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Mechtild Keiner
GEDANKEN ÜBER BEITRÄGE VON HANNA BUCZYNSKA-GAREWICZ
ZUR SEMIOTIK
Unter der Schirmherrschaft des World Institute for Advanced Pheno
menological Research and Learning mit Sitz in Belmont MA/USA er
scheint seit einiger Zeit eine Schrift unter dem Titel "Phenomeno
logy Information Bulletin", an der Hanna Buczynska-Garewicz, als
geschäftsführende Herausgeberin und Autorin mitarbeitet. Der mir
vorliegende Band V dieses Bulletins, vom Oktober 1981, enthält drei
Aufsätze von ihr sowie die Kurzbesprechung ihres in polnischer
Sprache herausgegebenen Buches Uczucia i rozum w swiecie wartosci:
Z historii filozofii wartosci (Empfindungen und Verstand in der
Welt der Werte: Untersuchungen zur Philosophiegeschichte der Werte),
Warschau 1975.
Die Autorin beschäftigt sich seit vielen Jahren auc~ mit den
Schriften von Charles S. Peirce, insbesondere mit seiner Semiotik.
Der an Peirce orientierte philosophische, genauer: semiotische
Standort, den dieselbe einnimmt, kennzeichnet auch ihre Arbeiten,
mit denen wir durch ihre Veröffentlichungen in der Zeitschrift Se
miosis bekannt geworden sind. Zwei ihrer Aufsätze im Phenomenology
Information Bulletin sind für die Semiotik von besonderem Interesse.
Ihnen widme ich im Nachfolgenden meine kurze Betrachtung.
Der erste Beitrag gilt Kazimierz Twardowskis Hauptwerk ~Zur Lehre
vom Inhalt und Gegenstand der Vorstellungen", Wien 1894, das 83
Jahre nach seinem ersten Erscheinen in deutscher Sprache nun auch
in englischer Übersetzung vorliegt: "On the Content and Object of
Presentation", Den Haag 1977. Der Aufsatz ist eine Kurzfassung der
in Semiosis 7, 1977 veröffentlichten Abhandlung "Twardowskis Be
deutungslehre". Er bietet einen Überblick über die gesamte Bedeu
tungslehre dieses polnischen Philosophen, indem er ein weiteres
Buch "0 Czynmosciach i Wytworch" (Actions and Products) aus dem
Jahre 1912 in die Betrachtung einbezieht. Mit großer Genauigkeit
arbeitet H.B.Garewi ~ z hierin die Berührungsp~nkte mit dem Denkmo
dell von Peirce heraus. Sie zeigt, daß Twardowski versucht, sich
aus der psychologistischen Tradition, der er als Schüler Brentanos
und Zeitgenosse Husserls noch weitgehend verhaftet war, zu lösen.
50
Dies geschieht vor allem dadurch, daß er die Konzeption des Inten
tionalen Aktes und den Bedeutungsbegriff nach Strukturen unter
sucht. Dabei findet er, daß nicht nur das Objekt einer Vorstellung
von der Vorstellung selbst unterschieden werden muß, wie das be
reits Brentano erkann~ hatte, sondern daß es außerdem einen Inhalt
im Bewußtsein geben muß, auf den sich das Objekt als Korrelat be
zieht. Der kognitive Akt involviert demnach nicht nur das externe
Objekt, auf das sich das Bewußtsein im Intentionalen Akt richtet ,
sondern auch den Inhalt als immanentes Objekt und Vorbedingung für
die Transzendenz des Bewußtseins. Auf diese Weise kommt Twardowski
auf eine triadische Beziehung: Inhalt, Objekt und Bewußtseinsakt,
durch den das Objekt erfaßt wird. Das Objekt ist daher Korrelat
sowohl des kognitiven Aktes als auch eines 'psychischen Bildes '
des Objekts, dem Inhalt, da das Bewußtsein im psychischen Akt "sei
nen Gegenstand nur vermittels des auf den Gegenstand bezogenen In
halts" erfassen kann. 1 H.B.Garewicz nennt den Inhalt ein Mittel,
das das Bewußtsein befähigt, ein Objekt zu erfassen: "The content
is a mean which enables consciousness to grasp an object in cogni
tive acts." 2 Nach Twardowski: "The content is a sign for an object;
it is a psychical picture of an object." 3 Die Struktur des Inten
tionalen Aktes, wie Twardowski sie sieht, erinnert meiner Meinung
nach deutlich an die Einteilung von Peirce in seinem fundamentalen
Aufsatz "On A New List of Categories" aus dem Jahre 1867 (CP 1.545-
559):
"Being
Quality (reference to a ground)
Relation (reference to a correlate)
Representation (reference to an interpretant)
Substance" (CP 1.555).
Peirce hatte den kognitiven Akt, der die 'Substanz' dem 'Sein' ver
mittelt, durch eine triadische Relation charakterisiert, in der
sich das Korrelat, oder das Andere, sowohl auf einen Grund als auch
auf einen Interpretanten bezieht und der Interpretant das Korrelat
und den Grund involviert. Wie bei Twardowski die Kategorie des In
halts die Voraussetzung für das Erfassen eines Gegenstandes im
intentionalen Akt bildet, so ist für Peirce die Beziehung zu einem
Grund die Voraussetzung dafür, daß sich ein Interpretant auf ein
Korrelat beziehen kann.
Fast dreißig Jahre vor Twardowski war diese geniale Konzeption bei
51
Peirce allerdings schon voll ausgereift, insbesondere konsequent
logisch fundiert, und schon deshalb mit der Strukturanalyse Twar
dowskis vergleichbar. Wohl deshalb hat H.B.Garewicz in ihren Arbei
ten über Twardowski nie ausdrücklich auf Peirce Bezug genommen.
Sie hat vielmehr das Werk des polnischen Gelehrten so transparent
gemacht, daß Berührungspunkte mit der Semiotik, aber auch Gegen
sätzliches greifbar werden. Dies gilt auch für Twardowskis Bedeu
tungsbegriff, dem sie Verwandschaft mit dem semiotischen Idealis
mus beimißt, obgleich sich Twardowski in diesem Zusammenhang expli
zit auf Husserls Kategorie der 'idealen Bedeutung' und auf Bolzanos
Begriff vom 'Satz an sich' beruft. 4
Als "Controversial Matters", erläutert H.B.Garewicz dagegen die phi
losophischen Positionen von "Husserl and Pei .rce". Mit dieser Ge
genüberstellung setzt sie die entscheidenden Vertreter verschiede
ner erkenntnistheoretischer Richtungen, Phänomenologie und Semio
tik, in Beziehung. Nach ihren Worten vertritt Husserl eine Philo
sophie der Erfahrung, Selbstevidenz und unmittelbaren Intuition;
Peirce dagegen eine Philosophie der (totalen) Vermittlung und (in
direkten) Interpretation 5 , um nur die auffälligsten Gegensätze zu
nennen . Die Verschiedenheit ihrer Denkweise impliziert eine Ver
schiedenheit der Methoden: Die Phänomenologie will ihr Erkenntnis
ziel , die Evidenz, durch die Epoche, die Einklammerung des natür
lichen Standpunktes und Reduktion auf das transzendentale 'ego
cogito' erreichen. Die Semiotik beruft sich bei der Erkenntnisge
winnung auf .die Gesamtheit des triadischen Zeichensystems, in dem
jedes Zeichen durch ein anderes Zeichen interpretiert wird. Husserl
geht von einem absoluten Anfang der Erkenntnis im transzendentalen
Ego als apodiktisch gewissen Urteilsboden aus. Für Peirce ist die
Erkenntnis in der Kontinuität begründet, die weder Anfang noch Ende
kennt.
Worin besteht also nach Meinung von H.B.Garewicz die Divergenz der
beiden Erkenntnismodelle? Beide, Husserl wie Peirce, setzen sich
mit Descartes auseinander. Husserl, der der kontinental-europäi
schen Tradition entstammt, akzeptiert des cartesische Mödell. Mehr
noch, er beruft sich darauf und erhebt es zum Prototyp philosophi
schen Denkens; "Cartesische Meditationen" nennt er sein Hauptwerk.
Auch Peirce befaßt sich intensiv mit Descartes. Als Philosoph der
Neuen Welt mit eher englischer Tradition ist er ihm gegenüber
52
jedoch frei von jeder traditionellen Bindung. Er kritisiert Carte
sius, weist ihn zurück und polemisiert heftig gegen ihn. In dieser
gegensätzlichen Einstellung zu Descartes sieht H.B.G arewicz eine
wesentliche Begründung für die oppositionellen Theorien von Husserl
und Peirce. In diesem Zusammenhang sind zwei ihrer früheren Ab
handlungen von Bedeutung, die als Vorbereitung zum vorliegenden Ar
tikel über Husserl und Peirce betrachtet werden können. Hierzu ge
hört der Aufsatz "Peirce' Criticism of Cartesian Epistemology", in
Semiosis 11, 1978. Die Autorin behandelt hier u.a. eingehend die
Zurückweisung des methodischen Zweifels durch Peirce. Für Peirce
kann der Zweifel niemals Ausgangspunkt allen Denkens sein , da sich
Zweifel immer auf schon bestehendes Wissen bezieht und dieses nur
einschränkt, nicht aufhebt, wie Descartes glaubt, der sein Wissen
durch den Zweifel auf sein denkendes Ich reduziert sieht. Für
Peirce ist der Zweifel ein Gegenpol der Überzeugung. Der Zweifel
erhält damit einen neuen gegenteiligen Sinn, er ist Frage mit em
pirischem Inhalt. 6 Nach Peirce gibt es keine Begrenzung des Wis
sens durch einen absoluten Anfang, denn jedes Wissen gründet sich
auf vorausgehendes Wissen . Seine Theorie der Kontinuität der Er
kenntnis, die er in seiner Zeichenlehre manifestiert, bildet die
entscheidendste und überzeugendste Argumentation gegen Descartes .
Sie ist in wesentlichen Zügen der Auseinandersetzung mit Descartes
zu verdanken, wie H.B.Garewicz me hrfach he rvorhebt. Auch ihr Auf
satz "Sign and 'Evidence", in Semiosis 5, 1977, gilt der Gegenüber
stellung von Phänomenologie und Semiotik.
In der Phänomenologie gilt die Evidenz als höchstes Erenntnisziel .
In ihr fällt das unmittelbar Erfahrene mit dem natürlichen Sein
der Dinge zusammen. Nach den Worten Husserls: "Evidenz ist in ei
nem allerweitesten Sinne eine Erfahrung von Seiendem und So-Sei
endem, eben ein Es-selbst-geistig-zu Gesicht-bekommen." 7 Da die
Semiotik durch das triadische Prinzip des Zeichens bestimmt wird,
ist die echte Triade eine Vermittlung, sagt H.B.Garewicz. '8 In der
Semiotik ist Erkenntnis nur durch die Vermittlung von Zeichen
möglich, während die phänomenologische Konzeption der Evidenz
durch die aktuelle Gegenwart des Objekts im Bewußtseinsakt ge
kennzeichnet ist. 9 Peirce erhebt gegen die schon von Descartes
geforderte 'Klarheit' bzw. 'Eindeutigkeit' der Erkenntnis den Vor
wurf des Psychologismus. Denn nach Descartes ist es eine Frage des
Gefühls, ob eine Idee klar ist. Was klar scheint, ist auf diese
53
Weise durch sich selbst klar. 10 Peirce wendet sich energisch ge
gen den subjektiven Intuitionismus, da er sich nicht auf früheres
Wissen gründet und damit unlogisch ist. Peirce verweist auf die
Zeichenkonzeption, die durch ihre triadische Konstitution Erkennt
nis als Prozess definiert, gleich einer logischen Schlußfolgerung,
in der jedes Zeichen die Prämisse für ein nachfolgendes Zeichen
bildet, wobei das nachfolgende Zeichen als Konklusion aufzufassen
ist. 11 Zum Wesen des Zeichens gehört nach Peirce, daß es nicht
einzeln existiert, sagt H.B.Garewicz, daß es Element eines ganzen
Systems von Zeichen ist, daß es nach den Worten von Max Bense ei
nem Zeichenrepertoire angehört. 12
Aus dieser Gegenüberstellung läßt sich das Fazit ziehen, daß die
Phänomenologie durch eine regressive Methode, die Semiotik dage
gen durch eine progressive Methode gekennzeichnet ist.
H.B.Garewicz verneint nicht bestimmte Gemeinsamkeiten im Denken der
beiden Philosophen, wie sie in einem Artikel von H~ Spiegelberg
l · d . d l3 E .. h . . d" Z h ana ys1ert wor en s1n • rwa nenswert 1st 1n 1es~m usammen ang,
meine ich, daß Husserl dem Begriff der Evidenz die triadische Be
ziehung des 'ego', 'cogito', 'cogitationes' zugrundelegt, in der
das 'cogito' zwischen dem 'ego' und den 'cogitationes' vermittelt,
worauf Elisabeth Walther in mehreren Vorlesungen aufmerksam ge
macht hat . In den "Pariser Vorträgen" aus dem Jahre 1929 sagt
Edmund Husserl: " •.• die phänomenologische Epoche ••• wird gerade
zum methodischen Mittel, wodurch ich mich als dasjenige Ich rein
erfasse und dasjenige Bewußtseinsleben, in dem und durch das die
gesamte objektive Welt für mich ist und ist, wie sie eben ist •••
Das alles bezeichnet Descartes bekanntlich unter dem Titel cogito,
Die Welt ist für mich überhaupt gar nichts anderes als die in sol
chen cogitationes bewußt seiende und mir geltende." 14 Es zeigt
sich also, daß auch Husserl innerhalb seiner Methode für den eigent
lichen Erkenntnisprozeß auf das Prinzip der Vermittlung nicht ver
zichten kann.
Angeregt durch die Abhandlung "Husserl and Peirce" habe ich ver
sucht, der Frage nachzugehen, ob die beiden Denker die Arbeiten
des anderen gekannt haben. Ich habe keine Anh~ltspunkte dafür ge
funden, daß Husserl vom Werk des um zwanzig Jahre älteren Charles
S. Peirce gewußt hat. Möglicherweise ist er in seinen letzten
Lebensjahren damit bekannt geworden, da die ersten sechs Bände
54
der Collected Papers drei bzw. fünf Jahre vor seinem Tod, im Jahre
1938, veröffentlicht wurden. Zumindest von Peirce ist sicher, daß
er von Husserl wußte, da er ihn bereits 1902 in einer Abhandlung
"Why Study Logic" namentlich erwähnt und ihn zur Schule der deut
schen Logiker zählt, pie selten den Tru gschluß bemerken, der darin
liegt, den menschlichen Verstand als höchste Instanz (ultimate
tribunal) zu betrachten, die sich nicht irren kann (CP 2.152) .
Ähnlich polemisch äußert er sich in einer Besprechung von John
Deweys "Studies in Logical Theory", aus dem Jahre 1904. Hier stellt
er die deutschen Logiker, namentlich Husserl, in Gegensatz zu exak
ten Logikern, d a sie die Wahrheit, die eine Tats ac he ist, zu einer
Denkmethode oder sogar zu einem linguistischen Ausdruck machen
(CP 8.Ül9). In einer weiteren Stelle in "Phaneroscopy", aus dem
Jahre 1905, einem Artikel zum Thema Pragmatismus, spricht Peirce
vom berühmten Husserl, als einem der vielen Schreiber seiner Gene
ration, die, nachdem sie nachdrücklich beteuert haben, daß ihr Dis
cours ausschließlich logisch und keinesfalls psychologisch sei,
sich sogleich jenen Elementen des Denkprozesses zuwenden, die zu
mindest seiner Meinung nach gegenüber anderen, die dazugehören ,
vernachlässigt werden können. (CP 4. 7).
Die hier von Peirce geäußerte Einstellung zu Husserl ist geeignet -
wenngleich aus einer anderen Perspektive-, die Auffassung von
H.B.Garewicz z~ bestätigen, wenn sie die beiden Denker in Opposi
tion zueinander setzt und ihre philosophischen Modelle als radikal
verschieden charakterisiert. Nach ihren Worten überschattet die
Kontradiktion einer Philosophie der selbst-evidenten Erfahrung
gegenüber einer Philosophie der vermittelnden Interpretation alle
sonstige Gemeinsamkeiten, die damit bedeutungslos sind. 15
Literatur
Hanna Buczynska-Garewicz, Twardowski Bedeutungslehre, in Semiosis 7, 1977, s. 57
2 Phenomenology Information Bulletin V, Belmont MA, USA 1981, S. 11
3 ebda, S. 11
4 ebda, S. 18
5 ebda, S. 105
55
6 Hanna Buczynska-Garewicz, Peirce's Criticism of Cartesian Epistemology, in Semiosis 11, 1978, S. 23
7 Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen, Den Haag 1950, S. 52
8 Phenomenology Information Bulletin V, Belmont MA, USA 1981, s . 106 f
9 Hanna Buczynska-Garewicz, Sign and Evidence, in Semiosis 5, 1977, s. 10
10 Hanna Buczynska-Garewicz, Peirce's Criticism of Cartesian Epistemology, in Semiosis 11, 1978, S. 25
11 ebda, S. 26
12 Hanna Buczynska-Garewicz, Sign and Evidence, in Semiosis 5, 1977, s. 7 f
13 Phenomenology Information Bulletin V, Belmont MA, USA 1981, s. 105
14 Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen, Den Haag 1950, S. 8
15 Phenomenology Information Bulletin V, Belmont MA, USA 1981, s . 110
56
Internationale Zeitschrift
für Semiotik und Ästhetik
7. Jahrgang, Heft 3' 1982
INHALT
Siegfried Zellmer:
Elisabeth Walther:
Peter Beckmann:
Joelle Rethore:
Angelika Karger:
Mechtild Keiner:
Max Sense:
Nachrichten
Zum mathematischen Zusammenhang zwischen Ikonizität, Indexikalität und Symbolizität 5
Nacht~ag zu "Trichotomischen Triaden" 15
'Billy Budd' und die Grundlagen der Zeichentheorie 21
Lecture et interpr~tation. Une partition s~miotique des savoirs
Das Peircesche Bewusstseinskonzept
Gedanken über Beiträge von Hanna Buczynska-Garewicz zur Semiotik
Zur Eröffnung der Arbeitstagung über Semiotik am 3.8.1982 in Suzette
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