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Mar g uerite Humeau FRA ANGELICO MONSTER ROSTER MAGNUS Nr. 11 / Mai 2016 MAI 2016 EIN KUNSTMAGAZIN Nr. 11 HEILIG ROBERT POLIDORI FOTOGRAFIERT FRA ANGELICO VISIONÄR WIE EINE APP DIE KUNSTWELT REVOLUTIONIERT MONSTRÖS CHICAGOS VERGESSENE NACHKRIEGSMODERNE Marguerite Humeau 6 EURO 04 4 190171 006003

Marguerite Humeau - WELTKolumba Museum in Köln. Magnus Resch, fotografiert von Adam Golfer. smeg.de. ... 29.4. 3.7. »Künstler des Jahres« 2016 Deutsche Bank KunstHalle Unter den

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Nr. 11 / M

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MAI 2016

EIN KUNSTMAGAZIN

Nr. 11

HEILIGROBERT POLIDORI

FOTOGRAFIERTFRA ANGELICO

VISIONÄR WIE EINE

APP DIE KUNSTWELTREVOLUTIONIERT

MONSTRÖSCHICAGOSVERGESSENE

NACHKRIEGS MODERNE

MargueriteHumeau

6 EURO

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Direktfl üge sind eine feine Sache, aber nichts geht über Zwischen-stopps, die einen die Kunstwelt mit neuen Augen sehen lassen. Meine liebsten in den vergangenen Monaten: Houston, Texas (dazu in einer späteren Ausgabe mehr), und Chicago, Illinois, wo ich Ende März einen Tag verbringen durfte, ohne den diese Ausgabe eine andere geworden wäre.

Alles begann mit einem Besuch des Art Institute of Chicago, dem Muse-um, das, wie ich einem Aufkleber an der Eingangstür entnehmen konnte, kürzlich von Tripadvisor zum besten Museum der Welt gewählt wurde. Zwei Stunden später, die ich in den Abteilungen für moderne und zeitge-nössische Kunst verbrachte (das ganze Museum zu besuchen hätte einen Tag gekostet), war ich mit Tripadvisor ganz einer Meinung. Es waren nicht allein die Räume, die der jüngsten Schenkung von Stefan Edlis gewidmet waren (Johns, Rauschenberg, Twombly, Richter, Warhol etc. – und von allen nur das Beste). Es war die ständige Sammlung, die mich am nachhaltigs-ten beeindruckte, und wie der junge Direktor James Rondeau mit ihrer Hilfe versucht, den Malereikanon zu erweitern.

Blockbuster-Werke, die mit den berühmtesten Arbeiten im MoMA mithalten können, lässt er auf Unbe-kanntes und Vergessenes treff en. Koreaner, Japaner, Südamerikaner: Wohin man schaut, entdeckt man neue Namen, denen es immer wieder gelingt, mit den von Postern und Postkarten bekannten Hauptwerken der household names mitzuhalten. Ein Höhepunkt von vielen: das Gipfeltref-fen zwischen Jackson Pollock und dem heute 90-jährigen, völlig unbe-kannten Afroamerikaner Ed Clark, dessen Untitled von 1957 das wahr-scheinlich erste shaped canvas-Gemälde der Kunstgeschichte ist.

Von all den neuen Namen, die ich im AIC notierte, begegnete mir einer schon am Nachmittag wieder: Dominick Di Meo. Das Smart Muse-um of Art der University of Chicago

zeigte Monster Roster – Existentialist Art

in Postwar Chicago, und was ich dort von ihm und Malern wie Leon Golub, Fred Berger und Ted Halkin sah, ließ mich erneut darüber nachdenken, ob die vermeintlich großen Erzählungen der Kunstgeschichte nicht viel kleintei-liger und abschweifender erzählt wer-den sollten.

Nur gut, dass ich den Abend mit den Kuratoren der Ausstellung verbrachte, Jim Dempsey und John Corbett. Und noch besser, dass Corbett sich ganz nebenbei als einer der renommiertesten Jazzkritiker der USA entpuppte. Würde er für BLAU die Geschichte der „Monster Roster“ aufschreiben, jener vergesse-nen Künstlergruppe, deren Grundton er mir nach einem Song von Thelo nius Monk als ugly beauty beschrieb? Er würde. Und siehe da: Das erste Ergeb-nis meines Zwischenstopps lesen Sie ab Seite 60.

Müssten die vermeintlich großen Erzählungen der Kunstgeschichte nicht viel kleinteiliger und abschweifender erzählt werden?“

AUFTAKT

CORNELIUS TITTEL

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Happy Anniversary!1966 –2016

50 Years of Lamy design.

Celebrating a timeless icon.LAMY 2000

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INHALT

10 CONTRIBUTORS / IMPRESSUM

19 ESSAY Ein Akt des Patriotismus

22 NEUES, ALTES, BLAUES

24 HINTERGRUND Ernst Wilhelm Nay

26 DICHTER DRAN Jörg Albrecht

27 BEWEGTBILD Thomas Scheibitz

27 DIE SCHNELLSTEN SKULPTUREN DER WELT

28 BLITZSCHLAG Lars Eidinger

EIN KUNSTMAGAZIN

MARGUERITE HUMEAUThe Opera of Prehistoric Creatures, 2011, Mixed Media, 50 × 115 × 30 cm, Australo-pithecus afarensis „Lucy“

DIE KUNSTSZENE FEIERT SICH ALS „NEUES BERLIN“. GUT, DASS CHRIS SHARP WEISS, WO DIE

ZEIT STEHEN GEBLIEBEN IST: IN ROMA SUR

S. 30

MEXICO CITY

Wenn ich nicht an meine Träume glaube, wie sollten es dann andere tun?“

— MARGUERITE HUMEAU

Von oben im U

hrzeigersinn: FR

A ANG

EL

ICO

Das Abendm

ahl, Fresko im K

lostermuseum

San Marco, F

lorenz. Tortillería im Stadtteil R

oma Sur, M

exico City, fotografiert von C

arlos Álvarez Montero.

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AU Still aus dem

Requiem for H

arley Warren „Scream

s from H

ell“ , 2015, Mixed M

edia, 800 × 420 ×

950 cm

Nr. 11 / Mai 2016

APÉRO

WIE FÄNGT MAN DEN ZAUBER SEINER FRESKEN EIN? MAN LÄSST ROBERT POLIDORI ZWEI WOCHEN MIT

IHNEN ALLEIN. EIN PORTFOLIO

s. 34

FRA ANGELICO

VOODOO UND WISSENSCHAFT: DAS DAZWISCHEN, SAGT MARGUERITE HUMEAU,

IST, WAS INTERESSIERT

s. 46

HIGH DEFINITION HORROR

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TO BREAK THE RULES,YOU MUST FIRST MASTER THEM.

DAS VALLÉE DE JOUX: SEIT JAHRTAUSENDEN WURDE

DIESES TAL IM SCHWEIZER JURAGEBIRGE VON

SEINEM RAUEN UND UNERBITTLICHEN KLIMA

GEPRÄGT. SEIT 1875 IST ES DIE HEIMAT VON

AUDEMARS PIGUET, IM DORF LE BRASSUS. DIE

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DEM RHYTHMUS DER NATUR UND STREBTEN

DANACH, DIE GEHEIMNISSE DES UNIVERSUMS

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INHALT

74 WERTSACHEN Was uns gefällt

78 GRAND PRIX Die Kunstmarkt-Kolumne

79 BILDNACHWEISE 80 BLAU KALENDER Unsere Termine im Mai

82 DER AUGENBLICK Paul Graham

— LEON GOLUB

MUSEEN IM PRAXISTESTBERLIN SUCHT NACH DEM STAR-ARCHITEKTEN

DER ZUKUNFT. WIR SAGEN, WO ER SICH INSPIRIEREN LASSEN SOLLTE – UND WO NICHT

S. 54

WIRD DIESER MANN DIE KUNSTWELT REVOLUTIONIEREN? ER SELBST GLAUBT FEST DARAN

s. 69

MAGIC MAGNUS

Ich bin ein Reporter und ich berichte von diesen Monstern, weil sie tatsächlich existieren. Das ist keine Fantasie, kein Symbolismus. Die Situationen, die solche Kräfte zum Leben erwecken, existieren wirklich“

EIN KUNSTMAGAZINNr. 11 / Mai 2016

ENCORE

WIE CHICAGO DEM NEW YORKER NACHKRIEGSZEITGEIST TROTZTE – UND EIN ZU UNRECHT VERGESSENES KAPITEL

KUNSTGESCHICHTE SCHRIEB

s. 60

DIE MONSTER AG

Von oben im U

hrzeigersinn: LE

ON

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he Ischian Sphinx, 1956, Öl und L

ackfarbe auf Leinw

and, 82 × 132 cm

. Kolum

ba Museum

in Köln. Magnus R

esch, fotografiert von Adam G

olfer

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smeg.de

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John CORBETTJazzkritiker, Kurator, Produzent, Galerist: Mit seinem Partner Jim Dempsey betreibt John Corbett die Galerie Corbett vs. Dempsey, die sich nicht nur der Kunstszene ihrer Heimatstadt Chicago verschrieben hat, sondern auch internationale Stars wie Albert Oehlen und Chris-

topher Wool vertritt. Jazz veröff entlicht er auf dem gleichna-migen Label – und schreibt als Senior Reviewer des Downbeat-

Magazins. Für uns porträtiert er die fast vergessene Künstler-gruppe „Monster Roster“, über deren Geschichte er soeben auch eine Ausstellung im Smart Museum of Art in Chicago kuratiert hat. (Seite 60)

Robert POLIDORI

Spätestens mit seiner Bildreportage zum Hurrikan Katrina hat sich der kanadische Fotograf einen Welt-ruhm erarbeitet, der sich nicht zuletzt in einer gefeierten Einzelaus-stellung im Metropolitan Museum of Art spiegelte. Was ihn treibt, ist

eine unstillbare Neugier für das Ruinöse, Prekäre. Doch nicht weniger faszinieren ihn Räume, wie er sie in Florenz entdeckte – im Klostermuseum San Marco. Fast zwei Wochen verbrachte er allein mit den berühmten Fresken, die Fra Angelico seinen Klosterbrüdern Anfang des 15.  Jahrhunderts in die Zellen gemalt hat. Ihre Premiere feiern Polidoris Bilder in dieser BLAU-Ausgabe. (Seite 34)

Wolf LEPENIESMelancholie und Gesellschaft war nicht nur der Titel seiner Dissertation, sondern auch der des anschließen-den Suhrkamp-Klassikers, mit dem der Soziologe 1969 aus dem Stand zum akademischen Star avancierte. Ein Stern, der fortan nicht mehr

sinken sollte: 2006 wurde Lepenies für seine Lebensleistung mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausge-zeichnet. In seinem BLAU-Essay widmet er sich nun Georges Clemenceau und seiner Freundschaft zu Claude Monet  – einem seltenen Glücksfall der Verschränkung von Politik und Kunst. (Seite 19)

CONTRIBUTORSIMPRESSUM

RedaktionCHEFREDAKTEURCornelius Tittel (V. i. S. d. P.)

MANAGING EDITOR Helen Speitler

STELLV. CHEFREDAKTEURIN Swantje Karich

ART DIRECTIONMike Meiré

Meiré und Meiré: Philipp Blombach, Marie Wocher

TEXTCHEFHans-Joachim Müller

BILDREDAKTIONIsolde Berger (Ltg.), Jana Hallberg

REDAKTIONGesine Borcherdt, Dr. Christiane Hoff mans (NRW)

SCHLUSSREDAKTION Claudia Kühne, Max G. Okupski

REDAKTIONSASSISTENZ Manuel Wischnewski

Autoren dieser AusgabeJörg Albrecht, Uli Aumüller (Überset-zung), John Corbett, Lars Eidinger, Hanno Hauenstein, Klaus Honnef, Charlotte Klonk, Oliver Koerner von Gustorf, Wolf Lepenies, Ulf Poschardt, Chris Sharp, Marcus Woeller, Ulf Erdmann Ziegler

Fotografen dieser AusgabeYves Borgwardt, Alexandre de Brabant, Jonnie Craig, Adam Golfer, Carlos Álvarez Montero, Robert Polidori

Sitz der Redaktion BLAUKurfürstendamm 213, 10719 Berlin +49 30 3088188–400redaktion@blau–magazin.de

BLAU erscheint in der Axel Springer Mediahouse Berlin GmbH, Mehringdamm 33, 10961 Berlin +49 30 3088188–222

Nr. 11, Mai 2016Verkaufspreis: 6,00 Euro inkl. 7 % MwSt.

Abonnement und HeftbestellungJahresabonnement: 48,00 Euro

Abonnenten-Service BLAUPostfach 10 03 3120002 Hamburg+49 40 46860 [email protected]

VerlagGESCHÄFTSFÜHRERJan Bayer, Petra Kalb

MARKETINGJulie Willard (Ltg.), Arne Hartwigarne.hartwig@blau–magazin.de

SalesANZEIGENLEITUNGEva Dahlke (V. i. S. d. P. ), [email protected]

ANZEIGENLEITUNG KUNSTMARKTJulie Willardjulie.willard@blau–magazin.de

HERSTELLUNGOlaf Hopf

DIGITALE VORSTUFEImage- und AdMediapool

DRUCKFirmengruppe APPL, a ppl druck GmbH

Es gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 2vom 01.01.2016. Copyright 2016, Axel Springer Mediahouse GmbH

DEICHTORHALLENINTERNATIONALE KUNSTUND FOTOGRAFIE

HAMBURGWWW.DEICHTORHALLEN.DE

PARTNER DER DEICHTORHALLEN

ANDREAS SLOMINSKIDAS Ü DES TÜRHÜTERS14. MAI – 21. AUGUST 2016HALLE FÜR AKTUELLE KUNST

© COURTESY THE ARTIST

KEN SCHLES JEFFREY SILVERTHORNEMIRON ZOWNIR5. MAI – 7. AUGUST 2016HAUS DER PHOTOGRAPHIE

KEN SCHLES, LIMELIGHT, 1983, © KEN SCHLES

RAYMOND PETTIBONHOMO AMERICANUS28. FEBRUAR – 11. SEPTEMBER 2016SAMMLUNG FALCKENBERG

RAYMOND PETTIBON, NO TITLE (MY FIRST RIDE), 1983, © RAYMOND PETTIBON

KULTURPARTNER

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LUMINOUS DISCONTENTROBERT LONGO

PARIS MARAISMAI 2016

ROPAC.NET

PARIS MARAIS PARIS PANTIN SALZBURG

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SCHÄFERGASSE 46 B, 60313 FRANKFURT/MAIN, WWW.GALERIE-GRAESSLIN.DEGALERIE BÄRBEL GRÄSSLIN

23.04. – 28.05.16ANDREAS SLOMINSKI »A – ski«

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Edmund de WaalIrrkunst

Galerie Max Hetzler Berlin | Paris

29. April – 16. Juli 2016

Bleibtreustraße 45 | Goethestraße 2/3 10623 Berlinmaxhetzler.com

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Die Sterne standengut für ein Jahrhundert des Neubeginns29.4.—3.7.

»Künstler des Jahres« 2016 Deutsche Bank KunstHalle Unter den Linden 13/15, 10117 Berlin 10—20 Uhr, montags Eintritt frei, deutsche-bank-kunsthalle.de

Basim Magdy

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G A L E R I E B A S S E N G E · E R D E N E R S T R A S S E 5 A · 1419 3 B E R L I NTel.: +49 30-8938029-0 · Fax: +49 30-8918025 · E-Mail: [email protected] · Kataloge: www.bassenge.com

Kunstauktionen 26.–28. Mai 2016 Gemälde, Zeichnungen und Druckgraphik des 15. bis 19. Jahrhunderts

Moderne und Zeitgenössische Kunst

Fotoauktion 1. Juni 2016

Mit einer Sammlung „Indien – Fotografien des 19. Jahrhunderts“

B A S S E N G E

Andy Warhol (1928–1987). Mick Jagger. 1975. Farbsiebdrucke. Feldman/Schellmann 138.

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GALLERY WEEKEND BERLIN APRIL 29–MAY 1 2016

EXHIBITION APRIL 29–MAY 28 2016

Niebuhrstraße 5 10629 Berlin-Charlottenburg

Lise-Meitner-Straße 7–9 10589 Berlin-Charlottenburg

Galerie Michael Haas

Kunst Lager Haas

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Neumarkt 3 50667 Köln T 0221-92 57 290 Poststraße 22 10178 Berlin T 030-27 87 60 80

München 089-98 10 77 67 Zürich 044-422 19 11 Brüssel 02-514 05 86 [email protected] www.lempertz.com

Pieter Brueghel d. J. Hochzeitsmahl im Freien. Öl auf Holz, 42 x 59 cm. WVZ E 877. Auktion 21. Mai, Köln

Frühjahrsauktionen 2016

30. April Berlin Auktion (Berlin)30. April Russian Sale: Russische und sowjetische Avantgarde (Berlin) 19./20. Mai Schmuck, Kunstgewerbe21. Mai Gemälde, Skulpturen und Zeichnungen des 15.–19. Jh.3./4. Juni Moderne Kunst, Photographie, Zeitgenössische Kunst10./11. Juni Asiatische Kunst

15. Juni Afrikanische und Ozeanische Kunst (Brüssel)

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APÉRO

Vor hundert Jahren besuchte Georges Clemenceau

die Schützengräben von Verdun – und den Garten

seines Freundes Monet. Nie wieder haben sich Kunst

und Politik so befruchtet Von Wolf Lepenies

V erwirrt steht der Jurist Wassily Kandinsky 1891 in einer Kunstaus-stellung vor einem Bild, dessen

Objekt er nicht „entziff ern“ kann. Erst der Blick in den Katalog belehrt ihn, dass es sich um einen Heuschober handelt. Missbilligend urteilt Kandinsky, kein Künstler habe das Recht, so unklar zu malen. Und nimmt erstaunt wahr, wie sehr das Bild ihn doch beeindruckt: „Was mir klar wurde, war die unerwartete Macht der Palette, die mir bislang verborgen geblieben war und die meine kühnsten Träume überstieg. Das Bild enthüllte eine märchen-hafte Kraft und Eleganz.“ Es war ein Bild aus der Serie der Heuschober von Claude Monet.

Die Episode zeigt, welch große Rolle Monet in der Entfaltung einer malerischen Moderne spielte, die sich von der Gegen-ständlichkeit emanzipieren wollte. Seine spätere Wirkung verdankte Monet auch einem Arzt und Politiker, dem französi-schen Ministerpräsidenten, der am Ende des Ersten Weltkriegs von den Franzosen als „Vater des Sieges“ gefeiert wurde: Georges Clemenceau.

Im Rückblick erscheint die lebens-lange Freundschaft zwischen Monet und Clemenceau wie eine vergangene Utopie: Kunst und Politik sind danach nie wieder in eine vergleichbar enge und produktive Beziehung zueinander getreten. Dass Kunst und Politik wechselseitig Kritik aneinander üben, ist die Regel. Ausnahme ist es, dass ein Politiker den Mut zur Fremdkompetenz fasst und Kunstkritiker wird.

Clemenceau war Bürgermeister von Montmartre, Abgeordneter, Senator, Innen-minister, Ministerpräsident (1906–1909, 1917–1920), ein gefürchteter Redner, Journalist und Gründer mehrerer Zeitungen und Zeitschriften, Autor eines Romans und eines Theaterstücks. 1895 kann er „der Lust nicht widerstehen, mich einen Tag lang zum Kunstkritiker zu machen“. Er hat bei einem Händler zwanzig Bilder der Kathedrale von Rouen gesehen, die Monet an unterschiedlichen Tageszeiten und bei wechselndem Licht gemalt hat. Für seine eigene Zeitung La Justice schreibt Clemenceau einen sechsspaltigen Artikel mit der Über-schrift Révolution de Cathédrales. Es wurde ein Hymnus und präzise war er auch: „Der

Stein vibriert und diese Vibration gibt Monet wieder … Äußerste Perfektion der Kunst, bisher nie erreicht. Ich komme davon nicht los.“

Den Staatspräsidenten Félix Faure forderte Clemenceau auf, sich umgehend die „Kathedralen“ anzusehen: „Es könnte ja sein, dass Sie auf einmal etwas verstehen, und im Gedenken daran, dass Sie Frank-reich repräsentieren, könnte Ihnen vielleicht die Idee kommen, Frankreich diese zwanzig Bilder zu schenken.“ Ein Akt des Patriotismus – und mehr. Es ist die politi-sche Konsequenz aus der Einsicht in den unverwechselbaren Charakter der Malerei von Monet. Was sie einzigartig macht, sind die Bilderserien, Versuche, auf von Marcel Proust so genannten „erhabenen Lein-wänden“ den Fluss der Zeit zu spiegeln und den Betrachter zu lehren, das Licht zu verstehen. Die Serien Monets als Ensem-ble zu bewahren ist Aufgabe des Staates. Wenn Clemenceau in diesem Zusammen-hang den Präsidenten daran erinnerte, dass er Frankreich repräsentiert und deshalb handeln muss, ist die Auff orderung zum Staatseingriff nicht politisch, sondern ästhetisch motiviert.

Das Kathedralen-Ensemble ließ sich nicht zusammenhalten, die Bilder wurden einzeln verkauft. Ebenso erging es den Heuschobern, den Pappeln und der Themse bei

Westminster. Erst mit den Nymphéas, den Seerosen im Garten Monets im Örtchen Giverny, hatte Clemenceau Erfolg.

Die Voraussetzung für das Entstehen dieser „Serie“ wurde vor hundert Jahren geschaff en. Als 1916 in Verdun und an der Somme die blutigsten Schlachten des Ersten Weltkriegs tobten, fand Clemenceau die Zeit, Monet in Giverny zu besuchen. Dort war eine „gigantische Konstruktion“ vollendet worden, ein 250 Quadratmeter großes Atelier. Sein Glasdach erlaubte es, im Tageslicht zu arbeiten, „das weder von links noch von rechts, weder von Norden noch von Süden, sondern ganz einfach vom Himmel kommt“. Jetzt konnte Monet die großen panneaux, sie maßen bis zu zwei mal drei Metern, auch im Atelier malen.

Bei Friedensschluss versprach Monet, dem französischen Staat einige Leinwände mit den Seerosen zu schenken: „Das ist wenig genug, aber für mich ist es die einzige

EIN AKT DES

PATRIO-TISMUS

ESSAY

CLEMENCEAU und MONET in Giverny

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APÉRO

Möglichkeit, an diesem Sieg teilzuhaben.“ Dann aber erkrankte der Maler auf beiden Augen an Grauem Star, fürchtete zu erblinden, zweifelte daran, das Projekt der Nymphéas je vollenden zu können, und wollte sein Geschenkversprechen zurück-nehmen. Mit List überredete Clemenceau den Freund zur Operation, wies Jahr für Jahr seine Selbstzweifel zurück und drohte mit Aufkündigung der Freundschaft, wenn Monet sein Versprechen nicht erfüllen sollte. Epische Sturheit zum Nutzen der Kunst: „Arbeiten Sie, arbeiten Sie, nichts anderes zählt, worauf es jetzt ankommt, ist einzig, dass Sie keinen Löwenzahn malen, wenn Sie Seerosen malen wollen.“ Monet malte weiter, von seinen Seerosen aber trennte er sich nicht. Erst nach Monets Tod konnte im Mai 1927 Clemenceau die Säle der Nymphéas einweihen. Gegen lang anhaltenden Widerstand der Staatsbüro-kratie hatte er in der Orangerie der Tuile-rien den passenden Ort für sie gefunden. Er stellte sicher, dass die Bilder ungerahmt, dicht aneinandergefügt und so tief gehängt wurden, dass der Betrachter sich wie in einem Garten fühlen konnte, die „Tore zum Feenreich“ öff neten sich. Umso mehr ärgerte Clemenceau, dass nur wenige Besucher den Weg in die Orangerie fanden. Eine kaum sichtbare kleine graue Tafel wies auf die „Sixtinische Kapelle des Impressio-nismus“ hin, während daneben ein Riesen-plakat eine Hundeausstellung ankündigte.

B ei Ausbruch des Ersten Weltkriegs waren Clemenceau und Monet 73 und 74 Jahre alt. Sie kannten sich seit

Jahrzehnten, teilten die Liebe zu Gärten, schnellen Autos und gutem Essen: „Halten Sie zwei getrüff elte Truthähne bereit“, schrieb Clemenceau einmal an Monet, „komme ich nicht, dürfen Sie sie allein aufessen.“ Wenn man die Fotos betrachtet, auf denen der Politiker und der Maler in Monets riesigem Garten in Giverny zusammen stehen, kommen sie uns – rauschbärtig der eine, schnurrbart-mächtig der andere – wie Figuren aus einem Märchen vor. Stets wirken sie, als heckten sie etwas miteinander aus: ein Komplott zum Nutzen der Kunst. Von ihrer Korres-pondenz sind nur die 153 Briefe des „Tigers“ an seinen vieux camarade erhalten: Dokumente einer Alterszärtlichkeit, in der

Selbstironie und schwärmerische Empathie sich mischen. Clemenceaus letzter Brief an Monet vom September 1926 endet mit den Worten: „Ich bin genau so verrückt wie Sie, aber meine Verrücktheit ist von anderer Art. Deswegen werden wir uns bis ans Ende verstehen.“ Im Dezember stirbt Monet. Clemenceau stirbt 1929, sein letztes Buch ist Monet und den Nymphéas gewidmet.

Die Protagonisten dieser folie à deux zwischen Kunst und Politik erscheinen uns überle-bensgroß – im Sinne jener grandeur, in der Charles de Gaulle, der Clemenceau verehrte, das Wesen Frankreichs sah. Größe macht Vergleiche gefährlich. Der französische Ministerpräsident Manuel Valls hatte schon als Innenminister ein Foto Clemenceaus in seinem Arbeitszimmer, stolz bezeichnet er sich als Clemenciste. Ironisch ist in der Presse vom „Tiger Valls“ die Rede. Grandeur in der Kunst ist geblieben, in der Politik sucht man sie heute vergeblich. Auch das macht es schwierig, in unserer Zeit an eine große Koalition aus Kunst und Politik zu denken, wie Monet und Clemenceau sie einmal verkörperten.

Die ästhetische Motivation politischen Handelns macht Clemenceau zu einem einzigartigen Akteur. Die Kunst war für ihn keine Kompensation der Politik, sie war nicht das Reich der schönen Freiheit im Kontrast zur oft schmerzlichen Notwendig-keit politischen Handelns. Vorwärtsdrän-gende Kunst war im buchstäblichen Sinne stets ein Kampf um Anerkennung. Und so kämpfte Clemenceau nicht nur für die Kunst, er schlug sich für sie. Rabiat in der Politik, war er genauso rabiat in der Kunst. Clemenceau gehörte zu einer

„Schutztruppe“, die Manets Skandalbild Olympia vor Attacken bewahren wollte, und als es einem Besucher dennoch gelang, das Bild zu bespucken, stürzte sich Clemenceau auf ihn, verprügelte ihn nach Strich und Faden und stellte sich zum Duell. Die Mär will es, dass er dem Gegner, der ihn nur leicht verletzt hatte, später zur Begnadigung verhalf, weil er ein so schlechter Schütze war.

Auch als Kunstliebhaber blieb Clemenceau seinen politischen Überzeu-gungen treu. Der Sozialist unterstützte das Projekt der Musées du Soir, in denen im Osten von Paris den Arbeitern nach Feierabend die Kunst nahegebracht werden sollte, der Laizist mochte Bilder religiösen Inhalts wie Jean-François Millets Angelusläuten nicht, der Deutschenhasser Clemenceau, der im Versailler Frieden die Demütigung Deutschlands durchsetzte, lehnte den entstehenden Kubismus als boche ab, weil seine ersten Händler und Sammler Deut-sche waren. Bracque und Picasso kamen nicht in sein Blickfeld.

Clemenceau liebte die ostasiatische Kunst und verehrte die griechische Antike. Die Verehrung der Klassiker aber war für ihn trivial: Schon auf der Schule lernte man sie zu schätzen. Enthusiastisch kämpfte er für die Kunst der Impressionisten, von der lange Zeit das große Publikum mit dem Kritiker des Figaro behauptete, ihre Bilder hätte auch ein Aff e malen können. Für Clemenceau musste die Politik Risiken auf sich nehmen: Sie hatte die Pfl icht zur Avantgarde.

„Ich bin genauso verrückt wie Sie“, schreibt

der „Tiger“ Clemenceau an seinen vieux camarade Monet. „Aber meine

Verrücktheit ist von anderer Art. Deswegen werden wir

uns bis ans Ende verstehen“

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Tamara Kvesitadze

Any Direction23. April –4. Juni 2016

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Gallery Weekend | 29. April–1. Mai 2016

Fr, 11–21 Uhr | Sa + So, 11–19 Uhr

GALERIEKORNFELDFasanenstraße 26 | 10719 Berlin

Di – Sa, 11– 18 Uhr | www.galeriekornfeld.com

Group show curated by Thole Rotermund & 68projects

www.68projects.com

GALERIEKORNFELD BERLIN

Fasanenstr. 68 | 10719 Berlin

Papier!23. April – 4. Juni 2016

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APÉRO

LICHTSPIELE

NEUES, ALTES, BLAUES

APÉRO

W o liegen die Wurzeln der Fotogra-fi e? Wo fängt Kunst an? Und wieso eiferte das neue Medium

der Malerei nach, statt mit den eigenen Mitteln zu experimentieren? Dokumenta-tion, Narration und das Piktoriale – für den niederländischen Konzeptkünstler Jan Dibbets haben die Säulen der Malerei das Verständnis vom Lichtbild kaputtgemacht. Die Ausstellung Pandora’s Box (bis 17. Juli),

die er nun im Musée d’Art moderne de la Ville de Paris kuratiert hat, vereint deshalb Fotografi en, die eher im Bereich der Wissenschaft angesiedelt sind – von Biologen, Astrologen und Künstlern. So nutzte Anna Atkins die Kamera, um Pfl anzentypen festzulegen. Sie gilt als erste Fotografi n – allerdings nicht im Kunstbe-reich. „Das sind hervorragende Fotos“, sagt Dibbets, „die man bisher als reine Wissen-schaft sieht. Aber nicht als Kunst. Dabei war das der Anfang des Nachdenkens über Fotografi e! Malerei kann so etwas gar nicht erfi nden.“ Und die Nasa-Aufnahme vom Mars: Ist das nur Wissenschaft oder auch Kunst? Oder Bruce Nauman, der 1966 eine Wasserfontäne emporprustete – seine Hommage an Duchamps Fountain spielt auch mit dem perfekten Augenblick. „Wieso befragen so wenige Fotografen den Apparat selbst? Sie denken: Technisch kann ich das, also mache ich schöne Fotos. Aber schöne Fotos sind Quatsch.“ GB

ANNA ATKINS Padina Pavonia, 1843–1853

Oben: Nasa-Bild Viking Lander 1, 1976

NEUHIER

Zur Sammlung des Museum of Modern Art gehören seine Bilder: Otto Umbehr, genannt Umbo. Der 2014 verstorbene Berliner Galerist und Sammler Rudolf Kicken küm-merte sich nach Umbos Tod 1980 um das Vermächtnis des deutschen Avantgardefotografen, vermittelte Arbeiten bis nach New York. In Deutschland aber könnte noch mehr getan werden, um die Erinnerung an diesen Pionier des Neuen Sehens und einen der bedeutendsten Foto-künstler des Bauhauses lebendig zu halten. Vor diesem Hintergrund ist es jetzt eine kleine Sensation: Die Berlinische Galerie, das Sprengel Museum Hannover und die Stiftung Bauhaus Dessau erwerben gemein-sam Umbos Nachlass. Der Kollek-tivankauf ist eine logistische Meister-leistung, an der 14 Förderer beteiligt sind. Der Fotograf war von 1921 bis 1923 am Bauhaus in Weimar, lernte bei Schlemmer, Kandinsky und Klee,

bevor er nach Berlin ging. Dort entstand seine berühmte Film-montage Der rasende Reporter. Mit der legendären Ausstellung Film und Foto 1929 in Stuttgart zählte er zur Foto-Avantgarde. Im Krieg aber wurden seine 60.000 Negative zerstört. Und so erlebte Umbo erst Jahrzehnte später eine Würdigung, die nun durch diesen Ankauf seiner wichtigsten Werke, Kontaktbogen und Notizen weitergeführt und für die Zukunft gesichert wird. SWKA

UMBO Träumende, 1928/29

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APÉRO

Tobias Rehberger macht Kunst, die man nicht nur anschauen, sondern auch benutzen soll. Also fast schon Design. Aber nur fast: Moderne Möbelklassiker ließ er von afrikanischen Kunsthandwerkern nach-bauen – nach Skizzen aus seinem Gedächtnis. Künstler-freunde porträtierte er als Blumenvasen. Poppig-bunte Sitzmöbel laden zum sozialen Miteinander ein. Für das schrille Interieur des Cafés der Biennale von Venedig, das er von einem Tarnmus-ter ableitete, erhielt er 2009 den Goldenen Löwen. Nun hat der Professor der Frankfurter Städelschule für das Luxus-Modelabel MCM eine exklusive Edition für Taschen und Koff er hergestellt. Auch hier diente Camoufl age als Vorbild. Und auch hier gilt: Nicht nur sehen, sondern bitte auch gehen, tragen, anfassen – und vor allem: gese-hen wer-den! GB

„(359103) Ottopiene“ – dieser Name beschreibt einen jüngst entdeckten Stern im Universum. Er trägt den

Namen Otto Pienes, des vor zwei Jahren verstor-benen Zero-Künstlers, der wie kein anderer den Himmel zu seinem Aktionsfeld gemacht hat. Für Otto Piene war er ein Zeichen für Freiheit. Vor dieser Folie ließ er seine sternenförmigen Lichtskulpturen tanzen, die unter dem Begriff „Sky Art“ in die Geschichte eingehen werden.

Die Idee, dem Künstler selbst im Universum einen dauerhaften Platz zu geben, hatte Pienes Freund Dieter Jung. Zwei Jahre lang suchte der Berliner Holografi ekünstler, der in den 80er-Jahren gemeinsam mit dem Künstler am Center for Advanced Visual Studies am MIT in Cam-bridge, USA, arbeitete, nach einem Wissenschaft-ler, der ihm helfen würde. Er gewann, nach einigen Fehlschlägen, Felix Hormuth vom Max-Planck-Institut für Astronomie. Der Wissen-schaftler machte sich in der Sternwarte Calar Alto auf die Suche und fand „(359103) Ottopiene“. Mit diesem Stern hat Pienes Werk nun seine wahre Vollendung gefunden: Mission completed. HO

EIN STERN FÜR PIENE

DAS IST KEIN

KOFFER, DAS IST KUNST

KRITIKERKUNST

Ohne Clement Greenberg wäre New York nicht zur Welthauptstadt der zeitgenössischen Kunst im 20. Jahrhun-

dert aufgestiegen. Der Kritiker hatte frühzeitig erkannt, dass die Wunde, die der Nationalsozialis-mus und der Weltkrieg der europäischen Kunst zugefügt hat, nicht von Paris und schon gar nicht von Berlin aus geheilt werden könnte, sondern nur von New York aus. Dabei argumen-tierte er ebenso ideologisch wie ökonomisch clever. In seinem Essay Avantgarde und Kitsch, der 1939 in der linken Politik- und Literaturzeit-schrift Partisan Review erschien, warnte er vor den gefälligen Produk-ten der Massenkultur, die in ihrer Anbiederung an Moden und Stile anfällig seien für propagandistischen

Missbrauch. Die ungegen-ständliche Avantgarde hingegen sei unschuldig. In Amerika brach sich diese nichtfi gurative Kunst gerade Bahn: Unter Anleitung des deutschen Emigranten Josef Albers hatte sich in New York bereits die Künstlergruppe „American Abstract Artists“ gegründet. Wenig später formierte sich um Jackson Pollock und Willem de Kooning die berühmte New York School. Und Clement Greenberg wurde der mächtige Wortführer einer Weltanschauung, die den Abstrakten Expressionismus

in seiner ästhetischen Vorherrschaft überhaupt erst legitimierte. Jetzt bietet sich die Chance, Greenbergs eigene Sammlung kennenzulernen, die er bis zu seinem Tod 1994 zusammengetra-gen hat. 20 Höhepunkte der Kollektion kommen am 11. Mai bei Christie’s in New York unter den

Hammer: abstrakte Gemälde von Friedel Dzubas, Kenneth Noland oder Jules Olitski. Helen Frankenthaler nimmt eine besondere Stellung ein: Von ihr ließ sich Greenberg nicht nur bekochen, sie durfte ihn auch porträtieren. Eine Skizze aus dem Jahr 1950 zeigt sein markantes Profi l. So viel Repräsentation ließ „Clem“ dann doch einmal durchgehen. WOE

CLEMENT GREENBERGS Apartment mit Werken von KENNETH NOLAND (links) und JULES OLITSKI

KENNETH NOLAND New Problem, 1968

Aus der MCM-Kollektion von TOBIAS REHBERGER

Stern „(359103) Ottopiene“

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gerade begeistert von der Idee gewesen sein, hat aber dann doch der Sonderbehandlung zugestimmt. Umso mehr als seine Malerei so an Prominenz und Auff älligkeit gewann. Wohl nahm die luftige Präsentation auch Bezug auf die neue Spielform Environment, die ein paar Räume weiter der Italiener Emilio Vedova mit seiner Installation aus skulptural gestellten Bildern eindrucksvoll vorführte.

Während Vedova einigermaßen unge-schoren durchkam, fi el der Schmäh auf Nay. Klaus Jürgen-Fischer, selber Maler, ein wenig altmeisterlich-ledern und als Mitherausgeber des Magazins Das Kunst-

werk eine kunstkritische Stimme von Gewicht, mokierte sich über den „Sonder-aufwand eines Kathedralraumes mit drei an der Decke gestaff elten Riesenbildern von Ernst Wilhelm Nay, den man off enbar eingerichtet hat, um diesem Kölner Maler eine Weltgeltung zu sichern, die er nicht besitzt“. Die von Arnold Bode besorgte Hängung sei geistreich, dass sie dem Falschen zugutekomme, entspreche nicht nur einer freundschaftlichen Vorliebe des Documenta-Rates für diesen Künstler, sondern einem nationalen Missverständnis: „Hier ist kein Weltrang, sondern ein künstlerisches Versagen zementiert worden.“

Wenn man an die ungewöhnliche Schärfe des Urteils denkt, aus heutiger kunst-kritischer Sicht fast erschreckend aggressiv, dann lohnt es sich, noch einmal darüber nachzudenken, was die Polemik in Wahrheit munitioniert hatte. Jürgen-Fischer sollte später noch deutlicher werden: „Der Maler Ernst Wilhelm Nay ist deshalb zu einem Fall geworden, weil seine unaufhörliche Exponierung das deutlichste Symptom für die chronische Schwäche eines immer fester umreißbaren Lagers unserer kunst-kritischen und kunstfördernden Intelligenz darstellt, für die die ästhetische Kategorie der bildnerischen Ordnung, Klarheit und Disziplin nicht existiert.“

Es hallt wie ein Echo der bestimmenden Nachkriegsauseinandersetzung. Der Sieges-zug der Abstraktion, der von den lautstarken Museumsleuten als Wiederanschluss an die lange verpönte Moderne gefeiert wurde, war für Maler, die beim Gegenstand geblie-ben waren, wie ein Verrat der fortschrittsun-bedürftigen Kunst an den Fortschritt.

Es war einmal. So beginnen auch die schönsten Erzählungen, die die Kunstgeschichte überliefert. Es war

einmal ein deutscher Maler, der gemessen am deutschen Format ungewöhnlich große Bilder malte und dazu ungewöhnlich große Worte sprach. „Bilder kommen aus Bildern“, also sprach Ernst Wilhelm Nay. Und das klang in einer Zeit, als die Kunst noch immer an ihrem Weltbezug gemessen wurde, schon wie schiere Überheblichkeit.

Ein Werk, nie vergessen, in Museums-sammlungen und auf dem Markt noch immer präsent und doch irgendwie eingefro-ren im märchenhaften Gestern. Und nun steht man einigermaßen verblüff t vor diesen Bildern, vor ihrer Hitze, ihrer unverbrauch-ten malerischen Wucht, ihrer Frische, als seien die frühen 60er-Jahre von aller Patina der zu Ende gehenden Adenauer-Epoche gereinigt worden.

Die Berliner Galerie Aurel Scheibler hat noch einmal acht der seinerzeit berühmten Augenbilder von Ernst Wilhelm Nay versammelt. Zwei von ihnen gehörten zur Gruppe, die 1964 auf der Documenta III

in Kassel gezeigt wurde und dort für erregte Dispute sorgte.

Was genau den Kritikerzorn entfl ammt hatte, ist nur noch schwer zu rekonstruieren. Arnold Bode, der Docu-menta-Gründer und vorerst unersetzliche Chef, hatte trotz erster Pop-Art-Signale aus den USA, trotz Fluxus und Nouveau Réalisme noch einmal der europäischen Malerei-tradition eine große Bühne geben wollen. Ernst Wilhelm Nay zählte er zu den Bewahrern und Erneuerern zugleich. In einem etwas kühnen Regieeinfall ließ er drei der für die Documenta gemalten Nay-Bilder in einem relativ schmalen Gang des Fridericianums an der Decke befestigen. Der Künstler soll nicht

Drei Bilder im Raum, Installationsansicht, Documenta III, 1964Rechte Seite oben: Silberstern, 1964, Öl auf Leinwand, 200 × 160 cm

Ernst Wilhelm Nay sorgte 1964 auf der Documenta III für Kontroversen. Jetzt ist seine Serie noch einmal zu sehen – auf dem Berliner Gallery Weekend

HINTERGRUND

AN DIE DECKE

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Ernst Wilhelm Nay, der als Karl-Hofer-Schüler realistisch begann und sich bei langen Frankreich-Aufenthalten vom Surrealismus beeinfl ussen ließ, war spätestens seit seinen Scheibenbildern, mit denen er in den 50er-Jahren auftrat, ein Star der abstrakten Szene. Und die Dynamik, die mit den leuchtenden Farbkreisen in seine Bilder einzog, machte ihn zusammen mit der rhetorischen Brillanz, mit der er seiner Malerei die Gestalt einer aufgeklärten Farbtheorie gab, zum Pionier der unge-genständlichen Kunst.

Dabei hielt Nay stets Abstand zur gestischen Abstraktion. Während nicht wenige seiner Generation dem

malerischen Aktionismus huldigten, wie er in Frankreich unter der Bürgerschreck-Parole „Tachismus“ Kult war, blieb Nay bei seinen besonnenen Entwürfen. Und auch dort, wo sich die Farbe in kraftvoll-unge-stümen Malhandlungen über die Bildfl äche ausbreitet, stößt sie immer wieder auf gesetzte Formen, auf Scheiben, Kreise, augenähnliche Gebilde, die dieser Malerei Dynamik geben, aber auch für Ordnung,

Klarheit und Disziplin sorgen – anders als es das Ressentiment wahrhaben wollte.

Man sieht das heute viel besser. Und das erstaunliche Ensemble, das Aurel Scheibler mithilfe der Nay-Stiftung zusammenbekommen hat, führt die ganze ungetrübte Qualität dieser Malerei noch einmal eindrucksvoll vor Augen. Nicht zuletzt sind es die Formate mit ihrer Neigung zur grandiosen Dehnung des Bildraums, die immer noch und immer wieder überraschen. Es wäre eine Untersuchung wert, welche Rolle Sam Francis mit seinen gallertartigen Farbriesenmolekülen spielte, die bereits auf seinen Bildern auf und ab schweb-ten, als Nay seine Scheiben- und Augen-bilder entwickelt hat. Ganz sicherlich hat der Deutsche Maß an den amerika-nischen Abstrakten Expressionisten genommen.

Doch während in den USA bald das Zepter an die Bildermacher des Pop-Jahr-zehnts weitergereicht wurde, hat Ernst Wilhelm Nay den Zeitgeist wie die Fliegen abgewehrt. So ist sein Werk eingegangen

ins märchenhafte Gestern. Aber wie immer bei Märchen hat weder die böse Stiefmutter noch der böse Kritiker recht behalten.

TEXT: HANS-JOACHIM MÜLLER

AUSSTELLUNG IN DER BERLINER GALERIE AUREL SCHEIBLER VOM 30. APRIL BIS 18. JUNI

SHAPE OF TIME – FUTURE

OF NOSTALGIA

FORME ÎN TIMP – VIITORUL NOSTALGIEI

art-collection-telekom.com

Art Collection Telekom

20. 04. − 09. 10. 2016

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National Museum of Contemporary Art MNAC Bucharest

E4 Bucharest

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DICHTER DRAN

NO-GO-BOY

Was für Energien werden frei, wenn die Sprachkunst auf die Bildkunst triff t? Für BLAU hören Lyriker auf den Klang der Kunst. Jörg Albrecht, Jahr-gang 1981, sieht dem Tanz im White Cube zu.

JörgALBRECHT

Inspiriert von

Félix González-Torres

FÉLIX GONZÁLEZ-TORRES Untitled (Go-Go Dancing Platform), 1991, Holz, Acryl, Glühbirnen, 55 × 183 × 183 cm,

Installationsansicht Kunstmuseum St. Gallen

Was hast du da auf den Rücken tätowiert? Nen Anker? Den Eiffelturm? Nein, das Gesicht meines Freundes Brian Storm. Er ist Performancekünstler und Teilzeit-Go-Go-Boy. Oder Go-Go-Boy und Teilzeit-Performancekünstler? Je nachdem, wer den Lebenslauf schreibt. Je nachdem, ist er Ami mit deutschem Background oder Deutscher mit namibischem Foreground. Jedenfalls wollte Brian Storm unbedingt diesen Job, wollte dieses Stück Kunst tanzen.

Bestandteile der Installation:

— weißer Kasten, irgendwo im weißen Würfel— zirka sechsundvierzig Glühlampen am Rand dieses Würfels— Strom— ein Tänzer in silbernem Lamé-Höschen— Kopfhörer und Walkman [wenn möglich: gelb]— Musik, die niemand außer dem Tänzer hört— die Atemstöße des Tänzers beim Tanzen, fünf Minuten pro Tag— die Veränderung des Raumes durch den Auftritt des Tänzers— die Veränderung der Tanzstile durch die Jahrzehnte, von 1991 bis

zum heutigen Tag— kein Schild: NICHT ANFASSEN, aber dennoch wird niemand anfassen— der Respekt und die Scheu des Kunstpublikums, im Gegensatz zur

Gier des Klubpublikums— das Ineinander von Poesie und Politik, das die frühen 90er noch prägte,

und das ich schmerzlich vermisse [VERMISSE!]

Dann der Anruf des Museums bei Brian Storm: Daß sie gedacht hätten, er sei Latino, so wie der Künstler auch. Daß seine Haut so uneindeutig sei, so halb-dunkel. Daß sie in jedem Fall einen gut trainierten Latino bräuchten, Latino, jung und biologischer Mann. Meine Fresse, Brian! Die kuratierte Wirklichkeit!

Anstatt dessen: Einen alten Go-Go-Dancer jenseits der achtzig tanzen lassen. Ein Mädchen von sieben Jahren tanzen lassen. Eine biodeutsche Frau um die vierzig. Eine deutsch-türkische Frau um die sechzig. Einen brasilianischen Mann. Einen koreanischen Mann im Rollstuhl. Eine indische Frau mit Trisomie 21. Jeden Tag für fünf Minuten eine andere Art von Go-Go-Dance. Und da tanzt du doch noch, Brian Storm, tanzt und tanzt und tanzt im White Cube. [Critical White Cube.]

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ULF POSCHARDT

DAS URCOUPÉ

H erkunft ist Zukunft. Audi baut seit Jahren und Jahrzehnten

weitgehend perfektoide Autos, aber der Erfolg hat viel Charme gekostet. Die Anfänge von Audi bieten Inspiration, insbesondere der Start der heutigen Marken-geschichte 1969. Damals präsentierte der einst biederisti-sche Beamtenkutschenhersteller ein Coupé, dem die Sonne Italiens in jedes Detail schien. Das elegant und sportlich geschnittene Auto kam überra-schend – aber nicht aus dem Nichts. Die Schwestermarke

NSU hatte mit dem Ro 80 ein ähnlich spektakuläres wie weg weisendes Konzept in die Aufbruchsära der späten 60er-Jahre geworfen, und so konnte aus Audi wenig später die Under-groundmarke für die technische Intelligenz werden. Reiche Leute mögen Mercedes fahren, sportliche

BMW, aber die gebildeten Stände hatten mit dem Ingeni-eur-Chic der Ingolstädter eine lässige Alternative bekommen. Die Fahrleistungen des Audi Coupé waren für ein Auto der gehobenen Mittelschicht Ende der 60er-Jahre beeindruckend. Der 1,9-Liter-Vierzylinder machte den Audi 185 km/h schnell und ließ ihn in elf Sekunden von 0 auf 100 km/h schnellen. Damit konnten die S-Reihe und große BMWs geärgert werden, noch wichti-ger aber waren die Irritationen in der deutschen Distinktions-grammatik. Was hat es mit Audi auf sich, welcher sozialen Logik folgt deren nüchtern beschwing-tes Design?

Gerüchte besagen, dass der damalige Entwicklungschef der Auto Union gern ein Coupé als Dienstwagen haben wollte und ein ebensolches in Auftrag gab. Dieser hedonistische Urimpuls ist in jeder Chromschwingung lebendig. Designt hatte den meisterlichen Entwurf ein Twen namens Hartmut Warkuß, der in

den 90er-Jahren Designchef von Volkswagen wurde. Wie auch beim Lamborghini Miura, dem Maserati Ghibli oder dem Porsche 911 waren es ganz junge Burschen, die Ungeheu-erliches entwarfen. Heute sind derart juvenile Geniestreiche eher undenkbar.

Das Coupé war teuer, tech-nisch nicht sonderlich robust und deswegen auch kein Erfolg – verkäuferisch. Heute ist das Fahrzeug eine Rarität und auf Oldiemessen ein Publikumsmagnet. Wie schön wäre es, wenn Audi wieder so eine Sensation entwerfen könnte wie dieses zauberhafte Urcoupé. Vielleicht würde sich dann auch das Klientel der Audi-Fahrer ändern, die das Autobahn-Unsympathentum anführen, gefolgt von Škoda-Ehrgeizlingen und Posern in asiatischen Günstig-SUVs.

Das Urcoupé und alle anderen Audi Coupé werden im Werksmuseum in Ingolstadt bis 18. September ausgestellt.

BEWEGTBILD DIE SCHNELLSTEN SKULPTUREN DER WELT

in jeder Chrom-schwingung

lebendig „Naked Lunch, David Cronen-bergs Film über oder besser: um das gleichnamige Buch von William S. Burroughs he-rum ist die Beschreibung einer obsessiven Zwischenwelt. Der genaue Ort ist unwichtig. Es wird ein kreativer Akt be-schrieben, der gleichsam ver-gessen wird und dabei Tiefe, Dichte und komprimiertes Ver-langen magnetisch anzieht. Absurde Aufträge an Einbil-dungskraft und Flucht in eine unter Einfl uss stehende Fanta-siewelt. Fantasie, die man braucht, um Ängste, Beklem-mungen und Co-Abhängigkei-ten zu absorbieren. Untertau-chen, um Abstand zu gewin-nen. Das 1959 erschienene Buch schien unverfi lmbar, und es verweigert sich einer logi-schen Erzählstruktur, was ich bei jeder Kunst für zentral halte. Multiperspek-tive ohne Nar-rative, die trotz-dem nachvoll-ziehbar bleibt, ist große Kunst.“

Lässige Alternative: AUDI COUPÉ

Naked Lunch, 1991, ein Film von David Cronenberg

THOMAS SCHEIBITZ über seinen Lieblingsfilm Naked Lunch

DIE KUNST HALLE DARMSTADT ZEIGT VOM 3. MAI BIS 24. JULI MALEREI ALS FILM, U. A. MIT THOMAS SCHEIBITZ

Von wegen biederistisch: Bei diesem Audi war der hedonistische Urimpuls plötzlich

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APÉRO

Ich mache auf der Bühne oft die Erfahrung, dass sich Zuschauer verweigern, sowohl mir als Darsteller als auch der Kunst allgemein. Da ist Kunst machtlos. Das ist wie mit einem Orgasmus. Man kann nieman-den vergewaltigen mit dem Ziel, ihn zum Orgasmus zu bringen. Das geht nur, wenn sich das Gegenüber öff net. Für mich drückt das Bild das aus. Es drängt sich nicht auf, sondern ich entscheide, mich ihm auszusetzen. In der Zero-Ausstel-lung letztes Jahr habe ich gelesen: Jede Linie auf einem Bild ist bereits eine Einschrän-kung. Das Einfarbige ist die größte Freiheit, eine Form von Anarchie. Das fasziniert mich auch beim Spielen: In dem Moment, in dem ich die Bühne betrete, gibt es keine Regeln, die ich nicht brechen könnte. Was nicht heißt, dass ich das ständig ausreizen muss, aber ich fi nde die Option attraktiv. Mich

fasziniert auch der Anspruch, aus dem Nullzustand heraus zu agieren. Oft arbeitet man sich gedanklich an der Vergangen-heit und Zukunft ab, aber mich interessiert das Jetzt. Ich versuche mich vor der Vorstel-lung in diesen Zustand zu versetzen. Das ist natürlich para-dox, weil man den Moment nicht festhalten kann. Diesen Widerspruch gilt es auszuhalten. Die Sehnsucht nach Stillstand, Erlösung und Ruhe ist zugleich eine Todessehnsucht. Der Tod ist perfekt. Es gibt ein Stück von Peter Handke, Zurüstungen

für die Unsterblichkeit. Da gibt es die Raumverdränger, deren Parole lautet „Reiz statt Raum“. Der Reiz stellt eine permanente Bedrohung dar. Er schränkt uns ein und lenkt ab. Ich habe eine Sehnsucht nach Raum und dem Reizlosen. Der Trans-zendenz. Kunst kommt nicht von Können, aber Rezipieren von Wollen.

„DER TOD IST PERFEKT“

LARS EIDINGER, Star der Berliner Schaubühne, fotografiert von ALEXANDRE DE BRABANT

YVES KLEINMonochrome bleu sans titre (IKB 68), 1961

BLITZSCHLAG

Es ist ein Augenblick der Gewiss-heit: Dieses Kunstwerk trifft mich im Kern. Lars Eidinger über ein Monochrom von Yves

Klein, vor dem plötzlich die Zeit stillstand

Mein Schlüsselerlebnis hatte ich vor einem Bild von Yves Klein,

das 2001 im Deutschen Guggen-heim hing. Erst sah ich nur eine blaue Leinwand und wollte weitergehen, aber dann entschied ich mich, stehen zu bleiben. Je länger ich es betrachtete, desto mehr entfaltete es eine Wirkung auf mich. Einen regelrechten Sog. Das Blau ist leicht rotstichig, fl irrt und leuchtet scheinbar von innen heraus. So entsteht Bewegung, obwohl es ein stilles Bild ist. Die Tatsache, dass einen etwas, das sich scheinbar sofort erschließt, verweilen lässt, faszinierte mich. Was passiert, wenn man sich Zeit nimmt? Mir fi el auf, dass ich der einzige Besucher war, der so lange davorstand. Was ich in dem Moment verstanden habe – auch über die Kunst, die ich selber ausübe –, war, dass man sich für Kunst öff nen muss. Es gibt ein Zitat von Julian Schnabel: „Wenn Menschen Kunst anschauen, müssen sie einfach nur fühlen. Und zwar ihre eigenen Gefühle, nicht meine. Das Kunstwerk ist tot, bis jemand davorsteht und es anschaut.“ Das leuchtet mir ein, vor allem bei diesem Bild.

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Mit der DZ BANK Kunstsammlung, der größten Sammlung ihrer Art, machen wir zeitgenössische Fotokunst seit über 20 Jahren für alle erlebbar – mit Ausstellungen in unserem ART FOYER sowie in langjähriger, erfolgreicher Zusammenarbeit mit dem Städel Museum. Die älteste Museumsstiftung Deutschlands umfasst Werke aus 700 Jahren europäischer Kunstgeschichte. Wir freuen uns, mit 200 Werken dazu beizutragen, künstlerische Fotografie auf diese Weise zu fördern. Mehr unter » www.dzbank.de

WIR VERBINDEN FOTOGRAFIE MIT 700 JAHREN KUNSTGESCHICHTE.

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Jede Stadt hat ihre Mikrokosmen, wir stellen sie vor. Mit Chris Sharp streifen wir durch das Zwielicht von Mexico City, vorbei an der besten Saftbar der Stadt, einer wilden Pozolería und dem Kunstraum Bikini Wax

ROMA SUR, MEXICO CITY

UM DIE ECKE

Im Jahr 2013 eröffneten der Künstler Martin Soto Climent und ich einen Projekt-raum namens „Lulu“ in Martins Atelier-

wohnung. Sie liegt im fast dörfl ichen Stadt-teil Roma Sur in Mexico City. Die Gegend war damals so einfach und authentisch, dass ich als off ensichtlich einziger Ausländer hier zu scher zen pfl egte, ich sei eben der Gentri-fi zierungsagent von Roma Sur. Auch wenn es kaum zu glauben ist, ich bin noch immer allein auf weiter Flur. Jedwede Kolonisation der Arbeiterviertel in Mexico City durch die Kreativklasse scheint sich zuverlässig auf die nördliche Flugbahn in Juárez und San Rafael zu beschränken. Dort befi nden sich Gale-rien und Projekträume wie Joségarcía_,mx, Marso, Lodos Contempo ráneo, Casa Maauad und viele andere. Roma Sur aber hat sich seit meiner Ankunft in Mexico City im Herbst 2012 kaum verändert – es ist noch genauso zu erleben, wie ich es damals vorge-funden habe.

Mit der Ausnahme einiger Starbucks-Läden besteht die Gegend vor allem aus klei-nen, freundlichen Ma and Pa enterprises  –Schneidereien, Schönheitssalons, Bäckereien, comida corrida-Restaurants und Ähnli chem. Die alte Architektur ist ein bisschen herun-tergekommen und patiniert und kaum höher als zwei Stockwerke. Die Häuser sind im Pueblo stil aus den frühen 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts erbaut. Zusammen mit der Art-déco-Mischung aus dem benachbar-ten Stadtteil Condesa und jüngeren Bauten aus den 80er-Jahren trägt diese vertikale Bescheidenheit ihren Teil dazu bei, dass man insgesamt das Gefühl hat, sich in einem Dorf zu befi nden  – und das in einer der größten Städte der Welt.

t ihre m Jahr 2013 eröffneten der Künstler

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dörfl ichen Stadt-Gegend

Mit der Ausnahme einsteht die Gegend v

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Im Frühling ist das Wetter lau, eine Brise fl üstert in den Blättern der umliegen-den Bäume und die Sonne belebt behutsam die unebenen und gerissenen Bürgersteige mit ihren Fleckenwürfen. Gegen halb sechs beginnt der Sonnenuntergang. Dieser wei-che, unbeschreibliche Zauber des Zwie-lichts ist der eigentliche Grund, weshalb ich nach Mexico City gezogen bin. Voll süßer Mattigkeit, urban und zeitlos zugleich, ist der Sonnenuntergang hier anders als an jedem anderen Ort, den ich kenne. Er hat eine sehr liebevolle und dezente Art, einen innehalten zu lassen, egal was man gerade tut – wie in einem Moment der Stille zwingt er dich, seinen honigsüßen Schwellenzu-stand zu beobachten.

Doch muss ich zugeben, dass ich gerade in diesem Augenblick wieder von allerlei Unbehagen bestürmt werde, ganz so als

würde ich nur die halbe Wahrheit erzählen. Die Bedenken kommen immer, wenn ich gebeten werde, über mein Leben in Mexico City zu schreiben oder davon zu erzählen. Ich fühle mich beinahe schuldig, im Guten wie im Schlechten, zum Mythos dieser Stadt als urbaner Utopie in der globalen Vorstel-lung beizutragen. Gerade vor ein paar Mona-ten führte die New York Times Mexico City als eines der Top-Reiseziele für 2016 an. Die Kunstwelt feiert sie ständig auf die eine oder andere Weise als „das neue Berlin“. Einerseits bin ich mir vollkommen bewusst, dass Städte den Stoff von Mythen und Legenden bilden – schließlich war die reichhaltige, subkulturelle Geschichte von Schriftstellern wie William S. Burroughs und Thomas Pynchon, die nach Mexiko zogen, um dort zu leben und zu schrei ben, einer der Gründe, der mich hier-hergelockt hat.

SÜSSE MATTIGKEITMITTE: CHRIS SHARP GRÜNDETE VOR DREI JAHREN DEN PROJEKTRAUM LULU. BIS HEUTE IST ER DER EINZIGE KURATOR IN ROMA SUR – DIE GEGEND FÜHLT SICH NOCH IMMER AN WIE EIN DORF. UNTEN: DIE ECHTE LULU IST CHEFIN DER SAFTBAR JUGOS Y LICUADOS LULU

Ich spüre, wie diese geistigen Einfl üsse die Stadt bestimmen, begleiten, vollenden. Andererseits ist mir klar, wie naiv das aus der Sicht eines chilango (Einheimischen) erschei-nen muss. Denn sie, die chilangos, wissen: Es ist eine Sache, die Stadt für eine oder zwei Wochen zu besuchen – aber eine andere, hier wirklich zu leben. Vom Verkehr, der einer höheren Gewalt zu gehorchen scheint, der starken Umweltverschmutzung und der unheimlichen, unsinnigen Bürokratie, die einen bereits beim Einlösen eines Schecks erwischt, über die schlechte Wasserqualität bis hin zum Lärm, ganz zu schweigen von der Kriminalität (die abgenommen hat, aber immer noch Alltag ist), ist Mexico City weit von der Utopie des 21. Jahrhunderts entfernt, die die Medien daraus machen. Dies ist eine harte Stadt; es gibt viel zu lieben und nicht wenig zu hassen. Ich habe meine guten und meine schlechten Tage, aber ich lebe hier seit über drei Jahren und bin immer noch da und liebe den Ort.

Was ich an ihm liebe? Abgesehen vom Zwielicht, der unvergleichlichen Atmo-sphäre und der Liebenswürdigkeit der Men-schen? Es ist defi nitiv das Essen. Einige Lieblingsorte in meiner Nähe sind das Jugos  y Licuados Lulu, die Taquería Los

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Parados und das Casa de Toño. Das Jugos y Licuados Lulu – der Fruchtsaftladen, nach dem wir unseren Projektraum benannt haben, liegt nur anderthalb Blöcke die Straße hinunter auf der Bajío. Lulu ist ein kleiner Straßenstand, der vor allem auf Säfte und Smoothies von frischen Früchten der Saison spezialisiert ist. Lulu heißt auch die Besitze-rin. In den mehr als zwanzig Jahren, in denen sie Säfte herstellt, hat sie ihre Kunst zur Meisterschaft gebracht – jede ihrer Gesten destilliert sie in eine perfekt entschiedene und beinahe maschinenartige Wirtschaftlich-keit. Ich bestelle oft einen entsprechend köstlichen antigripal („gegen Grippe“) aus Guave, Orangen, Limette und Honig, dazu

kommen, wenn ich darum bitte, Rote Beete. Ich bin immer wieder erstaunt von dem Tempo und der Effi zienz, mit der Lulu das Ganze vor mir in

einen Becher zaubert. Etwa fünf Minuten zu Fuß vom Lulu,

die Tehuantepec hinunter, an der Ecke Mon-terrey und Baja California, ist Los Parados, berühmt als eine der besten Taquerías in Mexico City. Der Name bezieht sich auf die Tatsache, dass es hier keine Tische oder Stühle gibt, sondern die Menschen beim Essen stehen – auf jeder verfügbaren Ober-fl äche (parado heißt auf Spanisch „stehend“). An manchen Tagen ist es extrem voll. Jedes Mal wenn mich der Koch kommen sieht, blickt er gestresst vom Grill auf, schaut mich an und sagt: ¿Holá güero, hamburguesa? („Hallo Weißer, Hamburger?“), als wäre das alles, was ich dort essen würde. Alles wird sauber und

frisch am Grill zubereitet und schmeckt lebensverändernd gut.

Wenige Blöcke die Straße weiter, auf der Avenida Cuauhtémoc in Narvarte, befi ndet sich eine Dependance des Kettenrestaurants Casa de Toño  – eine lange, kantinenartige Pozolería (von pozole, einem Maiseintopf). Ich genieße den Weg die Bajío hi nunter dorthin. Entlang einer der Hauptschlagadern der Stadt ist die breite Wohnstraße Miguel Alemán gesäumt von Bäumen, einem oder zwei Anti-quariaten und einigen besonders schönen Häusern im Pueblostil. Das Casa de Toño ist immer laut und überfüllt, eine Meute hungri-ger Mexikaner ergießt sich die Treppen hin-unter. Sie haben eine Nummer gezogen und warten nun darauf, aufgerufen und platziert zu werden. Doch wegen der slapstickartigen Schnelligkeit, mit der die wimmelnde Menge buchstäblich sprintender Kellner Bestellun-

PINKE PAUSEDER HIMMEL ÜBER MEXICO CITY GIESST SEINE FARBEN IN ALLE STRASSEN. IM CINE TONALÁ (LINKS UNTEN) GIBT ES KINO UND COCKTAILS. RECHTS OBEN: DER KÜNSTLER DANIEL AGUILAR RUVALCABA HAT DEN KUNSTRAUM BIKINI WAX INITIIERT. UND IM CASA DE TOÑO (RECHTS UNTEN) HERRSCHT DAUERND HOCH BETRIEB

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gen aufnimmt, Essen herbeiträgt und Tische säubert, muss man nie lange warten. Die Spe-zialität des Hauses ist Pozole, eine prähispa-nische Suppe und ursprünglich ein heiliges Aztekengericht mit Menschenfl eisch. Sie besteht heute aus einem Sud, Maisgrütze und nichtmenschlichem Fleisch, das man mit allerlei Zutaten garnieren kann, etwa Limette, Avocado, Tortilla und Chili. Doch Vorsicht: Je nach der eigenen Reizschwelle führt der Verzehr dieser Suppe zu einem semieuphori-schen Essenskoma.

Und noch etwas liebe ich an Mexico City: den kulturellen Reichtum. Die Stadt kann mit mehr Museen als die meisten euro-päischen Städte prahlen. Seit einigen Jahren fl utet eine neue Welle von Initiativen die Stadt, angeschoben von mexikanischen Künstlern und jungen Kunstleuten. In dieser Gegend gibt es zwei sehr unterschiedliche Schlüsselorte: zum einen den von Künstlern betriebenen Projektraum Bikini Wax und zum anderen das Cine Tonalá, ein Indepen-dentkino mit Restaurant und Konzerthalle. Bikini Wax liegt unweit vom Lulu im benach-barten Escandón. Die Ausstellungen fi nden in jedem Winkel der notorisch unaufgeräum-ten Wohnung der Künstler statt, von den Schlafzimmern bis unters Dach oder auf dem

TEXT: CHRIS SHARP, KUNSTKRITIKER UND FREIER KURATORFOTOS: CARLOS ÁLVAREZ MONTEROILLUSTRATION: KRISTINA POSSELT

Treppenabsatz zum ersten Stock. Was ich daran liebe, ist, dass sie vor allem mit der loka-len Gemeinschaft arbeiten und andauernd Ausstellungen machen, egal was passiert. Sie organisieren Diskussionen und Studiengrup-pen und fungieren dabei als Zelle, aus der sich eine ganze Generation mexikanischer Künst-ler herausbildet. Einer ihrer Gründer, Daniel Aguilar Ruvalcaba, dessen neugierigem, off e-nem und aufmerksamem Wesen der Ort seine positive Atmosphäre verdankt, ist zugleich einer der aufsteigenden Sterne am Kunsthim-mel Mexikos.

Cine Tonalá, das in Roma Sur startete, genau einen Block von meiner Woh-nung auf der Calle Tonalá entfernt,

hat sich inzwischen zu einer Art Franchise entwickelt. In La Merced im kolumbianischen Bogotá wurde eine Filiale eröff net, und ein dritter Ableger in Tijuana, im Nordwesten Mexikos, ist in Planung. In erster Linie ist Cine Tonalá ein kleines Kino, das Indepen-dent- und Festivalfi lme zeigt. Aber es gibt auch eine Bar, ein Restaurant und eine Kon-zerthalle (ich habe sogar zeitgenössischen Tanz dort gesehen). Ausgestattet mit viel Holz und Eisen, Filmpostern und einer Mar-kise, wirkt das elegante Interieur warm genug, um sich hier willkommen, aber nicht allzu hip zu fühlen. Die Organisatoren arbeiten mit ortsansässigen Künstlern und Projekträu-men, und so umarmt der Ort auf bewun-dernswerte Weise das Lokale, ohne seine ursprüngliche Funktion als Kino zu verlieren. Im Gegensatz zu den meisten Kinos ist Cine Tonalá dezidiert sozial – an den Freitag- und Samstagabenden tummelt sich hier eine attraktive, cocktailtrinkende Menge an 20- und 30-Jährigen. Tonalá, das vom Aztekischen herrührt und „der Ort, von dem die Sonne kommt“ bedeutet, ist auch eine meiner Lieb-lingsstraßen in Roma Sur. Ironischerweise ist Tonalá, trotz seines linguistischen Ursprungs, im Zwielicht ein beinahe magischer Ort. Auf dieser schläfrigen, ruhigen, baumgesäumten Straße, auf der kaum Autos fahren, würde ich am liebsten für immer im Abendrot entlang-spazieren. Und in Gedanken, während ich diese Zeilen schreibe, tue ich das auch jetzt.

Pablo Picasso, Arlequin à cheval (Étude), 1905 © Succession Picasso / VG Bild-Kunst, Bonn 2016

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FRA ANGELICO

TEXT: HANS-JOACHIM MÜLLER

Von Robert Polidori

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Seit der kanadische Fotograf Robert Polidori Fra Angelicos Fresken im Florentiner Klostermuseum San Marco entdeckte, ließen sie ihm keine Ruhe. Nach jahrelangem Drängen erhielt er endlich die Erlaubnis, sie zu fotografi e-ren. Raum für Raum wartete er in den nachmittäglichen Schließstunden auf das richtige Licht. Entstanden ist eine Bildersuite, so feierlich still, wie es die Tage in den Zellen gewesen sein müssen, bevor wir, die Touristen, sie fl uteten. Jetzt zeigt Polidori sie erstmals in BLAU

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DAS ABENDMAHL Noch einen Schritt weiter und man steht in der Zelle und sieht, wie Christus die Hostie verteilt

Auftaktseite: DIE VERSPOTTUNG CHRISTIEiner spuckt, eine Hand schlägt

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DIE VERKÜNDIGUNG Der heilige Dominikus schaut vom Garten aus zu, wie der Engel im Bogengang

gelandet ist und der ergebenen Maria ihr Schicksal verkündet

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DIE AUFERSTEHUNG Maria trauert, der heilige Dominikus hat eine Vision, Christus erhebt sich aus dem Grab —

und wie aus dem Off erscheinen an der schwarzen Wand Szenenbruchstücke der Passionsgeschichte

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DIE BEWEINUNG CHRISTI Der tote Christus wird gepfl egt, als ob es noch etwas zu pfl egen gäbe.

Und Fra Angelico malt die Grabhöhle so weich und zart wie den Faltenwurf der Gewänder

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DIE KREUZIGUNG MIT DEM LANZENSTICHKreuzigungsfresken fi nden sich in San Marco in vielen Zellen. Doch nur hier kann

Maria nicht zuschauen und birgt entsetzt ihr Gesicht in den Händen

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Jetzt trippelt die Gruppe. Und jetzt hält sich die Gruppe die Ohren zu. Muss ja auch nicht sein, dass einer mit der getun-

ten Vespa durch die Via Ricasoli donnert. Ringsum dämmert die Stadt in den Morgen. Und wenn der japanische Touristenfl eiß nicht wäre, man würde Florenz nicht anmer-ken, dass sich irgendetwas verändert hat seit den Tagen, als Dante durch alle Himmel und Höllen reiste.

Wer das schmale Sträßchen nach Nor-den trippelt, hat nur ein Ziel: San Marco, damals Kloster, heute Museum, wo der Dominikanermönch Fra Angelico Jahre sei-nes unbekannten Lebens verbracht und sei-nen Brüdern im Glauben Wunschfresken in die Zellen gemalt hat. Es würde sich empfeh-

len, ein wenig schneller zu gehen. Vielleicht schaff t man es ja noch vor dem Andrang am Kassenhäuschen. Aber von rechts aus der Via del Pucci quellen schon die Holländer. Und hundert Meter weiter an der Via Guelfa hat man die Briten eingeholt. Nie ist man allein mit Fra Angelico.

Nur Robert Polidori war mit ihm allein. Der kanadische Fotograf hat die Fresken vor Jahren bei einem Besuch im Kloster entdeckt und war, wie er erzählt, sofort tief beein-druckt von ihrem Ernst, ihrer mysteriösen Eleganz. Wie sich Zelle um Zelle die erzäh-lenden Bilder zu einer geheimnisvollen Enzyklopädie verbinden, das hat alles über-troff en, was er von Fra Angelico aus Büchern kannte. Dass er wiederkommen würde, war abgemacht. Aber es sollte dann doch noch Jahre dauern, bis er die Erlaubnis bekam, dort zu fotografi eren, wo die Mönche einmal wie in einem Museum gelebt haben.

Es war Frühjahr, als Polidori mit einem Kameraassistenten und zwei 500-Watt-Lam-pen vor der Klostertür stand. Immer nach-mittags, wenn San Marco geschlossen ist und die alte feierliche Stille einkehrt, hat er gedul-dig gewartet, bis im Gleichgewicht von Kunstlicht und eindringender Sonne die Fresken zu leuchten begannen, als seien sie eben aus dem Dämmer der Zeiten erwacht.

IM FEIERLICH-STILLEN

WELTABSCHLUSS

Was Robert Polidori von jenen Nachmitta-gen mit Fra Angelico aufbewahrt hat, ist hier zum ersten Mal zu sehen. Und so wie der Fotograf in die Räume blickt, ist es aller-schönste kontrafaktische Erzählung. Nur so, im feierlich-stillen Weltabschluss wird noch einmal jene Schwellenzeit vorstellbar, als das späte Mittelalter nicht mehr spätes Mittelalter und noch nicht ganz frühe Neuzeit, die Gotik nicht mehr Gotik und noch nicht ganz Renaissance gewesen war.

Es passt nur einer in jede Zellentür und weiter darf man nicht hinein. So steht man, wie man sonst nie vor Bildern steht  – im Rücken das Völkergemisch, vor einem die gewölbte Kammer, das tief eingeschnittene Fenster, die Wand, in deren halbrunde Ober-kante der Maler sein Gemälde mit der halb-runden Oberkante eingepasst hat, dass man denken könnte, es lehnte sich an die Schul-tern des leeren Raums.

Maria Magdalena hat gerade die Grab-höhle verlassen. Vom Schreck über den ver-schwundenen Leichnam ist ihr nichts anzu-merken. Sie kniet in der blühenden Wiese. Ein heiterer Ostermorgen, der ein wenig schmunzeln muss über die Pinie und die Palme dort und hier über die Zypresse, die so gar nicht nach botanischer Vorschrift geraten scheinen. Da kommt der weiß gewandete Auferstandene vorbei und der Kreuzschritt, den er tut, ist überaus kompli-ziert. Es ist fast wie Schweben durchs hohe Gras. Und weil er eine Hacke über der Schul-ter trägt und es ja nicht anders sein kann, meint Maria, es sei der Gärtner. Und streckt die Hand nach ihm aus. Und der vermeintli-che Gärtner sagt: Rühr mich nicht an. Und wie er seine Hand über ihre Hand hält, dass es aussieht wie ein Berührungswunsch, der nicht mehr ganz Berührungswunsch und

noch nicht ganz Berührung ist, das ist so kaum einmal gemalt worden.

Einige würden sagen, sagt Giorgio Vasari, der Maler habe nie den Pinsel in die Hand genommen, ohne vorher gebetet zu haben, und nie ein Kruzifi x gemalt, ohne dass ihm die Tränen über die Wangen geströmt seien. Nun muss man dem großen Biografen der großen Maler des 14. und 15.  italienischen Jahrhunderts ja nicht alles aufs Wort glauben. Und vor den mancherlei Kreuzigungsfresken in den Nachbarzellen mit den routiniert rinnenden Blutrinnsalen darf einem die heilige Dreifaltigkeit aus Pin-sel, Tränen und Gebet auch wie ein Marken-zeichen vorkommen. Aber diese Christus- und die Mariengebärde, ihre berührungslose Berührung, das ist so voller Empfi ndungs-zauber, dass man nicht glauben mag, dass zwischen ihren Händen und unseren Hän-den fünfeinhalb Jahrhunderte liegen.

In der langen Zeit ist manches vergessen worden. Man weiß heute wirklich nicht mehr viel. Guido di Pietro stammt wohl aus Vic-chio, einer kleinen Gemeinde im toskani-schen Hügelland nördlich von Florenz. Schon als junger Mann trat er dem Domini-kanerorden von Fiesole bei. Von nun an hieß er Fra Giovanni. Und weil Fra Giovanni ein so außerordentliches Maltalent war und sich in Florenz und über Florenz hinaus einen bald legendären Namen machte, nannten sie ihn Fra Angelico, den Engelsgleichen. Und der bedankte und revanchierte sich nach Kräften und trug mit Engeln und anderen überirdischen Personen nachhaltig zur irdi-schen Wohlfahrt seines Ordens bei.

Tatsächlich war es keine schlechte Ver-mögensanlage, einen Meister wie ihn im Konvent zu haben. Die Dominikaner von Fiesole, die – zur Armut verpfl ichtet – immer knapp bei Kasse waren, hätten Anfang des 17. Jahrhunderts den Off enbarungseid leis-ten müssen, wenn da nicht noch eine stille Rücklage gewesen wäre. Für 1.500 Dukaten verkauften sie im Jahr 1611 des Malers

Weil Fra Giovanni ein so außerordentliches Maltalent

war, nannten sie ihn Fra Angelico, den Engelsgleichen

Fra Angelico hat seinen Ordensbrüdern nichts erklären müssen. Sie haben seine Zeichensprache, seine malerischen Kürzel gut verstanden

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berühmte Verkündigung Mariens an einen Far-nese-Herzog. „Lob und Dank sei dem Herrn“, diktierte der Prior in die Chronik, „aber auch unserem Maler Angelico, von dem unser Kloster noch nach 160 Jahren eine solche Wohltat erfahren darf.“

Immerhin reichte die erwirtschaftete Summe für einen Glockenturm an der Klos-terkirche und einen neuen Sakraments-schrein auf dem Hochaltar. Heute gehört das Gemälde dem Prado in Madrid und auch wenn man die Bewunderung etwas anders ausdrücken würde, gilt noch immer, was Michelangelo über seinen hochgeschätzten Kollegen gesagt hat: Der Maler eines solchen Gemäldes habe es verdient, im Himmel zu sein, um das zu bewundern, was er auf Erden so schön geschaff en hat.

Und jetzt – zwei Zellen weiter – stehen wir vor der Verkündigung, die er in San Marco so schön geschaff en hat. Vor

jener Szene aus dem Geschichtenbuch des Evangelisten Lukas, die der Kunstgeschichte stets Anlass für großes Figurentheater war: der Engel Gabriel mit den apart gefi ederten Flügeln, der sich Zugang verschaff t ins Mari-engemach und mit hehren Worten die See-lenruhe seines Menschenopfers zerstört, ihm von der Fremdbestimmung seines Leibes erzählt, von göttlicher Insemination, vom menschenvaterlosen Kind, und gleich wieder verschwindet. Immer haben die Maler die heikle Stelle der christlichen Erzählung als faktische Überrumpelung gegeben, als heils-geschichtlich notwendige Form der Verge-waltigung, bei der der ancilla Domini, der Magd des Herrn, gar nichts anderes übrig bleibt, als sich mit matter Abwehrgeste ins Schicksal zu fügen.

Bei Fra Angelico sind sich Engel und Maria gegenüber wie zwei, die sich wortlos verstehen. Es ist so gut wie keine Körperbe-wegung gemalt. Das Rauschen der Engelslan-dung, das sonst noch in der Luft liegt, ist völlig verstummt. Keine ausgestreckte Begrüßungshand, kein Zeigen, Bedeuten, Zurückweichen, kein lautes Zeichen. Maria kniet auf ihrer Bank, der Engel steht vor ihr, beide haben die Arme vor der Brust ver-schränkt, beide schauen sich an, und nie-mand schlägt die Augen nieder. Vielleicht stehen und knien sie schon eine ganze Weile so da und werden noch eine ganze Weile so stehen und knien bleiben. Beobachtet nur vom heiligen Dominikus in den Arkaden, der hier in San Marco immer zur Stelle ist und das Unwahrscheinliche bezeugt.

Vielleicht sieht er ja, was wir auch sehen. Sieht mit der gleichen Faszination den schmalen, spitz zulaufenden, dunklen Schat-ten hinter der Maria an der Wand. Nie hat Fra Angelico Figurenschatten gemalt. Nur ein-mal und nur hier. Als traute er dem Frieden, der ihm so unvergleichlich gelungen ist, doch nicht alles zu.

Woher er das hat? Wenn man’s wüsste! Bei irgendjemand muss er in der Werkstatt gewesen sein. Ohne Ausbildung, ohne Lehr-jahre ist damals keiner Maler geworden, hat keiner, mag er noch so staunenswert begabt gewesen sein, irgendwelche Aufträge bekom-

men. Aber das zumindest ist urkundlich beglaubigt, dass sie den „Guido di Pietro dipintore“ am 31. Oktober 1417 in die Com-pagnia di San Niccolò, eine der Florentiner Malerzünfte, aufgenommen haben. Es muss nicht sein, dass er da schon einen beträchtli-chen Ruf gehabt hat. Nach den Regularien stand die Malergilde auch dem Nachwuchs off en. Aber es ist eher wahrscheinlich, dass die Handwerkerzunft – und damals gehörte die Malerei noch dem Handwerkerstand an – ihre Privilegien und Lizenzen nur Leuten verlieh, die bereits im Netzwerk der kirchli-chen und bürgerlichen Aufträge eine auff äl-lige Rolle spielten.

DIE FEHLENDEN

ANDERTHALB JAHRZEHNTE

Magnolia Scudieri, die Direktorin des Muse-ums San Marco, hat ihr Büro in einem fi nste-ren Gang hinter dem ehemaligen Refekto-rium des Klosters, wo heute der Bookshop ist. Alle müssen an ihr vorbei, wenn sie wie-der ans Florentiner Licht wollen. Jahrzehnte hat die Kunsthistorikerin mit dem Maler ihres immer wieder stillen Hauses verbracht. Was man über Fra Angelico sagen kann, guten wissenschaftlichen Gewissens, hat sie gesagt, geschrieben, immer wieder. Mit Nachdruck betont, dass man Vasari, dem großen Biografen der großen Maler des 14. und 15. italienischen Jahrhunderts, wirklich nicht alles aufs Wort glauben darf. Bei ihm ist der Maler 1387 geboren. Und so liest man es auch in der römischen Dominikanerkirche Santa Maria sopra Minerva, wo sie ihm nach seinem Tod 1445 ein schmuckloses Grabmal eingerichtet haben. Wenn es stimmt, wäre er bei der Aufnahme in die Compagnia di San Niccolò vierzig Jahre alt gewesen. In einem Alter also, in dem einer längst über die Lehr-zeit hinaus ist.

Muss aber nicht stimmen. In der Zwi-schenzeit führt die Forschung gute Gründe an, Fra Angelicos Geburt wesentlich später anzunehmen, vielleicht erst kurz nach 1400. So lange nichts entschieden, nichts ent-scheidbar sei, sagt Magnolia Scudieri, müsse man mit beiden Zeitrechnungen rechnen.

Dann freilich fehlen anderthalb Jahr-zehnte im Leben des Malers. Und so hat es nicht ausbleiben können, dass sie kräftig wucherten, die Fantasien, und man ohne ver-

Er ist aus den frommen Geschichten nicht wegzudenken, der mustergültig nachdenkliche heilige Dominikus, der Gründer des Ordens

Christus stürmt in die Vorhölle, erlöst die auf Erlösung Wartenden, und dem Teufel fällt die Tür auf seinen missratenen Leib

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lässliche Führerschaft Fra Angelico hin und her durch das Florenz seiner Zeit begleiten wollte. Hat er bei Lorenzo Monaco studiert, der die Spätgotik ins Bizarre aufzulösen begann? War er mit Filippo Lippi zusammen, der so ziemlich die erste Galerie der stolzen frühhumanistischen Erfolgsmenschen ge malt hat? Hat er die Seelentiefe seiner Figuren bei Masaccio oder Masolino gelernt, die in Santa Maria del Carmine, in der berühmten Brancacci-Kapelle, Menschen im Aufruhr ihrer Gefühle freskiert haben, wie man das so noch nie gesehen hatte?

DIESE MISCHUNG AUS

INNIGKEIT UND NAIVITÄT

Ist alles möglich. Aber wenn man dann vor dem Weihnachtsbild steht, vor der Innigkeit, mit der das puppig-steife, nackte Neugebo-rene angebetet wird, während hinten Ochs und Esel aus einem Kübel fressen und sich dabei anstarren, als sei ihnen gerade ihre Artfremdheit bewusst geworden, dann ist man sich doch ganz gewiss, dass diese Mischung aus Innigkeit und Naivität, alter Bildformel und neuer Erzählweise ohne wirkliches Vorbild ist.

Man gewöhnt sich rasch an diese unverwechselbare Malhandschrift, würde nach einem Morgen in San

Marco darauf wetten, Fra Angelico unter allen Mitbewerbern im grandiosen Contest der Frührenaissance heraussehen zu können. Schon wie er Felsen, Hügel, Berge gemalt hat. Immer kahl. Immer rundlich ausgewa-schen, wie Klippen, an denen die Brandung seit Urzeiten nagt. Man könnte sich vorstel-len, dass er sich im Atelier kleine Holzgerüste gebaut und graubeige Tücher darübergelegt hat. Jedenfalls hat die Landschaft in diesem Werk ihren eigenen Faltenwurf und mutet so weich an wie die Gewänder der Figuren, durch die ein Knie oder ein Arm drückt.

Ist das der stile nuovo, als den die Kunst-wissenschaft die malerische Schwellen-epoche zu Beginn des 15. Jahrhunderts bezeichnet? Schon Giotto, ein ganzes Säku-lum früher, hat ja die erstarrten Konturen des ikonischen Personals mit ungesehener Emotion aufgeweicht. Wenn man in den Uffi zien vor seiner thronenden Madonna steht, dann ist es, als sei jetzt vollends der Schmerz aus seiner Schmerzmaske gebro-

chen. Aber erst Fra Angelico wird dann das Schmerzmotiv bis in die Figurenregie hinein-verfolgen. Beim Kreuzigungsfresko in Zelle  42 muss sich Maria abwenden und bedeckt voller Schauder ihr Gesicht mit den Händen, während der heilige Dominikus ent-setzt zuschaut, wie der Soldat seine Lanze dem Gekreuzigten in die Rippen bohrt.

Das ist neu. Und neu ist auch, wie Fra Angelico seine Geschichten mitunter comic-artig abkürzt. Auf einem der seltsamsten Bilder sitzen Dominikus und Maria versun-ken in fromme Lektüre und trauernde Anschauung. Jeder für sich, in kolossaler Weise einsam. Ist das allein schon von bestürzender Intensität, so bekommt die Szene etwas Magisches, indem sich hinter den Figuren auf einer Art heruntergerollter Projektionsleinwand die Passionsgeschichte wie in Sprech- oder Traumblasen abspielt. Der dornengekrönte Christus mit verbunde-nen Augen, umgeben von isolierten Schlage-händen. Eine hält einen Knüppel, eine hebt spöttisch einen Hut, eine zupft am Heiligen-schein. Ein Solokopf spuckt. Das ist ziem-lich grotesk, und solche zeichenhafte Abbre-viatur sollte man nicht mit jener Volksbeleh-rung verwechseln, die auf einem mittelalterlichen Altarbild die Marterwerk-zeuge versammelt, um an das Leiden Christi zu gemahnen.

Fra Angelico muss ja niemanden belehren. Jeder hier kennt die überlieferten Geschich-ten mitsamt ihrem pädagogischen Mehrwert. Anders als im Außendienst, bei dem die Dominikaner als ordo praedicatorum, als Predi-gerorden, in Erscheinung traten, sind sie hier in ihrer Florentiner Kloster-Dependance unter sich und ohne Publikum. Kein Gerin-gerer als der berüchtigte Girolamo Savona-rola, der wortmächtige Hetzer gegen kirchli-chen und politischen Sittenverfall, der die aufgeschreckten Wutbürger um sich scharte, bis man ihn als Staatsfeind auf der Piazza della Signoria erhängte und verbrannte, hatte in San Marco seinen Stamm- und Rück-

zugstrakt. Mit Bravour spielten die Domini-kaner ihre herausgehobene Rolle bei den kulturellen Umbrüchen des frühen 15. Jahr-hunderts. Und ihr malender Bruder, den sie immer wieder auch mit Leitungsaufgaben betraut haben und der doch alle künstleri-schen Freiheiten genoss und im monasti-schen Atelier so viele Gehilfen beschäftigen durfte, wie er brauchte, musste keinem in die Zelle malen, was alle in- und auswendig kannten.

Vielleicht liegt es ja am Ort, der nichts von seiner gebieterischen Ausstrahlung verlo-ren hat, dass man bald wie unter Hypnose in eine Laiennachdenklichkeit verfällt. Gibt es denn so etwas wie ein Bildprogramm, das sich Zelle um Zelle und die langen Gänge entlang entfalten würde? Haben die Novizen und geweihten Konventualen bestimmen dürfen, mit welchen Bildern sie ihr Klosterleben tei-len wollten? Auch das wüsste man gern. Ja, auch das wüsste man gern, sagen alle, die wie Magnolia Scudieri dem Maler und seinem Werk unermüdlich auf der Spur sind.

Verlässt man sich auf den Augenschein, dann wird aus den einzelnen Bildern an den Wänden kein neutestamentlicher Geschich-tenfries. Alles, fast alles hier hat seinen Ursprung in der Passion, in jenem Zwischen-reich zwischen Tod und Auferstehung, das die christliche Botschaft als ihre geheimnis-vollste und zugleich erfolgreichste Pointe hütet. Und in der Summe haben diese kaum verblassten Fresken kein anderes Thema als Versenkung, Verklärung, Abkehr, Traum, Erscheinung, Vision, vorbewusste Gewiss-heit. Fra Angelico hüllt, was er malt, in einen somnambulen Dämmerzustand. Und wenn man sich an sein pastellenes Farblicht gewöhnt hat, dann entdeckt man auch, dass alles fehlt, was auf Welt hindeuten könnte.

Das eben ist der Unterschied zur bald beginnenden Renaissance und ihrem drän-genden Interesse an allem, was Welt ist und Welt war und Welt sein soll. Mit Fra Angelico hätte man nicht über Vergil und Ovid disku-tieren können. Und von den Gebräuchen und Gepfl ogenheiten der neuen bürgerlichen Machtelite hatte er nicht viel Ahnung. Seine Welt ist auf wundersame Weise weltentlastet.

Nur einmal ist der Malermönch – ein bisschen politisch geworden. Zumindest wollen wir es so annehmen. Denn ganz hin-ten im Kloster-Umgang hatte Cosimo de’

In der Summe haben diese Fresken kein anderes Thema

als Versenkung, Vision, vorbewusste Gewissheit

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Medici seinen bescheiden-behaglichen Unterschlupf. Der sündhaft reiche Banker, der Päpste, Könige und Kaiser fi nanzierte, der mit seiner Familie ein knappes Jahrhun-dert lang die Machtfäden seiner Stadt in der Hand hielt, der bewunderte Freund von Künstlern und Gelehrten, dieses Modellsub-jekt aufgeklärter Bürgerlichkeit  – er also, Cosimo mit den spitzen Ohren und der spit-zen Nase, bewohnte – gelegentlich – Zelle 38. Schließlich hatte er die vom Baumeister Michelozzo entworfene Klosteranlage mit rund 50.000 Florinen gesponsert. Das wären heute umgerechnet rund eine Million.

Für den Machtmenschen eine Art Spa, verbunden mit doch irgendwie lukrati-ver Investition ins Seelenheil. Ob

Cosimo im Refektorium bei dünner Suppe saß, wissen wir nicht. Aber das wissen wir, dass ihm Fra Angelico eine muntere Anbe-tung der Könige und Magier aus dem soge-nannten Morgenland in die Kammer gemalt hat. Einerlei ob der Aufmarsch und Kniefall der Edelleute vor dem Kind im Stall bestellt worden war oder nicht. Hier jedenfalls hat der Maler in schönster Unbescheidenheit dem illustren Klostergast etwas zum Schauen, Staunen und Nachdenken gegeben.

Und weil es mit dem Schauen, Staunen und Denken einfach kein Ende haben kann, richtet sich jetzt der Mann von seinem Wär-terstuhl auf, auf dem er die ganze Zeit mit geschlossenen Augen saß. Gleich würden die schweren Tore ins Schloss fallen. Und wenn er uns einschlösse? Dann geradewegs zurück zur Verkündigung. Und dann stünde man neben dem heiligen Dominikus in den Arka-den und schaute dem Engel und der Maria zu, wie sie sich noch immer unverwandt anschauen. Und weil es bald dunkel würde, wäre auch der schwarze Schatten an der Wand nicht mehr da.

DIE ANBETUNG DER KÖNIGE In diese Zelle zog sich Cosimo de’ Medici gelegentlich zurück. Fra Angelico

empfahl dem Machtmenschen, es so zu halten wie die demütigen Könige

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HIGH DEFINITIONHORROR

MargueriteHumeau

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Marguerite Humeau trägt heute Kleopatra-Schmuck, denn der ist gut für ihre Nerven. Das etwas muffi ge Hipster-Café im Londoner Stadtteil Dalston, in dem wir uns treff en,

ist der Abklatsch einer Szenekneipe aus Kreuzkölln, nur dass hier der Wildkräutersalat doppelt so teuer ist. Alle hier wirken irgendwie jung und wichtig, angehende Start-up-Unternehmer oder Designer, für die dieses alternative Ambiente als hedonistische Kulisse ihrer Geschäfte dient. Sie komme gar nicht oft hierher, lacht Humeau, nur die Journalisten wollten sie immer hier treff en. Man fragt sich warum. Die Musik ist so laut, dass wir uns anschreien müssen. Auf den ersten Blick passt Humeau mit ihrem langen Rock und den Doc Martens ganz gut in diese Umgebung. Sie sei ständig auf Reisen, habe kein Atelier, arbeite nur in einem kleinen Büro, plane ihre Ausstellungen lediglich am Computer, hatte Duve, ihre Berliner Galerie, im Vorfeld verkündet.

Man könnte sich Humeau als Post-Internet-Profi vorstellen, eines dieser Millionen Wesen, die in Lokalen mit Wifi -Anschluss skypen oder auf ihr Notebook einhämmern, die aussehen, als hätten sie Spaß, sich vor allem aber selbst ausbeuten. Tatsächlich treff en auch wir uns hier wie alle anderen zum Arbeiten. Schaut man genau

IHR DING SIND DIE GROSSEN GEGENSÄTZE: ZUKUNFT UND VERGAN-GEN HEIT, MAGIE UND TECHNIK, ELEFANTEN TRÄ-NEN UND 3-D-DRUCKER. IHRE VISION: DEN URSPRUNG DER WELT NACHSPIELEN. EIN TREFFEN MIT MARGUERITE HUMEAU

THE OPERA OF PREHISTORIC CREATURES, 2011, MIXED MEDIA, 700 × 405 × 900 CMVon links nach rechts: ENTELODON „HELL PIG“, AUSTRALOPITHECUS AFARENSIS „LUCY“, AMBULOCETUS „WALKING WHALE“

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hin, ist auch Humeau eine gewisse Erschöpfung anzumerken. Doch da ist auch diese andere, fast romantische Aura, die sie ausstrahlt: Mit ihrer opulenten Silberkette, dem abgepuderten Gesicht, roten Lippen, welligen Haaren wirkt sie wie eine Figur aus den poetischen Filmen, die Jean Vigo oder René Clair in den 30er-Jahren gedreht haben. Eine dieser Heldinnen, die in Kaufhäusern arbeiten, aber einen großen Traum haben. Gerade, so erzählt sie mit dieser fl apsig-rauchigen Stimme, die alle Französinnen haben, wenn sie Englisch sprechen, habe sie ihre Haare abgeschnitten.

Das Gespräch ist für sie eine willkommene Auszeit von den Vorbereitungen zu ihrer ersten großen institutionellen Einzelaus-stellung im Juni im renommierten Palais de Tokyo in Paris. Anders als die Frauen in den alten Schwarz-Weiß-Filmen träumt Humeau nicht von einem Mann oder einer besseren Zukunft. Ihre Vision, erklärt sie, ohne mit der Wimper zu zucken, sei es, den Ursprung des Lebens nachzuspielen, ganz besonders von fühlenden und intelligenten Lebensformen. Es sind Geschichten von verlorenen oder jenseitigen Welten, die Humeau interessieren, von prähistori-schen Ungeheuern, dem Ägypten der Pharaonen, außerirdischen Raumschiff en oder geheimen Bestattungsritualen von Elefanten. Sie selbst bezeichnet sich als eine Art „Indiana Jones in den Zeiten von Google“.

Die „Kleopatra-Kette“, wie sie sie nennt, ist eine Referenz an ihr Projekt Cleopatra – That Goddess, das sie 2014 für den von Hans Ulrich Obrist kuratierten Extinction Marathon realisierte, eine Veran-staltung in der Londoner Serpentine Gallery, die sich mit dem Aussterben und gleichzeitig mit Visionen für die Zukunft beschäf-tigt hat. An Kleopatra fasziniert Humeau besonders, dass es zwar zahlreiche Berichte über ihre überwältigende Schönheit gibt, aber nicht davon, wie wohl ihre Stimme klang. Humeaus Plan: sie wieder als Diva des 21. Jahrhunderts auferstehen zu lassen – durch ihre Stimme. Die Pharaonin Kleopatra soll neun Sprachen beherrscht haben, neben Altgriechisch, Aramäisch oder Althebräisch auch lange ausgestorbene Dialekte. Humeau reiste um die Welt,

um Experten zu fi nden, die diese Sprachen übersetzen können, und ließ Kleopatras Stimme von der Speech Research Group des Machine Intelligence Laboratory, einer Spezialabteilung der Univer-sity of Cambridge, nachbauen. Zuvor hatte sie präzise Beschrei-bungen von Historikern, Sprach-und Kommunikationswissenschaft-lern, Chirurgen und Forschern für Stimmorgane eingeholt. Das Liebeslied, das Humeaus Kleopatra singt, stammt aus dem Ägypto-logischen Institut des University College London. Diese Idee, Stimmen wieder zum Leben zu erwecken, eine Art digitale Reinkar-nation zu versuchen, ist maßgeblich für Humeaus ebenso fantasti-sches wie philosophisches Werk.

Zu Beginn ihrer Laufbahn stellte sie nicht nur in der Serpentine Gallery und im Victoria and Albert Museum aus, sondern auch im MoMA, das gleich ihre Abschlussarbeit des Designstudiums am Londoner Royal College of Art für seine Sammlung ankaufte. In diesem Sommer wird sie auch auf der von Christian Jankowski kuratierten Manifesta 11 in Zürich zu sehen sein. Um ihre Karriere zu starten, nahm Humeau einen hohen Kredit auf und setzte alles auf eine Karte. „Wenn ich nicht an meine Träume glaube, wie sollen es dann andere tun?“, sagt sie.

Mit nur 29 Jahren hat sie organisch-technoide Maschinen-skulpturen aus lackiertem Styropor gebaut, die wie Aliens wirken. Ihre Oberfl ächen sind so glatt wie die weißen Helme der Storm-troopers bei Star Wars. Sie stehen auf Metallbeinen und wirken wie Prothesen. Ausgestattet sind diese Wesen mit Stimmbändern, die 3-D-Drucker produziert haben. Für The Opera of Prehistoric

Creatures generieren sie Laute aus der Urzeit, dem Jenseits oder der Zukunft, die auch aus Steven Spielbergs Jurassic Park oder einer Zwölfton oper stammen könnten. Die Kreaturen tragen Namen

wie „Lucy“, „Mammoth Imperator“ oder „Terminator Pig“. „Ich war gar nicht immer an der Vorzeit interessiert“, sagt Humeau, „ ich hatte mich schon lange mit Stimmen beschäf-tigt. Als ich mein Projekt für das RCA begann, dachte ich eher an die Zukunft der Performance. Ich hatte dieses Video eines japanischen Ingenieurs gesehen, der wirklich Organe in 3-D ausdrucken konnte. Und ich fragte mich, was wohl passiert, wenn man seinen Kehlkopf ausdrucken und zur selben Zeit an verschieden Orten singen oder sprechen könnte, und was das wohl für die Performance bedeuten würde.“

Spätestens seit ihrer Show Echoes bei Duve, die zum Berliner Gallery Weekend 2015 eine kleine Sensation auslöste, gilt Humeau als geniale Bildhauerin und Installationskünstle-rin. Für die Ausstellung hatte sie urtümliche, nach altägyptischen Gottheiten benannte Wesen entwickelt, die in künstlichen Blutkreisläufen Gifte und Gegengifte, Elixiere des Lebens und des Todes produzieren. Die Wände der Ausstellungsräume strich Humeau mit neongelber Farbe, in die sie homöopathi-sche Dosen von Mambagift träufelte. Einen „liquiden Körper“

THE THINGS? – A TRIP TO EUROPA, PROPOSAL 2 FOR SERENADING OUTER SPACE CREATURES WITH STUNTS, VIBRATIONS, CHEMISTRY,

LIGHT, AND LIVE MAGIC, 2014, PVC UND LUFT, 300 × 150 × 300 CM

Wie abstrakt kann Leben sein?“, fragt Marguerite Humeau. Und: „Wie fi gurativ muss es sein?“

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nennt sie diesen Anstrich, ein „Fresko“. Dieses Prinzip des dekonstruierten Körpers, der nur feinstoffl ich oder reanimiert, wie ein Gespenst präsent ist, wird auch die Ausstellung im Palais de Tokyo bestimmen. „Die große Frage in meiner Arbeit ist, was Leben und Tod sind, wo das eine anfängt und das andere aufhört“, erläutert Humeau. „Am interessantesten ist der Zustand, der dazwischenliegt. Wie konstruiert, wie designt man ihn? Wo liegt die Grenze? Was bedeutet Existenz? Und was braucht man, um zu existieren? Nur eine Stimme? Im Film Her ist Scarlett Johansson nur eine Stimme, aber existiert sie? Lebt sie oder nicht? Ist das eine andere Lebensform? Wie abstrakt kann Leben sein? Wie fi gurativ muss es sein?“

Den Ausgangspunkt der Pariser Schau bildet die hypotheti-sche Frage, was wäre, wenn die Evolution nicht den Menschen, sondern ein anderes Säugetier zu einem empfi nd-

samen, selbstbewussten und intelligenten Wesen hätte werden lassen. Die Idee dazu kam Humeau beim Lesen des Buches Der dritte Schimpanse. Evolution und Zukunft des Menschen, wo Jared Diamond die These aufstellt, dass nur die völlig zufällige Transmu-tation eines einzigen Gens den Kehlkopf der ersten Menschen so

veränderte, dass Sprache entstehen konnte. In Anspielung darauf entwickelte Humeau für Paris gemeinsam mit dem Wissenschaft-ler Pierre Lanchantin eine Ursonate für das 21. Jahrhundert: einen synthetischen Chor aus 108 Millionen Stimmen, in denen alle nur möglichen Varianten einer Ursprache durchgespielt werden. Dabei simuliert Humeau mit einem speziellen Programm nicht nur die Sprachen, die tatsächlich gesprochen wurden, sondern auch jene, die möglich gewesen wären und erst jetzt durch ihre Kunst zum Leben erweckt werden. Die Sound arbeit begleitet eine wahrhaft psychedelische Installation, ein evolutionärer Showroom.

Für ihn ermittelte die Künstlerin die Menge aller chemischen Elemente, aus denen ein 80 Kilogramm schwerer menschlicher Körper besteht – wie etwa Wasserstoff , Sauerstoff und Schwefel. Aus den Festformen dieser Elemente entwickelte sie eine Art von Pigmenten. Diese mischte sie zusammen und versetzte sie dann mit dem Gift des Stechapfels, dem Sinnbild der „verbote-nen Frucht“ im Garten Eden. Mit der aus dieser Mischung angefertigten Farbe färbte sie einen Teppich ein – einen weiteren „liquiden Körper“, in dem Menschwerdung und Sündenfall stoffl ich vereint sind.

ALIEN SIGNAL (BLACK POWDER), EXTRACT FROM DIRECTOR’S CUT, 2013, DIGITALER HD-DRUCK

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TEXT: OLIVER KOERNER VON GUSTORF

AUSSTELLUNG: PALAIS DE TOKYO PARIS, 23. JUNI BIS 11. SEPTEMBER

So interessieren sich Künstler wie Philosophen für einen Zugang zur Welt, unabhängig von Sprache und menschlicher Perspektive. Die Aussagen der Naturwissenschaften über Jahrmil-lionen Erdgeschichte, die es vor dem menschlichen Bewusstsein gab, sind deshalb für den Neuen Realismus so faszinierend, weil sie auch das Denken über die Zukunft betreff en, die irgendwann ebenfalls ohne menschliches Bewusstsein sein wird. Dieses „post-humane Denken“ wird noch belächelt. Doch Humeaus Kunst zeigt, dass in der Materialität einer durch Kunst aufgeladenen Elefan-tenträne universelles, existenzielles Leid und zugleich die Mög-lichkeit einer Befreiung steckt. Die absurden Odysseen und endlosen Recherchen, die sie auf sich nimmt, die vermessenen Experimente, die dem Leben auf die Schliche kommen wollen, sind notwendig, um ein neues Denken zu entwerfen, das keine festen Parameter für Leben und Bewusstsein mehr kennt. Begriff e wie „Ich“ und „Kör-per“ verlieren ihre Festigkeit.

„Ich versuche diesen erleuchteten Horror zu erzeugen“, sagt Humeau, „etwas sehr Helles, Glänzendes, das dich anzieht. So wie Kleopatras Stimme. Du willst dich von ihr verführen lassen, bei ihr verweilen. Doch zugleich merkst du irgendwann, dass sie schrecklich und geisterhaft ist. Genauso ist es mit meinen Werken; wenn man näherkommt, merkt man, dass es Körperteile und körperlose Stimmen sind, dass die ganze Sache viel beunruhigender ist, als sie aussieht.“

Die Stimmen und Kreaturen, die Humeau aus grauen Vorzeiten oder dem Jenseits channelt, ähneln Erscheinungen bei spiritistischen Sitzungen. Es gehe ihr genau um diese geisterhafte Präsenz, sagt sie. Sie erzählt von ihrer Faszination für den Regisseur Apichatpong Weerasethakul, der in Filmen wie Uncle Boonmee

erinnert sich an seine früheren Leben (2010) die spirituelle Tradition Thailands mit völlig neuen Erzählformen verbindet. „Für mich ist er absolut zeitgemäß, weil er Geister und Reinkarnationen völlig ohne Special Eff ects zeigt, so als ob das Übernatürliche ganz selbstverständlich neben uns existiert. Wenn man sich alte Kirchen anschaut, ist es ähnlich. Sie versuchen wirklich, ein ganz reales Erlebnis des Erhabenen zu kreieren. Die Sixtinische Kapelle ist ein Riss von dieser in eine andere Welt.“

Immer wieder ist Humeau mit einer irren Forscherin verglichen worden, doch während sie spricht, leuchtet in ihr die Entdeckerin auf. Was veranlasst sie eigentlich, solche Strapazen auf sich zu nehmen, um den Ursprung des Lebens, Stimmen einer toten Königin oder die Träne eines Elefanten zu fi nden? „Ich habe mich immer für große Odysseen und die Abenteuer in den Romanen von Jules Verne begeistert“, antwortet sie. „Entdecker und Lotsen faszinieren mich. Ich stamme aus einer Seefahrerfamilie. Mein Großvater war der Doktor auf einem großen Segelschiff und fuhr hoch bis zum Nordpol. Wir haben ein Haus in Südfrankreich, mit vielen Palmen im Garten, die die Kapitäne in unserer Familie gepfl anzt haben. Wenn wir in den Ferien dorthin kamen, sagte meine Mutter: Sieh mal, die Palme da drüben, die stammt von deinem Urgroßvater, er hat das Kap Hoorn umsegelt und sie mitgebracht.“

Auf diesem Teppich platziert sie eine Skulpturengruppe, die von jenem Säugetier inspiriert ist, das nach weltweiten Umfra-gen bei Experten und Forschern den Platz des Menschen als führende Spezies hätte einnehmen können – dem Elefanten. „Ich habe mich intensiv mit ihnen beschäftigt“, erzählt Humeau. „Sie haben ihre eigenen Totenrituale. Ich las diese faszinierende Geschichte eines Forschers, der ein Muttertier beobachtete, das gerade erst gestorben war. Seine Familie versammelte sich still darum. Am zweiten Tag begannen sie Blätter und Blumen zu sammeln und es damit zu bedecken, am dritten Tag trompeteten sie und gingen zurück in den Urwald.“

Die Skulpturen, die Humeau entwickelt, sind wie alle ihre Objekte eher prothesenhaft, dekonstruiert, hybrid – wie zukünftige Lebensformen. Die Trauer der Elefanten

hat die Künstlerin ihren Skulpturen buchstäblich eingeimpft: Tatsächlich fuhr sie in ein thailändisches Reservat, um Elefanten-tränen zu sammeln, die sie mit Wasser verdünnte und dann in ihre Werke injizierte.

Ein schamanisch anmutender Materialismus, der sich unver-kennbar mit einem aktuellen (Um-)Denken in der Kunst und Philosophie verbindet, das das uneingeschränkte Primat des Men-schen infrage stellt. Bereits auf Carolyn Christov-Bakargievs Documenta 13 wurde über ein nichtanthropozentrisches Weltbild und die Intelligenz von Bienen und Erdbeeren verhandelt. Die von Susanne Pfeff er kuratierte Ausstellung Speculations on Anonymous

Materials gab 2014 dann den Startschuss für die radikale Verzah-nung von Kunst mit Ökologie, Naturwissenschaften, Politik und Philosophie und versinnlichte den Einfl uss philosophischer Strömungen, wie sie vom Spekulativen Realismus oder Akzeleratio-nismus ausgehen.

THE LIVING DESCENDANTS I (ELEPHAS MAXIMUS), 2011, DIGITALER HD-DRUCK (3-D-REKONSTRUKTION

EINES CT-SCANS)

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TAWERET, 20

15, MIX

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, 90 ×

180 ×

230 C

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Wir lieben das Museum! Aber zufrieden sind wir mit ihm selten. Kann es nicht wieder so sein wie in der Antike? Als hier die Musen wohnten. Als im althellenischen

Museion die Schutzgöttinnen verehrt, aber auch angemessen schwungvolle Feste mit ihnen gefeiert wurden. Als hier der Kult, aber auch der Geist seine Heimat hatten. Und als gebaute Form und ihr Inhalt in Einklang waren. Denn gerade heute gilt das Museum wieder als der öff entliche Raum par excellence. Kein Wunder, dass es zu den vornehmsten Bauaufgaben für Architekten gehört.

Am Ideenwettbewerb für das geplante Museum des 20. Jahrhunderts in Berlin haben sich gerade mehr als 400 Büros beteiligt. Das kaum zufriedenstellende Ergebnis zeigt zumindest dies, dass der Bau von Museen zu den großen Herausforderungen gehört: Der Ort für die Kunst muss selber großartige Kunst sein und zugleich ihr untertäniger Diener. Die Architekten geraten in den Zwiespalt zwischen ihrem Anspruch, hehre Baukunst zu produzieren, und der Verpfl ichtung, profane Funktionen zu erfüllen. Von den Zwängen, die ihnen Brandschutz, Haustechnik und Energiebilanz heute auferlegen, ganz zu schweigen. Bilbao-Eff ekte will niemand mehr, trotzdem werden die Erwartungen an das Museum immer noch größer.

Jenseits von äußerer Erscheinung und ihrem unmittelbaren Zweck, Kunstwerke auszustellen, zu vermitteln und zu beschützen, soll das Museum außerdem noch ein Markenzeichen sein, ein Problemlöser für die Stadtplanung, ein multifunktionaler Raum und ein erkennbarer Ort der Hochkultur, der niemanden aus-grenzt und Mäzene wie Kinder gleichermaßen magisch anziehen soll. Alles was man liebt, muss vor Ausbeutung geschützt werden. Nicht so einfach – im Zeitalter des „ästhetischen Kapita-lismus“, wie es der Philosoph Gernot Böhme in seinem neuen Buch beschreibt. Für die Ökonomie werde heute alles so lange ästhetisiert, bis der „Inszenierungswert der Waren zum neuen Gebrauchswert aufsteigt“. Böhme kritisiert die „ungeheure Aus-breitung von Inszenierungsstrategien, die ursprünglich in den Bereich der Warenästhetik gehörten“. Und der Architektur komme in diesem Zusammenhang eine bedeutende Rolle zu, schreibt er: „Sie gestaltet den Auftritt von Gebäuden und dient damit dem Marketing von Firmen und Unternehmen einerseits und dem Image von Institutionen andererseits.“ Museen stehen da sozusa-gen an vorderster Front.

Von ihren Architekten kann man also erwarten, ihre Bauten nicht nur ästhetisch, sondern auch ethisch im Griff zu haben. Wie aber erleben wir Besucher die spektakulären Ausstellungshäu-ser? Halten die Architekten, was sie versprechen? In diesem Sinne haben wir die gefeierten Neubauten der letzten Jahre einem Praxistest unterzogen. Und waren überrascht, dass ausgerechnet das gefeierte Whitney Museum in New York durchfällt. Und das beste Museum der Welt für uns auch nicht in London oder Rom steht. Sondern ausgerechnet im Rheinland.

NEW YORK! MAILAND! BASEL! DIE AUSSTELLUNGS-HÄUSER WERDEN ZURZEIT IM SCHNELLEN TAKT GEPLANT. WÄHREND IN BERLIN DIE ENTWÜRFE ZUM NEUEN MUSEUM AM POTSDAMER PLATZ ENTTÄUSCHEN, FREUEN SICH IN LONDON ALLE AUF DEN SPEKTAKULÄREN TURM DER TATE MODERN. WIE ABER ERLEBEN WIR AUSSTELLUNGSHÄUSER? HALTEN DIE STAR-ARCHITEKTEN, WAS SIE VERSPRECHEN? EIN PRAXISTEST

MARCUS WOELLER

AUF WEN KONNEN WIR BAUEN?

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Am Ende der Highline, wenn man so einige zugeknöpfte Galerien in Chelsea hinter sich gelassen hat, sieht man schon von Weitem ein Gebäude, an dem sich außen

Menschen auf Terrassen aufhalten oder auf Stahltreppen in die Höhe schrauben. Es ist das im letzten Jahr eröff nete neue Whitney Museum of American Art. Entworfen und erbaut wurde es vom italienischen Architekten Renzo Piano. Von außen ist es ein kantiges, stahlig-silbergraues Gebilde. Doch auf Stra-ßenhöhe saugt es die Besucherströme durch eine gläserne Wand ein und öff net sich zugleich nach allen Seiten. Rechts schwappt das elegante, minimalistische Café auf den Bürgersteig unter der Highline in den Meatpacking District, links öff net sich der Blick auf die andere Seite des Hudson River, und geradeaus spülen einen die geräumigen, von Richard Artschwager gestalteten Aufzüge in die darüberliegenden Geschosse und hinaus auf die weiten Terrassen mit Blick über Manhattan.

Im obersten Ausstellungsgeschoss erwartete die Besucher in diesem Frühjahr erst einmal ein Kontrastprogramm. Das herrliche

Licht und die Freizügigkeit der Blicke von der Terrasse im Osten und durch die verglaste Wand im Westen musste hinter sich lassen, wer die erste Einzelausstellung der Filmema-cherin Laura Poitras sehen wollte. In vier dunklen Räumen, die nur langsam wieder heller wurden, begab man sich auf die Schattenseite des öff entlichen Gemeinlebens und in die zwielichtige, zum Teil grausame Welt der US-amerikanischen Sicher-heitsbehörden. Noch ganz benebelt und nachdenklich taumelte man dann in die Sammlungspräsentation

WHITNEY, NEW YORK

VERKEHRTE WELT

Außen hui, innen eine Enttäuschung

in den Stockwerken darunter. Auch hier öff net sich das Museum zur Stadt im Osten und zum Fluss im Westen. Doch auf den vielen von Kunstlicht beleuchteten Quadratmetern dazwischen läuft man die Kunst an hallenhohen Wänden ab, als wäre sie ein abfahrender Zug auf einem Bahngleis, von dem man hoff t, dass er einen bald schon in die Weite der Welt trägt. Da hilft auch keine rotgetünchte Wand, um die Salonatmosphäre wiederherzustellen, in der viele der Werke am Ende des 19. Jahrhunderts zu sehen waren. Kein Wunder, dass sich an schönen Tagen mehr Menschen auf den Terrassen aufhalten als im Innenraum des Museums.

Es ist eine merkwürdig verkehrte Welt: ein Kunstmuseum, das seine Öff entlichkeit zur Schau stellt, die Kunst aber zur Durch-gangsstation erklärt. Was in der Tate Modern noch gut funktioniert – eine stark belebte öff entlich zugängliche Turbinenhalle und Aus-sichtsplattformen mit Cafés über der Themse, zugleich eigenwillige und sehr unterschiedliche Räume für die Kunst –, bleibt hier ein leeres Versprechen. Na gut, denkt man, weil ja seit dem Besuch der Ausstellung von Laura Poitras selbst der Sternenhimmel nicht mehr zum Träumen einlädt, und registriert beim Rausgehen in der Lobby noch einmal die hohen Eintrittspreise des Museums: Freiheit hat also seinen Preis. Hier bekommt man sie auf Kosten der älteren Kunst.

CHARLOTTE KLONK

RENZO PIANO

Ein Museum als überdimensionertes Pfahlhaus

Wie bei einem Tauchgang fühlt man sich, wenn man auf das Pérez Art Museum in Miami zuläuft. Von oben brennt die Sonne auf die Wasseroberfl äche der Biscayne

Bay. Vor dem Auge taucht ein von hängenden Gärten überwucher-tes Holzskelett auf, es erinnert an die traditionellen Pfahlbauten der Gegend. Dieses neue „Stiltsville“ ist riesig. In hochwasser sicheren

PÉREZ ART MUSEUM, MIAMI

TRAUMHAUS

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sechs Metern Höhe beginnt das Erdgeschoss, hinauf führt eine breite Treppe, darum herum erstreckt sich ein Park, der bis ans Wasser führt. Oben auf der Veranda spürt man das warme Holz unter den Füßen. Überhaupt: Holz überall, bis hinauf zum imposanten Strebedach. Wie in einem Nest hockt die dreiteilige Betonarchitektur darunter, scheint aus manchen Perspektiven zu schweben. Die Wände sind teilweise aus gemeißeltem, rauem,

dann poliertem, refl ektieren-dem Beton. Die Architekten und Pritzker-Preisträger Jacques Herzog und Pierre de Meuron haben das 2013 vollendete Museum bis ins kleinste Detail geplant. Wir kennen die Basler von der Hamburger Elb phil har mo nie, der Münchner Al li anz Arena und der Tate Modern in London, wo die Architekten

im Juni einen neuen Gebäudekomplex eröff nen werden. Was sie in Miami geschaff en haben, ist das perfekte Museum. Bitte nicht falsch verstehen, es geht nicht darum, anhand dieses Hauses eine Schablone zu erarbeiten, vielmehr geht es darum, diese mutige Adaption zu begreifen – ganz unabhängig davon, welche Qualität die Kunst darin hat. Unabhängig davon, ob man es gut fi ndet, dass der Name des Museums an einen einzigen Stifter verkauft wurde, obwohl die Einwohner der Stadt jetzt die von 5 auf 14 Millio-nen Dollar gestiegenen Betriebskosten tragen müssen. Der Muse-umsbau hat 220 Millionen Dollar gekostet und hat die weltweit größten hurrikansicheren Fenster. Schauen wir also einmal nur auf die Architektur: Das Pérez Art Museum ist ein Kunstwerk. Aber eben nicht nur – es dient auch der Kunst.

Warum ist es so gelungen? Weil sich die Architekten explizit Gedanken gemacht haben, wie die Kunst gezeigt werden soll, wie sie die Menschen abholen wollen. Es gibt im Museum fl ießende Räume für die Sammlung und architektonisch-extravagante Einzelkabinette, in denen die Aufmerksamkeit ganz allein einer Arbeit gehört. All diese Räume haben feste, ruhige Wände, ein Gegenüber für die Künstler und Kuratoren. Und es gibt keinen verschenkten Raum, keine Spielereien, kein ödes Auditorium, das den Großteil der Zeit leer steht. Man fühlt sich nicht gehetzt und nicht stillgestellt. Im Innern gibt es viel ruhige Wand für die Kunst, ganz ohne klassischen White Cube. Zur Eröff nung des Museums 2013 zum Beispiel in der Ausstellung Image Search:

Photography from the Collection: In einem quadratischen Betonraum mit seinem warmen Holzboden, einem holzumrahmten Fenster und Sitzen mit Blick auf die Biscayne Bay hingen Fotos ganz unterschiedlichen Formats in Petersburger Hängung. In der Mitte konnte man sitzen und auf Tablets entscheidende, präzise Information abrufen. Selten habe ich so intensiv Fotografi e gesehen, obwohl die Arbeiten, zum Beispiel von Eugène Atget oder Rineke Dijkstra, schon bekannt waren. Auch in London beim Neubau für die Tate Modern geht es den beiden Architekten darum, zu begreifen, was ein Museum im 21. Jahrhundert sein

sollte: Dort entsteht ein partizipatives Lernzentrum. Auch das Haus in Miami propagiert diese Off enheit. Die große, lange Treppe, die alle Stockwerke verbindet, kann in ein Diskussionsfo-rum umfunktioniert werden. Das Pfahlhaus von Miami zieht an einem wie ein Riff beim Tauchen, man kann sich dort einnisten, sich von den Wellen auf und ab heben lassen, man stöbert und forscht, sucht und fi ndet.

SWANTJE KARICH

Wer lieber über Knopf im Ohr hört, was man sieht, ist im Kolumba am falschen Ort. Ebenso wenig fi nden sich neben und unter den Gemälden, Reliefs, Fotografi en und

Zeichnungen die vertrauten Schrifttafeln. Im unaufwändigen Foyer des Museums erhalten die Besucher zwar ein schmales Heftchen mit Raumplan und knappen Texten über die gezeigten Zeugnisse aus Kunst und Kulturgeschichte, doch bei trübem Wetter oder ungünsti-gem Lichteinfall fällt es schwer, die Anmerkungen vor den Werken zu entziff ern. Dann muss man sich zu einem der oft bodennahen Fenster mit Blick auf Köln begeben. Sie spenden Licht. Das wech-selnde Licht ist Faktor der Raumgestaltung. Nicht die Beleuchtung.

KOLUMBA, KÖLN

DAS BESTE

Die schönste Säulenhalle der jüngsten Museumsgeschichte

JACQUES HERZOG UND PIERRE DE MEURON

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Wegen solcher und anderer vermeintlicher Mängel erhielt das „Kunstmuseum des Erzbis-tums Köln“ in einem „Trip-advisor“ lediglich zwei von fünf Sternen. Das Fazit des Ratgebers: „Eine Museumspersifl age“. Mit salvatorischem Fragezeichen versehen.

Für mich ist das Kolumba das beste Museum in Deutsch-land. Der Grund: Das Kolumba nimmt die Bilder ernst. Zu den

Bildern zählen illuminierte Handschriften, Skulpturen, Altäre und Filme. Es sind nur die Bilder, die in seinen wohlproportionierten Räumen reden. Nicht die geschriebenen und gesprochenen Worte. Die Bilder beherrschen die grauen Backsteinwände und entfalten ihren Eigenwillen. Nichts lenkt vom Betrachten ab. Deshalb nimmt das Kolumba mit den Bildern auch seine Besucher ernst. Weil es ihnen zutraut, ohne Anleitung sehen zu wollen und zu können. Im Kolumba sind die Besucher auf sich gestellt. Auf das Spektrum ihrer sensorischen und emotionalen Fähigkeiten.

Ja, das Kolumba ist eine echte Herausforderung. Dieses Museum provoziert. Bewusst. Es provoziert die Wahrnehmung. Es stimuliert das Sehen und setzt dabei auf die menschliche Neugierde. Es veranlasst mit sanftem Zwang, genauer hinzusehen. Länger und intensiver als gewohnt. Das Museum soll „zur Sensibilisierung der Wahrnehmung“ beitragen, hieß es schon im Aufgabenkatalog für den Architekten. Denn wer wirklich sieht, denkt zwangsläufi g und empfi ndet. Das menschliche Gehirn ist so konstruiert. Allerdings ist das „sehende Sehen“ im Sinne von Max Imdahl ohne eigene Anstrengung nicht zu haben. Die tagtägli-che Überfl utung mit belanglosen Bildern und nichtssagenden Verbalgeräuschen hat die optische Wahrnehmung abgestumpft und die Menschen auf bloßen Empfang abgerichtet.

Ein Museum für Kenner? Selbst die blicken mitunter ratlos drein und bedürfen zusätzlicher Informationen. Dazu gibt es Gelegenheit in einem wunderbaren Leseraum. Dort kann sich, wer Lust hat, mithilfe des kleinen Textbuches und weiterführender Literatur fachlich fi t machen. Führungen und Gespräche sind ebenfalls im Angebot. Und Wünsche gefragt. Andererseits ist das Kolumba ein Museum der katholischen Kirche. Einer Institu-tion, die schon früh um Macht und Ambivalenz der Bilder wusste und stets darauf geachtet hat, dass ihre Bildprogramme alle Gläubigen erreichten. Gerade diejenigen, die nicht schriftkundig waren. Aber schon vor 90 Jahren hat László Moholy-Nagy prophe-zeit, die Bildunkundigen seien die Analphabeten der Zukunft. Nur bedarf es Zeit und Geduld, um wieder sehen zu lernen. Rare Güter. Im Kolumba unbedingt erforderlich.

Bevor der große Schweizer Architekt Peter Zumthor, der im Kunsthaus Bregenz sein Meisterwerk für die Gegenwartskunst geschaff en hat, hier auf dem Grundriss der zerbombten Kirche St. Kolumba seinen Bau realisierte, lag das inhaltliche Konzept vor. Nicht weiter verwunderlich, dass er ein Haus der Kunst für die

Kunst geschaff en hat. Keine selbstgenügsame Architekturikone. Gleichermaßen für die Kunst vor der Kunst und die Kunst mit Autonomieanspruch. Eröff net wurde es 2007. Nur einmal im Jahr, am 14. September, gibt es eine neue Ausstellung. Jede widmet sich einem bestimmten Thema und jede kombiniert Kunstwerke aus dem glanzvollen Kirchenschatz mit Kunstwerken der Moderne. Gegenwärtig läuft die achte unter dem Titel Der rote Faden – Ordnungen

des Erzählens. Sie ist exemplarisch für die Richtung des Kolumba unter der umsichtigen Leitung von Stefan Kraus.

Über die Räume verteilt elf Gemälde des „Meisters der Ursulalegende“ – ein Kinofi lm des späten Mittelalters (um 1500). Wie in den Gemälden zweigen sich in der Ausstellung die unter-schiedlichsten Wege und Formen des visuellen Erzählens in inspirie-render und bisweilen verblüff ender Korrespondenz ab. Vom Mittelalter bis zur „medialen“ Jetztzeit. Eingeschlossen Verweige-rung und Parodie, etwa in der grandiosen Installation „Transzen-dentaler Konstruktivismus“ von Anna und Bernhard Blume durch Anna Blume. Das Tageslicht verändert das Outfi t der Bilder ständig. Auch das gehört zum Kolumba-Prinzip: Verzicht auf wohl-feile Antworten, Fragen aufwerfen, Zusammenhänge stiften. Nicht zuletzt durch außergewöhnliche Künstler, die nicht die immer gleichen Schemata kommerzieller Kuratorenkunst reproduzieren. Kurzum, das Kolumba ist ein vorbildliches Museum.

K� US HONNEF

MAXXI, ROM

SCHWINDELGEFAHR

Verspielte Architektur mit langen Wegen

Als die gebürtige Irakerin Zaha Hadid unlängst verstarb, rühmten die Nachrufe die fantastische Kurvenkunst der „Stararchitektin“. Niemand habe so kühn fl ießende

Eleganz entworfen, niemand so viel Dynamik in schwerfällige Baukörper gebracht. Und kein beschwingtes Lobeswort war zu

PETER ZUMTHOR

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viel. Es gibt berühmte Museumsprojekte von Zaha Hadid. In Cagliari auf Sardinien, in Reggio di Calabria, in Cincinnati, im schottischen Glasgow. Es gibt das Phaeno-Museum in Wolfsburg. Am stolzesten aber ist ihr der fl orale Dekonstruktivismus beim Maxxi in Rom gelungen. Tatsächlich scheint an diesem Haus alles weich. Geht man um das Maxxi herum, hat man eine rechte Wanderung hinter sich, aber könnte nicht sagen, wie man den Eindruck der Architektur beschreiben sollte. Und drinnen ist die Wanderung nicht kürzer. Man folgt den schlauchartigen Aufgängen von Ebene zu Ebene, kurvt an geschliff enen Betonwänden und wulstigen Treppenge-ländern entlang, schlurft über Stahlgitter, steigt aufwärts, steigt abwärts, ist immer unterwegs. Die Leute in Bewegung halten, sagte

Zaha Hadid bei der Eröff nung 2010, das sei ihr Programm. Wobei es nicht ganz so verständ-lich ist, warum die Leute ausge-rechnet in einem Museum dauernd in Bewegung sein sollen. Es sei denn, man rechnet mit Massen, deren Durchfl uss architekturorganisatorisch zu regeln ist. Es gibt im Maxxi viel Raum, aber kaum einen abge-schlossenen. Kein Kabinett der Stille, keinen Platz, an dem die Kunst ihren Zauber spielen könnte. Überall geht es weiter. Und jeder Kunstauftritt ist nur Station auf dem Weg zum

nächsten. So wie hier hat noch keiner von Zaha Hadids illustren Kollegen und Kolleginnen das Primat der reinen Form vor der Funktion behauptet. Auch wenn man nach zwei, drei Jahren wiederkommt, bleibt der Befund: ein Museum ohne Kennt-nis seiner Aufgabe. Ein Museum, dem der Titel „Museo nazionale delle arti del XXI secolo“ so fremd ansteht, wie der Baumeisterin die Belange und Bedürfnisse eben dieser Kunst der Gegenwart fremd sein müssen. Dass es ein Touristenmagnet wäre, kann man nicht sagen. Wer fährt auch schon nach Rom der zeitgenössi-schen Kunst zuliebe. Inzwischen hat das Haus nicht wenige Direkti-onen verschlissen. Und international ist es bis heute kein ernst zu nehmender Partner. Andererseits ist schon wahr, dass das Maxxi zur Gentrifi zierung des Quartiers beträchtlich beigetragen hat. Nur, ist das Bauziel Museum schon erreicht, wenn man urbanisti-sches Übersoll leistet, aber den Museumsleuten zumutet, dass sie auf die gute alte Stellwand zurückgreifen, wie man sie aus dem Kunstverein kennt? Wohl nicht umsonst erfüllt sich die populäre Unterhaltungskunstarchitektur gerade im Museumsbau so ergiebig. Kann sie doch bei keiner anderen Bauaufgabe prätentiöser vorführen, wie frei sie ist, wie erhaben sie sich fühlt, wie kunstähn-lich, wie kunstüberbietend sie geworden ist. Aber triumphaler als hier zwischen der Tiberschleife und dem Parioli-Hügel hat sich kaum einmal die dienende Gattung Architektur in spektakuläre Selbstgefälligkeit aufgelöst.

MUSEUM FOLKWANG, ESSEN

LICHTER BLICK

Klare Linien, freie Flächen und viel Licht für ein Traditionshaus

Es ist nun wirklich nicht so, als hätte Sir David Chipperfi eld die ersten Besucher des neuen Essener Folkwangs mit ausgestreckten Armen empfangen. Als ich im Januar 2010

auf der Bismarckstraße aus dem Taxi stiegt, fröstelte es mich. Nicht weil die Temperatur gegen Null ging, sondern weil sich die Fassade in ihrer Businessparkhaftigkeit so kongenial deprimierend in die Essener Stadtlandschaft fügte. Schlimmer noch, der einstö-ckige Pavillonkomplex präsentierte sich auf einem Steinpodest, für das Chipperfi eld ein oxidierendes Grün gewählt hatte, das mich augenblicklich an die Hautfärbung einer Wasserleiche erinnerte, ohne dass ich je eine gesehen hätte. Kurz: Chipperfi eld hatte so konsequent auf Understatement gezielt, dass man es Underwhelment hätte nennen müssen, gäbe es diesen Begriff .

Aber dann! Einmal drinnen, wollte man nicht mehr raus. Essen? Vergessen. Schon die leeren Räume versprachen Großes. Die Deckenhöhe, das Licht, der Übergang von Pavillon zu Pavillon, die Durchblicke in die asketischen Innenhöfe, der mit Rheinkieseln gesprenkelte Boden: Hier würde die Kunst, einmal eingezogen, strahlen. Sie würde für sich sprechen können, sie würde ihre Kräfte schonen dürfen für den eigenen Auftritt. Das Duell Kunst versus Architektur: abgesagt. Knapp sechs Jahre und etliche

Besuche später darf konstatiert werden: Dass Wilhelm Lehm-brucks Skulpturen so herzerwei-chend traurig den Blick senken, kann alles und jedem angelastet werden, nur nicht dem Archi-tekten. Der erste Eindruck hat nicht getäuscht. Und auch Chipperfi elds Idee, die Raumab-folge so zu gestalten, dass man immer neue Wege durch die ständige Weltklassesammlung HANS-JOACHIM MÜLLER DAVID CHIPPERFIELD

ZAHA HADID

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FONDAZIONE PRADA, MAILAND

MATERIALWUNDER

Billiger Eff ekt, mag man denken, ein Fabrikgebäude mit Blattgold zu überziehen. Aber schließlich will jedes Museum ein Leuchtturm sein, manche wie die Tate Modern in

London haben sogar einen. Das vergoldete Haus der Fondazione Prada in Mailand strahlt von sich aus. Sogar bei dem berüchtigten Nebel, der die Stadt in der Poebene viele Tage im Jahr verschleiert. 24 Karat erfüllen ihren Zweck – und sei es als gar nicht billiges Fassadenmaterial.

Um Material-Werte geht es auch Miuccia Prada, die als wich-tigste Modedesignerin der Gegenwart gilt und Präsidentin der Kunststiftung ist, die neben einem Palazzo in Venedig seit 2015 auch eine ständige Vertretung in Mailand hat. Miuccia Prada führte ungewöhnliche Produktionsverfahren ein, belebte den Stoff druck wieder und kombinierte Naturmaterialien mit Kunststoff en. In Rem Koolhaas hat die Trendsetterin einen Architekten gefunden, der ähnlich unkonventionelle Wege geht, am Ende aber ein Produkt schaff t, das sich doch in den Dienst der Nutzbarkeit stellt. So ist die Fondazione Prada in ihrem Mix aus Bestandsgebäuden einer Schnapsbrennerei und futuristischen Neubauten nicht nur ein

glamouröses Schmuckstück geworden, sondern bespielt 12.300 Quadratmeter Museumsfl äche, die gestalterisch und funktional auf der Höhe der Zeit sind.

Während man von der Terrasse der 50ies-poppigen „Bar Luce“ – ausgestattet von Regisseur Wes Anderson – noch die Vergoldung des „Haunted House“ prüft, wo sich eine ständige Installation mit Werken von Louise Bourgeois und Robert Gober befi ndet, fällt der Blick auf den Boden, der mit rohen Holzbohlen gepfl astert ist. Das Spiel der Kontraste geht in einem versteckten Foyer weiter, das die Besucher verteilt. Hier wird der Goldputz zur profanen Innenwand. Drei majestätische Rundbögen daneben weisen den Weg in einen stützenlosen Saal: Zwei riesige Quader sind zum kühnen „Podium“ gestapelt. Ehe man eintritt, bleibt man wieder an einer überraschenden Fassade hängen, deren silbern schimmernde Betonhaut porös ist wie ein Schwamm. Gegenüber ist das Tonnengewölbe der fl ankierenden „Sud“-Hallen hinter glatten Kunststoff platten zu erahnen, und in den nächsten Hof kommt man nur durch einen Vorhang aus Thermolamellen.

Rem Koolhaas hat eine Architektur entworfen, die nicht wie viele Museumsneubauten angestaunt werden will, sondern unter-sucht, ertastet, benutzt. Bald läuft man wie ein Materialwissenschaft-ler durch den Komplex und streichelt kostbare Kalksteinplatten, kratzt an Metallprofi len oder lehnt sich an alte Bäume, die wie Skulpturen herumstehen. Es geht industrielle Rampen hinauf, an Terrakottadächern vorbei, über exaltierte Treppen, hinab in einen engen Stollen (wo sich Thomas Demands Processo Grottesco verbirgt) und hinauf ins „Cinema“, eine langgezogene High-Tech-Schachtel, die im Inneren ein dunkler Auff ührungssaal, außen ein Spiegelriegel ist, der den Hof optisch vergrößert. So staff eln sich die unter-schiedlichsten Raumformate – drinnen und draußen, für Flachware wie für Dreidimensionales, für Performances und Videokunst.

Ein Jahr bevor die Fondazione Prada eröff net wurde, hatte Rem Koolhaas als Leiter der Architekturbiennale von Venedig schon seine Typologie architektonischer Elemente vorgestellt. Hier in Mailand scheint er nun alles noch einmal zusammengefasst zu haben. Vom Korridor über die Fensterfront bis zum Turm – über dem hintersten Winkel der Anlage ragt noch der Rohbau des „Torre“ in die Höhe. Er soll ab 2017 ein Restaurant und die stetig wachsende Unternehmenssammlung aufnehmen.

Für die Kunst ist die Anlage jetzt schon ein elementarer Gewinn, weil sie alle Art von Raum bekommt. Sie kann sich ausbreiten, wo sie muss, sich an der Architektur messen, wo sie es verträgt, und zurückziehen, wo sie Ruhe braucht. Und der Besucher? Bleibt frisch, weil er ständig das Setting wechselt, nie durch Raumfl uchten irrt und bei der Begutachtung von Fassadendetails und Hofpfl asterungen immer wieder Geist und Auge reinigt. Man darf sich wie als Tages-gast in einem Kloster der visuellen Konzen tration fühlen.

Architektur, die nicht angestaunt, sondern ertastet, benutzt werden will

MARCUS WOELLER

nehmen kann, hat sich bewährt. Schnell ist das Lieblingswerk gefunden, doch stetig ist der Sog der Bezüge, die sich von ihm aus entfaltet. Und noch eine Ahnung hat sich bestätigt: dass der kühle Brite im Berliner Exil letztlich viel eher das Erbe der ebenso großen wie bescheidenen deutschen Wirtschaftswunderarchitekten angetreten hat als die Flughäfen- und Stadienbauer, die hierzulande als Stararchitekten durchgehen. Auch wenn sie sich über die lichten Raumhöhen gewundert hätten: Sep Ruf und Egon Eiermann hätten das neue Folkwang geliebt.

CORNELIUS TITTEL

REM KOOLHAAS

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FRED BERGERUntitled, 1958, Öl auf Leinwand, 127 × 183 cm

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Chicago in den 50er-Jahren: Während in New York der Abstrakte Expressionismus regiert, setzt in der Stadt der Schlachthöfe eine junge Generation von Künstlern auf schonungslose Figuration, in der sie Kriegserfahrungen und andere Traumata verarbeiten. John Corbett erinnert an die „Monster Roster“, eine Gruppe, die keine sein wollte und doch gemeinsam ein zu Unrecht vergessenes Kapitel Nachkriegskunst-geschichte schrieb

DIEMONSTER, DIE SIE RIEFEN

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D er Krieg war zu Ende. Und angesichts des wirtschaftlichen Wohlstands, der sich am Horizont abzuzeichnen begann, verspürten viele Amerikaner überschwänglichen Optimis-

mus. In Chicago jedoch gab es in den späten 40er-Jahren einige Künstler, die anders empfanden und andere Töne anschlugen. Sie malten dunkle, groteske, schonungslose Bilder in düsteren Erdfarben mit aufblitzendem Violett. Abgetrennte Glieder, leere Augen, aufge-blähte Körper, lädierte Torsi, Geburtswehen und Todeskämpfe, abge-schabte, aufgeschlitzte Oberfl ächen. Obwohl sie keine Arbeitsgruppe bildeten und sich nie offi ziell organisierten, spürten diese Künstler, dass sie etwas verband, und andere bemerkten die Verbindung auch.

Doch erst 1959 wird ein Künstler und Journalist, der früher selbst einmal zur Gruppe gehörte, seine alten Kollegen „Monster Roster“ taufen. Der Name blieb hängen, auch wenn nicht alle einver-standen waren. Monströs waren ja auch nicht alle Werke – trotz der gemeinsamen Sicht auf das Drama der menschlichen Existenz. Aber in diesem Fall ist es schon bedeutsam, dem malerischen Stil einen Namen zu geben, umso mehr, als die Monster Roster mit ihrer ästhe-tischen Vision zur ersten originalen Bewegung in der Chicagoer Kunst werden sollten.

Es ist ein angespannter, ernster Ton, der in den Werken herrscht. Und in der Entschiedenheit, mit der die Künstler für ihre Themen gegenständliche Bildzeichen wählten, grenzten sie sich von der Abs-traktion ab, die damals die amerikanische Szene bestimmte. Die Monster Roster waren allesamt fi gurative Maler, die aus antiken und klassischen, literarischen und europäischen Quellen schöpften. Und wenn sie auch mit großer Aufmerksamkeit die neuen Entwicklungen

in New York und Paris verfolgten, blieben sie doch Künstler und Intellektuelle vom alten Schlag, allemal bereit, die disparaten Ein-fl üsse zu einer machtvollen Vision der Menschheit in der Jahrhun-dertmitte zusammenzufassen.

Wenn sich eine Bewegung herausbildet, spielt der Ort eine wich-tige Rolle. Die Malerei der Monster Roster entstand in einer Stadt, von der man lange meinte, es spuke in ihr. Damals die zweitgrößte amerikanische Stadt, war sie ein wirtschaftlicher Knotenpunkt mit Eisenbahnzügen voller Güter und Menschen, die von einem Ende des Landes ans andere gebracht wurden.

Vielleicht rührt ja das Makabre an Chicago von all den Schlacht-höfen her, von der gespenstischen Anwesenheit der Tiere, die im fi nsteren Herzen der Stadt mit industrieller Sachlichkeit ausgenom-men und verarbeitet wurden. Oder vielleicht erforderte die Grün-dung einer Metropole auf einem Indianerhandelsposten einfach diese nüchterne Grenzermentalität, die dann im Blutvergießen gip-felte, das den Weg erst freimachte für die aufstrebende Stadt. Eine Erinnerung, die in gruseligen Fratzen dann und wann aus dem sump-fi gen Untergrund hochkam. Vielleicht auch wurde die unheilvolle Stimmung durch die Spannungen der Rassentrennung erzeugt, durch die aufgestaute Wut, die sich immer wieder entladen hat. Er sei nur ein Berichterstatter, hat Leon Golub einmal gesagt. Er berichte über diese Monster, weil diese Monster tatsächlich existierten. Nichts an ihnen sei Schein, nichts Fantasie: „Die Situationen, die solche Kräfte zum Leben erwecken, existieren wirklich.“

Woher es auch stammen mag, das Monster ist in Chicago eine vertraute Figur. Und mehr als ein Jahrzehnt nach dem Zweiten Welt-

DOMINICK DI MEOTorso/Landscape, 1962, Vinyl auf Leinwand, 51 × 36 cm

Linke Seite: TED HALKINAngel, 1953, Öl über Gouache auf Tafel, 125 × 100 cm

DOMINICK DI MEOTorso, 1962, Mixed Media auf Leinwand, 51 × 36 cm

DOMINICK DI MEOTorso, 1962, Vinyl auf Leinwand, 51 × 36 cm

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Künstler gezeigt wurden, galten sie nicht als Ausstellungsgruppe, wie es die Chicago Imagists in den 60er-Jah-ren waren oder die Hairy Who, die False Image, die Nonplussed Some.

„Monster Roster“, das Label erfand der Kunstkritiker Franz Schulze, der es 1959 erstmals in einer Besprechung in ARTnews verwen-dete. Wenig später erschien im Time-

Magazin ein Artikel mit dem Titel Jetzt kommen die Monster über Chicagos „neue Horrorschule“, in dem es namentlich um Campoli, Cohen, Golub und Fred Berger ging. Im sel-ben Jahr nahmen Campoli, Golub und H. C. Westermann an der von Peter Selz kuratierten, bahnbrechen-den Ausstellung New Images of Man im MoMA teil, die bei der Kritik kei-nen Erfolg hatte. Schulze selbst hat darauf hingewiesen, dass Selz ihm womöglich mit dem „Monster“-Eti-kett voraus war, als er Ende der Fünf-zigerjahre Irving Petlin gegenüber verkündete, er wolle in seiner bevor-stehenden Ausstellung „der Welt Chicagos Monster zeigen“. „Jeden-falls hatte der Name ‚The Monster Roster‘ den Sound von gutem Kunst-jargon“, erinnerte sich Schulze. „Es machte mir Spaß, ihn zu prägen, weil ich – ich geb’s gern zu – als junger

Kunstkritiker die Chance sah, aus einer neuen Kunstrichtung eine einprägsame Marke zu machen.“

Dabei spielte Schulzes Signatur „Monster Roster“ viel weniger auf die Eigenart der Werke an als auf die Chicago Bears, die Foot-ballmannschaft der Stadt, die damals besser bekannt war unter dem Namen „Monsters of the Midway“. Doch der Spitzname passte und half, diese lose Verbindung von Künstlern zu defi nieren, die sich alle kannten und respektierten. Einige standen sich sogar sehr nahe. Golub und Nancy Spero waren verheiratet; Di Meo und Golub waren Zim-mergenossen gewesen; Campoli und Golub ebenso; Cohen und Golub waren an der University of Chicago intellektuelle Sparringspartner; June Leaf und Seymour Rosofsky waren befreundet und eine Zeit lang ein Liebespaar; Leaf und Don Baum waren befreundet, genauso wie Ted Halkin und Evelyn Statsinger und Di Meo und Campoli. Und alle hatten an der School of the Art Institute of Chicago (SAIC) studiert.

Die meisten Monster Roster waren Weltkriegsveteranen, Cam-poli, Cohen, Golub, Halkin, Rosofsky. Irving Petlin, ein wenig jünger, meldete sich zur Armee in den späten Fünfzigern. Don Baum und Fred Berger machten ihren Universitätsabschluss vor Kriegsende, die anderen aber nutzten die GI Bill, ein amerikanisches Stipendienpro-gramm, das Veteranen erlaubte, an Hochschulen zurückzukehren.

krieg erlebte die Kunst der „Windy City“ einen regelrechten Ansturm von Monstern, die berühmtesten in den Werken von Leon Golub, George Cohen, Cosmo Campoli und June Leaf. Wie in einem Zom-biefi lm steigen in ihren Bildern die bösen Geister auf.

D abei gab es schon Monster vor den Monstern. Carl Hoeck-ners Gemälde The Homecoming of 1918 zum Beispiel, unmit-telbar nach dem Ende des Ersten Weltkriegs gemalt, zeigt

eine Legion von ausgehungerten, einbeinigen Ghulen, leichenfres-senden Wesen, die anklagend vor dem Betrachter aufmarschiert sind. Oder Ivan Al bright und seine morbide Faszination für das Groteske. Seine Bilder sind so übergenau gemalt, wie sie verstörend wirken. Sie refl ektieren die Erfahrungen, die der Maler als Sanitäter im Ersten Weltkrieg sammelte. Bilder wie Into the World There Came

a Soul Called Ida („Eine Seele namens Ida kam zur Welt“) von 1929 bezeugen den Schock angesichts abgetrennter Glieder und klaff en-der Wunden.

Streng genommen waren die Monster Roster kein Team. Nie arbeiteten sie gemeinsam oder kollektiv. Es gibt kein Manifest von ihnen. Was sie zusammenhielt, war ihr Glaube an die Möglichkeiten der fi gurativen Kunst in einer von der Abstraktion beherrschten Epoche. Obwohl ihre Arbeiten gelegentlich in Ausstellungen anderer

COSMO CAMPOLIAbsalom, Absalom, 1958, gefärbter Gips, 79 × 76 × 76 cm

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Die gemeinsame Erfahrung am SAIC waren prägende Lehrer-Schüler-Beziehungen. Hinzu kam, dass die Kunstschule mit einem angeschlossenen enzyklopädischen Museum arbeiten konnte, das vor allem die Künstlerin und Kunsthistorikerin Kathleen Blackshear

nutzte. Sie war es, die in ihrem Kurs über primitive Kunst ihre Schü-ler anwies, im Field Museum of Natural History Stücke aus der eth-nografi schen Sammlung zu zeichnen, herausragende Beispiele der präkolumbianischen, ozeanischen und afrikanischen Kunst. Eine Art der Ausbildung, die nicht nur für das SAIC ungewöhnlich war, son-dern einzigartig im amerikanischen Kunststudium.

Die Monster Roster teilten ein starkes Empfi nden für die Kraft nichtwestlicher Kunst. So galt Golubs Interesse vor allem der Antike – der griechischen, etruskischen, hethitischen und immer wie-der auch der römischen. Seine frühen Gemälde bewegen sich zwi-schen dem Monströsen und dem Heroischen hin und her.

N ichtwestliche Kunst, das ist die eine Referenz. Geradezu magnetisch aber fühlten sich die Künstler auch von Europa angezogen. Halkin und Campoli besichtigten zusammen die

Kathedrale von Chartres und verweilten einige Zeit in Campolis Haus auf Mallorca. Golub und Spero sowie Leaf und Petlin zogen in den Fünfzigern nach Paris; Di Meo verbrachte in den frühen Sech-zigern zwei Jahre in Italien. Schulze reiste während seines Studiums mit einem Konrad-Adenauer-Stipendium ausgiebig durch Europa. Die sichtbaren Auswirkungen des Krieges, das Entsetzen vor den Bildern des Holocaust, die gerade bekannt wurden, die Vernichtung der europäischen Kultur, die Reaktionen der existenzialistischen Schriftsteller, das alles machte enormen Eindruck auf die Chicagoer. Zumal die meisten dieser Künstler auf die eine oder andere Weise gesellschaftlich marginalisiert waren, als Juden oder jüngst Einge-wanderte, was die Ereignisse in Europa für sie und ihre Familien umso persönlicher machte. Zumindest in dieser Hinsicht waren sie mit manchen ihrer Kollegen in der New York School eng verbunden.

Das Engagement der Monster Roster für die Figur unterschied sie jedoch und bildete einen unüberbrückbaren Graben zu den Abs-trakten Expressionisten. Eher fanden sie ihre Verwandten bei euro-päischen Pionieren wie Alberto Giacometti, Francis Bacon oder Jean Dubuff et. Dubuff ets Vortrag Anticultural Positions, den er 1951 im Arts Club of Chicago hielt, wirkte wie ein Fanal. Dubuff et verfocht die Geltung der Kunst von Geisteskranken, plädierte für die Beschäf-tigung mit Stammeskunst, verwies auf unberührte Quellen der Ins-piration, dass es den jungen Chicagoern in den Ohren klang. „Art Brut stimmte gut mit der Chicago-Ästhetik überein“, sagte Di Meo einmal. „Splitt, Oberfl äche, die Straße, alles was sozusagen Un-Kunst ist, hat uns sehr angezogen.“

Auf einem Wandtext für eine Ausstellung in einer New Yorker Galerie formulierte Golub: „Ich denke, wir leben in einer Zeit der

kreativen Degeneration, in der nur die Unwissenden, die Naiven und Primi-tiven einfach und klar sprechen. Hin und wieder erhebt sich ihre andere Stimme, aber der Bombast und Kitsch der Stereotypen und Konventionen übertönen sie. Für mich ist der krea-tive Prozess eine moralische Verpfl ich-tung, die allen Formalismus transzen-diert.“ Und in der Art, wie die Monster mit den inneren Dämonen rangen, reihten sie sich ein in eine europäische Tradition, die über James Ensor und Francisco de Goya bis hin zu Hierony-mus Bosch und Matthias Grünewald zurückverfolgt werden kann.

Künstler wie Di Meo, Cohen und Golub bedienten sich in ihrer meisterhaften Malerei ungewöhnli-cher Techniken und Materialien, bevorzugten raue Oberfl ächen, ließen sie gesprenkelt, geschabt, zerrissen aussehen, tauchten ein in dunkle Farb räume. Ugly Beauty, die Komposi-tion des Pianisten Thelonious Monk hätte ihr Motto sein können. Und dies war die heimliche Agenda der Mons-ter Roster: Eine Gegenästhetik aus verpönten Materialien  – Teer, Ruß, Schlamm, Fäkalien, Blut.

Die Essays von Jean-Paul Sartre und Albert Camus, die Stücke von Antonin Artaud, die Romane von Franz Kafka und James Joyce, Begriff e wie „Angst“ und „Absurdität“, die Konzepte des Unbewussten, die Ahnung der unvordenklichen Schre-cken, die aus den Bildern und Berich-ten aufstieg, nachdem die USA ihre Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki abgeworfen hatten – all diese kulturellen und gesellschaftlichen Erfahrungen sind in die zwischen Expressionismus und Surrealismus schwankende Bildsprache der Künstler eingegangen. Jeder Einzelne der Mons-ter Roster hatte seine eigene Gram-matik. Doch im langen Abstand kann man gut erkennen, wie all diese Werke aus einem gemeinsamen Genpool der Gefühle und Gedanken stammen.

Von oben nach unten: Leon Golub,

Dominick Di Meo, June Leaf, Ted Halkin, Cosmo

Campoli

Art Brut stimmte gut mit der Chicago-Ästhetik überein. Splitt, Oberfl äche, die Straße, alles was sozusagen Un-Kunst ist, hat uns sehr angezogen“

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Die Ausstellung The Chicago School 1948–1954 wurde die bislang umfassendste Übersicht über die Monster Roster. Zusammengestellt hatte sie 1964 Don Baum, der Direktor des Hyde Park Art Center in Chicago. Da hatten die Monster Roster bereits ihren Zenit über-schritten, hatten sich künstlerisch und geografi sch in alle Winde zer-streut. So wurde die Ausstellung Retro spektive und Nachruf zugleich. Im Klima nach der ersten Welle der Pop-Art erschien so ziemlich alles an den Bildern der Monster Roster vergangen, gestrig, abgetan, von ihrer erdigen Palette bis zu den Selbstverletzungen, die sich ihre gewaltsame Malerei beibrachte, vom humorlosen Ton bis zum unter-gründigen Machogehabe. Das Dunkle schien out angesichts der glat-ten Oberfl ächen, die die Pop-Art versprach. „Dies ist nicht Kunst um der Kunst willen“, hatte Golub noch 1963 über seine Arbeit geschrieben, „dies ist weder Ironie noch Spiel.“ Aber Ironie und Spiel waren eben in Mode gekommen. Und im Vergleich mit der Energie eines Peter Saul, dessen in Chicago entstandene und gerade wiederentdeckte Vietnam-Bilder vehement und ironisch zugleich wirkten, oder mit seinen eigenen, zunehmend konkreter, gegenständ-

licher werdenden Bildern von Krieg, Folter und Politikern, muteten Golubs Arbeiten aus der Chicago-Zeit mühsam an. „Wären die Monster Roster eine Gruppe in New York und nicht in Chicago gewesen“, sagte Fred Berger, „wären sie in den Rang eines nationalen Phänomens aufgerückt. Und sofort hätte die Bewegung Anerken-nung und Erfolg gefunden. Aber so wie es nun einmal geschehen ist, zündete der Funke nur einen Augenblick und verglühte.“

Im größeren Rahmen, während Kunsthistoriker weiter daran arbeiten, das Profi l der amerikanischen Kunst des 20. Jahrhunderts neu zu interpretieren, bieten die Monster Roster eine provozie-rende Alternative zur Hegemonie des Abstrakten Expressionismus, einen dynamischen und vielfältigen Kontrapunkt, gleichermaßen verankert im kosmopolitischen Humanismus und einem elementa-ren Korpsgeist.

JUNE LEAF The Salon, 1965, Öl auf Leinwand, 112 × 91 cmLinke Seite: LEON GOLUB Colossal Figure, 1961, Lackfarbe auf Leinwand, 266 × 200 cm

ÜBERSETZUNG: ULI AUMÜLLER

DAS SMART MUSEUM OF ART IN CHICAGO ZEIGT BIS 12. JUNI DIE AUSSTEL-LUNG MONSTER ROSTER: EXISTENTIALIST ART IN POSTWAR CHICAGO

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Mit Magnus hat die App-Digitalisie-rung also auch die Kunst erreicht. In einem Restaurant genießt man ja schon länger einen guten Wein, scannt das Etikett, bekommt auf Vivino einen mittleren Preis für die Flasche genannt, eine Bewertung und Information über die Rebsorte, Geschmack, Ranking, Jahres-vergleich und wo man ihn in der Nähe kaufen kann. In einer Kneipe hört man ein Lied, das einem gefällt, man hält sein Smartphone in die Höhe und lässt sich

So sieht die neue Kunstzeitrechnung nach Freischaltung der App Magnus aus: Wir gehen in eine

Galerie oder ein Museum oder eine Privatwohnung, schauen uns kurz um. Wenn uns ein Bild gefällt, wir mehr wissen wollen, halten wir unser Smart-phone hoch, machen ein Foto und lassen uns erzählen, was die Datenbank so alles gespeichert hat: Gesammelt hat der Erfi nder dieser Crowdsourcing-App Magnus Resch schon Künstlerna-

men, Titel, Jahre, höchste Preise, Ausstel-lungen, andere bereits verkaufte Bilder, die wir mit Herzen versehen, wenn sie uns gefallen. Und es gibt natürlich einen Link zur Galerie. Die App wurde für den Kunstmarkt entwickelt, um für Transpa-renz im Dschungel der internationalen Megapreismacherei zu sorgen. Wir können uns aber auch auf einem Stadt-plan anschauen, welche Ausstellungen in der Umgebung eröff nen, und uns über die Künstler informieren.

Das ist die Revolution: Ein Foto von der Kunst, und schon hat man alle Informationen auf dem Smartphone. Was bedeutet das für die Kunstbetrachtung?

ENCOREMAGNUS-APP — WERTSACHEN — AUKTIONEN —

GRAND PRIX — BLAU K ALENDER

— DER AUGENBLICK

Magnus, der Allwissende

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Schauen wir uns eher den Vorteil gegen-über Brockhaus-Zeiten an, als die dicken Bände im Regal verstaubten. Dann kam Wikipedia – am Anfang verpönt. Wer aber kann von sich sagen, die Seiten nicht zu nutzen? Die stets aktualisierten Literaturlisten geben einen möglichen Pfad zur tieferen Beschäftigung frei. Im Museum sieht man immer häufi ger Leute, die sich auf ihren Smartphones

von Shazam zeigen, wer da singt, verlinkt mit einer Seite zum Erwerb des Liedes. Die Kunst aber, so dachte man lange, bleibt außen vor. Sie hat nach dem Verlust ihres Originalität-Schutzschirms durch Instagram und Co. jedoch keine Mittel mehr, sich der Gesichtserkennung zu entziehen, die unsere Welt derzeit durchsichtig macht. Magnus wird unseren Blick auf die Kunst nachhaltig verändern.

Denken wir die App weiter: Von nun an können wir unsere Neugierde ganz ohne Vorkenntnisse befriedigen. Erinnern wir uns an die Zeiten, als man sich durchs Internet schlängeln musste, hindurch-zappte, Link auf Link folgte, bis man sich irgendwo verloren hatte – mit dumpfem Kopf vor dem Rechner hing. Natürlich ist Magnus nichts für Forscher. Doch den Anspruch hat die App auch nicht.

Herr Resch, Sie haben in den USA gerade eine App gelauncht, die den Kunstmarkt radikal verändern soll. „Magnus“ erkennt Kunstwerke und liefert alle Informationen dazu: Künst-ler, Preis und Ausstellungsorte. Mit mehr als acht Millionen Einträgen haben Sie die größte Kunstdatenbank der Welt auf der Basis von Crowdsourcing. Sie sprechen vom „Shazam“ für die Kunstwelt. Wie kamen Sie auf diese Idee?— Sie ist über Jahre gereift. Schon seit meinem BWL-Stu-dium wundere ich mich über die fehlende Transparenz auf dem Kunstmarkt. Der Besuch in Galerien bereitet mir nach wie vor Unbehagen. Sie fühlen sich elitär an, obwohl sie öff entlich sind. Und wenn man nach dem Preis fragt, wird er oft gar nicht

genannt. Ich habe selbst kurz eine Galerie geführt. Damals fand ich es fast lustig, dass man Preise meist aus dem Bauch heraus bestimmen konnte. Nur bei der Malerei gibt es eine – allerdings schräge – Formel: Länge mal Breite mal Multipli-kator. Kommt dann jemand vorbei, der ein bisschen wohlha-bender aussieht, schlägt man 2.000 Euro drauf, um mehr Spielraum für den Handel zu haben. Der Preis ist aber doch etwas Essenzielles. Auf dem Kunstmarkt benehmen sich alle wie auf einem Basar.

Und nun sollen die Teilnehmer dort die Hüllen fallen lassen, und Sie verdienen damit Geld. — Zunächst einmal: Die App ist gratis. Ich mache bisher kein Geld damit. Aber ich bin natürlich auch nicht von der Heilsarmee, die Monetarisierung kommt später. Zuerst will ich den Kunstmarkt zugänglicher machen. Ich bündele die Suche auf handliche, digitale Weise, sortiere nach Preisen, Orten, Ausstellungen, Künstlern. Im Gegensatz zu Datenbanken wie Artnet oder Artprice fi ndet man aber nicht nur Preise aus Auktionen, son dern auch aus Galerien. Wir decken den kompletten Markt ab.

Tatsächlich hat die Undurch-sichtigkeit in den vergangenen Jahren Betrügereien begünstigt.

Magnus Resch, fotografiert von Adam Golfer in New York

Jeder bekommt alle Infos. Sofort und umsonst!“

Wer Ihre App nutzt, kann jetzt Kunstberatern wie Helge Achenbach oder Yves Bouvier auf die Finger gucken. Ent-spricht Magnus – was ja ein bisschen größenwahnsinnig

klingt – einem allgemeinen Bedürfnis nach Kontrolle und Transparenz? — Transparenz, Demokratisie-rung, das behauptet heute doch jede Online-Plattform. Aber

DER ÖKONOM UND SOCIAL-MEDIA-STAR MAGNUS RESCH HAT SEINE APP ZUR KUNST-ERKENNUNG SELBST-BEWUSST MAGNUS GE-NANNT. EIN GESPRÄCH

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weiße Leinwände wird keine Technologie der Welt als konkretes Kunstwerk defi nie-ren können. Aber dann sucht man einfach nach dem Künst-lernamen, spezieller auch nach Entstehungszeitraum oder Größe der Leinwände, und kommt der Information schon näher. Wir lassen zwar die Software auf Kunsterkennung hin verfeinern, so wie Amazon auf Objekte oder Vivino auf Weinlabels – künstliche Intelli-genz steckt ja noch in den Anfängen. Aber sie ist nicht das Herzstück der App, sondern unsere Datenbank.

Viele Werke befinden sich in Museen, wo man nicht fotogra-fieren darf, oder in Privat-sammlungen. Auch manche Galerien werden ein Fotoverbot verhängen, weil sie ihre Preise nicht publik machen wollen. Galeristen untersagen den Zeitungen jetzt schon, Preise öffentlich zu machen. Wie werden Sie Ihrem Anspruch auf Vollständigkeit und Fehlerfrei-heit gerecht?

Malen Künstler bald Bilder nach den Wünschen der Magnus-Nutzer? Die Antwort ist wahrscheinlich: Ja. Magnus zeigt, dass auch die Kunst ihre Sonder-rolle längst verloren hat. Anders als in der Musik aber baut die Kunst immer noch sehr hohe Hürden auf für die Besucher.

Passend dazu defi niert die neue Direktorin des Kunstmuseums Bern

die Grundinformation mühsam bei Wikipedia holen. Magnus könnte das jetzt alles ablösen.

Wollen wir aber überall mit unseren Handys auf die Kunst zielen? Uns nicht lieber über das Gesehene austau-schen? Als Shazam und auch Spotify an den Start gingen, war die Hochkultur in großer Sorge. Werden wir in der Kunst auch bald die Hit Song Science

bekommen, die bislang nur von Aukti-onshäusern ganz analog betrieben wird, wenn sie junge Künstler hypen? Dank der App-Info lässt sich errechnen, was ein Hit wird. In der Musikbranche gibt es Firmen, die Big-Data-Ströme auswerten, um festzustellen, was gut läuft. Welche Songs Taylor Swift veröf-fentlicht, darüber entscheiden die Algorithmen.

— Wo keine Fotos erlaubt sind, können wir nichts

zeigen. Wo keine Preise öff entlich sind, zeigen wir nur das Bild und das,

was wir dazu wissen. Oft erfahren wir die Preise dann durch Galeriebesucher – und haben ja auch noch die Aukti-onszuschläge. Spätestens der nächste Käufer kennt den Preis. Vielleicht nutzt er unsere App und speist seinen Neuerwerb dort ein. Ich war schon bei vielen Sammlern zu Hause und habe noch nie erlebt, dass ich keine Fotos machen durfte. Wir zeigen ja nicht, wo ein Bild hängt. Einer der wichtigsten und größten Sammler aus New York ist mit meiner App durch sein Haus gelaufen, hat alles abfoto-grafi ert und Preise eingegeben.

fast überall muss man hohe Beiträge bezahlen, um an Informationen zu kommen. Meine App aber ist unabhängig. Und extrem einfach: Man macht ein Foto von einem Kunstwerk und erfährt sofort alles darüber: den Preis, den Künstlernamen und die Ausstel-lungshistorie. Ein Sammler kann sich ein eigenes Profi l erstellen, bekommt Meldungen über Künstler, die er gut fi ndet, erfährt, wo sie ausstellen oder ob sie gerade in Auktionen angeboten werden. Außerdem vergleichbare Werke und Preise. Ein Käufer sieht: Dieses Werk aus der Galerie wurde schon bei Christie’s 2011 für einen bestimmten Preis versteigert. Wir führen also die Preis-entwicklung vor. Und die User helfen dabei.

Die App erkennt Bilder, die bereits in der Datenbank sind. Wenn nicht, wird das Foto neu registriert, und man erhält am nächsten Tag Informa-tionen dazu. Findet man auch Skulpturen, Konzeptkunst und Performance? Oder weiße Leinwände von Robert Ryman? — Nein. Die Technologie der Wiedererkennung von Bildern ist noch nicht so weit, dass sie Dreidimensionales wahr-nimmt, da sind wir noch genauso rudimentär wie Google und Amazon, die mit derselben Software arbeiten. Und rein

Fotografiert man ein Werk, bekommt man Informationen zur Kunst und konsumfreundlich: den Preis

Mit Magnus kann man sich in der Stadt bewegen, von einer aktuellen Ausstellung zur anderen

Er erstellt damit seine digital

collection. So erfährt er etwas über Wertzuwächse und den aktuellen Preis seiner Künstler in Galerien.

Aber viele Sammler haben kein Interesse daran, dass überall bekannt wird, was sie zu Hause hängen haben. Aus steuerlichen Gründen, aus Angst vor Einbrü-chen oder nervenden Leihanfra-gen. Sammeln ist etwas Privates. In Deutschland hört man das angesichts des geplanten Kulturgutschutzgesetzes ziemlich häufi g. Wenn Sie Ihre App in einigen Monaten auch hier anbieten, könnte Zurückhaltung bei den Kunstkäufern herrschen. Für wen ist die App dann gut? — Noch mal: Die App zeigt nicht, wem ein Werk gehört und wo es sich befi ndet. Google,

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Tasche. Holen wir es aber raus, kann die Kunst uns lehren, dass wir sie vielleicht noch nicht verstanden haben, wenn wir alle schnellen Informationen über sie besitzen.

Nina Zimmer die Bedürfnisse des Kunstschauenden heute eindeutig: Es gebe viel mehr als vor zehn oder fünfzehn Jahren Bedarf an Basiswissen. Die Grundmotive der christlichen Ikono-grafi e seien den meisten unbekannt. Sobald ein Hauch des Bildungskanons vorausgesetzt werde, führe das schon dazu, dass die Besucher die Ausstel-lung ablehnten. Die Vermittlung der

Grundlagen muss also stimmen. Und so ist Magnus vielleicht der Anfang einer kleinen Revolution für den Kunstbetrach-ter. Ganz im Sinne des Kulturpolitikers Hilmar Hoff mann, der diese demokrati-sche Öff nung der Kunst schon in den 70er-Jahren forderte und „Kultur für alle“ nannte. Die Kunst überrumpelt im besten Fall unsere Sinne sowieso – und wir vergessen das Smartphone in der

— Ich bin eine App. Eine Preisdatenbank wie Artnet oder Informationsplattform wie Artsy sind Websites. Dort gibt es ein anderes Userverhalten. Trotzdem ist für mich jemand wie Hans Neuendorf, der vor 20 Jahren Artnet gegründet hat, ein absoluter Revolutionär. Er hat Transparenz in den Markt gebracht, indem er Auktionser-gebnisse gebündelt an einem Ort zugänglich macht. Das hat etwas Entscheidendes verän-dert: In Auktionsräume, wo früher nur Experten saßen, kamen plötzlich andere Leute, die sich vorab informiert hatten. Früher musste man Kataloge anfordern und Preislisten sammeln. Nun waren die Preise

verfügbar, zumindest für Mitglieder. Bei uns ist es klar: Jeder bekommt alle Informationen sofort und

umsonst. Wir decken den kompletten Kunsthandel ab, nicht nur den Auktionsmarkt. Preise aus dem Primärmarkt zu sammeln war bisher der heilige Gral. Außer uns hat sich dorthin noch niemand vorgewagt.

Verliert der Kunstbetrieb nicht seinen Reiz, wenn alles sofort verfügbar und konsumierbar ist? — Nein. Für mich entsteht der Reiz nicht dadurch, dass künstlich Exklusivität aufgebaut wird. Das ist reines Marketing. Auch das Verheimlichen der Preise ist Teil davon. Der Reiz

Uber, Instagram und Facebook wissen mehr über uns alle, als ich jemals wissen werde. Die App ist einfach für jeden, der sich für Kunst interessiert! Nehmen Sie diesen Fall: Ein Tourist steht in New York und möchte wissen, welche Ausstel-lungen gerade laufen. Entweder er googelt nach Galerien oder Websites, die Shows zahlender Mitglieder oder andere gefi lterte Empfehlungen nennen. Oder er greift sich einen Flyer, auf dem die Galerien für ihre Ausstel-lungseinträge ebenfalls bezahlen. Bei mir aber fi nden Sie nicht nur fast jede Galerie der Stadt, sondern ich sage Ihnen auch, welche Ausstellung genau diesen Touristen interessieren könnte, weil die App sein Profi l auswertet. Zudem listen wir die Lebensläufe aller Künstler detailgenau. Auch das musste man sich bisher mühsam auf Websites zusammensuchen.

Wenn die App alles weiß – wird das Gespräch mit Galeristen und Experten jetzt überfl üssig?— Die App bietet ja nur einen Wissensvorsprung. Da kann man doch nicht ernsthaft davon sprechen, dass hier ein wichtiges Gespräch verloren geht. Wenn ich in einer Galerie nach dem Preis frage, spreche ich meist mit dem Praktikanten oder dem Sales Director. Der intensive Dialog fi ndet da eh nicht statt.

Vielleicht interessiert manch einen ja auch die Kunst selbst, und nicht nur der Preis? Der Markt ist in der Kunst doch ohnehin schon so dominant. Befeuert das Digitale diese Ent-wicklung und verlagert sich die Kunstrezeption bald komplett ins Smartphone?— Ich glaube, dass das Digitale den Offl ine-Markt nicht ersetzt, sondern unterstützt. Die bestehenden Player – Art-net, Artsy, Auctionata, Paddle8, Artspace und Artbinder – fi nde ich großartig. Aber online werden doch nur weniger als zehn Prozent des gesamten Marktes umgesetzt. Auctionata zum Beispiel verdient mit

Uhren, Autos und Antiquitäten mehr Geld als mit Kunst. Ich bin überzeugt, dass das Digitale den Markt vergrößert, aber ihn nie verdrängen wird. Die Inspiration kommt allein durch den direkten Kontakt. Man kann Kunst nur offl ine erleben.

Trotzdem treten Sie nun in Konkurrenz mit Online-Platt-formen, die das Sehen und Kaufen von Kunst in den letzten Jahren stark beeinfl usst haben.

entwickelt sich durch das Kunstwerk selbst. Wenn ich daran jedes Detail beschreibe, alles erkläre, es totinterpretiere – vielleicht geht dann etwas verloren. Aber ich setze nur die Hürden herab, damit mehr Menschen Kunst sehen können.

Vor drei Jahren haben Sie Ihre Doktorarbeit als Handbuch herausgegeben, in dem steht, wie Galerien mehr Geld verdienen können, etwa durch Kundenbin-dung mit Armbändchen, auf denen Kunst abgedruckt ist. Sie selbst kommen aus dem Start-up-Bereich. Was versprechen Sie sich fi nanziell von der App? — Eines ist klar: Ich verkaufe keine Userdaten, und die Basisfunktionen der App werden immer gratis bleiben. Was kostenpfl ichtig dazukommen könnte, sind Extra-Services wie bei Spotify. Es gibt die Gratis- und die Premiumver-sion mit Sonderleistungen wie Market-Alerts. Ich könnte mir auch vorstellen, dass Galerien irgendwann selber Daten hochladen und Zugang zu den Analysen der App erhalten. Sie sehen dann: Wie oft wurde dieses Bild in meiner Galerie fotografi ert? Die Galeristen werden so meine Partner. Aber auch dann müssen sie keine 250 Dollar pro Monat zahlen.

INTERVIEW: GESINE BORCHERDT

KOMMENTAR: SWANTJE KARICHILLUSTRATIONEN: AHAOK

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&

Sienna Miller

#jungbleiben

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Nach dem Ersten Weltkrieg, der die Menschen erschüttert hat wie keine Kampfhandlung davor, panzerte sich der Mann auch im Alltag. Die Ritter-rüstung der Neuen Sachlichkeit waren der schwarze Mantel, das taillierte Sakko, der gestärkte Kragen und der steife Hut. Erich Kästner hat ihr in Emil und die Detektive ein Denkmal gesetzt. August Sander fotografi erte den Kölner Maler und Kriegsheimkehrer Anton Räderscheidt in diesem Aufzug. Und der Maler selbst nennt sein Epochenbild Junger Mann mit gelben

Handschuhen. Räderscheidt steht unbeholfen da, „geschützt … aber umso einsamer“, schreibt Wieland Schmied. Das kleine Gemälde von 1921 galt als im Krieg verloren, erst in den 70ern tauchte es auf. Grisebach schätzt es auf 180.000 bis 240.000 Euro (ein Foto von Sander gibt es als Beigabe). WOE

In seiner berühmten Blackboard-Serie sieht man es: Cy Twomblys wahre Leidenschaft galt dem Schreiben. Die schwarz-weißen Bilder, die zwischen 1966 und 1971 entstan-den, bilden die Essenz eines Œuvres, das zwar keine Gegenstände zeigt, aber trotzdem sehr viel erzählt – von Poesie und Mythologie, Mallarmé oder Ovids Metamorphosen. Fast minimalistisch wirken die Schreibschlaufen, die Twombly rhythmisch auf schwarzen Grund gesetzt hat. Wie das bei einem Format von 154 mal 174 Zentimetern ging? Ganz einfach: Er setzte sich auf die Schultern eines Freundes, schwenkte vor der Leinwand hin und her und zog so seine Linien. Untitled (New York City), das Sotheby’s auf 40 Millionen Dollar schätzt, fällt aus der Blackboard-Reihe: Twomblys Wachsstift ist hier blau statt weiß. Der Besitzer erwarb das Bild direkt im Atelier, es wurde nie öff entlich gezeigt – bis jetzt. Gelockt wurde er sicherlich von Twomblys jüngstem Rekord bei Sotheby’s; ein Bild gleichen Namens brachte unlängst 70,5 Millionen Dollar. GB

Man sieht es dem artigen Sujet nicht an, dass es in eine kunstge-schichtlich spannende Bezie-hungsgeschichte verwickelt ist. Als

sich die Dresdner „Brücke“-Maler 1905 zur Gruppe formier-ten, suchten sie bald nach Gesinnungs-freunden und setzten

einige Hoffnung auf den Schweizer Cuno Amiet, der, mit Matisse bekannt, ihnen die Tür nach Frankreich öffnen sollte. Amiet gesellte sich kurzzeitig zur „Brücke“, die heftige Expressiv-malerei aber blieb ihm fremd. Schön zeigt das Stillleben aus dem Jahr 1908, wie viel näher ihm sein Pariser Freund Matisse war. Lempertz schätzt das Gemälde auf 80.000 bis 120.000 Euro. MÜ

MARIONETTE

Expressionade

Ausgewählte Werke

2. Juni in derVilla Grisebach in

Berlin

Nachkriegs- und Gegenwartskunst

11. und 12. Mai bei Sotheby’s in New York

Moderne Kunst

3. Juni bei Lempertz in

Köln

Was uns gefällt: Highlights und Abseitiges aus dem Angebot

des Kunsthandels

WERTSACHEN

BLAUPAUSE

MAGNUS-APP —

WERTSACHEN — AUKTIONEN —

GRAND PRIX — BLAU K ALENDER

— DER AUGENBLICK

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6./7. MAI NAGEL IN STUTTGART

Asiatische Kunst

7. MAI DR. FISCHER IN HEILBRONN

Kunst und Antiquitäten

9./10. MAI SOTHEBY’S IN NEW YORK Impressionismus und Moderne

10./11. MAI QUITTENBAUM IN MÜNCHEN Jugendstil und Art déco

10./11. MAI CHRISTIE’S IN NEW YORK

Nachkriegs- und Gegenwartskunst

11./12. MAI BONHAMS IN NEW YORK

Impressionismus und Moderne, Nachkriegs- und Gegenwartskunst

11./12. MAI SOTHEBY’S IN NEW YORK

Nachkriegs- und Gegenwartskunst

11.–13. MAI ZISSKA & LACHER IN MÜNCHEN

Seltene Bücher und Grafi k

12./13. MAI CHRISTIE’S IN NEW YORK Impressionismus und Moderne

13./14. MAI VAN HAM IN KÖLN Alte Kunst, Europäisches Kunstgewerbe

18.–20. MAI REISS & SOHN IN KÖNIGSTEIN

Wertvolle Bücher, Handschriften, Reise, Fotoalben und Grafi k

19. MAI SOTHEBY’S IN LONDON Fotografi e

20. MAI CHRISTIE’S IN LONDON Fotografi e

20./21. MAI LEMPERTZ IN KÖLN

Kunstgewerbe, Alte Meister und Kunst des 19. Jahrhunderts

23./24. MAI KETTERER IN HAMBURG Wertvolle Bücher

25. MAI CHRISTIE’S IN LONDON Shakespeare: Die vier Folianten

25. MAI KETTERER IN MÜNCHEN Kunst des 19. Jahrhunderts

26. MAI SOTHEBY’S IN NEW YORK Alte Meister

26.–28. MAI BASSENGE IN BERLIN

Kunst des 15. bis 19. Jahrhunderts und Moderne

30. MAI CHRISTIE’S IN ZÜRICH Schweizer Kunst

31. MAI SOTHEBY’S IN ZÜRICH Schweizer Kunst

1. JUNI BASSENGE IN BERLIN Fotografi e

1.–4. JUNI VILLA GRISEBACH IN BERLIN Moderne und Gegenwartskunst, Fotografi e

2. JUNI VAN HAM IN KÖLN Moderne und zeitgenössische Kunst

3./4. JUNI LEMPERTZ IN KÖLN Moderne und Gegenwartskunst

AUKTIONENEINE AUSWAHL der BLAU REDAKTION

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BIS 22. MAI 2016 | HELMUT NEWTON FOUNDATION | MUSEUM FÜR FOTOGRAFIEJEBENSSTRASSE 2, 10623 BERLIN | DI, MI, FR 10-18, DO 10-20, SA, SO 11-18 UHR

GREGGORMAN

COLORWORKS

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Ob wir uns den New Yorker Paparazzo Arthur „Weegee“ Fellig

so besessen vorstellen dürfen wie Jake Gyllenhaal als Psycho-Paparazzo im Film Nightcrawler? Beschrieben wird er jedenfalls als Mann ohne Scham und Scheu, der sich auf der Rückseite seiner Bilder mit „Weegee the Famous“ auswies und dicke Zigarren rauchte. Im New York der 30er- und 40er-Jahre folgte er den Hinweisen des Polizei-funks, keine Grausamkeit war ihm zu hart. 2007 zeigte das C/O Berlin in

einer Ausstellung mit 220 Bildern, wozu er fähig war. Beim Auktionshaus Bassenge in Berlin wird jetzt eines seiner harmloseren Motive versteigert, ein Vintage seiner Marilyn Monroe on Pink Elephant, 1955, 25,3 mal 20,5 Zentimeter klein. Abstand aber hält der Fotograf auch hier nicht. Die Taxe liegt bei 2.000 Euro. SWKA

Die Zeit der Wende vom 19. zum 20. Jahr-

hundert nennt man nicht ohne Grund die Belle

Époque. Bestes Beispiel ist diese Vase mit „Phänomen-

Dekor“ aus der Kunstglasma-nufaktur Joh. Loetz Witwe aus

Klostermühle in Böhmen. Ein fi ligranes Gefäß aus kobalt-blauem und transparentem,

silbern und perlmuttfarben irisierendem Überfangglas, das nur zu einem Zweck gefertigt wurde: staunen zu lassen. So geschehen auf der Weltaus-stellung 1900 in Paris.

Quittenbaum schätzt die Vase auf 8.000 bis 10.000 Euro. WOE

Er wirkt fast wie Tarnung, der Titelkup-fer. Man könnte an eine pathetische Schäferszene denken, wenn man nicht wüsste, was 1781 nur wenige wussten: dass sich zwischen den Buchdeckeln ein dramatischer Spreng-satz versteckt, der vom bürgerlichen Moralgefüge nur noch Trümmer hinterlassen wird. Die überaus seltene Erstausgabe von Schillers anonym publizierten Räubern stammt aus dem Nachlass der Widerstandskämpferin Ruth Andreas-Friedrich. 1947 hat Peter Suhrkamp in den veröff entlichten Tagebuch-Aufzeichnungen (Der Schattenmann) auf die Schriftstellerin aufmerksam gemacht, die zusammen mit ihrem Partner Leo Borchard und der Flüchtlings-hilfegruppe „Onkel Emil“ Juden beim Versteck oder Exil half. Die gut erhaltenen Räuber kommen bei Ketterer mit einer Schätzung von 10.000 Euro zum Aufruf. MÜ

Ein Bild aus dem Frühwerk Corinths, als der Maler noch an der Pariser Akademie studierte und dort dem impressionisti-schen Zeitstil mit Skepsis begegnete. Gleichwohl sieht man dem genussvollen Schwelgen in abgestuften Grüntönen an, dass sich der Maler an der Lichtregie der Franzosen und ihrem aufgelösten Kolorismus orientiert. Wobei der deutsche Impres-sionismus immer noch ein wenig symbolistisch gebunden bleibt. Tatsächlich könnte man bei der Rückenfigur neben dem beherrschenden Baumstamm an eine Böcklin-Szene denken, an einen Wiedergänger aus einem mythischen Arkadien, der hier im sonnendurchfl uteten Wald Pans Stunde genießt. Wie Thomas Deecke, die unbestrittene Corinth-Autorität, betont,

ist das Motiv singulär im Werk, was das Gemälde Im Walde (1886) umso bedeut-samer macht. Van Ham schätzt es auf 40.000 bis 60.000 Euro. MÜ

PFLICHT-LEKTÜRE

Alte Kunst

13. Mai bei Van Ham in Köln

Lot und seine Töchter

8. bis 12. April bei Christie’s in New York

Fotografi e

1. Juni bei Bassenge in Berlin

Wertvolle Bücher

23. und 24. Mai bei Ketterer in Hamburg

Jugendstil und Art déco

10. und 11. Mai bei Quittenbaum in

München

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Frühjahrsauktionen in Berlin 1. bis 4. Juni 2016

Fasanenstraße 25, 10719 Berlin

grisebach.com

Restituierte Werke aus der

Sammlung Rudolf Mosse

Kunst des 19. Jahrhunderts

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D a steht es: wizard. Während der Lektüre eines Interviews im Art Newspaper bin ich an diesem so wunderbar zischenden Wort hängen geblieben: wizard. Die amerikanische Kunstzeitung warb mit einem Exklusivgespräch. Gesprochen hat Ann Freedman.

Man muss wissen: Ann Freedman schwieg ungefähr fünf Jahre – außer vor Gericht. Dort wurde sie gezwungen. 2011 fl og der von ihr geleiteten Galerie Knoedler in New York ein Fäl-schungsskandal um die Ohren. Ann Freedman hatte jahrelang Bilder verkauft, die von Jackson Pollock und Mark Rothko sein sollten, die aber ein Chinese in Manhattan in seinem Studio gemalt hatte. Die Zwischenhändlerin Glafi ra Rosales hatte großartige Geschichten von einer natürlich tollen historischen Sammlung erzählt. Und fast alle haben ihr geglaubt. Besonders Ann Freedman. Die Folgen: Die Knoedler-Galerie wurde nach 165 Jahren geschlossen, die Vermittlerin der Fäl-schungen Glafi ra Rosales angeklagt, doch kurz bevor Ann Freedman dran war, wurde das Verfah-ren eingestellt. Eine dramatische Geschichte. In Erinnerung geblieben ist mir aber von dem Inter-view nur ein Wort: wizard. Genauer sagte Ann Freedman: Sie sei das perfekte Opfer gewesen und die Betrüger „exquisitely conspiratorial wizards“ – Zauberer, ja Illusionisten. Sie haben ihre Sinne getäuscht. Der vermeintliche Jackson Pollock war natürlich ein Pollock, der falsche Rothko war ein Rothko. Im Bann des Zauberspruchs sind sie es noch heute. Während ich das Wort wizard wie Brause auf der Zunge spüre, erst kurz, dann länger an die vielen „Zauberer“ in den „Panama Papers“ denke, die auch mit Illusionen arbeiten, lande ich schließlich bei Petrosilius Zwackelmann aus Der Räuber Hotzenplotz von Otfried Preußler. Petrosilius Zwackelmanns größter Erfolg war es, Kasperl mit einem Zauber zu belegen, um ihn daran zu hindern, über die Mauer zu klettern, sich aus der Gefangenschaft zu befreien. So muss es für Ann Freedman gewesen sein, im Bann von Petrosilius Zwackelmann. Die amerikanischen Zeitungsleser denken vielleicht eher an den Zauberer

von Oz. Demnach wäre Ann Freedman die warmherzige, geradlinige Dorothy und Glafi ra Rosales der Zauberer von Oz. Bevor Dorothy und ihre Freunde das Reich des Zauberers betreten dürfen, müssen sie grüne Brillen aufsetzen, damit sie nicht vom Glanz der Smaragdenstadt geblendet wer-den. Eine grüne Brille trug Ann Freedman nicht. Sie wurde zum Zauberlehrling, der die Kontrolle verliert. Von wizards im Kunstmarkt aber wird man schon bald nichts mehr lesen. Ihre Sprüche werden nicht mehr wirken – auch ohne grüne Brillen. Big Data wird’s richten, Algorithmen werden die Wahrscheinlichkeit von Fälschungen berechnen, unmöglich machen. Auch die guten Illusionis-ten-Künstler werden dann vielleicht nicht mehr gebraucht.

ZAUBERKUNST

TITELBLATT VON LYMAN FRANK BAUMS THE WIZARD OF OZ

SWANTJE KARICH

Sind Fälscher

Eines jedenfalls ist sicher: Ihr

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GRAND PRIX

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BILDNACHWEISE

Nr. 11 / Mai 2016

Titel: Peter Watkins Collection, Museum of Modern Art, New York. Editorial: S. 4: Foto Yves Borgwardt für BLAU. Inhalt: S. 6 l. u.: TBA21 Thyssen-Bornemisza. Foto: Jens Ziehe. S. 6 M. o.: Foto: Robert Polidori. S. 6 r. u.: Carlos Álvarez Montero für BLAU. S. 8 l. u.: Foto: Adam Golfer für BLAU. S. 8 M. o.: Collection of Ulrich and Har-riet Meyer. Art ©  Estate of Leon Golub/Licenced by VAGA, New York. S. 8 r. u.: Foto: Roland Halbe. Contri-butors: S. 10 M.: Foto: Mary Scherpe. S. 10 u.: Foto: Isol-de Ohlbaum/Laif. Essay S. 19: Foto: Getty Images. Apé-ro: S. 22 o.: © NASA. Courtesy Daniel Blau, München. S. 22 l.: © Paris, Bibliothèque du Musée d’histoire natu-relle. Direction des bibliothèques et de la documen-tation. S. 22 r.: Stiftung Bauhaus Dessau. S. 23 l. o./M.: Courtesy Christie’s. S. 23 r.: Courtesy MCM. Ernst Wil-helm Nay: S. 24: Foto: Günther Becker / Documenta Archiv. S. 25: Courtesy Aurel Scheib ler. Dichter dran: S. 26: Dauerleihgabe aus Privatbesitz. Kunstmuse-um St. Gallen. Foto: Sebastian Stadler. Bewegtbild: S. 27 l. o.: Atelier Scheibitz. S. 27 l. u.: Foto: DDP Images. Schnelle Skulpturen: S. 27 r.: Foto: Audi. Blitzschlag: S. 28 o.: Foto: Alexandre de Brabant für BLAU. 28 u.: Private Collection. © Yves Klein / Adagp, Paris, 2016. Foto: Banque d’Images de l’Adagp. Um die Ecke Me-xico City: S. 30: Illustration: Kristina Posselt für BLAU. S. 31 bis 33: Carlos Álvarez Montero für BLAU. Fra An-gelico: S. 34 bis 45: Fotos: Robert Polidori. Margueri-

te Humeau: S. 46/47: Foto: Felipe Ribon. S. 48: Foto: Jonnie Craig für BLAU. S. 49: Foto: Pierre Antoine for STUK. S. 50: HEAD Genève (Dylan Perrenoud). S. 51: Marguerite Humeau/Le Studio Humain. S. 52: Margue-rite Humeau und IZW. S. 53: Marguerite Humeau / Duve Berlin. Foto: Trevor Good. Museen: S. 55 l. o.: Foto: Tho-mas Spier / Artur Images. S. 55 l. u.: Foto: Getty Images. S. 55 r. u.: Foto: Roland Halbe. S. 56 l.: Courtesy Her-zog & de Meuron. S. 56 r.: Foto: Roland Halbe. S. 57 l.: Foto: DPA/Picture Alliance. S. 57 r.: Foto: Iwan Baan. S. 58 l.: Foto: DDP Images. S. 58 r. o.: Foto: Christian Eblenkamp / Artur Images. S. 58 r. u.: Foto: Caro. S. 59 r.: Foto: Iwan Baan. S. 59 l.: Lydie Lecarpentier / REA / laif. Monster Roster Chicago: S. 60/61: Smart Museum of Art, The University of Chicago, Gift of Robert and Mary Donley. S. 62: Col lection of the Illinois State Museum. S. 63: Collection of Scott Nielsen and Adrianna Ballén, Chicago. S. 64: Smart Museum of Art, The University of Chicago, Gift of Joyce Turner Hilkevitch in memory of Carl Turner and Jonathan B. Turner. S. 65 v. o. n. u.: Courtesy of Mary Baber. Courtesy of Jim Falconer. Courtesy of Joel Press. Courtesy of Mary Baber. Court-esy of Art Shay. S. 66: Ada S. Garrett Prize Fund. The Art Institute of Chicago. S. 67: Roy and Mary Cullen Art Collection. Art © June Leaf. Encore/Magnus Resch: S. 69: Illustration: Anna Szilit / Ahaok. S. 70: Foto: Adam Golfer für BLAU. Kalender: S. 80 l. o.: Centre

Pompidou, Paris. Don de la Galerie Alexandre Guille-main, 2015. © Collection Centre Pompidou, Musée na-tional d’art moderne. Foto: Georges Meguerditchian. S. 80 l. u.: Centre Pompidou, Paris. Don de Maia Paulin, 2015. ©  Collection Centre Pompidou, Musée natio-nal d’art moderne. Foto: Georges Meguerditchian. S. 80 M.: Courtesy the artist and Cabinet, London. S. 80 r.: Tate. Presented by W. Graham Robertson 1940. S. 81 l. o./l. u.: ©  Sammlung Prinzhorn, Universi-tätsklinikum Heidelberg. S. 81 M.: Courtesy the artist and Modern Art, London. Foto: Robert Glowacki. S. 81 r.: © Staatliche Graphische Sammlung, München. Der Augenblick: S. 82: The Museum of Modern Art. Acquired through the generosity of Shirley C. Burden. Foto: Scala Archives

VG Bild-Kunst, Bonn, 2016

Leon Golub, Yves Klein, Ernst Wilhelm Nay, Kenneth Noland, Jules Olitski, Anton Räderscheidt, Thomas Scheibitz, Umbo

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ENCORE

BLAU IM ABO

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ENCORE

BLAUK ALENDER

Unsere TERMINE im Mai

Wie lange halten sich Visionäre visionär? Wie lange ist ihre Sicht auf die „Zukunft“, die sie erkunden, neu, aufregend, wahr, weil gegenwärtig? Die Ausstellung The

New Human im Moderna Museet in Stockholm zurrt zur Klärung dieser Fragen an einem Ort zusammen, was in den vergangenen Jahren durch die vercyborgte Kunstwelt waberte: Ed Atkins, talentierter Shootingstar und großer Erzähler, zeigt uns in seinem Video Even

Pricks von 2013, wie sehr wir von der Facebook-Tech-nologie-Denkweise durchdrungen sind. Seitdem sein Menschenaff e auf dem Screen auftauchte, war er mit Einzelausstellungen in der Tate Britain, in der Chisen-hale Gallery, im MoMA PS1, auf der Biennale in

Venedig – fast also ein Alter Meister unserer Zukunft. Wie auch der gefeierte Ryan Trecartin, in hysterisch-tiefem Ernst schon eine Weile suchend. Das Moderna Museet bringt sie und viele andere mit Langzeitvisionären wie Harun Farocki zusammen. Ein Utopietreff en des alten und des neuen Menschen. swka

CENTRE POMPIDOU,

Paris11.05. – 22.08.2016

Rund 24 Jahre unseres Lebens schlafen wir. Durchschnittlich 7,5 Stunden am Tag sitzen wir auf dem Drehstuhl am Computer oder vor dem Fernseher. Und was noch schlimmer ist: Wir verbringen diese Zeit meist nicht auf einem Sessel des französi-schen Interiordesigners Pierre Paulin (1927–2009). Neben Arne Jacobsen und Verner Panton gehörte er zu den Gestaltern, die das Sitzen zu einer foto- und telegenen Lifestyle-Beschäfti-gung gemacht haben. Grellbunt und organisch geformt waren seine Entwürfe – mit Beinamen wie „Zunge“, „Schleife“ oder „Champignon“. Also nicht ganz das, was man bislang unter dem Oberbegriff „Stuhl“ kannte. Im allem Futuristischen zugeneigten Frankreich seiner Zeit machte sich Paulin schnell auch politi-sche Freunde. Er richtete Georges Pompidous Privaträume im Élysée-Palast ein ebenso wie François Mitterrands Präsidialbüro. Nun wird sein Lebenswerk anhand von 70 Ent-würfen ge wür digt. woe

TATE BRITAIN, LONDON 11.05. – 25.09.2016

THE NEW HUMAN

MODERNA MUSEET, STOCKHOLM

21.05. – 04.12.2016

PAIN

TING

WITH

LIGH

T

PIERRE

PAULIN

Als die Fotografi e erfunden wurde, war ein neues Medium hinzuge-kommen, das die Malerei keines-wegs konkurren-zieren wollte. Noch war es unvorstellbar, dass Knipsen und Klicken mal zur Laientechnik werden könnten. Für die Fotopio-niere galt die gleiche Professio-nalität, die auch vom Atelierarbei-ter erwartet wurde. Und geradeso, wie sich die Fotografi e am malerischen Blick orientierte, entdeckten auch die Maler die Möglichkeiten der

Kamera. Painting with Light macht die Wechsel be-ziehung an Beispielen engli-scher Malerei und Fotografi e des 19. Jahrhun-derts einmal mehr anschaulich. Rossetti, Whistler, Millais, John Singer Sargent, Margaret Came-ron – all die großen Namen sind dabei. Und wenn die Maler der Präraff aeliten in antikisierende Fantasiewelten entführen, dann fotografi ert Roger Fenton seine Water Carrier im exotischen Kos-tüm. MÜ

ED ATKINS Even Pricks, 2013

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I Proserpine, 1874

F300, 1967

CM 170, genannt „Tripode Cage“, 1964

MAGNUS-APP —

WERTSACHEN — AUKTIONEN —

GRAND PRIX — BLAU K ALENDER

— DER AUGENBLICK

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YNGVE HOLENKUNSTHALLE BASEL 13.05. – 07.08.2016

SAMMLUNG PRINZHORN, HEIDELBERG

12.05. – 18.09.2016

Unsere Welt wird immer technoider und wir selbst mit ihr. Konsequenterweise stellt Yngve Holen Fabrik-ware zu Readymades zusammen, deren Dreh- und Angelpunkt der menschli-che Körper ist. Mit CT-Scan-nern, Waschmaschinen, Wasserkochern und Auto-scheinwerfern überführt der Deutsch-Norweger, Jahr-gang 1982, die Prinzipien

von Pop- und Minimal Art

in die Ära „Post-Internet“. Auch wenn er sich diesem Begriff nicht unterordnen will: Holens Skulpturen sind aalglatte Hybride aus Mensch und Maschine, Medi-zin und Massenproduktion. So hängt er die Front eines CT-Scanners als Relief an die Wand, überzogen mit neonfarbenen Netzstrümp-fen. – Wer nicht mehr weiß, was Op-Art ist, denkt jetzt einfach an OP. Was wir im Alltag übersehen, verwan-delt er in hyperdesignte Prothesen, Symbole für den Körper – gescannt, ge-schleust und ständig opti-miert. GB

Eine gute Ausbildung führt nicht zwingend zum Erfolg. Bevor Paul Goesch (1885–1940) seinen Lebensmittel-punkt in Nervenheilanstalten verlegte, hatte er Malerei und Architektur studiert, als Regierungsbaumeister in Berlin gearbeitet und war als expressionistischer Maler in der Avantgardeszene aktiv. Diese Umstände reichten aus, dass Hans Prinzhorn ihn aus seinem wegweisenden Buch Bildnerei

der Geisteskranken (1922) ausschloss und Alfred Kubin ihn als „uninteressant“ ob seiner „unangenehm technischen ‚Ausbildung‘ “ abtat. Dass Goesch unter Nervosität litt und ab 1917 in psychiatrischen Kliniken lebte, spielte keine Rolle. Inspiriert von strengem Katholizismus, Rudolf Steiners Anthroposophie und Sigmund Freuds Psycho-analyse verlor sich Goesch in Fantasiearchitekturen, abstrakten Kompositionen und mythologischen Szenen. Er malte unermüdlich auf Packpapier und Briefumschlägen. Als einziger Künstler aus der Sammlung der Universitätsklinik Heidelberg tauchte er 1937 in der Ausstellung Entartete Kunst auf. Zehn Jahre später wurde er von Naziärzten ermordet. Goesch geriet in Vergessenheit. Zwar tauchten immer wieder Blätter in Gruppenausstellungen auf und 1977 fand in Berlin eine Einzel-ausstellung statt. Doch erst jetzt erhielt die Sammlung Prinzhorn 340 neue Blätter von Goeschs Familie – und der Maler selbst endlich eine Retros-pektive. gb

Ohne Titel (Sitzender), 1920Oben: Phantastische Landschaft,

1917–1919

Er hat sich getreulich an

den Kanon gehalten und

seine Themen und Motive aus dem gültigen Vorrat geholt. Er hat nichts besser gemacht als seine Kollegen. Aber was Johann Andreas Wolff gemalt hat, das war exquisites Hand-werk. Weshalb er in seiner Zeit einen guten Namen hatte und als Qualitätsga-rant galt, wenn es um gestalterische Regie beim großen barocken Ausstat-tungstheater ging. So war er Hofmaler beim Kurfürsten in München, stand in Diensten des Fürstbischofs in Freising und war an

zahllosen Schmuck- und Illustrations-aufgaben im süddeutschen Raum beteiligt. Die vielen Spuren, die der Maler hinterlassen hat, sind in der schmalen Wolff -Literatur bis heute nicht lexikalisch erfasst. Dafür erinnert jetzt – zum 300. Todestag – die Pinakothek der Moderne an den etwas vergessenen Künstler. Gerade an dem umfangreichen Zeichnungskonvo-lut, das die Graphi-sche Sammlung München verwahrt, wird die Virtuosität anschaulich, mit der Wolff seine Projekte von der Skizze zu bildhafter Perfektion trieb. MÜ

JOHANN ANDREAS WOLFFPinakothek der Moderne,

München05.05. – 17.07.2016

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2PAUL GOESCH

Hater Head l ight, 2015

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LEERE MITTEEin Bild und seine Farbe

PAUL GRAHAMWaiting Room, Poplar DHSS, East London, 1985, chromogener Farbdruck, 68 × 88 cm

DER AUGENBLICK nagellackroten Bänke! Eine steile Unverträglichkeit.

Wir befi nden uns hier im Bereich bildlicher Strapazen und sozialer Paradoxien. Die Sitzenden zeigen mit ihren Körpern auf eine leere Mitte. Es gibt keine Akteure, nur Zuschauer, die allerdings nicht schauen. Vielleicht sollte man sie Passagiere nennen, denn der ganze Raum ist aus seiner Achse gekippt wie ein Schiff bei schwerem Wellengang. Die Uhr und der Spiegel erinnern an Bullaugen, das weiße, vertikale Fenstergitter an eine Reling. Krücken wurden rechtzeitig bei-seitegestellt; ein älterer Mann fängt sich an der Schiff swand auf, die hinter ihm nachgibt. In der Tiefe des Decks grübelt ein Philosoph, wie wohl das Ganze ausgehen mag.

Auf der Website von Paul Graham (www.paulgrahamar-chive.com) kann man sich durch die Serie Beyond Caring klicken, sein zweites fotografi sches Pro-jekt überhaupt. Der Titel, sprachspielerisch, meint wohl zweierlei: die Grenzen der Fürsorge und das Egal-sein-Lassen, das Aufgeben. Was man hier fotogeschichtlich sieht, ist der Übergang von einer didaktischen Fotografi e zu einer umfassenden Beschreibung. Subtext: Am britischen Arbeits-markt erscheint der Fotograf als ungesehener Engel der Verkündung. Die Zukunft liegt in Aufgaben, die einer sich selber stellt.L

ange Zeit galt das Schwarz-Weiß der Fotografi e als Zeichen des Dokumentari-

schen überhaupt. Farbe war Werbung oder Kalenderblatt, damit wollten seriöse Foto-grafen nichts zu tun haben. Eine jüngere Generation, in den 50er-Jahren geboren, hat das verändert. Zu ihr gehört in vorderster Linie der Engländer Paul Graham.

Der Thatcherismus hatte das Land voll im Griff , als Graham durch Londoner Arbeitsämter tingelte. Man nannte so etwas damals „ein Projekt“, was bedeuten sollte, es sei kein Auftrag. Der Foto-graf mit seiner Kamera war sein eigener Unternehmer.

Anders als anderswo hatten die Architekten dieser behördli-chen Kastenbauten immer ans

Tageslicht gedacht. Das kam dem Fotografen zugute. Mit Konturen wäre er nicht zufrieden, das Blitzlicht zu bösartig gewesen. Grahams Beobachtung richtete sich auf unwahrscheinliche Dinge in einer mehr als alltäglichen Szene: Der lackierte Sockel des Wartesaals, hoch angesetzt, in seinen Schattierungen von Braun, und dagegen die

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