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Die Türkei in Europa: Mehr als ein Versprechen? Bericht der Unabhängigen Türkei-Kommission September 2004

Mehr als ein Versprechen? Die Türkei in Europa · früheren Verträgen enthalten,beginnend mit dem Vertrag von Rom im Jahre 1957.Ein Staat muss „europäisch“ sein.Er muss den

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Die Türkei in Europa:Mehr als ein Versprechen?

Bericht der Unabhängigen Türkei-KommissionSeptember 2004

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Anthony GiddensEhemaliger Direktor der London School of Economics and Political Science

Marcelino Oreja AguirreEhemaliger Aussenminister von Spanien,ehemaliger Generalsekretär des Europarates,ehemaliger Europäischer Kommissar

Michel RocardEhemaliger Premierminister von Frankreich,Mitglied des Europäischen Parlaments

Albert Rohan (Berichterstatter)Ehemaliger Generalsekretär für Auswärtige Angelegenheiten,Österreich

Die Unabhängige Türkei-Kommission wird vom British Councilund Open Society Institute unterstützt.

Die Unabhängige Türkei-Kommission

Martti Ahtisaari (Vorsitzender)Ehemaliger Präsident von Finnland

Kurt BiedenkopfEhemaliger Ministerpräsident von Sachsen, Deutschland

Emma BoninoEhemalige Europäische Kommissarin,Mitglied des Europäischen Parlaments

Hans van den BroekEhemaliger Aussenminister der Niederlande,ehemaliger Europäischer Kommissar

Bronislaw GeremekEhemaliger Aussenminister von Polen,Mitglied des Europäischen Parlaments

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Einleitung

I Die Türkei in EuropaIst die Türkei ein europäisches Land?Die Türkei und die europäische Integration

II Die ChancenWas wäre der Gewinn für die Europäische Union?Die Türkei braucht Europa

III Die HerausforderungenDie Auswirkungen auf die EUDer „muslimische Faktor“Die öffentliche MeinungDie Erhaltung der Reformdynamik

IV Migration und Demographie

V WirtschaftSicherung der Stabilität Wirtschaftliche Indikatoren im Vergleich

Schlussfolgerungen

Hinweise

Anhang„Die Kopenhagener Kriterien“

Inhalt

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„Entscheidet der Europäische Rat im Dezember 2004 auf derGrundlage eines Berichtes und einer Empfehlung der Kommission, dassdie Türkei die politischen Kriterien von Kopenhagen erfüllt, so wird dieEuropäische Union die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ohneVerzug eröffnen.“Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Kopenhagen,Dezember 2002

Mit dieser Entscheidung eröffneten europäische Staats- undRegierungschefs der Türkei zum ersten Mal eine konkrete Aussichtauf Beitrittsverhandlungen, mehr als vier Jahrzehnte nachdem dieseim Juli 1959 eine Assoziation mit der EuropäischenWirtschaftsgemeinschaft beantragt hatte. Europas Politiker ließensich durch die beeindruckenden Reformen leiten, welche die Türkeinach ihrer Anerkennung als Beitrittskandidat in Helsinki imDezember 1999 unternommen hatte. Seitdem verstärkte dietürkische Regierung ihre Bemühungen weiter, ihr Land in einemoderne, partizipatorische Demokratie zu verwandeln und alleAspekte der politischen Kriterien von Kopenhagen zu erfüllen. Eskann mit Recht gesagt werden, dass die Türkei eine „stilleRevolution“ durchmacht, selbst wenn die Geschwindigkeit ihresVerlaufs dazu führt, dass es einige Zeit dauern wird, bis dieAuswirkungen in allen Teilen der türkischen Gesellschaft spürbargeworden sind und auch von der öffentlichen Meinung ausserhalbdes Landes allgemein anerkannt werden.

Die Entscheidungen des Europäischen Rates der Jahre 1999 und2002 betreffend einen türkischen Beitritt standen im Einklang mitden offiziellen Positionen, die während der vorangegangenen vierJahrzehnte wiederholt von europäischen Regierungen vertretenwurden. Nie war die Beitrittsfähigkeit der Türkei öffentlich in Frage

gestellt worden. Im Gegenteil: sie wurde bei vielen Gelegenheitenausdrücklich bestätigt. Gleichzeitig wurde der Türkei jedoch gesagt,dass die vorherrschenden politischen und wirtschaftlichenVerhältnisse die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen nichtzuließen. Die klare Botschaft der europäischen Regierungen warsohin, dass die Türkei in der Union willkommen war und derZeitpunkt des Beitritts einzig und allein von der Erfüllung derMitgliedschaftskriterien abhing.

Es ist sicher kein Zufall, dass grundsätzliche Fragen erstaufgeworfen wurden, nachdem das Land offiziell zum

Beitrittskandidaten erklärt und der Beitrittdadurch von einer fernen Perspektive in einerealistische Möglichkeit verwandelt wurde. Dieherannahende Erweiterungsrunde im Jahr 2004,mit einer nie da gewesenen Anzahl hauptsächlichzentral-europäischer Staaten, ließ in derZwischenzeit die Debatte über die Zukunft derUnion und ihren Zweck wiederaufleben.Diskussionen über die „europäische Identität“und die „Grenzen Europas“ lenkten die

Aufmerksamkeit auf einige der mit einer türkischen Mitgliedschaftverbundenen Herausforderungen.

Angesichts der Möglichkeit des Beitritts eines so großen Staateswie der Türkei, am Rande Europas gelegen, mit einer überwiegendmuslimischen Bevölkerung und sozio - ökonomischenBedingungen weit unter dem europäischen Durchschnittswertverstärkte sich die Skepsis in einigen Ländern während der letztenJahre beträchtlich. In der oft hitzigen Debatte wurden vieleArgumente vorgebracht - einige spiegeln echte Probleme wider,andere sind eher emotionaler Natur.

Niemand kann leugnen, dass der Beitritt der Türkei beachtlichewirtschaftliche, institutionelle und gesellschaftliche Auswirkungensowohl für die Europäische Union als auch für die Türkei selbsthätte. Eine ausführliche Diskussion dieser Fragen ist daher legitimund zeitgerecht. Die ebenfalls nicht zu bestreitenden Vorteile, diemit dem Beitritt der Türkei verbunden wären, sollten jedoch auch inBetracht gezogen werden, eben sowie die potentiellen Kosten für dieEuropäische Union, sollte der Wunsch der Türkei abgelehnt werden.In der Debatte werden viele Klischees verwendet und pauschaleAussagen gemacht, wie etwa, dass die Türkei kein europäisches Landsei oder dass ihre Mitgliedschaft das Ende der Europäischen Union

Einleitung

Die klare Botschaft war, dass die Türkei in der Union willkommen ist und das Datum des Beitritts ausschliesslich von der Erfüllung derMitgliedschaftskriterienabhängt

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bedeuten würde. Einige verbreiten Angst vor einer muslimischenInvasion, welche die europäische Kultur und Zivilisation zerstörenkönnte. Solche Ansätze sollten vermieden werden, will man einenkonstruktiven Diskurs über dieses komplexe Thema ermöglichen.

Falls der Europäische Rat im kommenden Dezember demBeginn der Verhandlungen zustimmt, könnte es sein, dass dasBeitrittsverfahren von einer zunehmend gehässigen öffentlichenDiskussion begleitet wird. Auch besteht die Gefahr einer Kluftzwischen der Haltung der Regierungen und der öffentlichenMeinung in verschiedenen Teilen Europas, was nichts Gutes für dieRatifizierung eines möglichen Beitrittsvertrags verheißen würde. Indiesem Zusammenhang wird auch den Positionen des EuropäischenParlaments eine besondere Bedeutung zukommen.

Vor diesem Hintergrund hat eine Gruppe überzeugterEuropäer, die hohe öffentliche Funktionen inne hatten und sichdem Integrationsprozess tief verbunden fühlen, im März 2004 eineUnabhängige Türkei-Kommission gegründet. Ihre Zielsetzung istes, die wichtigsten Herausforderungen und Chancen imZusammenhang mit einem möglichen EU-Beitritt der Türkei zuprüfen. Die Kommission traf sich regelmäßig zu intensivenDiskussionen, besuchte die Türkei und analysierteSachinformationen aus verschiedenen Quellen. Enger Kontaktwurde auch mit den europäischen Institutionen gehalten. DieUnabhängige Kommission befasste sich nicht mit Fragen, dieGegenstand des in Kürze erscheinenden Fortschrittsberichts derEuropäischen Kommission über die Türkei sein werden.

Der vorliegende Bericht enthält das Ergebnis derUntersuchungen der Unabhängigen Türkei-Kommission und stelltdie persönliche Meinung ihrer Mitglieder dar. Die Kommissionhofft, damit zu einer objektiveren und rationaleren Debatte überden türkischen EU-Beitritt beizutragen, der zu Recht als eine derbedeutenden Herausforderungen Europas in den kommendenJahren bezeichnet wird.

„Die Union steht allen europäischen Staaten offen, die ihre Werte achten und sich verpflichten, ihnen gemeinsam Geltung zu verschaffen“.Artikel 1 des Vertrages über eine Verfassung für Europa

Die Bedingungen für eine Mitgliedschaft in der Europäischen Unionsind in dieser Bestimmung und ähnlichen Formulierungen infrüheren Verträgen enthalten, beginnend mit dem Vertrag von Romim Jahre 1957. Ein Staat muss „europäisch“ sein. Er muss den inArtikel 2 des Verfassungsvertrages aufgezählten Werten verpflichtetsein, nämlich der „Achtung der Menschenwürde, Freiheit,Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Wahrung derMenschenrechte.“ Darüber hinaus hat der Europäische Rat vonKopenhagen 1993 konkrete Kriterien aufgestellt, die politische undinstitutionelle Aspekte betreffen, ebenso wie die Wirtschaft undMitgliedschaftsverpflichtungen, einschließlich der Ziele einerpolitischen, wirtschaftlichen und Währungsunion.

Ein Element der Kriterien von Kopenhagen könnte für denZeitpunkt des türkischen Beitritts von besonderer Relevanz sein:„Die Fähigkeit der Union, neue Mitglieder aufzunehmen, undgleichzeitig die Dynamik der Europäischen Integrationbeizubehalten, ist auch eine wichtige Erwägung im allgemeinenInteresse sowohl der Union als auch der Kandidatenländer.“

Schließlich muss Artikel 1 des Verfassungsvertrags eher als einRecht auf Mitgliedschaft interpretiert werden, sobald allenotwendigen Voraussetzungen erfüllt sind, denn als eine Gunst vonSeiten der Mitgliedsstaaten.

I Die Türkei in Europa

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Die Antwort auf diese Frage hängt von verschiedenen Faktoren ab:Geographie, Kultur, Geschichte, die Eigendefinition der Türkeiselbst und ihre Anerkennung durch die anderen europäischenLänder.

Nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches wurde dasTerritorium der Türkei soweit reduziert, dass sich nur mehr 3% aufdem europäischen Kontinent befinden. Allerdings schließt diesesGebiet 11% der türkischen Bevölkerung sowie Istanbul, diewirtschaftliche und kulturelle Hauptstadt der Türkei, mit ein. DieTürkei liegt sohin eindeutig auf der Trennlinie zwischen Europa undAsien, ihr Staatsgebiet ist Teil beider Kontinente. Während EuropasGrenzen im Norden, Westen und Süden unbestritten sind, bleibenjene im Osten und Südosten unklar und können unterschiedlichausgelegt werden. Es ist leicht ersichtlich, dass die Geographie alleinkeine Antwort geben kann.

Die Türken kamen im 11. Jahrhundert nach Anatolien underrichteten allmählich das osmanische Reich, bis zur Eroberung vonKonstantinopel im Jahre 1453. Sie wurden nicht nur Erben vonByzanz und des oströmischen Reiches, sondern auch der reichengriechisch-lateinischen und jüdisch-christlichen Kulturen in

Anatolien. Namen wie Herodot von Halikarnass, der„Vater der Geschichte“; Aesop, der die Fabeln von LaFontaine inspirierte; Lucullus, der Schutzherr derFeinschmecker; der hl. Nikolaus, Bischof von Myraund Vorfahre unseres Weihnachtsmannes; undKrösus, welcher der reichste Mann seiner Zeit wurde,sind mit dieser Region verbunden. Ebenso Orte wirTroja, Pergamon, Ephesus und Berg Ararat, an dem

Noahs Arche zerschellte. Der hl. Peter predigte zur erstenchristlichen Gemeinde in Antioch. Tarsus war der Geburtsort des hl.Paul, der seine erste Missionsreise nach Anatolien machte, dasChristentum damit über die Grenzen des Judaismus erweiterte unddie Grundlagen einer weltweiten Religion schuf. All dies erinnert unsdaran, dass die Region, welche heute das Herz der Türkei bildet, eineder Wiegen der europäischen Zivilisation war.

Während des Grossteils seiner Geschichte spielte dasosmanische Reich eine wichtige Rolle in der europäischen Politik.Wie die meisten europäischen Mächte agierte es oft als Eroberer,manchmal in enger Zusammenarbeit mit bedeutenden

europäischen Ländern wie Frankreich. Zu anderen Zeiten war dasReich eine Zufluchtsstätte für Europas Unterdrückte und Verfolgte,wie in 1492, als Tausende von jüdischen Flüchtlingen aus Spanien inAnatolien Schutz fanden. Dies spiegelte die Traditionen desosmanischen Reiches wider, wo verschiedene religiöseGemeinschaften friedlich Seite an Seite lebten. Sie erhielten imGegenzug für ihre Loyalität gewisse Rechte und Privilegien, die überdie Forderung des Koran hinausgingen, andere ‚biblische Völker’(Christen, Juden und Zoroaster) mit besonderer Toleranz zubehandeln. Das osmanische Reich war so sehr Teil der europäischenGeschichte, dass die „Hohe Pforte“ 1856 am Ende des Krimkriegseingeladen wurde, dem „Europäischen Konzert“ beizutreten, inwelchem sie gemeinsam mit Frankreich, Grossbritannien,Österreich, Preußen, Russland und Sardinien über das SchicksalEuropas entschied.

Diese Anerkennung als europäische Macht fiel mit demBemühen sukzessiver Sultane zusammen, ihr Reich zu„westernisieren“ um dadurch seinen drohenden Abstiegaufzuhalten. Die stark von Frankreich inspirierten Reformenführten zur Abschaffung typisch osmanischer Institutionen, derModernisierung der Armee, einer Zentralisierung derStaatsverwaltung, der Schaffung eines Postdienstes und einerosmanischen Bank, die zum ersten Mal Papiergeld druckte. Weiterszur Einführung der Grundschulpflicht, einschliesslich derGründung der auf französisch unterrichtenden Galatasaray Schule,Vorlesungen über moderne Medizin und der Übernahme einesneuen Zivil- und Strafgesetzbuches. Es ist kein Zufall, dass dieReformen nach der Niederlage Frankreichs gegen Preussen 1871langsam im Sand verliefen und der islamische Charakter desReiches durch die Reaktion wieder verstärkt wurde, zum Nachteilder angestrebten Einführung einer westlichen Zivilisation. Die Zeitder Reformen hatte das Reich dennoch tiefgehend verändert, auchwenn nicht alle Ziele erreicht werden konnten.

In den darauf folgenden Jahren war es wiederum der EinflussEuropas, insbesondere von Frankreich und England, welcher dieBewegung der „Jung–Ottomanen“ dazu inspirierte, eineverfassungsmässige Regierung vorzuschlagen und Fragen bezüglichFreiheit und politischer Rechte offen anzusprechen. In derZwischenzeit entstand die Idee des „Vaterlandes“ (die Türken ziehen„Mutterland“ vor) und spaltete die Loyalitäten, die traditionell demSultan alleine gehört hatten. Mit einer energischen Reaktion des

Die Region, welcheheute das Herz der Türkei bildet, war eine der Wiegen der europäischenZivilisation

Ist die Türkei ein europäisches Land?

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Herrschers konfrontiert, zogen sich die Jung - Ottomanenschließlich vom politischen Schauplatz zurück und bildeten zumersten Mal eine Art liberale Opposition, womit der Grundstein füreine konstitutionelle Monarchie gelegt war. Ihr Ideal der Freiheitüberlebte und wurde von den „Jung – Türken“ aufgegriffen, die sich

mit Unterstützung durch die westlich orientierteOffizierselite für den Weg der Revolutionentschlossen. Auch sie, wie andere politischeBewegungen dieser Zeit, waren stark von deneuropäischen Schulen der Philosophie undSoziologie beeinflusst. Die bleibende Errungenschaftder Jung - Türken war es, den Anstoß für das

Entstehen einer nationalen türkischen Identität gegeben zu haben,verbunden mit einer konsequenten Verankerung im Westen, die sieals unentbehrlich für das Überleben der Türkei ansahen.

Dies war das konzeptuelle Fundament der Reformen, die vonMustafa Kemal Atatürk nach dem Zusammenbruch desosmanischen Reiches und seinem erfolgreichen Kampf für nationaleUnabhängigkeit in Angriff genommen wurden. Atatürk wollte seinLand zu einem modernen und zivilisierten Staat machen. Für ihnund die reformistischen Türken hiess Zivilisation soviel wie„westliche“ Zivilisation:„Völker, die nicht zivilisiert sind, werdendazu verdammt, unter der Herrschaft derer zu verharren, die es sind.Und die Zivilisation ist der Westen, die moderne Welt, deren Teil dieTürkei werden muss, wenn sie überleben will. Die Nation ist dazuentschlossen, genau und vollständig, sowohl im Inhalt wie in derForm, die Lebensart und Methoden anzunehmen, welche diezeitgenössische Zivilisation allen Nationen anbietet.“

Die Reformen Atatürks betrafen die Abschaffung des Sultanats,des Kalifats und der Ulema, den Verzicht auf die Sharia, dieAnnahme eines neuen Zivilgesetzbuchs (nach dem Modell derSchweiz), den Austausch des arabischen gegen das römischeAlphabet, die Entfernung von Wörtern arabischen und persischenUrsprungs, den Übergang vom Mond- zum Sonnenkalender, dasErsetzen des Freitags durch den Sonntag als Tag der Ruhe, und dasGewähren politischer Rechte für Frauen. Diese Massnahmen solltennicht dahingehend missverstanden werden, dass damit dievollständige Eliminierung des Islam und islamischer Werte aus dertürkischen Gesellschaft beabsichtigt gewesen wäre. Das ProjektAtatürks bestand darin, die politische Funktion des Islam und dieMacht der religiösen Institutionen in der türkischen Gesetzgebung

und Justiz zu beenden, und die Religion zu einer Angelegenheit despersönlichen Gewissens zu machen. Hiermit war er erfolgreich: mitseinen Reformen begann sich die Türkei zu einem modernen,säkularen Staat zu entwickeln.

Der Europarat, Hüter der europäischen Werte und Prinzipien, nahmdie Türkei im August 1949 als Vollmitglied auf, nur wenige Monatenachdem der Londoner Vertrag unterzeichnet worden war. Hierbeiging man davon aus, dass die beiden Mitgliedschaftsbedingungen –ein europäisches Land zu sein sowie die Menschenrechte,pluralistische Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu respektieren –von der türkischen Republik erfüllt waren. Bezüglich der letzterenAspekte enthielt die türkische Verfassung die nötigen Garantien.

Die europäischen Referenzen der Türkei wurden niemalshinterfragt, und zwar wohl deshalb, weil das strategische Interesse aneiner festen Verankerung des Landes im westlichen Lager währenddes Kalten Krieges im Vordergrund aller Überlegungen stand. 1951trat die Türkei dem Nordatlantikpakt (NATO) bei und wurde zueinem der Grundpfeiler des euro-atlantischen Verteidigungssystems.Sie wurde Mitglied der Organisation für Europäische WirtschaftlicheZusammenarbeit (OEEC, später OECD) der Konferenz fürSicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE, später OSZE)und der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung(EBWE). Heute ist die Türkei Vollmitglied aller wichtigeneuropaweiten Institutionen, mit der Europäischen Union als einzigen Ausnahme.

1959 bewarb sich die Türkei um die assoziierte Mitgliedschaft inder Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Nach einerdurch den türkischen Militärcoup 1960 verursachten Verzögerungwurde das Assoziationsabkommen 1963 in Ankara unterzeichnet.Artikel 28 enthält eine vorsichtig formulierteMitgliedschaftsperspektive:„Sobald das Funktionieren desAbkommes es in Aussicht zu nehmen erlaubt, dass die Türkei dieVerpflichtungen aus dem Vertrag zur Gründung der Gemeinschaftvollständig übernimmt, werden die Vertragsparteien die Möglichkeiteines Beitritts der Türkei zur Gemeinschaft prüfen.“

Das hauptsächliche Ziel des Abkommens bestand in derallmählichen Errichtung einer Zollunion, die im Einklang mit den

Die Türkei und die Europäische IntegrationMit den ReformenAtatürks begann sich die Türkei zu einemmodernen, säkularenStaat zu entwickeln

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im Zusatzprotokoll von 1970 dargelegten Einzelheiten nach einemZeitraum von 22 Jahren endgültig in Kraft treten sollte. EinAssoziationsrat wurde damit beauftragt, in regelmässigen Abständen

den Fortschritt der Implementierung desAbkommens von Ankara zu überprüfen.Tatsächlich trat die Zollunion nach mehrerenVerzögerungen erst 1996 in Kraft. Sie sah eineweitreichende Abschaffung von Zollabgabenund mengenmäßigen Beschränkungen vor,

ohne jedoch - wie ursprünglich vorgesehen - zu einer freienBewegung von Personen, Dienstleistungen und Kapital zu führen.

Am 14. April 1987 beantragte die Türkei die Mitgliedschaft inder Europäischen Gemeinschaft (EG). Die Europäische Kommissionbenötigte bis Dezember 1989, um ein Gutachten zu erstellen,welches zwei Monate später vom Europäischen Rat genehmigtwurde. Darin wurden Beitrittsverhandlungen aus mehrerenGründen verweigert. Es wurde darauf hingewiesen, dass dieGemeinschaft selbst infolge der Annahme der Einheitlichen Aktegroße Veränderungen durchmache und es daher unpassend sei, sichzu diesem Zeitpunkt auf neue Beitrittsverhandlungen einzulassen.Weiters sei die Kommission angesichts der politischen undwirtschaftlichen Situation in der Türkei, einschließlich der„negativen Folgen des Streites zwischen der Türkei und einemMitgliedsstaat der Gemeinschaft, sowie der Lage in Zypern“ zurMeinung gelangt, dass es nicht nützlich wäre, unverzüglichBeitrittsverhandlungen mit der Türkei aufzunehmen. DieKommission schlug stattdessen eine Reihe unterstützenderMassnahmen für die Türkei vor,„ohne derenMitgliedschaftsfähigkeit in der Gemeinschaft in Zweifel zu ziehen“.Interessanterweise wurde eine ebenfalls 1987 von Marokkovorgelegte Bewerbung um Mitgliedschaft in der EG sofort mit der Begründung zurückgewiesen, dass sie von einem nicht-europäischen Land stamme.

Während des darauf folgenden Jahrzehnts wurde dieMitgliedschaftsfähigkeit der Türkei bei vielen Gelegenheiten vomEuropäischen Rat, vom Rat Allgemeine Angelegenheiten und vomAssoziationsrat neuerlich bestätigt. Gleichzeitig wurde stets daraufhingewiesen, dass politische und wirtschaftliche Probleme,einschliesslich des Verhaltens der Türkei in Menschenrechtsfragen,weiterhin als Hürden für Beitrittsverhandlungen aufrecht seien. Dieswar vor allem der Fall beim Europäischen Rat von Luxemburg 1997,

als das Beitrittsverfahren für die zentral- und osteuropäischenLänder sowie Zypern in Gang gesetzt wurde, die Türkei jedochausgeschlossen blieb.

Ein wichtiger Durchbruch in den türkischen Beziehungen mitder Europäischen Union erfolgte beim Europäischen Rat vonHelsinki im Dezember 1999, der in seinen Schlussfolgerungenfeststellte, dass „die Türkei ein beitrittswilliges Land ist, das aufGrundlage derselben Kriterien, die auch für die übrigenbeitrittswilligen Länder gelten, Mitglied der Union werden soll“. Mitdieser Entscheidung war die Schiene für einen Beitritt der Türkeigelegt. Eine Beitrittspartnerschaft, jährliche Fortschrittsberichte derEuropäischen Kommission und vorbereitende ‚Acquis Screenings’wurden eingerichtet, um die türkischen Reformbemühungen zustimulieren und zu unterstützen. Der Transformationsprozesserhielt einen starken Impuls, sodass der Europäische Rat von Brüsselim Oktober 2002 feststellte: „wie dem Fortschrittsbericht derKommission zu entnehmen ist, hat die Türkei wichtige Maßnahmenzur Erfüllung der politischen Kriterien von Kopenhagen ergriffenund auch hinsichtlich der wirtschaftlichen Kriterien sowie derAngleichung an den Acquis Fortschritte erzielt. Dies hat dieAufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei nähergebracht.“ Die Union ermutigte die Türkei auch, ihreReformbemühungen fortzusetzen und weitere konkrete Schritte zurImplementierung zu ergreifen.

Zwei Monate später, im Dezember 2002, anerkannte derEuropäische Rat von Kopenhagen den wichtigen Fortschritt derTürkei im Bezug auf die Erfüllung der Mitgliedschaftskriterien, wiesjedoch gleichzeitig auf die verbleibenden Mängel vor allem auf demGebiet der Implementierung hin. Als Reaktion auf das Drängen derTürkei nach einem konkreten Datum für die Eröffnung derVerhandlungen fasste der Europäische Rat den Beschluss, imDezember 2004 zu prüfen, ob die Türkei die politischen Kriterienvon Kopenhagen erfüllt und – sollte dies der Fall sein – dieBeitrittsverhandlungen unverzüglich zu eröffnen. Um die Türkei aufdem Weg zur Mitgliedschaft zu unterstützen, wurde dieBeitrittspartnerschaft verstärkt, und die finanziellenVorbeitrittshilfen beträchtlich erhöht. Ebenso wurde die Zollunionzwischen EG und Türkei erweitert und vertieft. Seit Anfang 2003 hatdie türkische Regierung ihre Reformbemühungen in dramatischerWeise beschleunigt und intensiviert, und dadurch ihreEntschlossenheit demonstriert, die Bedingungen des Europäischen

Die Mitgliedschafts-fähigkeit der Türkei wurde bei vielenGelegenheiten bestätigt

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notwendigen Nachdruck erhielt. Jetzt werden die erforderlichenMaßnahmen von der türkischen Regierung allerdings mitbeispielloser Entschlossenheit und Effizienz in Angriff genommen.

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Rates zu erfüllen.Die offiziellen Erklärungen und Beschlüsse europäischer

Institutionen im Verlauf der Jahre vermitteln den Eindruck großerKonsistenz: die Türkei sei willkommen, der Europäischen Unionbeizutreten, sobald sie alle Mitgliedschaftskriterien erfüllt habe. Diesverbirgt jedoch die Tatsache, dass mehrere europäische Regierungengelegentlich eine gewisse Ambivalenz gegenüber den europäischenAmbitionen der Türkei an den Tag legten und Zweifel an einertürkischen Mitgliedschaft aufkommen ließen. Eine Vielzahl anArgumenten wurde vorgebracht, von der Größe und der sozio-ökonomischen Rückständigkeit des Landes sowie seiner schlechtenMenschenrechtsbilanz bis zu den erwarteten Kosten, der Gefahrunkontrollierter Einwanderung oder dem Ausmass, in welchem dieUnion auf institutionellem Gebiet unvorbereitet sei. DerHauptgrund für das Zögern – gesellschaftliche und kulturelleUnterschiede, die als Euphemismen für die religiöse Dimensionverwendet werden – wurde nur mit erheblicher Zurückhaltungerwähnt. Trotz solcher Reserven setzte sich die strategischeBedeutung der Türkei für Europa und der vorrangige Wunsch, dieengen Beziehungen mit der Türkei aufrecht zu erhalten, bei jederGelegenheit durch; alle europäischen Regierungen nahmen an denKonsensentscheidungen teil.

Die Türkei ließ währenddessen niemals einen Zweifel an ihrereuropäischen Orientierung und verfolgte ihre volle Einbeziehung inden europäischen Integrationsprozess mit unbeirrbarerEntschlossenheit. Mit einigem Recht beschweren sich die Türkenüber das Andauern negativer Gefühle gegenüber ihrem Land und dieTatsache, dass der sogenannte „Kreuzfahrergeist“ vergangenerJahrhunderte noch immer nicht völlig verschwunden ist. In denWorten Atatürks:„Der Westen war den Türken gegenüber stetsvoreingenommen, aber wir Türken haben uns immer beständig aufden Westen zubewegt“.

Heute stellen türkische Politiker mit Sorge fest,„je näher dieTürkei der EU Mitgliedschaft kommt, desto mehr wächst derWiderstand in Europa“. In diesem Zusammenhang spielen sie gernedie Tatsache herunter, dass einige der Probleme im Zusammenhangmit der türkischen Mitgliedschaft sowohl real als auch ernst sindund dass viele der Hürden für einen frühen Beitritt hausgemachtwaren. Auch war es erst nach den bedeutsamen Entscheidungen desEuropäischen Rates von 1999 über den Kandidatenstatus und 2002bezüglich der Beitrittsverhandlungen, dass der Reformprozess den

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Die türkische Mitgliedschaft würde zudem auch dieVereinbarkeit von Islam und Demokratie beweisen. Es ist zwarrichtig, dass die Erfahrung der Türkei eine einmalige ist, aufgebautauf die verschiedensten kulturellen Wurzeln, zwei Jahrhundertewestlicher Orientierung und Atatürks revolutionärerTransformation des Landes in eine säkulare Demokratie; dies kannnicht einfach auf andere islamische Länder übertragen werden. Dieerfolgreiche Einbeziehung der Türkei in den europäischenIntegrationsprozess würde der islamischen Welt jedoch zeigen, dasses in der Tat möglich ist, Antworten auf das Dilemma derVereinbarkeit religiöser Überzeugungen und Traditionen mit denuniversell akzeptierten Prinzipien moderner Gesellschaften zufinden.

Zu einer Zeit, in der die Europäische Union größereVerantwortung in der Weltpolitik zu übernehmen hat, würde dertürkische Beitritt die Fähigkeiten der Union als außenpolitischerAkteur erheblich stärken. Sowohl die neue Sicherheitsstrategie derEuropäischen Union,„Ein Sicheres Europa in einer Besseren Welt“

(verabschiedet im Dezember 2003) als auch dasKonzept einer „Neuen Nachbarschaftspolitik“,welches von der Europäischen Kommission und demEuropäischen Parlament entwickelt wurde, betonendie Bedeutung der südlichen Peripherie für dieeuropäische Sicherheit und unterstreichen dieNotwendigkeit, Stabilität in die Nachbarschaft desKontinents zu projizieren. Aufgrund ihrer geo-strategischen Lage würde die Türkei denaußenpolitischen Bemühungen der Union in

so wichtigen Regionen wie dem Mittleren Osten, dem Mittelmeerraum, Zentralasien und dem südlichen Kaukasus neue Dimensionen verleihen.

Im Mittleren Osten, einer Gegend von besonderem Interesse fürEuropa, sowohl aus historischen Gründen als auch aufgrund seinesEinflusses auf die europäische Sicherheit, hat die Union viel an Profilund Status hinzuzugewinnen. Obwohl sie der wichtigste Lieferantvon Hilfe für die Palästinenser ist und starke kommerzielleBeziehungen mit Israel und den arabischen Staaten unterhält, hat dieUnion bisher nur eine bescheidene Rolle in der Suche nach einerLösung des israelisch-palästinensischen Konflikt gespielt. Es gibtgute Argumente für ein effektiveres und bestimmteres Auftreten derEuropäer, ohne die Führungsrolle der Vereinigten Staaten in dieser

Ein EU-Beitritt der Türkei wäre sowohl für die Union als auch für die Türkei selbst mit ernsthaften Herausforderungen, aber auch mit beachtlichen Möglichkeiten und Vorteilen verbunden.Überdies müssen die Kosten einer Verweigerung des türkischenBeitrittswunsches und andere negative Folgen in Betracht gezogenwerden.

Die Aufnahme der Türkei in die Europäischen Union würde denunleugbaren Beweis erbringen, dass Europa kein exklusiver„christlicher Club“ ist. Sie würde bestätigen, dass es sich bei derUnion um eine inklusive und tolerante Gesellschaft handelt, die ihreStärke aus der Vielfalt bezieht und durch die gemeinsamen Wertevon Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und die Achtung derMenschenrechte verbunden ist. In der großen kulturellen Debattedes 21. Jahrhunderts, welche allzu oft von Ignoranz und Vorurteilengeprägt ist, und von kriminellen Phänomenen wie deminternationalen Terrorismus missbraucht wird, könnte einmultiethnisches, multikulturelles und multireligiöses Europa diekraftvolle Botschaft an den Rest der Welt senden, dass der „Kampfder Kulturen“ nicht das unentrinnbare Schicksal der Menschheit ist.Wenn Europa ein Alternativmodell zu der von radikalen Islamistenpropagierten exklusiven, sektiererischen und geschlossenenGesellschaft anbietet, könnte es eine unschätzbare Rolle in denkünftigen Beziehungen zwischen dem „Westen“ und der islamischenWelt spielen. Die Union würde viel Respekt und Glaubwürdigkeitgewinnen, und ihre „soft power“ in weiten Teilen der Welt stärken.

II Die Chancen

Welche Vorteile könnte die Europäische Union ziehen? Europa könnte einekraftvolle Botschaft an den Rest der Weltsenden, dass der„Kampf der Kulturen“nicht das unentrinnbareSchicksal derMenschheit ist

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ermöglichte eine Zusammenarbeit im militärischenKrisenmanagement, womit die Hindernisse für eineImplementierung der „Berlin Plus“ Agenda beseitigt waren.

Darüber hinaus hat sich die Türkei aktiv an den Arbeiten desKonvents für die Zukunft Europas beteiligt und ist hierbei imbesonderen für eine Steigerung der Effizienz der ESVP und ihrerFähigkeit eingetreten, mit den heutigen Herausforderungen imBereich der internationalen Sicherheit fertig zu werden. Als einer derstärksten NATO Partner, mit einer klaren Orientierung zur ESVP,wäre die Türkei von grossem Wert für das europäischeVerteidigungssystem. Gleichzeitig würde die EU-Mitgliedschaft derTürkei im Zusammenhang mit den neuen Bedrohungen fürSicherheit und Stabilität, wie internationaler Terrorismus,organisiertes Verbrechen, Menschenhandel und illegaleEinwanderung, zu einer engeren und für beide Seiten nützlichenZusammenarbeit im Bereich von Justiz und Innerem führen.

Zusätzlich zu einer Stärkung der Rolle der Union im politischenund Sicherheitsbereich könnte die Türkei beträchtlich zu Europaswirtschaftlichem Gewicht in der Welt beitragen. Selbst wenn dietürkische Wirtschaft noch für geraume Zeit unter Schwächen undUngleichgewichten leiden wird, besitzt sie dennoch großes Potential.Das Land ist gross, verfügt über bedeutende Ressourcen sowie junge,gut geschulte und hochqualifizierte Arbeitskräfte. Mit einerBevölkerung von derzeit fast 70 Millionen Menschen und derenansteigender Kaufkraft wird das Potential der Türkei alsImportmarkt für Güter aus den EU-Staaten an Relevanz gewinnen.

Der Bau der Erdölleitung Baku – Tbilisi – Ceyhan nachErschließung des Kaspischen Beckens als eine der grössten Quellenfür Öl und Erdgas unterstreicht die Rolle der Türkei als Schlüssellandfür den Transport von Energie. Weiters könnten die geopolitischeLage der Türkei und die engen Bande zu Dutzenden Millionen vonTürkischstämmigen in den Nachbarländern dazu beitragen, Europaden Zugang zum enormen Reichtum an Ressourcen in Zentralasienund den Regionen Sibiriens zu ermöglichen. Dies würde die Türkeizu einem wesentlichen Faktor für Europas Sicherheit im Bereich derEnergieversorgung aus dem Mittleren Osten, dem Kaspischen Meerund Russland machen. In diesem Zusammenhang wäre dieBedeutung der Türkei für die Wasserversorgung benachbarterLänder des Mittleren Osten von nicht zu unterschätzendemzusätzlichen Wert.

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komplexen Angelegenheit infrage zu stellen. Die Türkei pflegt guteBeziehungen mit beiden Seiten und geniesst Glaubwürdigkeit inIsrael genauso wie in der arabischen Welt. Ihre Mitgliedschaft würdeohne Zweifel das Gewicht der Union im Mittleren Osten stärken, wasden gemeinsamen Bemühungen um Friede und Stabilität in dieserstrategisch kritischen Region zugute kommen könnte.

Ähnliche Möglichkeiten bieten sich im Schwarzmeer-Becken,im südlichen Kaukasus und in Zentralasien, wo die EuropäischeUnion in der Vergangenheit Zurückhaltung geübt hat, während dieTürkei aufgrund ihrer geographischen Lage, ihrer Kultur, Religionund Sprache als aktiver Spieler aufgetreten ist. Als Teil des „Prozessesvon Barcelona“ könnte die Türkei, zusammen mit Malta undZypern, der bisher enttäuschenden Zusammenarbeit imMittelmeerraum einen viel benötigten Impuls geben.

Generell ist zu erwarten, dass ein türkischer Beitritt zu einerStärkung der EU-Politik gegenüber dem Süden führen würde,

wodurch der von Finnland initiierten „NördlichenDimension“ eine neue und wichtige „SüdlicheDimension“ hinzugefügt wäre. Dies sollte nicht alsGefahr betrachtet werden, sondern eher als Chance.Das manchmal geäusserte Argument, eine türkischeMitgliedschaft würde Europa in die Konflikte desMittleren Ostens hineinziehen, ist nicht überzeugend.Die Entwicklungen in dieser turbulenten Region

haben in jedem Fall tief -greifende Auswirkungen auf EuropasStabilität und Sicherheit, gleichgültig ob die EU direkte Grenzen mitLändern wie dem Irak, Iran oder Syrien unterhält oder nicht. DieTürkei, im Herzen der eurasischen Region gelegen und als westlicherPfeiler im größeren Mittleren Osten, kann von unbestreitbaremVorteil für die europäische Außenpolitik in dieser Gegend sein.

Für die im Aufbau befindliche Europäische Sicherheits- undVerteidigungspolitik (ESVP) wären die beträchtlichen militärischenKapazitäten der Türkei und das Potential des Landes als Stützpunktwichtige und viel benötigte Vorteile. Über die Jahre hinweg hat dieTürkei beachtliche Beiträge zu internationalen Friedensoperationengeleistet, einschliesslich jener in Kroatien, Bosnien-Herzegowinasowie im Kosovo, und nahm an Militär- und Polizeimissionen unterEU – Führung in Mazedonien (FYROM) teil. Bis Dezember 2002führte sie die internationale Schutztruppe für Afghanistan (ISAF).Die Zustimmung der Türkei zu der 2002 abgeschlossenenumfassenden Vereinbarung über die EU-NATO Beziehungen

Ihre geopolitische Lagemacht die Türkei zueinem wesentlichenFaktor der Sicherheit für EuropasEnergieversorgung

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politischen Prozesse des Landes weiter vermindern.Die Beendigung des Ausnahmezustandes, welcher die

Grundfreiheiten im Südosten 25 Jahre lang einschränkt hatte, führtezu einer beachtlichen Verbesserung der Lebensqualität der in dieserRegion lebenden Kurden. Die Legalisierung von Radio- undFernsehprogrammen sowie des Unterrichts in anderen Sprachen alstürkisch, aber auch eine größere Toleranz für kulturelle Aktivitätender Minderheiten sollten sich ebenfalls vorteilhaft auf dieinterethnischen Beziehungen auswirken.

Es kann zu Recht gesagt werden, dass die Türkei innerhalb vonknapp über zwei Jahren mehr Reformen erzielt hat als während desganzen letzten Jahrzehnts. Das politische und rechtliche System desLandes wurde tiefgehend verändert. In Anerkennung dieser Tatsacheund des breiten Fortschritts im Bereich von Demokratie,Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit hat sich dieParlamentarische Versammlung des Europarates bei ihrer letztenFrühjahrstagung entschlossen, das seit 1996 gegenüber der Türkei

angewandte Überwachungsverfahren zu beenden.Über diese Erfolge hinaus sind jedoch entschlosseneBemühungen nötig, um eine effektiveImplementierung der neuen Gesetzgebung in allenstaatlichen Strukturen und allen Teilen des Landessicher zu stellen. Im besonderen hinsichtlichRechtsstaatlichkeit, der Rechte von ethnischen und

religiösen Minderheiten und der zivilen-militärischen Beziehungenmüssen die gesetzlichen Maßnahmen zu einer Veränderungen derMentalitäten und Verhaltensweisen führen. Der von der Regierungeingesetzten Überwachungsgruppe kommt in diesemZusammenhang eine nützliche Rolle zu. Ebenso ist das fortgesetzteeuropäische Engagement und die Überwachung durch dieEuropäischen Kommission für die Vollendung des Reformprozessesvon wesentlicher Bedeutung.

Die kurdischen Bürger der Türkei haben aus denReformmaßnahmen große Vorteile gezogen und gehören daher zuden stärksten Befürwortern einer türkischen EU-Mitgliedschaft. EinScheitern des Beitrittsprozesses würde einen ernsten Rückschlag fürdie Bestrebungen der Mehrheit der Kurden bedeuten, einenrechtmäßigen und angemessenen Platz in ihrem Heimatland zufinden. Dies würde den radikalen Gruppen in die Hände spielen,deren Absicht es ist, den erfolgreichen Abschluss der Bemühungenum Versöhnung mit Gewalt zu verhindern. In diesem

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Premierminister Recep Tayyip Erdogan wies wiederholt darauf hin,dass sich die Türkei drastischer Reformen zum eigenen Wohlunterziehen müsse, und nicht bloß, um „Brüssel zu gefallen“. Dies istein angemessenes und weitsichtiges Urteil. Allerdings kann keinZweifel daran bestehen, dass die realistische Aussicht auf EU-Mitgliedschaft und die damit zusammenhängende Notwendigkeit,bis Dezember 2004 die politischen Kriterien von Kopenhagen zuerfüllen, um den Beginn der Beitrittsverhandlungen sicher zu stellen,als Katalysator für den von der türkischen Regierung während derletzten Jahren unternommenen Reformprozess gedient hat.

Der bis heute durch eine grosse Anzahl vonVerfassungsänderungen und acht legislativen„Harmonisierungspaketen“ erzielte Fortschritt ist in der Tatbeeindruckend. Die beschlossenen Maßnahmen enthalten u. a. dieAbschaffung der Todesstrafe, Schutz gegen Folter und Misshandlungsowie eine Reform des Gefängnissystems; im Hinblick auf Rede-,Versammlungs- und Pressefreiheit wurden einige berüchtigteGesetze aufgehoben, welche Journalisten, Gelehrten undMenschenrechtsaktivisten die Freiheit gekostet hatten; drakonischeBeschränkungen wurden aufgehoben und Vorkehrungen getroffen,um eine größere Verantwortlichkeit und Transparenz in derVerwaltung sicher zu stellen. Die Staatssicherheits-Gerichte, die eineQuelle systematischer Menschenrechtsverletzungen waren, wurdeninsgesamt abgeschafft. Eine wichtige Maßnahme in diesemZusammenhang ist die Anerkennung des Vorranges derinternationalen Menschenrechts-Gesetzgebung vor den nationalenGesetzen, ebenso wie der Urteile des Europäischen Gerichtshofes fürMenschenrechte als Grundlage für Prozesswiederholungen vortürkischen Gerichten.

Andere Fortschritte betreffen die Straffung von Regierung undVerwaltung, die Stärkung der Rolle des Parlamentes, die Förderungder Geschlechtergleichheit sowie religiöse Rechte und Freiheiten.Die Pflichten,Vorrechte und Arbeitsweise des NationalenSicherheitsrats (NSC) wurden wesentlich verändert, wodurch dieStrukturen der zivilen-militärischen Beziehungen den akzeptiertenPraktiken von EU-Mitgliedstaaten angenähert werden konnten.Diese und andere damit zusammenhängende Maßnahmen,einschließlich der vollständigen parlamentarischen Kontrolle übermilitärische Ausgaben, sollten militärische Eingriffe in die

Die Türkei hat in etwasüber zwei Jahren mehran Reformen erzielt alswährend des ganzenletzten Jahrzehnts

Die Türkei braucht Europa

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einer sichtbareren Opposition zur EU-Mitgliedschaft die ErdoganRegierung entscheidend schwächen und den Transformationsprozesszum Stillstand bringen. Gleichzeitig sollte es offensichtlich sein, dassdie Türkei keine realistische Alternative zur Integration mit Europabesitzt. Die Möglichkeit einer grossen Allianz mit den LändernZentralasiens oder der Region um das Schwarze Meer ist eine bloßeIllusion. Aus diesem Grund haben sich politischen Eliten undGesellschaft der Türkei auch konsequent auf Europa ausgerichtet.Falls die türkischen Hoffnungen enttäuscht werden, ist damit zurechnen, dass ultranationalistische sowie islamistische Tendenzen an Boden gewinnen und ein Wiederaufleben von Gewalt in den mitKurden bevölkerten Regionen zu steigender Instabilität und einemWiedereingreifen des militärischen Establishments führen würde.

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Zusammenhang müssen die Auswirkungen des Schicksals dertürkischen Kurden auf die Stabilität der gesamten Regioneinschließlich benachbarter Staaten wie dem Irak im Auge behalten werden.

Obwohl die Lösung des Zypern-Problems keine Vorraussetzungfür die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ist,hätte eine frühzeitige Wiedervereinigung der Insel den türkischenHoffnungen einen beträchtlichen Aufschwung gegeben. Diekonstruktive Haltung der türkischen Regierung und ihre klareUnterstützung für die Bemühungen von UNO Generalsekretär KofiAnnan wurden allseits vermerkt. Wie immer die Entwicklungen inZypern in den kommenden Jahren verlaufen werden, kann mitBestimmtheit vorrausgesagt werden, dass spätestens der EU-Beitrittder Türkei die Teilung der Insel zu einem Ende bringen würde.

Die Beziehungen der Türkei mit Griechenland haben sichwährend der letzten Jahre weiter verbessert und Griechenlandunterstützt nunmehr die türkische EU-Mitgliedschaft. Bemühungenum die Lösung einiger umstrittener bilateraler Probleme sind imGang und Sondierungsgespräche zwischen den beidenAußenministerien über die Konflikte in der Ägäis werdenabgehalten. Es ist wahrscheinlich, dass die Aufnahme derBeitrittsverhandlungen mit der Türkei die Suche nach Lösungenerheblich erleichtern würde. Ebenso sollte die Annäherung derTürkei an die EU vorteilhafte Auswirkungen auf die Beziehungenmit anderen Nachbarstaaten haben. Besonders im Hinblick aufArmenien ist zu hoffen, dass eine Öffnung der Grenzen und dieVerbesserung der bilateralen Beziehungen möglich wird,einschließlich einer türkischen Anerkennung der tragischen Vorfälleaus der Vergangenheit, im Geist europäischer Versöhnung.

Angesichts der gewaltigen Anstrengungen, die von dertürkischen Regierung und Gesellschaft unternommen wurden, umeuropäische Standards in allen Aspekten zu übernehmen, besteht dieweitverbreitete Erwartung, dass bis Jahresende ein irreversiblerSchritt in Richtung einer EU-Mitgliedschaft gemacht sein wird.Eine negative Entscheidung des Europäischen Rates würde alsBestätigung des in der Türkei tief verwurzelten Eindrucks derZurückweisung durch Europa angesehen werden, wobei die nichthundertprozentige Erfüllung der Mitgliedschaftskriterien nur alsEntschuldigung für den wahren Grund zu dienen hätte: diereligiösen und kulturellen Verschiedenheiten. Als Folge könnte derVerlust öffentlicher Unterstützung und das zu erwartende Auftreten

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Die Türkei ist gross, arm und muslimisch. Diese drei Faktorenmachen den türkischen EU-Beitritt zu einer beträchtlichenHerausforderung, und wecken Ängste und Widerstand in vielenTeilen Europas.

Falls Beitrittsverhandlungen im Jahre 2005 beginnen sollten undunter der Annahme, dass sie schwierig und langwierig sein werden,wäre der Beitritt der Türkei frühestens in zehn Jahren möglich. Bisdahin werden sowohl die Union wie die Türkei wesentlicheVeränderungen durchgemacht haben. 2015 wird die EU übermindestens 28 Mitglieder verfügen (Bulgarien, Rumänien undKroatien eingeschlossen), und der Status der anderen Balkan-Staaten wird von den politischen und wirtschaftlichenEntwicklungen in der Region abhängen.Verfassungsbestimmungen,die es den europäischen Institutionen erlauben, sich besser an dieErfordernisse einer größeren Mitgliederzahl anzupassen, werden bis dahin in Kraft stehen; und das Auslaufen der Budgetperiode2007-2013 wird die Möglichkeit geboten haben, die Regional- undLandwirtschaftspolitiken der Union zu überprüfen undmöglicherweise im Licht der mit den neuen Mitgliedstaatengemachten Erfahrungen zu modifizieren.

Die Türkei wird in der Zwischenzeit ihre Transformationvertiefen und erweitern, da der erfolgreiche Abschluss derBeitrittsverhandlungen die Erfüllung aller Mitgliedschaftskriterienvoraussetzt. Es ist zu erwarten, dass die Aufnahme derVerhandlungen der türkischen Wirtschaft einen starken Auftriebgeben wird, und die vergleichsweise Position des Landes im

III Die Herausforderungen

Der Auswirkung auf die EU

Verhältnis zu den anderen EU Staaten und im besonderen den neuenMitgliedern dadurch eine entsprechende Verbesserung erfährt. Trotzeiner sinkenden Geburtenrate wird die türkische Bevölkerung bis2015 die 80 Millionen-Marke überschreiten, also mit Deutschlandbeinahe gleichziehen und etwa 14% der gesamten EU-Bevölkerungstellen.

Angesichts der vielen Ungewissheiten für die Union und dieTürkei ist es schwierig, mit Genauigkeit vorauszusagen, welcheAuswirkungen die türkische Mitgliedschaft auf das Funktionierender europäischen Institutionen, das Projekt einer politischen Unionund die Finanzpolitiken der Union hätte. Es ist selbstverständlich,dass jene institutionellen Arrangements, die auf derBevölkerungszahl aufbauen, der Türkei ein beachtliches Gewichtgeben und sie mit den aktuellen „Grossen Vier“ (Deutschland,Frankreich, Grossbritannien und Italien) gleichstellen würden. Diesgilt insbesondere für das Europäische Parlament, wo die Türkei eineähnliche Anzahl von Sitzen erhalten dürfte wie Deutschland. DieAuswirkung einer so starken Vertretung wird allerdings durch denUmstand relativiert, dass Abstimmungen im EuropäischenParlament üblicherweise nach Parteilinien und nicht gemäßnationalen Positionen der Mitgliedstaaten erfolgen.

Was die Abstimmungen im Europäischen Rat betrifft, erfordertdas System der doppelten Mehrheit des neuen Verfassungsvertragsfür eine Entscheidung in den meisten Fällen das Votum von 55% derMitglieder, die gleichzeitig 65% der EU-Bevölkerung repräsentierenmüssen. Dadurch wird ein feines Gleichgewicht zwischen demPrinzip der Gleichheit der Mitgliedstaaten und der Anerkennungihrer unterschiedlichen demographischen Gewichte hergestellt. DieTürkei hätte in der ersten Stufe des Abstimmungssystems die gleicheStellung wie Luxemburg oder Malta, in der zweiten jedoch jene vonDeutschland und der anderen großen Staaten, und damit einenbeträchtlichen Einfluss vor allem bei der Bildung blockierenderMinderheiten.

Andererseits verringert das Fortbestehen des Konsensprinzipsin wichtigen Politikbereichen der EU, vor allem in der GemeinsamenAußen- und Sicherheitspolitik, der Verteidigungspolitik oder derSteuerpolitik die Relevanz der Bevölkerungsgrösse derMitgliedstaaten für den Entscheidungsprozess der Union. Was dieZusammensetzung der Europäischen Kommission betrifft, dürfteder Beitritt der Türkei keinerlei Auswirkungen haben, da zu diesemZeitpunkt die Entscheidung über eine Herabsetzung der Anzahl der

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könnte der türkische Beitritt – zusätzlich zu jenem der zehn neuenMitglieder – die Problematik der Suche nach Konsenslösungenverstärken, er würde jedoch kaum eine qualitative Veränderung derGrundsatzdebatte mit sich bringen.

Nach dem Verhalten der Türkei in anderen internationalenOrganisationen zu schließen, kann erwartet werden, dass sie in deneuropäischen Institutionen eine verantwortungsvolle undkooperative Rolle spielen, gleichzeitig aber ihren Interessen mitEnergie und Entschlossenheit nachgehen würde. AlsBeitrittskandidat war die Türkei besonders darauf bedacht, eine mitden EU-Positionen vereinbare Außenpolitik zu verfolgen. Dieswurde im Fortschrittsbericht der Europäischen Kommission 2003anerkannt, in dem festgestellt wird, dass „die Türkei ihre Außen- undSicherheitspolitik weiterhin im Einklang mit den Positionen der EUausgerichtet“ und „im Rahmen der CFSP eine konstruktive Rollegespielt hat“. Dennoch ist es dieser Bereich, in dem die Türkei denstärksten Einfluss haben könnte, wobei sie die Aufmerksamkeit derUnion verstärkt auf Regionen in ihrer südöstlichen Nachbarschaftlenken würde, - die wegen ihrer großen Wichtigkeit für die SicherheitEuropas im übrigen im neuen Konzept eines „größeren Europa“entsprechende Berücksichtigung gefunden haben.

Was die finanziellen Kosten eines türkischen Beitritts angeht, istes zum jetzigen Zeitpunkt unmöglich, konkrete Voraussagen zumachen.Verschiedene, kürzlich veröffentlichte Hochrechnungenbasieren auf den aktuellen EU-Politiken sowie dem gegenwärtigenStand der türkischen Wirtschaft und sind daher im höchsten Massespekulativ. Tatsächlich hängen Art und Höhe der Transfers in dieTürkei von einer Anzahl wechselhafter Faktoren ab, einschließlichder Regional- und Landwirtschaftspolitiken der EU sowie ihrerbudgetären Vorkehrungen zum Zeitpunkt des Beitritts. Es istwahrscheinlich, dass das Budget der Union an einem Punkt zwischenden aktuellen 1,24% des EU BIP und 1%, wie von sechs großenBeitragsstaaten vorgeschlagen, gedeckelt sein wird, wodurch eine„Explosion“ des Budgets unmöglich gemacht wäre. Außerdemdürfte die Begrenzung von Transfers auf ein Maximum von 4% des BIP des Empfängerlandes – dies wird als Grenze derAbsorptionskapazität angesehen – weiterhin in Geltung stehen. Undschließlich ist es eine offene Frage, ob und in welchem Ausmaß dasSolidaritätsprinzip innerhalb der Union angesichts deszunehmenden Finanzbedarfs neuer Mitgliedstaaten auch weiterhinzur Anwendung gelangen wird.

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Kommissare und die Einführung des Rotationssystems auf gleicherBasis bereits in Kraft stehen sollte.

Hinsichtlich der drei dominierenden Achsen in der EU – großegegen kleine Staaten, arme gegen reiche und Föderalisten gegenIntergouvernamentalisten – ist der Einfluss der Türkei leichtervorherzusagen. Sie würde die Gruppe der grossen Länder stärken unddamit das Gleichgewicht wieder zurecht rücken, welches sich durchden Beitritt zahlreicher kleinerer Staaten in den letztenErweiterungsrunden ständig verlagert hatte. Wegen ihrer schwachenWirtschaft würde der Beitritt der Türkei zu einem Absinken desdurchschnittlichen Wirtschaftsstandards der Union führen, die EU als Ganzes dadurch ärmer machen und die an die reicheren Staatengerichteten Erwartungen vergrößern. Schließlich ist zu erwarten, dassdie Türkei den intergouvernamentalen Ansatz unterstützt und für dieAufrechterhaltung des status quo hinsichtlich des Gleichgewichtszwischen den europäischen Institutionen eintritt.

Es wird viel vom Risiko gesprochen, dass der Beitritt der Türkeizum Ende der politischen Union und der Vision eines VereintenEuropas führen könnte. Sicherlich trifft es zu, dass die Mitgliedschafteines grossen, muslimischen Landes, in einer einzigartigengeopolitischen Lage und mit starken Interessen in Regionen wieZentralasien, dem südlichen Kaukasus und dem Mittleren Osten, dasProfil der Union verändern und die Richtung ihrer Außenpolitikbeeinflussen würde. Soweit es sich jedoch um die grundsätzlicheFrage der „finalité européenne“ handelt, ist es eine Tatsache, dass sichdas europäische Projekt mit jeder Erweiterungsrunde verändert hat,einschliesslich und im besonderen der ersten im Jahr 1973, alsGrossbritannien, Dänemark und Irland der EuropäischeGemeinschaft beitraten.

Die enge politische Union, die mit der Zeit vielleicht unter densechs Gründungsländern hätte verwirklicht werden können, ist ineiner so heterogenen Gruppe, wie es die aktuellen 25 Mitgliedstaatensind, nur schwer vorstellbar, so wünschenswert diese Vision für vielebegeisterte Europäer nach wie vor sein mag. Man kann darüberdiskutieren, ob die tiefen Meinungsverschiedenheiten zwischen denMitgliedstaaten über die Zukunft der Union am besten durch einSystem von Integration mit verschiedenen Geschwindigkeitenüberwunden werden könnte, oder durch die Fortsetzung despragmatischen, zögerlichen Ansatzes, der den Prozess in denvergangenen Jahrzehnten auf eine stetige, wenngleich oft frustrierendlangsame Weise vorangebracht hat. In diesem Zusammenhang

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Frauenrechte eine tiefe Kluft zwischen der modernen und dertraditionellen Türkei sowie zwischen Westen und Osten zu geben.Fast 95% der registrierten Ehrenverbrechen wurden in der Ost- undSüdosttürkei begangen, wo die Selbstmordrate unter Frauen –anscheinend eine von Familienmitgliedern auferlegte Alternative zurErmordung oder einer aufgezwungenen Ehe – zweimal so hoch istwie anderswo. Gewiss ist diese Situation in einem modernen Staatunerträglich und kann weder durch gesellschaftliche und kulturelleTraditionen noch durch den Mangel an wirtschaftlicherEntwicklung in einer bestimmten Region gerechtfertigt werden.

Positiv ist, dass sich die türkischen Behörden dazu verpflichtethaben, mit aller Entschlossenheit vorzugehen, um solche Praktikenaus einem anderen Zeitalter auszumerzen. Eine Anzahl gesetzlicherBestimmungen, welche dazu angetan waren, deren Weiterbestehenzu erleichtern, wurden vom Parlament aufgehoben. Ehrenmordeund andere Probleme, mit denen Frauen konfrontiert sind, werdenin den Medien und von der Gesellschaft intensiv diskutiert, wodurchhoffentlich der Boden für eine Änderung der Verhaltensweisen inallen Landesteilen vorbereitet wird.

Was die politische Rolle des Islam betrifft, sollte die Natur desvon Atatürk nach der Gründung der türkischen Republikeingeführten säkularen Systems richtig verstanden werden. Sein

Konzept mag zwar vom französischen Prinzip der„Laizität“ inspiriert worden sein, es bedeutet jedochkeinesfalls eine Trennung von Kirche und Staat, wiesie in Frankreich praktiziert wird. In der Türkeiwerden unter Säkularismus die Verweisung desreligiösen Glaubens in die Privatsphäre und die

Eliminierung der koranischen Gesetze aus dem öffentlichen Lebenverstanden. Islamische Institutionen verbleiben jedoch unterstaatlicher Kontrolle; die Regierung überwacht religiöseEinrichtungen und das Erziehungswesen, regelt die Tätigkeit vonMoscheen, karitativer religiöser Stiftungen, der Schulen, Spitäler undWaisenhäuser und stellt die örtlichen und regionalen Imame alsStaatsbeamte an.

Nach der Übernahme eines Multiparteiensystems 1946 und derVertretung des politischen Islam in diesem System wurde dieDebatte über die Rolle der Religion im türkischen Staat intensiverund erbitterter und führte zu politischen Spannungen, demEingreifen des Militärs und dem Verbot ‚islamistischer’ Parteien. Eswar im Wesentlichen ein Streit zwischen Islamisten, die eine

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Auf türkischer Seite wird viel von der wirtschaftlichenEntwicklung des Landes während der nächsten zehn Jahre abhängen.Viele Experten sind der Ansicht, dass bereits das durch dieBeitrittsverhandlungen erzeugte Vertrauen direkte Vorteile mit sichbrächte, einschliesslich eines Zuflusses an ausländischenDirektinvestitionen, anhaltende Wachstumsraten von 5% bis 6%und die Eliminierung der periodischen Krisen, welche die türkischeWirtschaft solange geplagt haben. Auf der anderen Seite wird dergrosse Agrarsektor der Türkei trotz einer stetigen Schrumpfung auchweiterhin ein ernstes Problem bleiben, ebenso wie die vielenregionalen Unausgewogenheiten und Disparitäten zwischenstädtischen und ländlichen Gebieten. Angesichts der vielenUnwägbarkeiten im Zusammenhang mit den finanziellenImplikationen einer türkischen Mitgliedschaft ist die einzigeVorhersage, die derzeit vernünftigerweise gemacht werden kann,jene, dass die Türkei ein Kandidat für beträchtliche Unterstützungwäre. Die Einzelheiten würden allerdings von den Umständen zumZeitpunkt des Beitritts und vom Ergebnis derBeitrittsverhandlungen abhängen.

Die Aussicht auf EU-Mitgliedschaft der Türkei verursacht untervielen Europäern Unbehagen, vor allem wegen ihrer großen undüberwiegend muslimischen Bevölkerung, die oft als Träger fremdergesellschaftlicher und kultureller Traditionen angesehen wird.Weiters wird befürchtet, dass der politische Islam unter Ausnützungdes demokratischen Systems und ungehindert durch das in seinemEinfluss beschnittene militärische Establishment in der Türkei an dieMacht kommen und damit über einen wichtigen EU-Mitgliedstaatdie Kontrolle erlangen könnte.

Es ist nicht zu leugnen, dass in Teilen der türkischen Gesellschafttraditionelle Praktiken weiter bestehen, durch welche Frauen undMädchen missbraucht werden. Dazu gehören häusliche Gewalt,„Verbrechen der Ehre“, erzwungene Ehen und ungenügendeSchulbildung für Mädchen, die zu weiblichem Analphabetismus unddem Ausschluss der Frauen von Arbeitsmarkt undGesundheitsversorgung führen. Wie im jüngsten Bericht desKomitees für die Achtung der Mitgliedschaftsverpflichtungen desEuroparates festgestellt wird, scheint es in der Frage der

Der „muslimische Faktor“

Das säkulare System hat die überwältigendeUnterstützung dertürkische Bevölkerung

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Die näherkommende Entscheidung über Beitrittsverhandlungenmit der Türkei hat in vielen Teilen Europas starke Reaktionenhervorgerufen, sowohl von Seiten der öffentlichen Meinung als auchpolitischer Führungskräfte. Während in einigen Ländern dieallgemeine Einstellung zur türkischen Mitgliedschaft positiv zu seinscheint, wird in anderen ein klarer Widerstand zum Ausdruckgebracht.Verlässliche Meinungsumfragen zu dieser Frage wurdenallerdings nur in wenigen Ländern durchgeführt und es ist keineumfassende Übersicht über die Haltungen und Motivationen derMenschen für die gesamte EU erhältlich.Vor allem ist nur wenigüber die aktuellen Meinungsströme in den neuen Mitgliedstaatenbekannt. Die Regierungen in diesen Ländern verfolgen einevorsichtige Linie und ziehen es vor, den in Kürze erscheinendenBericht der Kommission sowie deren Empfehlungenabzuwarten, bevor sie Position ergreifen.

Besonders stark scheint die Skepsis in jenen Ländern zu sein,die über eine bedeutende türkische Minderheit verfügen, vor allemin Deutschland, Frankreich, Österreich, den Niederlanden undBelgien. Dies deutet darauf hin, dass die Türkei durch das Prisma der Erfahrungen mit türkischen Einwanderern betrachtet wird,die es oft schwer finden, sich in die Gesellschaften der Gastländer zuintegrieren. Die hauptsächlichsten Faktoren für eine negativeEinstellung zur türkischen EU-Mitgliedschaft sind die „kulturellenUnterschiede“, einschließlich der religiösen Dimension, die Größeder Bevölkerung des Landes und die Angst vor einer Flut neuerEinwanderer. Auf einer mehr prosaischen Ebene besteht geringeNeigung, zusätzliche finanzielle Lasten auf sich zu nehmen, um dietürkische Wirtschaft auf europäischen Standard zu bringen.

Sollte der Europäische Rat im Dezember der Eröffnung vonBeitrittsverhandlungen zustimmen, könnte sich in einigen Länderndie Kluft zwischen Regierungspolitik und öffentlicher Meinungvertiefen. Dies würde zwar die Verhandlungen nicht direkt betreffen,könnte jedoch zu einem ernsten Problem werden, wenn es imweiteren Verlauf zur Ratifizierung eines Beitrittsvertrages kommt.In der Zwischenzeit sollten von den betroffenen Regierungen, derEuropäischen Kommission und der Türkei selbst großeAnstrengungen unternommen werden, um gerechtfertigte Sorgen,aber auch Missverständnisse und Ängste entsprechend zu

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sichtbarere Rolle der Religion im öffentlichen Leben als für einmuslimisches Land normal und als demokratisches Rechteinforderten, und Säkularisten, die solche Wünsche als Versuch,einen theokratischen Staat zu schaffen und als ernste Bedrohung desGründungsprinzips der türkischen Republik ansahen.

Angesichts des möglichen Beitritts der Türkei zur EuropäischenUnion ist es legitim zu fragen, wie fest verwurzelt der Säkularismus80 Jahre nach seiner Einführung in der türkischen Gesellschafttatsächlich ist und ob eine reelle Gefahr besteht, dass das politischeSystem der Türkei auf demokratischem Weg in einer miteuropäischen Standards unvereinbaren Weise verändert werden könnte.

Eine vom führenden Think Tank der Türkei, TESEV,durchgeführte und 2000 veröffentlichte Umfrage bestätigt dieVersicherungen der türkischen Regierung und vieler Vertreter derZivilgesellschaft, dass das säkulare System die überwältigendeUnterstützung der Bevölkerung des Landes hat. In ihrer Mehrheitbetrachten sich die Türken zwar als gläubige Muslime, die danachstreben, ihre religiösen Pflichten zu erfüllen, lehnen jedoch eineRolle der Religion im politischen Leben ab. Diese Studie zeigt auchstarke konservative Strömungen, vor allem in Bezug aufgeschlechtsbezogene Themen und deren direkte Verbindung mit derErziehung: sobald das Bildungsniveau ansteigt, vermindern sichradikale Ausrucksweisen von Religion und Konservatismus, undmoderne Bürgerwerte gewinnen an Bedeutung. Soweit Identitätbetroffen ist, identifizieren sich die meisten Befragten zuerst alsTürken und erst in zweiter Linie als Muslime.

Es besteht kein Zweifel, dass – ebenso wie in jeder anderenDemokratie – auch in der Türkei der Missbrauch desdemokratischen Prozesses durch radikale Gruppen für eigeneZwecke nicht völlig ausgeschlossen werden kann. Andererseitsscheint das säkulare System der Türkei, ebenso wie die Orientierungdes Landes nach Europa und dem Westen, fest in der Gesellschaftverwurzelt zu sein. Die Vollendung des von der Regierungeingeleiteten Reformprozesses, die fortschreitende Modernisierungund eine Verankerung der Türkei in der Union europäischerDemokratien wäre daher der beste Weg, um einen Wandel derMentalitäten in den rückständigeren Teilen der Gesellschaftherbeizuführen und das säkulare politische System der Türkeiabzusichern.

Die öffentliche Meinung

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berücksichtigen und die öffentliche Meinung allmählichumzudrehen.

Die reelle europäische Perspektive, die der Türkei vom EuropäischenRat 1999 und 2002 gegeben wurde, verbunden mit demErdrutschsieg der Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) imNovember 2002 und der überwältigenden Unterstützung der EU-Mitgliedschaft durch die türkische Bevölkerung haben ein „windowof opportunity“ für Reformen geöffnet, das von der Regierung RecepTayyip Erdogans voll genutzt wird. Man sollte allerdings davonausgehen, dass so weitreichende Veränderungen des politischen undrechtlichen Systems der Türkei, mit entsprechenden Folgen für eineVielzahl von Eigeninteressen, ebenso wie die tiefgehendeTransformation der türkischen Gesellschaft nicht von allen Seitenmit gleichem Enthusiasmus begrüßt werden. Opposition gegen denEU-Beitritt, vor allem aber gegen die hierfür notwendigenReformen, darf daher nicht außer Acht gelassen werden.Nationalisten, Islamisten, Teile des zivilen und militärischenEstablishment sowie traditionelle Kemalisten haben ihrenWiderstand sicherlich nicht aufgegeben, sondern warten nur aufeinen günstigeren Zeitpunkt.

Die öffentliche Unterstützung kann ebenfalls nicht alsselbstverständlich angesehen werden. Jüngste Umfragen zeigen zwar,dass ca. 75% der Wählerschaft für einen EU Beitritt stimmenwürden, falls heute ein Referendum stattfände, wobei alshauptsächliches Motiv die Erwartung wirtschaftlicher Vorteileangegeben wird. In einem gewissen Widerspruch dazu zeigen jedochAntworten auf andere Fragen das Andauern eines starkenEuroskeptizismus unter der türkischen Bevölkerung. Befürchtungenbetreffen den möglichen Verlust nationaler und religiöser Identität,einer Erosion traditioneller Werte und die Schwächung dertürkischen Unabhängigkeit und Souveränität. Dazu kommen die weit verbreitete Angst, von Europa ausgeschlossen zu werden,und der Eindruck, dass der Türkei viel strengereMitgliedschaftsbedingungen auferlegt wurden als anderenKandidaten.

Die Erhaltung der Reformdynamik

Um einen Rückschlag in der öffentlichen Meinung zuverhindern und die Weiterführung des Reformprozesses zuermöglichen, ist es daher von großer Wichtigkeit, dass die Dynamik

des türkischen Beitrittsprozesses aufrechterhaltenwird. Eine Entscheidung des Europäischen Rates imDezember über ein baldiges Datum für die Eröffnungder Beitrittsverhandlungen würde viel dazu beitragen,um die bestehenden Zweifel über Europas wirklicheAbsichten, aber auch die Notwendigkeit desgrundlegenden Wandels der türkischen Gesellschaftzu beseitigen. Gleichzeitig muss die öffentliche

Meinung der Türkei jedoch darauf aufmerksam gemacht werden,dass – ebenso wie in früheren Beitrittsrunden – derVerhandlungsbeginn nicht das Ende des Transformationsprozessesbedeutet. Im Gegenteil, es wird erforderlich sein, dieReformbemühungen zu intensivieren und auf Gebiete wie dieWirtschaft auszudehnen. Die EU wird die diesbezüglichenFortschritte genau überwachen, bis zu dem Zeitpunkt, in dem eineendgültige Entscheidung über den Beitritt zu treffen ist.

Ebenso wie in früherenBeitrittsrundenbedeutet derVerhandlungsbeginnnicht das Ende desTransformationsprozess

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religiöser und kultureller Traditionen charakterisiert waren.Islamische Organisationen und Gemeinschaftsinstitutionen wurdenzu wichtigen Faktoren, um den türkischen Einwanderern ein Gefühlder Zugehörigkeit und Identität zu vermitteln und gleichzeitig diekulturellen, politischen und kommerziellen Verbindungen mit demUrsprungsland aufrecht zu erhalten.

Nach der Erfahrung der grossen Gemeinschaft von Euro -Türken in Deutschland zu schließen, sind Einwanderer keineswegseine homogene Gruppe und ihre Verhaltensweisen unterscheidensich beträchtlich.Viele der in Deutschland lebenden Türken habenBereitschaft gezeigt, sich in das politische, wirtschaftliche und sozialeSystem ihres neuen Heimatlandes einzugliedern. Mehr als ein Drittelerwarben die Staatsbürgerschaft und noch mehr beabsichtigen dieszu tun. Über die Jahre hat sich eine im Entstehen begriffeneMittelklasse von Eurotürken als Unternehmer in Sektoren wieTourismus, Hotellerie, Dienstleistungen, Telekommunikation undder Bauwirtschaft engagiert. Andere sind mit politischen Parteienverbunden und nehmen an deren Aktivitäten auf lokaler undnationaler Ebene teil. In der Regel erfolgt eine Integration erst in derzweiten oder dritten Generation und kann anhand von Indikatorenwie der Beherrschung der Landessprache, besserer schulischerLeistungen, einer höheren Position auf der sozio-ökonomischenLeiter, einem Anstieg „gemischter“ Ehen, dem Sinken derGeburtsraten und einem Nachlassen religiöser Praktiken gemessenwerden.

In den meisten europäischen Ländern wird dieIntegrationsfähigkeit der türkischen Gemeinschaft nicht nach denvielen Einwanderern beurteilt, die erfolgreich sind, sondern nachjenen, die scheitern. Sie sind es, die Unbehagen und Furcht auslösen,wobei die Beschwerden von mangelhafter schulischer Leistung,hoher Arbeitslosigkeit und dem Abseitsstehen von der allgemeinenGesellschaft bis zur Isolierung von Frauen, dem Tragen desKopftuches, erzwungenen Ehen und Ehrenmorden reichen. EinGrossteil dieses Verhaltens wird dem Islam und religiösenTraditionen zugeschrieben. Die latent vorhandenen Gefühle gegenEinwanderer, die durch den 11. September und andere Aktionen desfundamentalistischen Terrorismus ohnedies verstärkt wurden,werden dadurch noch weiter vertieft.

Erfreulicherweise wächst unter Regierungen und derZivilgesellschaft die Erkenntnis, dass Integration keineEinbahnstrasse ist. Ebenso wie Einwanderer sich aktiv um die

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Die Anzahl der heute in der EU lebenden türkischen Migranten wirdauf 3.8 Millionen geschätzt, von denen sich die Mehrheit (2,6Millionen) in Deutschland und beachtliche Gruppen in Frankreich,den Niederlanden, Österreich und Belgien befinden. Die großeEinwanderungswelle aus der Türkei fand in den 1960er und denfrühen 1970er Jahren statt, als der Mangel an Arbeitskräfteneuropäische Regierungen dazu veranlasste, Gastarbeiterprogrammeeinzuführen; viele der vorübergehend angestellten türkischenArbeiter liessen sich dauerhaft in den grossen Städten der Gastländernieder. Seitdem ist die Einwanderungspolitik restriktiver geworden.Die türkische Einwanderung in die EU wurde drastisch vermindertund beschränkt sich hauptsächlich auf Familievereinigung undMigration durch Heirat, neben einer Anzahl von Asylsuchenden aus der Türkei nach dem Militärcoup von 1980 und als Folgedes Kurdenproblems.

Die meisten türkischen Einwanderer waren unausgebildeteArbeiter aus den ländlichen Gegenden Anatoliens, die denzweifachen Schock der Übersiedlung vom Land in die Stadt und ausder Heimat in eine fremde Umgebung überwinden mussten. Dieserklärt zum Teil die Schwierigkeiten, die viele von ihnen bei derIntegration in die Gesellschaft des Gastlandes verspürten. Auchhingen die Zielorte der Einwanderer hauptsächlich vonNetzwerkeffekten ab, wodurch es zu starken Konzentrationentürkischer Einwanderer in spezifischen Gegenden und oft zu einerAnsiedlung von Arbeitern in Gruppen nach ihren Ursprungsortenkam.Vor allem unter der ersten Einwanderergeneration führtendiese Faktoren, zusammen mit dem Gefühl des wirtschaftlichen undsozialen Ausschlusses, zur Bildung ethnischer und religiöserEnklaven, welche durch die Betonung von Familienstrukturen, dieVerwendung der Muttersprache und einer strikten Beachtung

IV Migration und Demographie

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wird voraussichtlich mehr professionelle und besser ausgebildeteArbeitskräfte einschliessen, wodurch dieIntegrationsschwierigkeiten der einfacheren Einwanderer frühererJahre vermindert würden. Schließlich könnte die türkische EU-Mitgliedschaft zu einer größeren Mobilität der Migranten führen,wobei viele von ihnen hin und her ziehen würden, während sichandere angesichts des Wirtschaftswachstums und eineszunehmenden Wohlstands in der Türkei dazu entschließen könnten,in ihre Heimat zurückzukehren.

Tabelle 1 enthält eine Hochrechnung der demographischenEntwicklungen in der Türkei und in ausgewählten EU-Ländern.Tabelle 2 zeigt die derzeitige türkische Bevölkerung in denwichtigsten Einwanderungsländern der EU. Die Zahlen deuten an,dass angesichts der Bevölkerungsabnahme in europäischen Länderndie erwartete, relativ bescheidene Einwanderung aus der Türkeinicht nur tragbar wäre – sie könnte sogar einer der positivenwirtschaftlichen Effekte des türkischen Beitritt sein.

38

Integrierung bemühen müssen, haben die Regierungen derGastländer eine Politik zu entwickeln, die eine Integrationerleichtert. Noch wichtiger ist sogar, dass die Gesellschaft selbst sichändert und Verhaltensweisen sowie Perzeptionen überdenkt, die anFremdenhass, wenn nicht gar Rassismus grenzen. Auch muss derschmale Grat zwischen Integration und Assimilation besserverstanden werden. Die Forderung, dass Einwanderer gemeinsameuniverselle Werte annehmen, macht es nicht nötig, sie ihrer Kulturund religiösen Freiheit zu berauben.

Es ist schwierig, die Auswirkung des EU-Beitritts der Türkei aufdie Migration vorherzusagen. Diese wird von mehreren Faktorenabhängen: demographische Entwicklungen in der Türkei und derEU, die wirtschaftliche Lage zu Hause einschliesslich des relativenEinkommensniveaus, Aussichten auf Anstellung und wirtschaftlicheChancen, die ausländische Nachfrage nach Arbeitskräften und dieEntwicklung der Einwanderungspolitik europäischer Länder in denkommenden Jahren. Die Einwanderung aus benachbarten Ländernin die Türkei und die diesbezüglichen türkischen

Rechtsbestimmungen könnten ebenfalls relevantsein. Weiters ist es möglich, dass wie bei früherenErweiterungsrunden auch mit der Türkei längereÜbergangsregelungen ausgehandelt werden, durchwelche die vollständige Bewegungsfreiheit vonPersonen um mehrere Jahre nach Beitrittaufgeschoben würde. Dazu kommt, dass dieGeburtenrate der Türkei während der letzten Jahre

stark gesunken ist. Die derzeitige Fertilitätssrate(Durchschnittsanzahl der Kinder pro Frau) liegt bei 2,5 (gegenüber3,5 in den 70er Jahren) und mit steigendem Wohlstand ist einweiteres Absinken zu erwarten. Dieser Trend wird auch vomBevölkerungswachstum der Türkei bestätigt, welches laut neuestenUN Statistiken auf 1,4% gefallen ist.

Angesichts der vielen Ungewissheiten gehen die Schätzungendes Migrationspotentials der Türkei beträchtlich auseinander. Diehäufigste Prognose ergibt eine längerfristige Einwanderung von 2,7Millionen, was relativ bescheidene 0,5% der Gesamtbevölkerung derEU ausmachen würde. Allerdings ist keine gleichmäßige Verteilungder Einwanderer auf die EU Mitgliedsstaaten zu erwarten: Länderwie Deutschland, in denen sich bereits jetzt große türkischeGemeinden befinden, dürften den Hauptanteil derEinwanderungsströme erhalten. Die künftige türkische Migration

Die Einwanderung aus der Türkei könnteeine der positivenwirtschaftlichen Folgeneines türkischen Beitritt sein

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Tabelle 1: Gesamte Bevölkerung der Jahre 2003, 2015, 2025, 2050 (in tausend)

Türkei

Deutschland

Frankreich

GB

Italien

Spanien

Polen

Rumänien

Niederlande

EU 25

EU 28 (inkl.Türkei)

Türkei als % der EU 28

2003

71 325

82 467

60 144

59 251

57 423

41 06

38 587

22 33

16 149

454 187

555 743

12%

2015

82 150

82 497

62 841

61 275

55 507

41 167

38 173

21 649

16 791

456 876

567 842

14.4%

2050

97 759

79 145

64 230

66 166

44 875

37 336

33 004

18 063

16 954

431 241

552 318

17.7%

2025

88 995

81 959

64 165

63 287

52 939

40 369

37 337

20 806

17 123

454 422

570 832

15.5%

Tabelle 2: Die türkische Bevölkerung in EU Ländern (in tausend)

Quelle: UN Population Division, World Population Prospects: the 2002 Revision Quelle: Eurostat, Statistisches Bundesamt Deutschland: Turkish Studies Center, Essen 2003

Deutschland

Frankreich

Niederlande

Österreich

Belgien

GB

Dänemark

Schweden

Insgesamt

2642

370

270

200

110

70

53

37

EU naturalisiert

730

174

174

80

43

33

14

23

Türkische Nationalität

1912

196

96

120

67

37

39

14

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europäischen Durchschnitt entspricht. Das beachtlich niedrigeNiveau der direkten Auslandsinvestitionen von weniger als 1% desBIP kann der makro-ökonomischen Unbeständigkeit und denpolitischen Unsicherheiten der Türkei zugeschrieben werden, aberauch einem ungünstigen institutionellen Umfeld, welches durchbürokratische Ineffizienz und Korruption belastet ist. Für ein Landmit 70 Millionen Menschen ist das BIP der Türkei bescheiden unddas pro - Kopf Einkommen vergleichsweise niedrig: es kommtgerade jenem von Bulgarien und Rumänien nahe (siehe Tabelle 3).

In diesem Zusammenhang stellen die Einkommensunterschiedezwischen den einzelnen Regionen ein ernstes Problem dar undverursachen größere Migrationsflüsse innerhalb der Türkei. DieMarmara Region (Istanbul) hat eine Bevölkerung von 17,3Millionen und ein pro - Kopf Einkommen von 153% des türkischenDurchschnitts; die 9 Millionen Einwohner der ägäischen Regionverdienen 130% des Durschnitteinkommens; Zentralanatolien hat11,6 Millionen Einwohner mit 97% des Durchschnittseinkommens;während Ostanatoliens 8,1 Millionen Einwohner mit 28% desDurchschnitts über das niedrigste Einkommen verfügen.

Der große Agrarsektor beschäftigt 32,8% der türkischenArbeitskräfte, belastet die Steuerzahler des Landes jedoch ganzbeträchtlich. In der Vergangenheit führten Preisstützungen undverschiedene Subventionen, durch welche die Kosten von Kapital,Düngemittel, Samen, Pestizide und Wasser gesenkt wurden, zuZahlungen an die Bauern in der Höhe von ca. 5% des BIP. Diegesamte Unterstützung für die Landwirtschaft, einschliesslich hoherVerbraucherpreise wird auf 8% des BIP geschätzt. Angesichts derWTO Bestimmungen, des IWF Programms und der Aussicht aufEU-Beitritt wird die türkische Agrarpolitik nunmehr allmählichreformiert. Preisstützungen und Subsidien werden stufenweiseeingestellt und durch Direktzahlungen an die Bauern, berechnetnach der Flächengröße, ersetzt. Einfuhrzölle werden gesenkt undStaatsunternehmen im Agrarsektor privatisiert. Falls die Reformenzum Abschluss gebracht werden, wird die Türkei eine ähnlicheAgrarpolitik haben wie die Gemeinsame Agrarpolitik der EU.

Der Aussenhandel der Türkei ist während der letzten Jahreständig gestiegen und reflektiert somit die anhaltendeWirtschaftserholung und die im Gang befindliche Neuorientierungder Industrie auf die Exportmärkte. EU-Länder waren diewichtigsten Handelspartner, mit einem Anteil von 52% der Exporteund 46% der Importe. Parallel zum Anstieg des Handelsvolumen

Die lange Geschichte makro-ökonomischer Instabilität der Türkeigipfelte in der finanziellen Krise 2001, deren Hauptursachenmangelhaftes öffentliches Finanzmanagement und ein anfälligesBankensystem waren. Sie führte zu einem Fall des türkischen BIPvon 7,5%, dem Anstieg der Zinssätze bis auf 400%, einer starkenGeldentwertung und öffentlichen Schulden in der Höhe von mehrals 90% des BIP. Für die türkische Wirtschaft war diese Krise einernster Rückschlag; sie zeigte aber auch ihre Widerstandskraft,Dynamik und Flexibilität. Auf Grund eines vom InternationalenWährungsfond unterstützten weitreichenden Reformprogramms,welches unter anderem eine Sanierung des Bankensystems, dieUnabhängigkeit der Zentralbank, die Schließung zahlreicher außer-budgetärer Fonds, flexible Wechselkurse, eine strengeSteuerpolitik und neue gesetzliche Rahmen für den Energiesektor,die Landwirtschaft, Zivilluftfahrt und Telekommunikation vorsah,fand eine rasche Erholung statt. Innerhalb eines Jahres stieg dasWachstum wieder auf über 7%, die Inflationsrate sank beträchtlich,das Verhältnis von Schulden zum BIP nahm ab, die türkische Liragewann ihren Wert zurück und die Grundlagen für einennachhaltigen Wirtschaftsaufschwung waren geschaffen.

Trotz dieser positiven Entwicklungen bleibt noch viel zu tun,um die vielen Schwächen und Ungleichgewichte zu beseitigen, unterwelchen die türkische Wirtschaft weiterhin leidet. ÖffentlicheSchuld und Budgetdefizit sind mit 87,4% bzw. 8,8% noch immersehr hoch und liegen weit über den Vorgaben der MaastrichterKriterien. Das Gleiche gilt für Zinssätze, während die Inflation amEnde des Jahres 2003 auf 18,4% gefallen ist (mit weiter sinkenderTendenz in 2004) und die Arbeitslosigkeit mit 10,8% dem

V Die Wirtschaft

Sicherung der Stabilität

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erhöhte sich das Außenhandelsdefizit der Türkei erheblich, zum Teilwettgemacht durch eine starke Leistung des Dienstleistungssektors(vor allem des Tourismus mit einem Rekordhoch von 14 Millionenausländischen Besuchern im Jahr 2003).

Aufgrund des geringen Volumen der türkischen Wirtschaft –derzeit weniger als 2% des BIP der EU – würde ein Beitritt der Türkeinur geringe Auswirkungen auf die Wirtschaft der Union haben.Für die Türkei andererseits wären die Folgen beträchtlich und imhöchsten Masse vorteilhaft. Schätzungen zufolge könnten der volle Zugang zum gemeinsamen Markt, einschließlich der in dieZollunion von 1996 nicht einbezogenen Agrarprodukte sowie dieAbschaffung administrativer und technischer Handelshindernissezu einem Anstieg des bilateralen Handels um 40% führen. Einverbessertes Investitionsklima, hervorgerufen durch dieVerankerung der türkischen Wirtschaft in einem stabilen System,würde heimischen und Auslandsinvestitionen einen starken Auftriebgeben und zur Schaffung von Arbeitsplätzen sowie einem höherenWirtschaftswachstum führen.

Nach den Erfahrungen früherer Beitrittsländer zu urteilen,würde ein großer Teil der positiven Auswirkungen einer künftigenEU-Mitgliedschaft schon mit Aufnahme der Verhandlungen spürbarwerden. Darüber hinaus würde der Beitrittsprozess die türkischeRegierung dazu motivieren, die institutionellen und strukturellenReformen fortzusetzen und ein rigoroses Wirtschaftsregime in engerZusammenarbeit mit der EU und dem IWF aufrechtzuerhalten.Derzeitige wirtschaftliche Risiken und politische Unsicherheitenwürden dadurch vermindert und das Vertrauen in die nachhaltigeStabilität der türkischen Wirtschaft gestärkt werden.

Wirtschaftliche Indikatoren im Vergleich

Tabelle 3 vergleicht die Wirtschaftsleistung der Türkei mit jener derzwei Beitrittskandidaten Bulgarien und Rumänien, sowie der EU-10(neue Mitgliedstaaten) und EU-25. Hierbei werden Daten des Jahres2003 verwendet. Die Türkei erreichte ein ausgezeichnetes Ergebnisim Bereich des längerfristigen Wachstums (2003 verglichen mit1995), in Bezug auf das Handelsdefizit, welches relativ gering war,und der fast ausgeglichenen Leistungsbilanz. Letzteres ist beachtlichund deutet darauf hin, dass das relativ hohe Preisniveau der Türkei(das bei 50% des EU-Durchschnitts liegt) der Wettbewerbsfähigkeitder realen Wirtschaft nicht geschadet hat.

Die Daten der Türkei bezüglich Haushaltsdefizit undBruttoverschuldung des öffentlichen Sektors waren bedeutendschlechter, während die Arbeitslosigkeit sich nicht wesentlich vomDurchschnitt der anderen Länder unterschied.

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Wirtschaftliche Leistung

BIP zum Wechselkurs

BIP zu Kaufkraftparität

Pro Kopf

BIP Wachstum zu 2002

BIP Wachstum zu 1995

Öffentlicher Sektor (konsolidiert) in % des BIP

Haushaltsüberschuss

Brutto Verschuldung

Nominelle Stabilität

Inflationsrate (Verbraucherpreise), Jahresende

Relatives Preisniveau

Arbeitsmarkt

Arbeitsplätze, 2002

Anteil der Landwirtschaft

Anteil der Industrie

Anteil der Dienstleistungen

Arbeitslosenrate

Monatl. Abgeltung, Angestellte zum Wechselkurs

Monatl. Abgeltung, Angestellte zur Kaufkraftparität

Außenhandel, Leistungsbilanz und

Direkte Auslandsinvestitionen

Güterexporte in % des BIP

Güterimporte in % des BIP

Güterbilanz in % des BIP

Leistungsbilanz in % of BIP

Direkte Auslandsinvestitionen

(herein) pro Kopf, 2002

Einheit

Mrd. Euro

Mrd. Euro

Euro

%

%

%

%

%

EU-15=100

Mn personen

%

%

%

%

Euro

Euro

%

%

%

%

Euro

Bulgarien

17.6

52.9

6761

4.3

9.3

0

46.2

5.6

33

2.7

9.6

32.7

57.7

13.7

145

439

37.9

50.4

-12.5

-8.5

450

Romänien

50.4

152.5

7030

4.9

9.0

-2.3

21.8

14.1

33

9.2

36.5

29.5

34.0

8.0

179

542

31.0

38.9

-7.9

-5.8

376

EU-25

9732.6

10172.9

22278

0.9

18.8

-2.7

63.1

96

199.3

5.4

25.9

68.7

9

2543

2658

6089

EU-10

437.6

878.00

11839

3.6

32.9

-5.7

42.2

50

28.8

13.0

31.7

55.3

14.3

739

1483

1937

Türkei

212.3

443.3

6256

5.8

28.0

-8.8

87.4

18.4

48

20.1

32.8

23.9

43.3

10.8

534

1116

22.0

26.6

-4.6

-0.8

267

1

2

3

3

Tabelle 3: Ein Vergleich wirtschaftlicher Indikatoren ( 2003)

1 Türkei und die EU: BIP Konzept ie. einschließlich indirekter Arbeitskosten; Bulgarien, Rumänien:

monatliche Bruttogehälter, laut nationalen Statistiken.

2 Malta und Zypern ausgeschlossen.

3 Jahr 2002.

Quellen: wiiw Datenbank, AMECO, IMF, Eurostat, Employment in Europe 2003, European

Commission: Economic Forecast, Spring 2004.

Tabelle 4 vergleicht die wirtschaftliche Lage der Türkei 2003 mitjener von Bulgarien, Rumänien, Polen und Slowenien am Vorabendihrer Beitrittsverhandlungen (1999 für Bulgarien und Rumänien,und 1997 für Polen und Slowenien). Dieser Ansatz erlaubt einenVergleich der Anfangsbedingungen und zeigt, dass die Lage der

Türkei grundsätzlich nicht schlechter ist als jene deranderen Beitrittsänder. Das BIP pro Kopf nachKaufkraftparität, ein wichtiges Indiz für denEntwicklungsstand eines Landes, lag zwischen jenemvon Bulgarien und Polen, wenn auch halb so hoch wieSlowenien. Das Haushaltsdefizit als Prozentsatz des

BIP war in der Türkei viel höher als in den anderen Ländern,während die öffentliche Verschuldung zwar hoch war, jedoch nichtwesentlich schlechter als in Bulgarien. In Rumänien war hingegendie Inflation viel höher.

Die Beschäftigungszahlen zeigen, dass der Anteil derLandwirtschaft am BIP in der Türkei 2003 sehr hoch war, aberbedeutend niedriger als in Rumänien im Jahr 1999. Auch dieArbeitslosigkeit befand sich innerhalb der „Norm“. DieLeistungsbilanz der Türkei ist besser als jene Bulgariens, Polens undRumäniens im Jahr vor der Verhandlungsaufnahme. Schließlichunterscheidet sich die Türkei hinsichtlich der direktenAuslandsinvestitionenen pro Kopf nicht von den anderen Ländern.

Diese Vergleiche vermitteln den Eindruck, dass die Türkei vomwirtschaftlichen Standpunkt aus gesehen im Verhältnis zuderzeitigen und früheren Beitrittskandidaten keineswegs aus demRahmen fällt. Die jüngsten Daten bestätigen im übrigen denpositiven Trend der türkischen Wirtschaftsindikatoren. MorganStanley Dean Witter berichtet, dass die Türkei im ersten Viertel desJahres 2004 auf Grund von Verbesserungen der Produktivität mit10,1% (Jahr zu Jahr) eine der höchsten Wachstumsraten des BIPverzeichnen konnte. Gleichzeitig fiel die Inflation, laut Institut fürStatistik, um mehr als die Hälfte auf 8,9%.

Die jüngsten Datenbestätigen den positivenTrend der türkischenWirtschaftsindikatoren

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BIP pro Kopf (zu Kaufkraftparität)

BIP Wachstumsrate (zu stabilen Preisen)

Öffentl. Sektor (konsolidiert): Haushaltsüberschuss

(EU-Def.) in % des BIP

Öffentlicher Sektor: Brutto Verschuldung

(EU-Def.), in % des BIP

Inflationsrate (Verbraucherpreise), Jahresende

Anteile der gesamten Arbeitsplätze:

Landwirtschaft

Industrie

Dienstleistungen

Arbeitslosenrate

Güterbilanz in % of BIP

Leistungsbilanz in % des BIP

Direkte Auslandsinvestitionen (herein) pro Kopf

Einheit

Euro

%

%

%

%

%

%

%

%

%

%

Euro

Rumänien

1999

4980

-1.2

-1.9

24.0

54.8

41.8

27.6

30.7

6.8

-3.5

-4.0

243

Polen

1997

7410

6.8

-2.6

44.0

13.2

20.5

31.9

47.5

11.2

-0.5

-4.0

342

Slowenien

1997

12600

4.8

-1.2

21.6

8.8

12.7

40.1

47.2

7.4

-0.1

0.2

1007

Bulgarien

1999

5120

2.3

-0.9

79.3

7.0

25.8

28.9

45.4

15.7

-2.2

-4.8

292

Türkei

2003

6256

5.8

-8.8

87.4

18.4

32.8

23.9

43.3

10.8

-4.6

-0.8

2673

2

2

2

1 1 1

1

Tabelle 4: Ein Vergleich der wirtschaftlichen Ausgangspositionen:Türkei, Bulgarien, Rumänien, Polen, Slowenien

Ausgewählte wirtschaftliche Indikatoren im Vorjahr des Beginns der Beitrittsverhandlungen

1 Nationale Definition.2 Registrierungsdaten.3 Jahr 2002.

Quellen: wiiw Datenbanken, AMECO, IMF, Eurostat, Employment in Europe 2003, European Commission: Economic Forecast,Spring 2004.

Die Unabhängige Türkei-Kommission ist der Meinung, dass dieBeitrittsverhandlungen eröffnet werden sollen, sobald die Türkei diepolitischen Kriterien von Kopenhagen erfüllt hat. Ein weitererAufschub würde die Glaubwürdigkeit der EU beschädigen und alsVerstoss gegen den allgemein anerkannten Grundsatz von „pactasunt servanda“ (Verträge sind zu erfüllen) angesehen werden. Die

Türkei, andererseits, muss akzeptieren, dass eineErfüllung der politischen Kriterien dieImplementierung aller vom Parlamentverabschiedeten Gesetze einschließt. DieBeitrittskriterien sind für alle Kandidatenländergleich und es kann keine Ausnahme in einzelnenFällen geben. Ebenso verlangt es die Fairness, dass

kein Kandidatenstaat strengeren Bedingungen unterworfen wird, alsandere. Es obliegt nunmehr der Europäischen Kommission, zubeurteilen, ob die Einhaltung der Kriterien von Kopenhagen durchdie Türkei jene kritische Masse erreicht hat, die für eine Empfehlungzur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen notwendig ist.

Was die europäischen Referenzen der Türkei betrifft, ist sie alsein eurasisches Land anzusehen, dessen Kultur und Geschichte engmit Europa verbunden ist, mit einer starken europäischenOrientierung und einer europäischen Berufung, die seit Jahrzehntenvon den Regierungen Europas akzeptiert wird. Darin unterscheidetsich die Türkei grundlegend von Ländern in der NachbarschaftEuropas, sowohl in Nordafrika wie im Mittleren Osten. Ihr Beitrittzur Europäischen Union würde daher nicht notwendiger Weise alsModell für die Beziehungen der Union mit diesen Staaten dienen.Grundsätzliche Einwände gegen die Einbeziehung der Türkei in deneuropäischen Integrationsprozess hätten 1959 vorgebracht werden

Schlussfolgerungen

1

2

Beitrittsverhandlungensollen eröffnet werden,sobald die Türkei diepolitischen Kriterien vonKopenhagen erfüllt hat

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sollen, als sie den ersten Antrag stellte, 1987, als sie sich zum zweitenMal bewarb oder 1999, bevor die Türkei den Kandidatenstatuserhielt. Keine Regierung kann behaupten, dass dieseEntscheidungen, einschliesslich der Schlussfolgerungen desEuropäischen Rates von Kopenhagen 2002 über dieBeitrittsverhandlungen, nicht in voller Kenntnis aller Umständegefällt wurden.

Bei der vom Europäischen Rat im Dezember zu treffendenEntscheidung geht es nicht um die Mitgliedschaft der Türkei in derEU, sondern um die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen. Dauer

und Ergebnis werden vor allem von Fortschritten beiwirtschaftlichen Kriterien und dem ‚acquiscommunautaire’ abhängen. Angesichts des Ausmaßesder Schwierigkeiten, welchen sich ein so großes undkomplexes Land gegenübersieht, sowie derNotwendigkeit einer Konsolidierung der Union nachAufnahme von zehn neuen Mitgliedstaaten, ist davonauszugehen, dass der Verhandlungsprozess längere

Zeit in Anspruch nehmen wird. Diese Periode bietet beiden Seitendie Möglichkeit, die dringendsten Probleme in Angriff zu nehmenund allfällige negative Effekte eines türkischen Beitrittsabzuschwächen. In anderen Worten, zum Zeitpunkt einerendgültigen Entscheidung werden sich sowohl die Türkei als auchdie Europäische Union grundlegend verändert haben.

Ein türkischer Beitritt würde sowohl der Europäische Union als auch der Türkei erhebliche Vorteile bieten. Für die Union wärendie einzigartige geopolitische Lage der Türkei an der Schnittstellevon Balkan, Mittlerem Osten, Südkaukasus, Zentralasien unddarüber hinaus, ihre Bedeutung für die Sicherheit von EuropasEnergieversorgung und ihr politisches, wirtschaftliches undmilitärisches Gewicht ein großer Gewinn. Darüber hinaus könntedie Türkei als ein fest in der Europäischen Union verankertesmuslimisches Land eine maßgebliche Rolle in den BeziehungenEuropas mit der islamischen Welt spielen.

Für die Türkei wäre der EU-Beitritt die endgültige Bestätigung,dass ihre Jahrhunderte alte Ausrichtung auf den Westen richtig warund dass sie von Europa endlich akzeptiert wird. Die EU-Mitgliedschaft würde auch sicherstellen, dass die Transformation des Landes in eine moderne demokratische Gesellschaft irreversibel

3

4

Bei der Entscheidung imDezember geht es nichtum die Mitgliedschaftder Türkei, sondern um die Aufnahme vonBeitrittsverhandlungen

geworden ist und die Türkei ihren Reichtum an menschlichen undwirtschaftlichen Ressourcen nunmehr voll ausschöpfen kann.Ein Scheitern des türkischen Beitrittsprozesses würde nicht nureinen Verlust wichtiger Chancen für beide Seiten bedeuten. Eskönnte auch zu einer ernsten Identitätskrise der Türkei führen undpolitische Unruhen sowie Instabilität an der Schwelle der Union zurFolge haben.

Trotz ihrer Größe und besonderen Charakteristika, undobwohl ihre Mitgliedschaft zweifellos dazu angetan wäre, dieHeterogenität der Union zu verstärken, ist es unwahrscheinlich,

dass die Türkei die Europäische Union und ihreInstitutionen grundlegend verändern würde.Ein türkischer Beitritt könnte die bestehendenMeinungsverschiedenheiten über die Zukunft derIntegration zwar akzentuieren, würde aber keinequalitative Veränderung der Debatte hervorrufen.Es sollte auch nicht übersehen werden, dass der

Entscheidungsprozess in der EU ständig wechselnden Allianzenunterliegt, und dass der politische Einfluss von Mitgliedstaatenmindestens ebenso sehr vom wirtschaftlichen Gewicht als vonGröße und Bevölkerungszahl abhängt.

Was die Kosten einer Mitgliedschaft der Türkei betrifft, ist es wahrscheinlich, dass sie über viele Jahre hinweg finanzielleUnterstützung von Seiten der Europäischen Union beanspruchenwird. Die Höhe der Transfers hängt allerdings von den Finanzpolitiken der EU und der Wirtschaftslage der Türkei zum Zeitpunkt des Beitritts ab.

Ein gewisses Problem könnte in einigen europäischen Ländernim Zusammenhang mit der Ratifizierung eines türkischenBeitrittsvertrages entstehen, falls der öffentliche Widerstandanhalten und die Regierungspolitik weiterhin von der öffentlichenMeinung abweichen sollte. Dieses Problem muss in einergemeinsamen Anstrengung der betroffenen Regierungen, derTürkei und der Europäischen Kommission angegangen werden.

Die beste Antwort auf die in Teilen Europas bestehendenÄngste betreffend unterschiedlicher religiöser und kulturellerTraditionen sowie das Gefühl einer Gefahr, dass die Türkei einfundamentalistischer Muslimstaat werden könnte, liegt wohl darin,die Fortsetzung des Transformationsprozesses sicherzustellen und das seit Jahrzehnten bestehende säkulare politische System der

5

Es ist unwahrscheinlich,dass die Türkei die EUund ihre Institutionengrundlegend verändernwürde

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auszugehen, dass die Einwanderung aus der Türkei relativbescheiden sein wird. Und dies zu einem Zeitpunkt, in dem derRückgang und die Veralterung der Bevölkerung in vieleneuropäischen Ländern zu einem ernsten Arbeitskräftemangel führenund die Einwanderung daher zu einer wesentlichen Voraussetzungfür die Aufrechterhaltung des derzeitigen großzügigen Sozialsystemsmachen würde.

Da die türkische Mitgliedschaftsfähigkeit in der EU in denvergangenen Jahrzehnten bei vielen Gelegenheiten bestätigt wurde, hat die Türkei allen Grund zur Erwartung, in der Unionwillkommen zu sein, – vorausgesetzt, sie erfüllt dieBeitrittsbedingungen. Die Unabhängige Türkei-Kommission istdaher der tiefen Überzeugung, dass die Türkei von der EuropäischenUnion in dieser Frage mit allem gebotenen Respekt, mit Fairness und Rücksicht behandelt werden muss.

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Türkei durch eine feste Verankerung in der Union europäischerDemokratien zu schützen.

Die beispiellosen Reformbemühungen der türkischenRegierung und die breite Unterstützung einer EU - Mitgliedschaftdurch die türkische öffentliche Meinung dürfen nicht darüberhinwegtäuschen, dass die umfassende Transformation despolitischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Systems für dieTürkei eine ungeheure Aufgabe darstellt. Es wäre falsch, den latentenWiderstand gegen so tief greifende Veränderungen in vielen Teilender türkischen Gesellschaft zu unterschätzen. Die Fortführung derReformen wird sohin in hohem Masse davon abhängen, ob dieDynamik des Beitrittprozesses aufrecht erhalten werden kann.

Die Wirtschaft der Türkei war traditionell von makro-ökonomischer Instabilität und strukturellen Schwächen geplagt, vondenen manche auch heute noch fortbestehen. Die Krise des Jahres2001 hat allerdings die Widerstandskraft der türkischen Wirtschaftgezeigt und zu einer raschen Erholung sowie weitreichendenReformen der institutionellen und rechtlichen Rahmenbedingungengeführt. Es ist nunmehr von ausschlaggebender Bedeutung, dass dietürkische Regierung den wirtschaftlichen Reformprozess in engerZusammenarbeit mit dem IWF und der EU weiterführt.

Angesichts der Größe des Landes, seiner geographischen Lage und der jungen, dynamischen Arbeitskräfte ist dasWirtschaftspotential der Türkei unbestreitbar. Es ist ebensooffensichtlich, dass die EU-Mitgliedschaft und die dadurchgegebene feste Verbindung mit einem stabilen System für dietürkische Wirtschaft von größtem Vorteil wäre. Schon allein dieEröffnung der Beitrittsverhandlungen würde das Vertrauen in diewirtschaftliche Stabilität der Türkei beträchtlich stärken.

Der Migrationsdruck aus der Türkei, welcher in einigenLändern Sorge hervorruft, würde von mehreren Faktoren abhängen,darunter vor allem die wirtschaftlichen und demographischenEntwicklungen sowohl in der Türkei als auch in der EuropäischenUnion. Die Freizügigkeit der Arbeitskräfte dürfte erst nach einerlängeren Übergangszeit zur Anwendung kommen, sodass dieRegierungen während vieler Jahre nach dem türkischen Beitritt dieKontrolle über Einwanderung beibehalten könnten. Auf Grundlageder Erfahrungen früherer Erweiterungsrunden ist davon

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British CouncilDas British Council ist die internationale Organisation Großbritanniensfür kulturelle Beziehungen mit dem Ziel, beiderseits förderlicheBeziehungen zwischen der Bevölkerung Großbritanniens und anderenLändern zu schaffen.www.britishcouncil.org

OSIDas Open Society Institute, eine private und ausbildungsförderndeStiftung, ist in über 60 Ländern tätig. Sein Ziel ist es, die öffentlicheUnterstützung bei der Verbreitung demokratischer Staatsführung,den Menschenrechten sowie wirtschaftlicher, rechtlicher und sozialerReformen zu verstärken.www.soros.org

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Die „Kriterien von Kopenhagen“ ( aus den Schlussfolgerungen desEuropäischen Rates von Kopenhagen, 21-22 Juni 1993):

„Als Voraussetzung für die Mitgliedschaft muss der Beitrittskandidateine institutionelle Stabilität als Garantie für demokratische undrechtsstaatliche Ordnung, für die Wahrung der Menschenrechtesowie die Achtung und den Schutz von Minderheiten verwirklichthaben; sie erfordert ferner eine funktionsfähige Marktwirtschaftsowie die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräfteninnerhalb der Union standzuhalten. Die Mitgliedschaft setzt fernervoraus, dass die einzelnen Beitrittskandidaten die aus einerMitgliedschaft erwachsenden Verpflichtungen übernehmen und sich auch die Ziele der politischen Union sowie der Wirtschafts –und Währungsunion zu eigen machen können.

Die Fähigkeit der Union, neue Mitglieder aufzunehmen, dabeijedoch die Stosskraft der europäischen Integration zu erhalten, stelltebenfalls einen sowohl für die Union als auch für dieBeitrittskandidaten wichtigen Gesichtspunkt dar.“