWABE, Wissenschaft und Kriegsmoral, S. 88.(48) K.-H. JANSSEN, Macht und Verblendung, S. 86.(49) Schulthess'Europäischer Geschichtskalender, Jg. 1917, T. 1, S. 480f.(50) Peter Graf KIELMANNSEGG, Deutschland und der 1. Weltkrieg, Frank-furt 1968, S. 469; Dirk STEGMANN, Die Erben Bismarcks, Köln 1970, S. 500.

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satzes zu England und als Aufmarschgebiet für künftige Auseinander-setzungen mit Frankreich in deutscher Hand bleiben müsse, darinunterstützt von dem Nachfolger des verstorbenen Generalgouver-neurs Bissing, Freiherr von Falkenhausen. (51) Dieser unnachgiebigeKurs der OHL war um so folgenschwerer, als sie, gestützt auf einnahezu grenzenloses Vertrauen im Volk, zu einem Machtfaktorersten Ranges geworden war und als solcher aus dem politischen Vor-feld heraus in die Entscheidungsebene vordringen konnte, um sichdort bis Kriegsende zu behaupten. Für Bethmann Hollweg wurdediese starre Haltung der OHL gerade in der belgischen Frage zu einerArt persönlicher Katastrophe. Hatte er sich doch für die BerufungHindenburgs besonders im Hinblick darauf eingesetzt, dass er mitdiesem auch einen "enttäuschenden Frieden", der Zugeständnissein der belgischen Frage miteinschloss, werde durchführen kön-nen, (52) — wie sich zeigte, ein folgenschwerer Irrtum.

Es ist damit an der Zeit, sich von der kursorischen Betrachtungdes politischen Vorfeldes abzuwenden und einen Blick auf die Hal-tung des Kanzlers in der belgischen Frage zu werfen.

Am Anfang von Bethmanns Belgienpolitik stehen 2 gleicher-massen berühmt oder berüchtigt gewordene Ausserungen : seinBekenntnis in der Reichstagsrede vom 4.August 1914 zu dem "Un-recht" des deutschen Einmarsches in Belgien, das es wiedergutzu-machen gelte, und, am gleichen Tag, die Bezeichnung des belgischenNeutralitätsabkommens gegenüber dem englischen BotschafterGoschen als "Fetzen Papier". Ein Ruhmesblatt in der deutschen Ge-schichte ist dieses letztere hastig hingeworfene Wort gewissnicht, (53) aber zu verstehen aus der Erregung und Enttäuschung desKanzlers über den englischen Kriegseintritt. Denn dass BethmannHollweg nicht jedes Rechtsbewusstsein abhanden gekommen war,zeigt die Äusserung aus der Reichtstagsrede, mit der er sich sofort diescharfe Kritik der Rechten zuzog. Allerdings war es keineswegs nursein Rechtsbewusstsein, das sie ihm diktiert hatte, sondern zumindestgleichennassen taktisches Kalkül. Denn einmal galt es, im Einklangmit dem Kaiserwort "Uns treibt nicht Eroberungslust" (54) dem

(51) Einzelheiten s. F. WENDE, Die belgische Frage, S. 98,138ff, 148ff, 153ff.(52) Gerhard RITTER, Staatskunst und Kriegshandwerk, Bd. III, München1964, S. 226f.(53) Wie Hans HERZFELD, Der Erste Weltkrieg, München 1968, S. 45 meint.(54) Thronrede Wilhelms IL, 4.8.1914.

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Krieg jegliches Odium deutscher Angriffsabsichten zu nehmen, viel-mehr das Reich als den Angegriffenen darzustellen, der aus Notwehrund ausschliesslich zur Verteidigung zum Schwert gegriffen habe.Nicht zuletzt hingen davon auch die Bewilligung der Kriegskreditedurch die SPD und die Aufrechterhaltung des inneren "Burgfriedens"ab. Zum anderen gab es noch einen Hoffnungsschimmer zu diesemZeitpunkt, dass Belgien sich mit verbalen Protesten begnügen undnicht zu den Waffen greifen würde. (55) Doch erwies sich dies sehrschnell als vergebliche Hoffnung, und die SPD nahm, wie wir bereitssahen, in ihrer Mehrheit die Besetzung Belgiens gelassen hin und insi-stierte keineswegs auf der Gültigkeit von Bethmanns Zusage einerWiedergutmachung des begangenen Unrechts. So blieben diese Worteeine Episode ohne Folgen, und niemals während des Krieges ist erdarauf noch einmal zurückgekommen. Stattdessen wurde auch fürihn sehr rasch Belgien zu einem entscheidenden Faktor in dem Pro-gramm zur Sicherung der deutschen Machtstellung auf dem Konti-nent und gegenüber England. Eingehendes Zeugnis davon legt derPunkt 2 des bekannten Septemberprogramms ab. (56)

Selten ist ein Dokument in der Geschichtsforschung so umstrit-ten gewesen. Fritz Fischer hat es als Beweisstück für die Kontinuitätimperialistischen Denkens in der deutschen Politik von der Vorkriegs-zeit über den Kriegsausbruch bis zum Kriegsende hin gewertet. Eg-mont Zechlin, unter Fischers Kontrahenten derjenige, der seine Kri-tik am fundiertesten vorgetragen hat, betonte demgegenüber den vor-läufigen Charakter dieser in erster Linie als ein Kampfmittel gegenEngland verfassten Denkschrift und stellte sie in den Kontext mitden Plänen für einen mitteleuropäischen Wirtschaftsverband. Mitdem Zurücktreten des Mitteleuropagedankens in der Konzeption derReichsleitung sei auch die Septemberdenkschrift bereits in derzweiten Oktoberhälfte 1914 durch neue Richtlinien ersetzt wor-den. (57) Gewiss war die am 9.September verfasste Kriegsziel—tekein "Programm" in dem Sinn, als dass hier seitens der Reichsleitungeine Reihe materieller Einzelforderungen verbindlich festgeschriebenwurde, um daran den ganzen Krieg über starr festzuhalten bzw. dieBereitschaft zur Kriegsbeendigung von der Erfülling dieser Forde-

(55) F. WENDE, Die belgische Frage, S. 25f.(56) Abdruck neuerdings auch in : Weltherrschaft im Visier, S. 86ff.(57) Wolfgang SCHIEDER (Hg.), Erster Weltkrieg. Ursachen, Entstehung undKriegsziele. Köln, Berlin 1969, S. 155ff.

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rungen abhängig zu machen. Besonders Bethmann Hollwegs weitereHaltung zeigt, wie variabel er in der Frage der Kriegsziele blieb; ge-rade im Zusammenhang mit der belgischen Frage lässt sich dies gutdemonstrieren. Das unzweideutige Bekenntnis zu einem kontinenta-len Imperialismus, das aus jedem Satz des Septemberprogrammsspricht, ist jedoch mit dessen Interpretation als temporäres Kampf-mittel gegen England kaum zu vereinbaren und noch weniger zu er-klären, und bei aller taktischen Flexibilität blieb Bethmann Hollwegdieser ganz den Geist der Machtpolitik atmenden Zielsetzung stetsverhaftet — auch dafür bildet seine Belgienpolitik ein Beispiel.

Zwei Konstanten gab es in Bethmanns Haltung zur zukünftigenGestaltung Belgiens : er blieb stets ein entschiedener Gegner einerAnnexion des Landes, aber ebenso entschieden verwarf er eine Rück-kehr zum status quo ante. Die Annexion lehnte er einmal aus innen-politischen Gründen ab, eine Eingliederung Belgiens in das Reich,egal in welcher Form, erschien ihm nicht zuletzt im Hinblick auf dietrüben Erfahrungen mit dem "Reichsland" Elsass-Lothringen, alseine zu grosse Belastung für die künftige Innenpolitik des Reiches.Zum anderen war er überzeugt davon, dass England niemals einerAnnexion Belgiens zustimmen werde, es sei denn durch eine voll-ständige Niederlage dazu gezwungen, — eine Entwicklung, die Beth-mann jedoch aus seinen Erwartungen über den Kriegsverlauf aus-schloss. Dem Annexionsverlangen setzte er so seine Devise von inBelgien zu suchenden "Sicherheiten und Garantien" entgegen. DieseFormel, die sich mit wechselndem Inhalt füllen liess, sollte es ihm er-möglichen, sich gegenüber den anbrandenden unterschiedlichen For-derungen aus der Öffentlichkeit und dem politischen Vorfeld zu be-haupten. Niemals genau präzisiert stellte sie für ihn ein takisches Mit-tel dar, den weitgespannten Erwartungen seitens der Kriegszielmehr-heit zu entsprechen, ohne sich dabei im Einzelnen festlegen zu müs-sen. Ihre defensive Formulierung erlaubte es gleichzeitig, sozialdemo-kratische Proteste gegen eben diese Erwartungen abzufangen. Dar-überhinaus aber entsprach sie in ihrer Unbestimmtheit exakt der Ein-stellung des Kanzlers, der von der Notwendigkeit einer EingliederungBelgiens in den deutschen Herrschaftsbereich überzeugt war, aberschier verzweifelte über der Frage, wie dies zu realisieren sei. Dennjede Veränderung des status quo ante zugunsten des Reiches Englandgegenüber durchzusetzen, das ja gerade für die uneingeschränkte Wie-derherstellung Belgiens kämpfte, erwies sich für ihn als eine Art Qua-dratur des Zirkels, und es verwundert nicht, dass ihm die Frage der

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Zukunft Belgiens schon bald als ein "schauderhaftes Problem" er-schien. (58)

Bethmann Hollwegs Belgienpolitik erwies sich somit als einständiges Bemühen, eine Lösung dieses Problems zu finden. DieHoffnung auf eine enge wirtschaftliche Bindung Belgiens an Deutsch-land, die von ihm initiierte und konsequent vorangetriebene Flamen-politik sowie die Versuche mit Belgien zu einem Sonderfrieden zugelangen — sie alle sind Varianten ein- und derselben beharrlich ver-folgten Richtlinie : es galt, der englischen Forderung nach restitutioin integrem mittels indirekter Herrschaftssicherung über Belgien zubegegnen, entweder durch Vereinbarungen, die sich auch bei einemVerhandlungsfrieden noch durchsetzen liessen, besser aber noch mitHilfe von schon während des Krieges vollendeten Tatsachen, die,gleichgültig wie die Lage bei Friedensschluss war, aus sich selbstheraus im deutschen Interesse weiter wirken würden. Einen Schwer-punkt in Bethmanns Planungen bildete dabei der Gedanke an eineZollunion mit Belgien als ein Ergebnis der Friedensverhandlungen. Erhielt daran fest trotz erheblicher Bedenken aus Kreisen der Privat-wirtschaft, und es gelang ihm schliesslich auch den Staatssekretär desInnern, Delbrück, der gleichfalls zu den Gegnern einer solchen Mass-nahme gehört hatte, von deren politischer Notwendigkeit zu über-zeugen. (59) Eine weitere Spielart der Herrschaftssicherung waren dieMassnahmen zur wirtschaftlichen Durchdringung Belgiens. Von Ge-neralgouverneur wie Reichsleitung gleichermassen vorangetrieben,stellten sie den Versuch dar, in geradezu klassischer imperialistischerManier sich im ökonomischen Gefüge Belgiens festzusetzen, umdamit das Land quasi von innen heraus deutschem Einfluss zu unter-werfen. (60)

(58) Bethmann Hollweg an den württembergischen Ministerpräsidenten CarlFrh. von Weizsäcker am 10.11.1914. Zitiert nach K.-H. JANSSEN, Macht undVerblendung, S. 237 (Anm. 121).(59) F. WENDE,Die belgische Frage, S. 57, 61f.(60) Einzelheiten ebd., S. 124ff. Mit der wirtschaftlichen Durchdringung Bel-giens begegnet uns die Variante imperialistischer Politik, die in der englischenForschung als "informal imperialism" bezeichnet worden ist, hier aber, ganz ausder Konzeption eines kontinentalen Imperialismus heraus, auch auf ein europä-isches Land angewendet wird. — Vgl. dazu W. BAUMGART, Imperialismus,S. 3; Gilbert ZIEBURA, "Sozialökonomische Grundfragen des deutschen Impe-rialismus vor 1914", in : Sozialgeschichte heute. Festschrift für H. Rosenberg.Göttingen 1974, S. 499.

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Noch viel stärkere Aufmerksamkeit aber widmete er der Fla-menpolitik. Auf sie als das vielversprechendste Instrument für eineSicherung des deutschen Einflusses in Belgien über das Kriegsendehinaus setzte er die grössten Hoffnungen. Eindeutig erscheint er im-mer wieder als der Drängende, der hinter allen entscheidenden Pha-sen steht. Dies gilt sowohl für den Entschluss zur "Vervlamung" derGenter Universität, wie auch für den Beginn der Verwaltungstren-nung — entgegen dem Willen des Generalgouverneurs Bissing, derdiesen Schritt für verfrüht hielt — und die Konstituierung des "Ratesvon Flandern". (61)

Die am meisten bevorzugte Lösung aber scheint für BethmannHollweg ein Sonderfrieden gewesen zu sein, bei dem Belgien aufGrund eines zweiseitigen Abkommens ohne Mitsprache Englands undFrankreichs, freiwillig sich deutscher Schutzherrschaft unterstellte.Jedes Anzeichen belgischer Verhandlungsbereitschaft wurde von ihmsofort aufgegriffen, und er war sogar bereit für den Fall einer Rege-lung des deutsch-belgischen Verhältnisses auf diesem Wege auch aufsein flamenpolitisches Programm zu verzichten. (62)

Auch für den Reichskanzler gilt somit, was sich bisher als eineArt roter Faden in der deutschen Kriegszielpolitik erwiesen hat : dieÜberzeugung, dass Belgien in dem Programm einer Festigung derdeutschen Machtposition in Europa als Ergebnis des Krieges einenentscheidenden Faktor darstellte. Auch dann, wenn er gelegentlichvon einer Wiederiierstellung des Landes sprach, zog er nicht etwa eineRückkehr zum status quo ante in Erwägung, sondern verwandte die-sen Begriff nur im weitesten Sinne als Ausdruck des Verzichts aufeine Annexion. Zu einer Änderung in der Konzeption der Reichslei-tung kam es erst, als nach Bethmanns Sturz unter den Kanzlerschaf-ten Michaelis und Hertling Richard von Kühlmann die Zügel derAussenpolitik übernahm. Unter seiner Amtsführung setzte sich erst-mals innerhalb der Regierung der Gedanke durch, dass nur ein be-dingungsloser Verzicht auf Belgien das Tor zu Friedensverhandlungenwerde aufstossen können. Sein Scheitern auf diesem Wege war einer-seits darauf zurückzuführen, dass er die offene Bekanntgabe einessolchen Verzichts scheute, stattdessen mehr den Mitteln der klassi-schen Geheimdiplomatie vertraute (63) und dadurch die Möglich-

(61) F. WENDE,Dfe belgische Frage, S. 77,85, lllff.(62) Ebd., S. 92.(63) Ebd., S. 132ff.

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keit aus der Hand gab, mit Hilfe einer solchen Verzichterklärung in-nerhalb der Entente die friedenswilligen Kräfte zu stärken. Doch warseine Ablehnung einer solchen "Vorleistung" auch innenpolitischmotiviert. Nach dem Sturz Bethmann Hollwegs war der Einfluss derOHL auf die politische Entscheidungsebene nahezu übermächtig ge-worden, und wie sich gezeigt hat, hielt sie an der Überzeugung un-verrückbar fest, dass Belgien in jedem Falle deutscher Oberhoheit un-terstellt werden müsse. Gegen ihren Widerstand erwies sich eine öf-fentliche Verzichterklärung als unmöglich. Nach Kühlmanns Abgangverstärkte sich diese Tendenz noch, sein Nachfolger Hintze sah sichin seinem Handlungsspielraum dermassen eingeengt, dass er wider-willig in die Wiederaufnahme des Gedankens einwilligen musste, Bel-gien als "Faustpfand" zu benutzen. (64) Der Weg zu einer Friedens-anbahnung über die Freigabe Belgiens wurde dadurch erneut miteiner Hypothek belastet, die einen Erfolg von vornherein so gut wieausschloss.

Und die Haltung des Kaisers ? Der pseudokonstitutionelle Cha-rakter der Reichsverfassung, der autoritärer Herrschaftspraxis weitenRaum liess, stattete ihn mit einer Machtvollkommenheit aus, die esihm durchaus ermöglicht hätte, mittels einer Verzichterklärung aufBelgien eine Friedensanbahnung in Gang zu setzen. Der Grund,warum er es nicht tat, ist nur zum geringsten Teil in seiner Personselbst zu suchen. Gewiss liebte er es mit martialischen Reden hervor-zutreten, in der naiven Hoffnung auf diese Weise über seine Unsicher-heit und innere Schwäche hinwegtäuschen zu können, doch gibt esebenfalls genügend Zeugnisse für seinen im Grunde friedfertigen Cha-rakter. Die Verteidigung seiner halbabsolutistischen Stellung gegendas wachsende Demokratisierungsverlangen seitens der Sozialdemo-kratie zwang ihn jedoch, Rückhalt bei den "staatstragenden Kräften"von Adel, Grossagrariern und Besitzbürgertum zu suchen, die ihrer-seits zu den schärfsten Gegner eines jeglichen Verzichtfriedens ge-hörten. Die Polarisierung der widerstreitenden Kräfte innerhalb derGesellschaftsordnung des wilhelminischen Reiches war zu weit ge-diehen, als dass der Kaiser eine unabhängige Stellung hätte beziehenkönnen. Seine persönliche Schwäche drückte lediglich das Siegel aufdieses strukturbedingte Faktum und liess ihn zur Gallionsfigur dertraditionellen Führungsschicht herabsinken. Der Verlauf der "Kron-rate", bei denen ihm eine Entscheidung abverlangt wurde, gibt deut-lich wider, wie er in seiner Haltung unentschlossen schwankt, um sich

(64) Ebd., S. 196ff.

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schliesslich doch auf die Seite des Stärkeren — und dies bedeutete zu-meist auch die Politik der Starke — zu schlagen. Als in der NachfolgeBethmann Hollwegs auch die Position des Reichskanzlers als poli-tisches Kraftzentrum ausfiel, wurde das doppelte Machtvakuum ander Spitze des Reiches endgültig von den Dogmatikern imperialisti-scher Machtpolitik mit der OHL an der Spitze besetzt. Belgien bliebKriegsziel und damit blieb der Krieg — bis zu dem einer hegemonia-len Auseinandersetzung gemässen Ende : der vollständigen Nieder-lage eines der Kontrahenten.

Unser kursorischer Überblick hat gezeigt, dass Belgien zum ce-terum censeo der deutschen Kriegszielpolitik geworden war. Die un-terschiedlichen Vorstellungen über Art und Ausmass der künftigenAbhängigkeit des Landes — von der Annexion bis zur negativ vorge-tragenen Forderung, Belgien dürfe nicht zur Ausgangsbasis künftigerAngriffe gegen das Reich werden — trafen sich dabei in der Über-einstimmung darin, dass die Sicherung der deutschen Machtstellungals Richtschnur für den künftigen Frieden zu dienen habe, unver-zichtbarer Bestandteil einer solchen Friedensordnung aber die Ände-rung des politischen Status' Belgiens bildete.

Belgien wurde somit zum Eckpfeiler dessen, was wir als konti-nentalen Imperialismus bezeichnet haben. Die Festigung und Aus-weitung der deutschen Machtposition in Europa war das Credo derdeutschen Politik, in dessen Erfüllung bis in Kreise der Sozialdemo-kratie hinein die eigentliche Sinngebung des Krieges gesehen wurde.Dem zugrunde lag einmal das Motiv militärischer Sicherung für denFall kommender Kriege ~ womit in Führungskreisen fest gerechnetwurde —, zum anderen die Überlegung, dass für Deutschland der Wegzur Errichtung eines für lebenswichtig angesehenen Kolonialreichesüber den Ausbau des europäischen Kraftzentrums führe. Im Westenrichtete sich der Blick in erster Linie auf Belgien, wobei die Metho-den der Herrschaftsexpansion — ökonomische Abhängigkeit in engerVerquickung mit machtpolitischer Sicherung — dem Instrumenta-rium des Imperialismus entlehnt wurden. In dieser Hinwendung aufden Kontinent als imperialistisches Betätigungsfeld, und nicht in demallen Grossmächten der Zeit gleichermassen eigenen grundlegendenBekenntnis zu imperialistischer Politik und Weltmachtstreben, unter-schied sich das Reich von seinen Nachbarstaaten. Existentielle Not-wendigkeit zwang eine Grossmacht auf den Weg zur Weltmacht,wollte sie nicht andernfalls ihren Niedergang riskieren — so die Dok-trin des Imperialismus, die europäisches Allgemeingut geworden war,

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und die den Zeitgenossen durchaus als autonome Kategorie poli-tischer Gedankenbildung und politischen Handelns erschien. (65) InDeutschland, das den Schritt zur Etablierung seiner Weltmachtstel-lung noch vor sich sah, erhielt diese Alternative besonders scharfe,machtpolitische Akzente. Denn Macht, einmal verfügbar geworden,wird nicht freiwillig wieder abgegeben, ein solcher Machtverzicht istaus der Geschichte nicht bekannt. Alles Trachten richtet sich viel-mehr nach Konsolidierung der einmal errungenen Machtstellung. Aufdiesen Zusammenhang und seine Gültigkeit für das Deutsche Reichzielt Max Webers vielzitierter Ausspruch : "Wollten wir diesen Kriegnicht riskieren, nun, dann hätten wir die Reichsgründung ja unterlas-sen und als ein Volk von Kleinstaaten weiter existieren kön-nen." (66)

Indem Deutschland aber den imperialistischen Machtkampf vonder überseeischen Peripherie in das europäische Zentrum verlagerte,machte es sich zum Paria der imperialistischen Gesellschaft. DerFriedensschluss von Brest-Litowsk gab lediglich nur noch die Bestä-tigung dafür, dass das Kaiserreich auch in Europa zur rücksichtslo-sen Anwendung des Gewaltprinzips entschlossen war, um sich die fürnotwendig erachtete Machtbasis zu verschaffen. Europa als Feldimperialistischer Expansion — eine solche Zielsetzung traf jedochden Nerv der bestehenden Staatengesellschaft und bedeutete, im Fal-le des Gelingens, de facto den Griff nach der Weltherrschaft. Zwarverstiegen sich Führungsanspruch und Grossmachtverständnis derwilhelminischen Führungsschicht nachweislich niemals zu solcherHybris — im Gegensatz zu den gezielten Weltherrschaftsideeen Hit-lers —, doch Europa war — noch — das Zentrum der Welt und Herr-schaft über Europa in Kombination mit einem Kolonialreich, wie esals "zweiter Stufe" der Expansion angestrebt wurde, musste im Ver-ständnis der Zeitgenossen synonym erscheinen mit Weltherrschaft.Ein siegreiches Deutschland, d.h. ein Deutschland, dass den Konti-nent zur Basis seines maritimen Imperiums machte, bedeutete eineelementare Bedrohung, die keiner seiner Nachbarn hinnehmen konn-te. Aus der klaren Erkenntnis dessen und der Schlüsselposition, dieeine deutsche Herrschaft über Belgien dabei bedeutete, erklärt sichdie kompromisslose Gegnerschaft Englands gegen jede deutsche Ein-

(65) Vgl. Klaus HILDEBRAND, "Imperialismus, Wettrüsten und Kriegsausbruch1914", in : Neue Politische Literatur, Jg. 1975, H. 2, S. 183.(66) Max WEBER, Gesammelte Politische Schriften, 3. Aufl., Tübingen, S. 177.

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Motiven der deutschen Belgienpolitik

flussnahme auf Belgien. Diese Erkenntnis stand letztlich auch hinterder lautstark vorgetragenen Entrüstung über die Verletzung derRechte der kleinen Nationen mit der England seine Haltung nachaussen hin begründete. (67) Max Weber, um ihn ein letztes Mal zu zi-tieren, hat diesen Zusammenhang überspitzt, sarkastisch aber nichtunzutreffend kommentiert : "Als eine der Phrasen unserer Gegnerwurde ja das Problem der kleinen Nationen aufgeworfen. Wenn siewirklich auf der Grundlage des Nationalitätenprinzips Friedenschliessen wollten, nun, das könnten wir ... jeden Tag. Aber : 'QueMessieurs les assasins commencent !' Der Friedensvertrag hätte dannalso zu besagen, dass Irland, Malta, Gibraltar, Ägypten, Indien, dieBuren, Indochina, Marokko, Tunis, die Araber in Algier, die Polen,Ukrainer, Litauer, Letten, Esten, Finnländer, Kaukasusvölker, —dass, sage ich, diese 350 Millionen Fremdvölker, welche unsereGegner ungefragt beherrschen... sich zu äussem hätten, ob sie eineneigenen Staat bilden wollen oder nicht" (68) Die Logik in WebersArgumentation ist nicht von der Hand zu weisen, denn die Frage desSelbstbestimmungsrechtes der kleinen Nationen bildete nur die vonEngland aufgebaute Fassade für die machtpolitische Auseinander-setzung mit dem Reich, und um eben den Nachweis dessen ging esWeber. Der weiteren Konsequenz jedoch verschloss er sich. Sie lagdarin, dass die offene Entfaltung des Machtprinzips innerhalb dereuropäischen Staatengemeinschaft durch Deutschland eine Heraus-forderung darstellte, auf die eine andere Antwort als der Kampf biszur Entscheidung gar nicht möglich war. Es ist in diesem Zusammen-hang irrelevant, wie es auf deutscher Seite zu diesem blinden Macht-vertrauen kam, wie weit dabei eine um ihre Existenz besorgte undkritischen Rationalismus unzugängliche konservative Fuhrungs-schicht auf die Verabsolutierung der Macht als eine Art letzterBastion ihrer Selbstbehauptung rekurrierte. Entscheidend war, dassaus der Sicht der Gegner des Reiches dieser Machtanspruch mit einerAusschliesslichkeit vorgetragen wurde, die einen Ausgleich unmöglichmachte. Deutschlands Haltung in der belgischen Frage bildete gleich-sam das Parameter für diesen deutschen Machtanspruch, an dem Ver-ständigungsbereitschaft wie Herrschaftswille sich gleichermassen ab-lesen Hessen. Tatsächlich war nur dat letztere der Fall, der Machtge-danke als Regulativ der staatlichen Ordnung blieb bestimmend für

(67) F. WENDE, Die belgische Frage, S. 93.(68) M. WEBER, Gesammelte Politische Schuften, S. 174.

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Frank WENDE

die Kriegszielpolitik der deutschen Führung, bis die Macht ihrenHänden enwunden war.

MACHTSPOLITIEK EN CONTINENTAAL IMPERIALISMEONDERZOEK NAAR DE MOTIEVEN DER DUITSEBELG IE-PO LIT IEK 1914-1918doorDr. Frank WENDE

SAMENVATTING

In deze bijdrage wordt een poging ondernomen om een antwoord te vin-den op de vraag waarom België onmiddellijk na het uitbreken van de EersteWereldoorlog als voornaamste objectief gold van de Duitse oorlogsplanning endat ook bleef voor de hele duur van de oorlog, zonder dat er in de vooroorlogseperiode tekenen te bespeuren waren die wezen op plannen om het land aan deDuitse heerschappij te onderwerpen.

Het blijkt dat de "Belgische kwestie" moet gezien worden in verbandmet het streven van het Duitse keizerrijk om een stevige plaats als gelijkgerech-tigde '*Wereldmacht" te verwerven in de rij der grote mogendheden, een strevendat ook door structurele crises op het vlak van de binnenlandse politiek was ont-staan.

De imperialistische doctrine die door het Rijk evenals door zijn buurstatengehuldigd werd, hield de oprichting in van een koloniaal rijk als basis voor dezewereldmachtspositie. Hierbij stootte Duitsland echter op grenzen die door delate toetreding tot de kring der grote mogendheden waren opgerezen. Gecon-fronteerd met het feit dat de plaats voor het op te richten koloniale rijk reedsoverwegend in handen van anderen was, werd de idee van machtspolitiek steedsmeer toonaangevend in de Duitse politiek : alleen met geweld kon men uit debenadeelde situatie komen.

Uit deze fundamentele overtuiging stamde de gedachte aan de vormingvan een Continentale machtsbasis als uitgangspunt voor de nagestreefde mari-tieme expansie. Daardoor werd Europa zelf onderworpen aan deze vorm vanimperialistisch denken. Het Continentale imperialisme van het Keizerrijk dat al-dus ontstond, bepaalde mede de Duitse oorlogsplanning : de zin en het suksesvan de oorlog weiden beoordeeld naar de afstand die erdoor kon afgelegd wor-den in de richting van de nagestreefde continentale basis voor de toekomstigewereldmachtspositie. Daardoor kreeg België een sleutelfunctie als het eigenlijkeobject van het geschil tussen Duitsland en Engeland : de heerschappij over ditland besliste er over of de opvatting betreffende de oorlogsdoeleinden van hetRijk in het westen al dan niet te verwezenlijken was. De overtuiging dat hetvoortbestaan van het Rijk alleen van de overwinning of nederlaag afhing, en diein alle lagen van de bevolking werd aangetroffen, vervaagde daarbij elk besefvan onrecht. Het volkenrechtelijk bestaan van België werd op het altaar van demachtspolitiek geofferd.

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RESUME

POLITIQUE DU POUVOIR ET IMPERIALISME CONTINENTALA LA RECHERCHE DES MOTIFS DE LA POLITIQUEALLEMANDE ENVERS LA BELGIQUE 1914-1918parDr. Frank WENDE

RESUME

Par cette contribution l'auteur essaie de trouver une réponse à la questionpourquoi la Belgique a été dès le déclenchement de la première guerre mondialeet pendant toute la durée des hostilités, considérée comme l'objectif principal dela stratégie allemande, sans qu'on puisse discerner au courant de la périoded'avant-guerre des signes annonciateurs d'un plan de soumettre le pays sous ladomination allemande.

n appert que "la question belge" doit être considérée en rapport avec l'am-bition de l'empire allemand de conquérir une position ferme comme puissancemondiale et de traiter à égalité avec les autres grandes nations. Cette ambitionétait aussi le résultat des crises structurelles qui s'étaient produites sur le plan dela politique intérieure.

La doctrine impérialiste, prônée par le Reich aussi bien que par ses étatsvoisins, impliquait la fondation d'un empire colonial comme base de la positionde puissance mondiale.

Dans cette voie l'Allemagne se voyait limitée dans son ambition par lefait qu'elle n'avait rejoint le cercle des grandes puissances qu'assez tardivement.Confrontée avec le fait que les territoires qui pouvaient être colonisés étaient dé-jà pour la plupart passés dans d'autres mains, le thème de la politique du pouvoirdevenait de plus en plus dominant dans la politique allemande : ce n'était quepar la force qu'on sortirait de la position désavantageuse.

C'est de cette conviction fondamentale qu'est née l'idée de la formationd'une base continentale de puissance qui servirait comme point de départ pourl'extension maritime poursuivie.

Ainsi l'Europe elle-même devenait l'objet de la pensée impérialiste. Cetimpérialisme continental influençait les plans de guerre allemands : la guerren'avait de sens et de succès que dans la mesure qu'elle rapprochait de la constitu-tion de la base continentale, qui deviendrait la pierre angulaire de la position fu-ture comme puissance mondiale.

C'est ainsi que la Belgique obtenait une position-clé en tant qu'objet réeldu conflit entre l'Allemagne et l'Angleterre : la domination de ce pays favorise-rait les chances de succès des objectifs de guerre de l'empire vers l'ouest.

La conviction que l'avenir de l'empire dépendait de la victoire étant ré-pandue parmi toutes les couches de la population, effaçait tout sens de justice.L'existence de la Belgique, garantie par le droit des gens, était sacrifiée sur l'autelde la politique du pouvoir.

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SUMMARY

POWER-POLICY AND CONTINENTAL IMPERIALISMINVESTIGATION INTO THE MOTIVES OF THE GERMANBELGIUM-POLICY 1914-1918byDr. Frank WENDE

SUMMARY

This article aims at answering the question why Belgium became the firstobjective of the German war-planning immediately after the outbreak of WorldWar I, although in the prewar period no signs were traceable indicating plans tosubject the country to the German domination.

It appears that the "Belgian question" must be viewed in connection withthe striving of the German empire to acquire a strong position as an equal"World-power" among the great powers, which striving had also been broughtabout by structural crises in the field of internal policy.

The imperialistic doctrine, believed in by both the Empire and the neigh-bouring states, implied the establishment of a colonial empire as the basis forthis position of a world-power. Here, however, Germany came upon boundarieswhich had arisen through her late access to the circle of the great powers.Confronted with the fact that the territory for the colonial empire to be created,was already largely in the hands of others, the idea of power-policy grew in-creasingly dominant in German politics : the prejudice could be removed onlyby force.

This fundamental conviction gave rise to the idea of the formation of acontinental power-basis as the starting-point for the maritime expansion aspiredto. Thus Europe itself was subject to imperialistic thinking. The continentalimperialism which was taking roots in Germany, also determined her war-planning : the sense and the success of the war were measured by the extent towhich it proved to realize the continental basis for the furture position of aworld-power. Consequently, Belgium was given a key-function as the real objectof the issue between Germany and England : the control of this country decidedwhether the German conception of the war-objectives could be realized in theWest or not. The conviction — which was found in all strata of the population —that the survival of the Empire depended only on victory or defeat blurred allsense of injustice. The existence of Belgium which was based on the law ofnations, was sacrified on the altar of power-policy.

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