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Bernhard E. Bürdek Vom Mythos des Funktionalismus In: Vom Mythos des Funktionalismus. 1997. Franz Schneider Brakel (Hg.). Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König. S. 7-16. Veröffentlichung auf der Homepage des Studienbereichs Industrial Design der hgkz mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers. Alle © bei Franz Schneider Brakel. Kaum ein Begriff hat die Debatte des Designs im 20. Jahrhundert derart dominiert wie der des Funktionalismus. Seit den 20er Jahren – also seit der Zeit des Bauhauses in Weimar und Dessau – wurde mit dem Begriff "funktional" eine Produktkultur beschrieben, die zwar in Deutschland schon überwunden ist oder gar bereits vergessen zu sein scheint, die aber im Ausland immer noch das Bild des deutschen Designs prägt. Es ist dort weitgehend unbemerkt geblieben, daß im Lande Goethes und Beethovens in den 80er Jahren ein Designbegriff korrumpiert wurde, der bis dahin die Identität der Produktgestaltung ausmachte. Dem vermeintlich "neuen deutschen Design" (1), das sich insbesondere durch seine radikalen Attacken gegen den Funktionalismus profiliert hat, ist es allerdings nicht gelungen, etwas dauerhaft Neues zu entwickeln. Gegen etwas zu sein, ist eben nur die eine Seite der Medaille. Die große Chance, das neue deutsche Design mit den sich rasant entwickelnden neuen Technologien (gemeint sind die sogenannten C-Technologien wie zum Beispiel Computer Aided Design oder Computer Aided Manufacturing) zu verbinden, wurde noch nicht einmal ansatzweise erkannt, geschweige denn auch nur experimentell versucht. "Die deutsche Schule der Schweißer und Black & Decker-Werkler", wie sich Layla Dawson (2) einmal sarkastisch ausdrückte, war eben weitgehendst technologiefeindlich eingestellt. Die Krönung ihres gestalterischen Handelns sahen ihre Protagonisten dann erreicht, wenn ihre noch lackfeuchten Produkte den Weg in ein Kunstgewerbemuseum gefunden hatten. Nun geht es mir hier nicht darum, erneut das Hohelied des Funktionalismus anzustimmen. Diese Melodie und alle Refrains kennen wir zu gut. Auch möchte ich keinesfalls die schon oft erzählte Geschichte des Funktionalismus repetieren. Hierzu gibt es genügend Publikationen, auf die ich verweisen kann (3). Vielmehr scheint es mir reizvoll zu sein, einfach einmal ganz weit zurückzuschauen – also der Frage nachzugehen, was Funktionalismus einmal war.

Mythos Des Funktionalismus

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Kunst; Funktionalismus; 20. Jahrhundert; Modernismus

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Bernhard E. Bürdek Vom Mythos des Funktionalismus In: Vom Mythos des Funktionalismus. 1997. Franz Schneider Brakel (Hg.). Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König. S. 7-16. Veröffentlichung auf der Homepage des Studienbereichs Industrial Design der hgkz mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers. Alle © bei Franz Schneider Brakel.

Kaum ein Begriff hat die Debatte des Designs im 20. Jahrhundert derart dominiert wie der des

Funktionalismus. Seit den 20er Jahren – also seit der Zeit des Bauhauses in Weimar und

Dessau – wurde mit dem Begriff "funktional" eine Produktkultur beschrieben, die zwar in

Deutschland schon überwunden ist oder gar bereits vergessen zu sein scheint, die aber im

Ausland immer noch das Bild des deutschen Designs prägt. Es ist dort weitgehend unbemerkt

geblieben, daß im Lande Goethes und Beethovens in den 80er Jahren ein Designbegriff

korrumpiert wurde, der bis dahin die Identität der Produktgestaltung ausmachte.

Dem vermeintlich "neuen deutschen Design" (1), das sich insbesondere durch seine radikalen

Attacken gegen den Funktionalismus profiliert hat, ist es allerdings nicht gelungen, etwas

dauerhaft Neues zu entwickeln. Gegen etwas zu sein, ist eben nur die eine Seite der Medaille.

Die große Chance, das neue deutsche Design mit den sich rasant entwickelnden neuen

Technologien (gemeint sind die sogenannten C-Technologien wie zum Beispiel Computer

Aided Design oder Computer Aided Manufacturing) zu verbinden, wurde noch nicht einmal

ansatzweise erkannt, geschweige denn auch nur experimentell versucht. "Die deutsche Schule

der Schweißer und Black & Decker-Werkler", wie sich Layla Dawson (2) einmal sarkastisch

ausdrückte, war eben weitgehendst technologiefeindlich eingestellt. Die Krönung ihres

gestalterischen Handelns sahen ihre Protagonisten dann erreicht, wenn ihre noch lackfeuchten

Produkte den Weg in ein Kunstgewerbemuseum gefunden hatten.

Nun geht es mir hier nicht darum, erneut das Hohelied des Funktionalismus anzustimmen.

Diese Melodie und alle Refrains kennen wir zu gut. Auch möchte ich keinesfalls die schon oft

erzählte Geschichte des Funktionalismus repetieren. Hierzu gibt es genügend Publikationen,

auf die ich verweisen kann (3). Vielmehr scheint es mir reizvoll zu sein, einfach einmal ganz

weit zurückzuschauen – also der Frage nachzugehen, was Funktionalismus einmal war.

2

Allenthalben wird ja das Ende der Welt der Gegenstände proklamiert. Man erzählt uns, daß

wir im Zeitalter des Digitalen, der Entmaterialisierung oder gar bereits der virtuellen Realität

leben. Aber diese Behauptungen sind genauso widersprüchlich wie die benutzten Begriffe.

Entweder ist nämlich das Jetzt real oder virtuell. Beides zusammen kann es nicht sein.

Verschwinden wir also bereits im Cyberspace, wie uns die Apologeten der "Beschleunigten

Neuen Medien", wie Florian Rötzer und Norbert Bolz, permanent glaubhaft machen wollen,

oder bleiben doch noch ein paar Gegenstände übrig? Ich will versuchen, diese und andere

Fragen zu beantworten und dabei relativ geschwind durch die Zeiten zu eilen. Der

Funktionalismus galt, zumindest im deutschsprachigen Raum, über Jahrzehnte hinweg als das

erkenntnistheoretische Credo des Designs. Insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg

begründete sich darauf das "Prinzip der Guten Form". Daß dabei die Form immer nur

funktional verstanden wurde, rührte wohl vom schlechten Gewissen mancher Designer her.

Sie fürchteten, als "Frisöre" zu gelten, wie sie Max Bill später einmal bezeichnete. Die

Formgebung allein reichte eben nicht aus, lag sie doch zu nahe an der kunstgewerblichen

Tradition, die man abschütteln wollte. Daß aber Formgebung auch Sinngebung bedeuten

könnte, für diese Erkenntnis war die Zeit noch nicht reif genug.

Wie sehr die Funktion die Form bestimmen kann, zeigte sich in eindrucksvoller Weise an den

Entwurfsbeispielen der Ulmer Hochschule für Gestaltung. Die akribisch durchgeführten

Funktionsanalysen führten zu weitestgehend ähnlichen formalen Lösungen. Die Ausnahme

bildeten die Projekte Walter Zeischeggs, der seine bildhauerische Tradition nie verleugnete.

Der Begriff "Funktion" ist mehrdeutig. Die allgemeine Bedeutung des Wortes meint laut

Brockhaus-Enzyklopädie (19. Auflage) "Aufgabe, Tätigkeit, Stellung (innerhalb eines

größeren Ganzen)", womit eigentlich schon deutlich wird, daß es sich um eine Beziehung

handelt.

Zum Begriff des "Funktionalismus" heißt es im Brockhaus: "Gestaltungsprinzip der modernen

Architektur und des modernen Designs: Die Erscheinungsform eines Bauwerkes oder eines

Gebrauchsgegenstandes wird aus seiner Funktion abgeleitet, das heißt, alle Teile eines Baues

oder eines Produktes werden ihrem Zweck entsprechend gestaltet. Form und Funktion sollen

eine Einheit bilden."

3

Diese enge Begriffsbestimmung des Funktionalismus führte zu einer gravierenden

Fehleinschätzung. Die Debatte hierzu kann aber als abgeschlossen gelten. Das Schlagwort

"form follows..." ist in der postmodernen Beliebigkeit seiner vielfachen Abwandlungen zur

Platitüde verkommen:

Ron Arad: Form follows motion Elizabeth Garouste/Mattia Bonetti: Form follows impression

GINBANDE: Form follows concept Konstantin Grcic: Form follows addition Massimo losa

Ghini: Form follows speed Danny Lane: Form follows crash Xavier Mariscal: Form follows

comic Jasper Morrison: Form follows utilism Marc Newson: Form follows streaming Denis

Santachiara: Form follows animation Borek Sipek: Form follows poetry Philippe Starck:

Form follows STARCK ZEUS: Form follows strength (4)

Das 20. Jahrhundert neigt sich dem Ende zu. Der Funktionalismus starb bereits zu Beginn der

80er Jahre. Die Moderne wurde gleich mitbegraben. Die Postmoderne übernahm die Regie

und proklamierte die Endzeit: das Ende der Geschichte, das Ende der Philosophie, das Ende

der Kunst, das Ende der Musik, das Ende der Literatur... Überall geht es wohl zu Ende – ein

guter Grund mehr, noch einmal zurückzublicken.

Zum Thema des Funktionalismus reicht es jedoch nicht, auf den Beginn dieses Jahrhunderts

zurückzuschauen. Der Blick muß weiter zurückreichen. Und da es das Design ja noch gar

nicht so lange gibt, möchte ich den Versuch unternehmen, das Thema des Funktionalismus

mit Hilfe "der Mutter aller Künste" – der Baukunst – neu auszuleuchten. Schließlich wurde –

und wird – ein Großteil der Designgeschichte von Architekten geschrieben. Ob früher Louis

H. Sullivan, Peter Behrens, Walter Gropius, Ludwig Mies van der Rohe, Frank Llyod Wright,

Charles Eames oder heute Mario Botta, Hans Hollein, Alessandro Mendini, Ettore Sottsass jr.,

Stefan Wewerka und viele andere mehr: Meistens waren und sind es Architekten, die

entscheidende Beiträge zum Design geleistet haben.

Konsequenterweise habe ich mir als Führer durch die Jahrhunderte einen Architekten

ausgewählt. Genauer gesagt, einen der berühmtesten Baumeister der Antike, der zugleich

einer der besten Architekturhistoriker aller Zeiten war: Marcus Vitruvius Pollio, kurz Vitruv

genannt. Mit seiner Hilfe will ich versuchen, das Thema "Funktionalismus" durch die vier

Antiken zu verfolgen, um den drei Modernen zu münden.

4

Die Ursprünge des funktionalen Bauens bei Vitruv

Authentische Nachrichten über Vitruvs Leben liegen nicht vor. Man nimmt heute an, daß er in

der Zeit von 80 bis 10 vor Christus in Rom gelebt hat. Er diente dem Kaiser Augustus als

Künstler, Ingenieur und Kriegsbaumeister und muß viel in der damals bekannten Welt

herumgereist sein, kannte er doch die Geschichte und Bedeutung der unterschiedlichsten

Bauwerke.

Vitruv war ein universeller Geist. Seine Persönlichkeit wird heute mit der Leonardo da Vincis

verglichen, der gern als "Urahn des Designs" (5) apostrophiert wird. Wie viele Bauwerke er

geplant hat, ist nicht bekannt. Nachgewiesen ist lediglich eine Basilika in Fanum am

Adriatischen Meer. Die eigentliche Bedeutung Vitruvs beruht denn auch auf seinen

Aufzeichnungen, die zu den ältesten überlieferten Schriften der Architektur gehören.

Seine "Zehn Bücher über die Baukunst" sind als ein umfassendes Regelwerk zu verstehen.

Zwei Zahlen unterstreichen die zentrale Bedeutung dieses Mannes und seines Werkes für die

Geschichte der Architektur: Heute noch existieren 55 Handschriften der "Zehn Bücher", deren

älteste bis ins 9. Jahrhundert zurückreichen, und bis heute sind ungefähr 80 vollständige

Neuausgaben in allen europäischen Sprachen erschienen.

Im ersten Kapitel des ersten Buches beschreibt Vitruv das "Wesen der Baukunst und die

Ausbildung der Baumeister" – und er stellt hohe Ansprüche. Das Können der Architekten

müsse zwei Gebiete umfassen, nämlich Praxis und Theorie. Nur wer beide im gleichen Maße

beherrsche, erreiche sein Ziel, und zwar schneller und mit größerem Erfolg. Ein Architekt

müsse – so Vitruv künstlerisch wie auch wissenschaftlich interessiert sein. Denn weder Talent

ohne Wissen noch Wissenschaft ohne Talent könne einen gereiften Künstler hervorbringen.

Auch solle der Architekt sprachlich gewandt sein, zeichnen können, die Geometrie

beherrschen sowie die Gesetze des Sehens und der Mathematik. Er solle geschichtliche und

philosophische Kenntnisse besitzen, einiges von der Musik (Akustik) verstehen und die

Heilkunde (Hygiene) kennen. Schließlich müßten ihm gesetzliche Vorschriften geläufig sein,

und er solle etwas von Sternkunde und den Gesetzen der Astronomie verstehen.

"Dies aus folgenden Gründen: Der Baumeister muß in der Lage sein, durch Wort und Schrift

seine Arbeit zu begründen. Dann muß er geplante Bauten zeichnerisch einwandfrei darstellen

5

können, wozu die Geometrie vor allem bei der Darstellung der verschiedenen Gebäuderisse

die notwendigen Hilfsmittel bietet. Die Lehre vom Licht (Optik) wird die richtige Anbringung

der Fenster erleichtern, während die Mathematik (Rechenkunst) die Grundlage für

Kostenberechnung, Maßeinteilung und Fragen der guten baulichen Verhältnisse bietet." (6)

Schon hier wird die große aktuelle Bedeutung dieses antiken Lehrmeisters deutlich. Die

Architektur hat sich immer recht umfassend verstanden, ganzheitlich würde man heute sagen.

Als "Mutter der Künste" war sie schon immer mehr als die Summe ihrer Teile. Ein anderes

kommt hinzu. Vitruv verpflichtet die Architekten zu einer philosophischen Grundhaltung. Die

Philosophie gebe dem Baumeister den Adel der Gesinnung und bewirke, daß er nicht

überheblich sei, sondern gewissenhaft und vor allem ohne Habsucht. Denn auf Dauer könne

keine Arbeit ohne Gewissenhaftigkeit und lautere Gesinnung Erfolg haben. Der Architekt

solle nicht begehrlich sein und dauernd hinter Aufträgen herjagen.

Dies sind Worte, die an die aktuelle Debatte um die "Ethik im Design" (7) erinnern. Horst

Oehlke (8) benutzt in diesem Zusammenhang fast die gleichen Worte: "Das Ethische ist in der

Gestaltung und vom industriellen Design von Beginn seiner Entwicklung an als dem

gegenständlichen Sachverhalt inhärent betrachtet worden und hat lange Zeit und zum Teil bis

heute zur Legitimation der professionellen Tätigkeit gedient."

Seit Anfang der 70er Jahre wissen wir um die "Grenzen des Wachstums" (9). Die

Umweltproblematik wird Tag für Tag bedrohlicher. Immer deutlicher müssen wir erkennen,

wohin uns der gedankenlose Umgang mit den natürlichen Ressourcen führen kann.

Obwohl die ökologischen Probleme inzwischen auch im Design wahrgenommen werden, sind

wir noch weit davon entfernt, umzudenken. Nach wie vor scheint die Hauptfrage zu lauten,

mit welchem Konsummüll man das applaudierende Publikum in die Galerien und Museen

locken kann. Der Designer als immerwährender Warenproduzent – Wolfgang Haug läßt

grüßen (10). Und wenn dann ein privilegierter Endverbraucher, wie zum Beispiel die Fürstin

Gloria zu Thurn und Taxis, ein neues Boudoir benötigt, bittet sie eben die Designer zu Hofe,

die ihr gefällig zu sein haben: Tanderadei – gar lustig ist die Designerei.

Bereits vor 20 Jahren – die Lähmung deutschen Designs durch die warenästhetische Kritik

war gerade überwunden – äusserte Lucius Burckhardt zum gleichen Thema einige

6

bemerkenswerte Gedanken: "Und jetzt fragt ihr nach Kriterien für ein neues Design! Da

könnte ich schon einige nennen. Stellt euch vor, eine neue Kommission des Werkbundes zöge

durch die Hallen der Mustermesse, ergriffe ein ausgestelltes Produkt und fragte:

- Besteht es aus Rohstoffen, die ohne Unterdrückung gewonnen werden?

- Ist es in sinnvollen, unzerstückelten Arbeitsgängen hergestellt?

- Ist es vielfach verwendbar?

- Ist es langlebig?

- In welchem Zustand wirft man es fort, und was wird dann daraus?

- Läßt es den Benutzer von zentralen Versorgungen oder Services abhängig werden,

oder kann es dezentralisiert gebraucht werden?

- Privilegiert es den Benutzer, oder regt es zur Gemeinsamkeit an?

- Ist es frei wählbar, oder zwingt es zu weiteren Käufen? (11)

Doch zurück zu Vitruv. Im zweiten Kapitel des ersten Buches beschreibt Vitruv die sechs

"Allgemeinen Grundlagen der Baukunst". Dazu gehören für ihn:

1. Die Anordnung. Darunter versteht Vitruv die angemessene und zweckmässige Gestaltung

der einzelnen Gebäudeteile sich und eine gut abgewogene Gliederung der Verhältnisse.

2. Die Verteilung oder Aufteilung. Das bedeutet die sinnvolle räumliche Zusammenfügung

der Bauteile mit dem Ziel einer aus ihrer Bestimmung sich ergebenden Raumfolge.

3. Die Eurhythmie. Gemeint ist das ansprechende Aussehen eines Bauwerkes und das

angenehme Bild des Zusammenklangs der Bauteile, erzielt durch ein richtiges Verhältnis von

Höhe, Breite, Länge und gut abgewogene Gliederungen.

4. Die Symmetrie. Das ist die ebenmäßige Übereinstimmung der Bauglieder: die

entsprechende Beziehung einzelner Teile zum Gesamtbild.

5. Die Harmonie. Darunter versteht Vitruv die Wirkung eines baulichen Gesamtbildes, das

aus erprobten Bauteilen dem Herkommen gemäß entstanden ist. Sie beruht entweder auf

Gesetzmässigkeit, Üblichkeit oder auf der Natur Sache.

6. Die Nutzung. Sie erstreckt sich auf die zweckmäßige und gebräuchliche Verteilung von

Material und Raum bei sparsamer Berechnung und Mäßigkeit des baulichen Aufwandes. Dies

wird erzielt, wenn der Baumeister auf solche Baustoffe verzichtet, die nicht bodenständig sind

und deshalb nur zu hohem Preis beschafft werden könnten.

7

Interessant an diesem Katalog ist vor allem die Betonung der Ästhetik. Allein fünf oder sechs

Kriterien sind im weitesten Sinne "ästhetisch". Die "Gestaltung", um das Wort Design vorerst

noch zu vermeiden, ist für Vitruv die Grundlage der Baukunst. Der Mensch, dem die

Gestaltung zu dienen habe, steht im Mittelpunkt seiner Überlegungen. Man könnte sagen,

Vitruv begründete einen Funktionalismus mit menschlichem Antlitz.

So galt zum Beispiel seine Aufmerksamkeit der Beachtung der Windrichtung bei der

Anlegung von Städten. Da kalte Winde unangenehm, warme indes gesundheitsschädlich und

feuchte überhaupt unzuträglich seien, müsse man zweckmäßig (das heißt funktional) solche

Nachteile zu vermeiden suchen.

Am Beispiel der griechischen Stadt Mithylene (auf der Insel Lesbos) weist er nach, wie

unzweckmäßig eine Stadt angelegt werden könne: Bei Südwind würden die Bewohner krank,

bei Nordwestwind husteten sie, würden sich dann bei Nordwind wieder erholen, doch könnten

sie wegen der Kälte nicht ins Freie. Wer die Problematik der Winde kennt, die um die

Hochhausbauten in den modernen Metropolen oder deren Trabantenstädten auftreten können,

sollte sich an diese Darlegung des antiken Baumeisters erinnern.

Aber auch den menschlichen Winden gilt das Interesse Vitruvs. So sei beim Bau von

Theatern zu beachten, daß der Zuschauerraum nicht der unmittelbaren Bestrahlung durch die

Sonne ausgesetzt werden dürfe, denn die Hitze würde sich in den Rundungen fangen und in

der unbewegten Luft noch zunehmen, so daß Körperausdünstungen unerträglich und die

Widerstandskraft des Körpers gar geschwächt würden.

Verweilen wir noch einen Augenblick bei den wenigen, aber einprägsamen Regeln der

Baukunst. Übersichtlich und verständlich sind die Worte Vitruvs. Hier drängt sich ein

Vergleich mit einer Kriterienliste aus den 70er Jahren unseres Jahrhunderts auf, als man

versuchte, das "Design meßbar zu machen" (12). 60 technisch-funktionale Fragen und sechs

Designkriterien wurden damals aufgelistet, 38’400 Daten erhoben und den Computern

eingegeben. Nach langen Berechnungen lagen die jeweiligen "Designbeurteilungen" vor.

Das "meßbare Design" hatte sich als Irrweg erwiesen, die Design-Debatte war aufgrund ihrer

erschreckend dogmatischen Positionen in eine Sackgasse geraten. Die wilden Attacken der

Kritiker zu Beginn der 80er Jahre waren die – voraussehbare – Folge.

8

Im dritten Kapitel des ersten Buches führt Vitruv dann aus, alle Bauwerke müßten drei

Kategorien genügen: der Festigkeit (firmitas), der Zweckmäßigkeit (utilitas) und der

Schönheit (venustas).

Der Festigkeit wird nach Vitruv dadurch Rechnung getragen, daß die Gründung bis zum

tragfähigen Boden hinabgetrieben wird und alle Baustoffe sorgfältig ausgesucht werden.

Zweckmäßig wird ein Bau, wenn die Anlage der Räume richtig ist, die Räume selbst

uneingeschränkt gebrauchsfähig sind und ihre Verwendungsart der jeweiligen

Himmelsrichtung entspricht.

Schönheit wird der Bau besitzen, wenn der Anblick des Werkes angenehm und die Bauglieder

die richtige (symmetrische) Proportion haben.

Mit diesen drei globalen Kategorien legt Vitruv die Grundlage für den heutigen

Funktionalismusbegriff und zeigt uns zugleich, wie einseitig sich die Funktionalismusdebatte

der 60er und 70er Jahre auf das Zweckmäßige festgelegt hat. Die Schönheit wurde negiert.

Adorno hat diese Einseitigkeit des Funktionalen am Funktionalismus anläßlich eines

Vortrages beim Deutschen Werkbund im Jahre 1965 sehr klar herausgearbeitet:

"Die Zukunft von Sachlichkeit ist nur dann eine der Freiheit, wenn sie des barbarischen

Zugriffs sich entledigt: nicht länger den Menschen, deren Bedürfnis sie zu ihrem Maßstab

erklärt, durch spitze Kanten, karg kalkulierte Zimmer, Treppen und ähnliches sadistische

Stöße versetzt. Fast jeder Verbraucher wird das Unpraktische des erbarmungslos Praktischen

an seinem Leib schmerzhaft gespürt haben; daher der Argwohn, was dem Stil abgesagt, sei

bewußtlos selber einer." (13)

Immer wieder überrascht, wie aktuell Vitruvs Aufzeichnung aus der Zeitenwende heute noch

sind. Auch stecken seine Bücher bereits voller ökologischer Gedanken. So führt er im neunten

Kapitel des fünften Buches bei der Beschreibung der Wandelgänge von Theatern aus, daß die

offenen Mittelräume mit Grünanlagen zu bepflanzen seien. Denn es sei erfrischend, sich unter

freiem Himmel zu ergehen. Die Luft würde durch die Atmung der Pflanzen gereinigt, die

9

Farbe sei für die Augen wohltuend. Die Körper würden durch das Ergehen erwärmt. Die

frische Luft würde den Körper erfrischen.

Weitere Ausführungen gelten der Wahl und Anordnung öffentlicher Plätze. Vitruv beschreibt

die unterschiedlichen Anforderungen an Plätze in Küstenstädten oder an Orten des

Landesinneren. Er verweist darauf, daß es entscheidend darauf ankomme, ob ein Platz vor

einem Tempel, einer Opferstätte, einem Amphitheater oder einer Rennbahn liege. Er macht

auf den Unterschied zwischen den griechischen und den römischen Plätzen aufmerksam. Die

griechischen Marktplätze seien quadratisch gewesen, umgeben von geräumigen doppelten

Säulenhallen von enger Säulenstellung. Auf den rechteckigen Plätzen der römischen Städte

seien Gladiatorenspiele veranstaltet worden. Die Plätze seien so angelegt worden, daß die

Breite zwei Drittel der Länge ausmachte, die Säulen in weiteren Abständen standen, damit in

den Säulenhallen Wechslerbuden untergebracht werden konnten, während in den oberen

Stockwerken Plätze für die Zuschauer vorgesehen waren.

Vitruvs Beschreibung der Bauhölzer im neunten Kapitel des zweiten Buches ist eine

Pflichtlektüre für Baubiologen. Selbst der richtige Zeitpunkt für das Holzschlagen, nämlich

vom Anfang des Herbstes bis zum Einsetzen der Westwinde, wird minutiös beschrieben.

Ein großes Kapitel widmet Vitruv den ästhetischen Fragen des Bauens. Seine Beschreibung

der Maßverhältnisse der Proportionen und Harmonien ist immer noch lesenswert, Der Grund

liegt in seinem humanen Funktionalismus. Die Maße und die Wahrnehmungsfähigkeit des

Menschen sollen die Gestaltung bestimmen.

Diese Haltung ist als modern zu bezeichnen, sie scheint aber gerade im Zeitalter der

Elektronik immer mehr verlorenzugehen. Die menschliche Wahrnehmungsfähigkeit ist

überfordert, wenn man heute von uns verlangt, mit vier Fernbedienungen auf dem Schoß den

Fernseher, den Satellitenreceiver, den Videorecorder und den Hi-Fi-Turm zu steuern.

Ein weiteres Beispiel für die richtige Gestaltung gibt Vitruv im zweiten Kapitel des dritten

Buches. Hier beschreibt er die unterschiedliche Gestaltung von Tempeln. Wichtig ist ihm

dabei das durchschimmernde Prinzip. Durch die Bauweise der jeweiligen Tempelart soll für

jedermann eine ldentifizierung möglich sein.

10

Der aktuelle Bezug zur modernen Architektur drängt sich auf. Auch den Banken,

Versicherungen und Gemeinden geht es um Identität. Der wolkenkratzende Wettlauf zum

Beispiel, den die Frankfurter Banken seit Jahren veranstalten, ist eigentlich nur noch

symbolisch zu verstehen. Von der Funktion her gibt es im Zeitalter der globalen Vernetzung

keine Notwendigkeit mehr, unzählige Büroetagen übereinander zu stapeln.

Doch es gibt auch positive Beispiele wie das bayrische Altmühlstädtchen Eichstätt. Der

dortige Stadtplaner, Karljosef Schattner, hat Vitruv richtig verstanden. Für ihn sind die

wichtigsten Elemente einer Stadt die Zeichen der Erinnerung. Schattner weiß: "Das Formale

des Details entwickelt sich aus der großen Form, das hat es immer getan. Über das Detail wird

die große Form begriffen, haptisch begriffen, sinnlich wahrgenommen."

Die Qualität in der Architektur ist für Schattner daran zu messen, wie ein Gebäude am

Eingang begriffen wird. Wenn man in ein Gebäude hineinkomme und begreife, was es sei,

dann spreche das für Qualität, wenn man es nicht begreife, dann sei es eine schlechte

Architektur.

Im Design gibt es dazu eine einsichtige Analogie. Auch unseren Gebrauchsgegenständen muß

man ansehen, was sie sind und was sie tun sollen. Dies ist auch – oder gerade – im Zeitalter

der Immaterialisierung der Black-Boxes eine zentrale Aufgabe. Wenn wir schon nicht

verstehen, wie die Dinge im Innern funktionieren, dann sollte wenigstens der Umgang mit

ihnen so visualisiert werden, daß wir sie problemlos benutzen können.

Bei Vitruv ergibt sich das Funktionale oftmals aus ganz einfachen Beobachtungen. So sollen

zum Beispiel an den städtischen Plätzen die oberen Säulen etwa um ein Viertel kleiner sein

als die unteren, zum einen wegen der größeren Belastung, zum anderen wegen der

anzustrebenden Analogie zu den Wachstumsgesetzen der Natur. So folgte bei Vitruv die

Form der Funktion.

Aus einer weiteren Naturbeobachtung, der Analyse der Schallwellen, leitet Vitruv Regeln für

die Anordnung der Stufenfolge beim Bau von Theatern ab. Mit dem Ziel, unter

Berücksichtigung der Tonmessungen der Mathematiker und der Gesetze der Akustik die

Stimme des Schauspielers klar und wohlklingend bis ans Ohr des Zuschauers zu führen.

Ähnlich wie man Instrumente aus dünnen Metallblechen oder mit Resonanzböden aus Horn

11

herstelle, um einen klaren Klang der Saiten zu erzielen, seien auch die Theater nach den

Gesetzen der Harmonie zur Verstärkung des Schalls zu bauen.

Im zweiten Kapitel des fünften Buches geht Vitruv kurz auf die funktionale Bedeutung des

Ornaments ein. Beim Bau von Rathäusern sollten die Wände auf halber Höhe mit Holz und

Stuck geschmückt werden. Sonst würden sich die Stimmen der Redner im hohen Raum

verlieren und für die Zuhörer undeutlich werden. Richtig angeordnete Gesimse würden

dagegen den Schall festhalten, die Reden seien deutlich vernehmbar. Der Schmuck wird allein

dadurch gerechtfertigt, daß er die Akustik verbessert.

Im fünften Kapitel des sechsten Buches beschäftigt sich Vitruv mit dem Zusammenhang von

Funktion und Repräsentation. Daß er dabei von der damaligen streng hierarchisch

gegliederten Gesellschaftsstruktur ausgeht, versteht sich von selbst.

Menschen von mäßiger Wohlhabenheit, so Vitruv, bräuchten keine prächtigen Vorhallen,

Empfangssäle und Höfe. Für Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens dagegen sollten die

Häuser von besonders schmuckvoller Ausstattung sein und geräumig genug, um

Zusammenkünfte zu ermöglichen. Das gelte erst recht für Standespersonen, die

Bürgerabordnungen empfangen müßten, Für sie seien prächtige Vorhallen, hohe Atrien,

weiträumige Säulenhöfe, Gärten mit Grünanlagen und ausgedehnte Spazierwege in einer der

Würde des Hausherrn angemessener Weise zu errichten.

Nach diesen Repräsentationsprinzipien wurde jahrtausendelang gebaut. Erst dem vorigen

Jahrhundert blieb es vorbehalten, massiv dagegen zu verstoßen. Nun fühlten sich auch

Menschen von mäßiger Wohlhabenheit im Zuge der Emanzipation des aufstrebenden

Bürgertums zur Repräsentation berufen. Das Ergebnis war der Schwulst wilhelminischer

lnterieurs, dessen radikale Kritiker, nicht minder überzogen, die absolute Ornamentlosigkeit

postulierten, eine Forderung, die zwar massenkulturell gedacht war, in ihrer konsequenten

Umsetzung aber einer kleinen intellektuellen Schicht vorbehalten blieb.

Hans Eckstein, einer der Verfechter des funktionalen Designs in Deutschland, verteidigt die

ornamentlose Gestaltung sogar unter Berufung auf Goethe: "Form ohne Ornament ist – selbst

bei Gegenständen, die nicht oder nicht ausschließlich für den praktischen Gebrauch bestimmt

sind – seit je als ästhetischer Wert estimiert: im antiken Ägypten, in der kretisch-mykenischen

12

Kultur, in China und Japan, in allen europäischen Epochen. Das sonst so dekorationsfreudige

18., das historische 19. Jahrhundert, das Kunstgewerbe um die Jahrhundertwende haben des

öfteren auf jede Ornamentierung verzichtet – gewiß nicht aus Sparsamkeit. Die Form ohne

Ornament war Luxus. 'Das einfach Schöne soll der Kenner schätzen, Verziertes aber spricht

der Menge zu', sagt Goethe." (14)

Im zweiten Kapitel des sechsten Buches beschäftigt sich Vitruv mit der Berücksichtigung der

örtlichen Verhältnisse beim Bauen. Dabei bezieht er das gesamte bekannte

naturwissenschaftliche Wissen seiner Zeit in seine Überlegungen ein. Mit beiden Füßen steht

er fest auf dem Boden der jeweiligen Baustelle.

Zunächst müßten die klimatischen Verhältnisse des Landes berücksichtigt werden. Die

natürlichen Gegebenheiten der Baustelle sollten mit dem gewünschten Gebrauchszweck in

Einklang stehen. Diese Begründung des funktionalen Gestaltens ist der zentrale Punkt des

Vitruvschen Denkens. Ihm kommt es darauf an, den Gebrauch und die Bedeutung von

Gebäuden zu präzisieren.

In seiner Vorrede zum ersten Buch, in der er seinem Imperator für die Gnade des

Lebensunterhalts dankt, erklärt er stolz und selbstbewußt die Motive seines Schreibens: "Ich

schreibe deshalb diese Regeln nieder, damit Du ohne den Rat anderer zu eigenen Urteilen

über die bestehenden und geplanten Bauwerke gelangst, denn ich habe in diesen Büchern alle

Grundsätze des Bauens niedergelegt." (15)

Vitruv und die vier Antiken

Vitruv war ein Mensch der ersten Antike. Die Bedeutung seines Werkes wurde erst in der

zweiten Antike – der Renaissance – erkannt. Die Humanisten der Frührenaissance stürzten

sich auf das einzig verfügbare Werk, das ihnen die erste Antike erschloß. Und alle

bedeutenden Architekten der Renaissance folgten ihrem Beispiel.

So war es Leon Battista Alberti, der geniale Baumeister des 15. Jahrhunderts, der als erster

die Bedeutung Vitruvs erkannte. Er beließ es aber nicht dabei, dessen kategoriale

Grundbegriffe "firmitas", "utilitas" und "venustas" nur zu übernehmen, vielmehr versuchte er,

die diesen Begriffen zugrunde liegenden Prinzipien herauszuarbeiten.

13

Dabei ging er von einem sehr modernen sozialen Bild seines Berufsstandes aus: Er verstand

die Aufgabe von Architekt und Architektur als Dienst an der Menschheit. Wir finden hier also

bereits eine der wesentlichsten Begründungen des Funktionalismus im 20. Jahrhundert: Nicht

die individuelle Verwirklichung des Architekten (oder Designers) macht dessen Wesen aus,

sondern die Sozialbindung seines Entwurfs.

Beispielhaft sei gezeigt, wie Alberti Vitruvs Nützlichkeitsbegriff (utilitas) in diesem Sinne

variierte und differenzierte. So beschreibt er verschiedene Gebäudetypen, für die jeweils

angemessene Gestaltungen zu finden seien, zum Beispiel solche für die Bedürfnisse des

Lebens (necessitas), für die Zweckmäßigkeit (oportunitas) und für das Vergnügen (voluptas).

Die Architektur habe sich an den Anforderungen der menschlichen Individualität

auszurichten, sie müsse über den bloßen Zweck hinausweisen. (16) Eine monofunktionale

Zweckbestimmung lehnt Alberti ab.

Auch zum Thema Ornament nimmt Alberti gegenüber Vitruv eine differenzierte, freilich

reichlich rigide Position ein. Für ihn ist das Ornament etwas Aufgesetztes, kein integraler

Bestandteil der Architektur, sondern nur "erdichteter Schein".

Es gibt wohl kein besseres Architekturensemble als die Stadt Florenz, um die Lehren Vitruvs

vor Ort zu studieren. Als Beispiel möchte ich die Pazzi-Kapelle im Museo dell'Opera di Santa

Croce von Filippo Brunelleschi anführen. Dieses berühmte Bauwerk aus der Frührenaissance

zeigt, wie eng Architektur, Wissenschaft und Kunst zusammengearbeitet haben, um ein

ganzheitliches Kunstwerk zu erreichen. Alle Erkenntnisse der Technologie, der Geometrie,

der Archäologie, der Theologie und der (platonischen) Philosophie wurden dafür aufgeboten.

Die Schönheit einfacher Formen, ein Postulat des Funktionalismus, das im 20. Jahrhundert

zum Diktum wurde, kann man hier noch in seinem ursprünglichen Sinn erfahren.

Ein weiteres Beispiel für den in Florenz zu besichtigenden "vorweggenommenen

Funktionalismus" sind die Uffizien. Als man Mitte des 16. Jahrhunderts nach den Plänen

Giorgio Vasaris mit deren Bau begann, mußte man wegen der schwierigen

Bodenbedingungen (Sandböden der Arno-Flußebene) erstmals in der Baugeschichte den

eingesetzten Zement mit Ketten und Zugankern durchsetzen. Die bis dahin gebräuchliche,

scheinbar zwangsläufige innige Verbindung von Form und Material wurde unterbrochen.

14

Der im 16. Jahrhundert lebende Andrea Palladio (dessen Name übrigens eine Anspielung auf

die Göttin der Weisheit bedeutet) widmete sich ganz besonders der Vitruvschen

Architekturtheorie. Der Dichter, Philosoph, Mathematiker und Architekt Giangiorgio Trissino

nahm sich Palladios an, und dieser war es auch, der ihn ermutigte, 1545 von Vicenza nach

Rom zu reisen und dort zwei Jahre lang die Bauwerke und Ruinen der Antike zu studieren.

Unmittelbar nach seiner Rückkehr gewann Palladio den Wettbewerb für den Umbau des in

der Frührenaissance errichteten Palazzo della Ragione, der sogenannten Basilica. Daran

wurde deutlich, welch beeindruckende Spuren das Studium des Vitruvschen Werkes bei ihm

hinterlassen hatten, denn durch die von Palladio entworfenen Arkadenreihen erhielt das

wuchtige alte Gebäude eine leichte Eleganz, ganz im Sinne der antiken römischen Bauweise.

Dieses Werk bedeutete gleichzeitig den "Durchbruch" Palladios zu einem der bedeutendsten

Baumeister der Renaissance.

Im Jahr 1570 veröffentlichte Palladio seine "Quattro libri dell'architettura", die eine

systematische Abhandlung der Architektur insgesamt darstellen und weit über die zehn

Vitruvschen Bücher hinaus verweisen. Architekturtheorie, die Beschreibung seiner eigenen

Bauwerke sowie Rekonstruktionen berühmter Beispiele antiker Bauwerke – mit diesem Werk

dokumentierte Palladio seine Bedeutung in der Geschichte der Architektur.

Aber auch Giangiorgio Trissino selbst knüpfte bei Vitruv an. Er beschäftigte sich vor allem

mit den Problemen des menschlichen Wohnens. Primäre Aufgabe des Architekten sei es,

Nutzen (utilità) und Vergnügen (dilettazione) für die Bewohner zu schaffen. Daran sei der

Gebrauchswert eines Hauses zu messen.

Daniele Barbaro, ein etwas jüngerer Zeitgenosse Palladios, entwickelte ein eigenes

Proportionensystem. Für ihn nimmt der architektonische Entwurf im "disegno" Gestaltung an.

Das Material müsse der Form unterworfen werden. Einen Begriff wie Materialgerechtigkeit

kennt er nicht.

Hier finden wir den ideengeschichtlichen Ursprung eines Phänomens, das später als

"Naturbeherrschung" zum Programm werden sollte: Alles wurde ge- und mißbraucht, um den

Willen der Herrschenden durchzusetzen, Rücksichten waren überflüssig.

15

Die dritte Antike war die Epoche des Klassizismus im ausgehenden 18. und beginnenden 19.

Jahrhundert. In dieser Zeit fand eine Rückbesinnung auf die Antike statt. Johann Joachim

Winckelmann zum Beispiel wollte dem angeblichen "Zerfall der Kunst", den er insbesondere

im Barock sah, durch den Normenkanon der griechischen Idealität entgegenwirken. In seinen

"Anmerkungen über die Baukunst der Alten" machte er sich grundsätzliche Gedanken über

die Architektur. Mit den Begriffen "das Wesentliche" und "die Zierlichkeit" prägte er die

noch heute gültigen Bereiche der "Funktion und des Ornaments" (17).

Doch Winckelmann war nur ein Vorläufer. Kein Geringerer als Johann Wolfgang von Goethe

war es, der die Sehnsucht nach Arkadien bei uns so richtig schürte und – heute würde man

sagen medial verbreitete. Während seiner italienischen Reise (1786 bis 1788) setzte er sich

mit Vitruv und Palladio auseinander und beschäftigte sich eingehend mit der griechischen und

römischen Architektur. Der in seiner Jugend von gotischen Formen faszinierte Dichter kehrte

als "Klassiker" nach Deutschland zurück. Sein 1795 verfaßter Aufsatz über die "Baukunst", in

dem er Fragen des Materials, der Zwecke sowie der ästhetischen Wirkungen (18) behandelt,

ist noch heute lesenswert.

Typisch für das 19. Jahrhundert ist sodann die enge Verknüpfung von Philosophie, Ästhetik

und Architektur (zu der es im Design leider nicht gekommen ist). Der in Berlin lehrende Carl

Boetticher formulierte den Grundsatz, die Form solle die Funktion eines Bauwerkes sichtbar

machen, ohne mit ihr identisch zu sein. Der Unterschied liege zwischen der "Werkform", dem

konstruktiven Gerüst, und der "Kunstform", im Sinne der künstlerischen Form der einzelnen

Bauelemente (9).

Karl Friedrich Schinkel – wie Goethe durch Italienreisen geprägt sowie durch die Lektüre der

Schriften Durands – entwickelte eine "Theorie des Funktionalismus", die sich ausschließlich

an den Gesichtspunkten Material, Raumverteilung und Konstruktion orientierte. Sein

komplexes Architekturverständnis berücksichtigte nicht nur funktionale und formale, sondern

auch soziale und historische Faktoren und näherte sich damit bereits dem modernen

Funktionalismusbegriff des 20. Jahrhunderts.

Die vierte Antike beginnt für mich mit der Postmoderne. Man könnte sie auch mit der

kurzfristigen Rückbesinnung auf die Antike im nationalsozialistischen "Dritten Reiche"

beginnen lassen. Doch das hieße, die ausschließlich der Machtdemonstration dienende

16

Fassadengestaltung einiger öffentlicher Bauwerke in ungebührlicher Weise

architekturhistorisch aufzuwerten.

Es ist das Verdienst des Engländers Charles Jencks (20), mit seiner 1978 erschienenen

Veröffentlichung zur "Sprache der postmodernen Architektur" quasi über Nacht eine neue

Dimension der Architektur deutlich gemacht zu haben, die in ihrem Kern allerdings bereits in

den 60er Jahren von Robert Venturi (21) formuliert worden war. Jencks beschrieb die

Architektur als eine Art von Sprache, deren Grundelemente also Syntax, Semantik und

Pragmatik sich in vielfältiger Weise in Bauwerken wiederfänden.

Eine weitere "Errungenschaft" der Postmoderne war die Wiederentdeckung der Säule als

Stilmittel, mit dem man gar lustige Scherze treiben konnte. Charles Moores Piazza d'Italia in

New Orleans (1975–1980) ist das typische Exempel der neuen Zitate-Architektur. Etwas

subtiler ging James Stirling beim Neubau der Stuttgarter Staatsgalerie vor. Er mischte

historisierende Stilelemente mit High-Tech-Architektur (22).

Den vielleicht wichtigsten und ernsthaftesten Entwurfsansatz im Sinne einer vierten Antike

verfolgt Mario Botta, der sich selbst als "post-antik" bezeichnet. Seine Arbeitsweise gleicht

jener der frühen Baumeister. Auch für Botta sind Erfahrungswerte wichtiger als exakte

Berechnungen. Die antike Materialverschwendung der überdicken Wände und Gebälke

interpretiert er vor allem symbolisch: als gebauten Überschuß, der bis heute Dauer und Würde

ausstrahlt. (23) Auch versucht er immer wieder, "kosmische" Werte wie Witterung, Sonne,

Mond, Sterne und Landschaft in seine Häuser hereinzuholen und in den Dienst der Bewohner

zu stellen.

So hat die vierte Antike ganz offensichtlich zu einer Re-Semantisierung der Architektur

geführt, Gleichwohl ist der Vorwurf nicht von der Hand zu weisen, daß postmoderne

Architektur über weite Strecken eine Fassadenarchitektur geblieben ist. Selbst bei ihren

hochgelobten Renoniemmierbauten, den Museen, klagen inzwischen die dort beschäftigten

Mitarbeiter über mangelnde funktionale Qualität (zu hoher Lichteinfall, zu statische

Strukturen für Wechselausstellungen usw.). Ganz zu schweigen von den vulgären

Postmodernitäten in den Vorstädten der Metropolen, wo die Säule zum Zeichen des

Wohlstands degeneriert ist und die Gipsstatuen in den Vorgärten den Normenkanon der

17

griechischen Idealität in einer Weise deklinieren, die sich ein Johann Joachim Winckelmann

wohl nie hätte träumen lassen.

Die drei Modernen

Die Diskussion um den "Funktionalismus“ ist eng mit der Debatte um die Moderne verknüpft.

Der Diskurs, um wen es dabei geht, ist im Grunde nichts anderes als die Dialektik der

Aufklärung Sinne Hegels.

Wir verdanken es Jürgen Habermas, uns diese Zusammenhänge immer wieder vor Augen

geführt zu haben. Nach seiner Rückkehr an die Universität Frankfurt nahm er das wichtige

Thema, das er bereits in seiner Rede "Die Moderne – ein unvollendetes Projekt" (24)

anläßlich der Verleihung des Adorno-Preises durch die Stadt Frankfurt im Jahre 1980

formuliert hatte, in einer Vorlesungsreihe wieder auf und kam in der Folgezeit mehrfach

darauf zurück. So in seinem 1981 München gehaltenen Vortrag "Moderne und postmoderne

Architektur" (25), in dem er sehr deutlich die Trennung von Form und Funktion in der

Postmoderne beschrieb:

"Die Sprache dieser kulissenhaften Architektur verschreibt sich einer Rhetorik die den

architektonisch nicht mehr gestaltbaren Systemzusammenhängen immerhin in Chiffren

Ausdruck zu verleihen sucht."

Aus zwei Gründen möchte ich auf die Debatte um die Moderne hier etwas ausführlicher

eingehen: zum einen deshalb, weil sie bisher weitgehend formal geführt wurde, zum anderen

deshalb, weil in letzter Zeit verschiedentlich von einer "Zweiten" (Heinrich Klotz, 26) oder

"Dritten Moderne" (Otl Aicher, 27) gesprochen wird. Diese neuen "Modernen" kann man

aber ohne genaue Kenntnis der "ersten Moderne" nur schwer verstehen.

Modern sein, darunter verstand man zunächst einmal, die neuen subjektiven Freiheiten zu

nutzen. Der politischen Revolution von 1789, die diese Freiheiten erkämpft hatte, folgte – mit

dem Übergang vom Handwerk zum Industriebetrieb – eine technologische. Der dogmatische

Kirchenglaube von einst wurde abgelöst von einem neuen, nicht weniger dogmatischen

Wunderglauben an das technisch Machbare. Paxtons Kristallpalast auf der Londoner

Weltausstellung von 1851 wurde zur gußeisernen Kathedrale des neuen Glaubens. Die

18

Anbetung des Konsums ersetzte den Kirchenglauben der Vergangenheit. Der Weg des

Designs – das eng mit dem Primat des Waren-Glaubens verbunden ist – war damit

vorgezeichnet.

Dieser große Sprung der Moderne führte zur ersten Gegenbewegung. Dem aufklärenden

Denken wurde der Mythos entgegengestellt. Dazu Habermas:

"Nietzsche benützt die Leiter der historischen Vernunft, um sie am Ende wegzuwerfen und im

Mythos, als dem Anderen der Vernunft, Fuß zu fassen. (28) Damit ist er, Nietzsche, für

Habermas der eigentliche Begründer der Postmoderne.

Habermas setzte sich in seiner Vorlesungsreihe auch mit dem französischen Strukturalisten

Michel Foucault (29) auseinander, für den das entscheidende Paradigma der Moderne das

"System geordneter Zeichen" ist. Dieses ergebe sich nicht aus einer vorgängigen Ordnung der

Dinge selbst, sondern stelle durch die Repräsentation der Dinge eine taxonomische Ordnung

erst her. Die kombinierten Zeichen (oder die Sprache) bilden Foucault zufolge ein

vollkommen durchsichtiges Medium, durch das die Vorstellung mit dem Vorgestellten

verknüpft werden kann. Der Signifikant trete hinter das bezeichnete Signifikat zurück, er

funktioniere wie ein gläsernes Werkzeug der Repräsentation ohne Eigenleben (30).

Die Entwicklungsgeschichte der Semiotik zeigt, daß dies nicht immer so gewesen ist.

Aufgabe der Gestaltung (also auch des Designs) war es eigentlich immer, die verschiedenen

Funktionen des zu gestaltenden Gegenstandes so in Zeichen zu übersetzen, daß diese von den

potentiellen Benutzern verstanden werden konnten, Forderungen, die bereits die Nachfolger

Vitruvs erhoben hatten. Es galt, die unterschiedlichen Zeichenrepertoires der Benutzer zu

studieren und dann die als richtig erkannten Zeichen gekonnt einzusetzen.

Auch Umberto Eco (31) hat diese Zusammenhänge untersucht. Semiotik ist für ihn eine

Geisteswissenschaft, die alle Kulturphänomene so betrachtet, als ob sie Zeichensysteme

wären, weil Kultur im wesentlichen nichts anderes sei als Kommunikation. Also fragte sich

Eco, was wohl Dinge mitzuteilen hätten, deren Daseinszweck nur darin bestehe, zu

funktionieren.

19

Am Beispiel des Löffels, dessen einziger Zweck es ist, die Speise zum Mund zu führen,

erklärte Eco seine These. Selbst dieses einfache Werkzeug besitze eine kommunikative

Funktion, indem es die zu erfüllende Aufgabe "mitteile". Genauso wie in der Architektur die

Form der Fenster, deren Anzahl und Anordnung in der Fassade usw. nicht nur eine Funktion

denotiert, sondern auch an bestimmte Vorstellungen von Wohnen und Nutzen erinnert: Sie

konnotieren eine globale Ideologie.

Wir müßten immer erst erlernen, so Umberto Eco, daß bestimmte Formen bestimmte

Funktionen bedeuteten. Es gebe keinen "natürlichen" Zusammenhang zwischen Form und

Funktion. Dieser Zusammenhang beruhe stets auf einer Vereinbarung. Die "Form, die der

Funktion folgt", bleibe ein mystisches Gebilde, wenn sie nicht auf einer Vereinbarung beruhe:

In kommunikationstheoretischer Terminologie bedeutet der Grundsatz: die Form folgt der

Funktion, daß die Form des Objektes nicht nur die Funktion möglich machen muß, sondern

sie so eindeutig denotieren muß, daß sie nicht nur möglich, sondern auch wünschenswert wird

und zu den Bewegungen führt, die am besten geeignet sind, die Funktion zu erfüllen. (32)

Doch nicht erst seit Eco beherrscht das Thema "Kommunikation" den Diskurs der

gegenwärtigen Philosophie und Soziologie. So entwickelte zum Beispiel Habermas die These

einer "kommunikativen versus einer subjekt zentrierten Vernunft" (33). Das "Paradigma der

Kenntnis von Gegenständen" müsse durch das "Paradigma der Verständigung zwischen

sprach- und handlungsfähigen Subjekten" abgelöst werden. Habermas hoffte, die zwanglos

einigende Kraft des Diskurses könne konsensstiftend die subjektiv befangenen Auffassungen

der Teilnehmer zugunsten eines rational motivierten Einverständnisses überwinden. Am Ende

dieses Prozesses stünde dann die "kommunikative Vernunft" (34).

Habermas' Hinweis auf das Ende des "Paradigmas der Gegenstände" erscheint mir wichtig.

Mit Stichworten wie "Immaterialisierung", "Entmaterialisierung" oder gar "virtuelle Realität"

befinden wir uns nämlich inmitten einer Debatte, die gegenwärtig die Spitze

designtheoretischer Aussprachen ausmacht. Das neue Paradigma des Designs, so meine

These, wird der "Visual Turn" sein. Die "Dritte Moderne" ist die Elektronik, und in ihrem

design- und erkenntnistheoretischen Mittelpunkt steht die Kommunikation.

20

Der Klotzschen (35) Kategorisierung in eine "Erste" und eine "Zweite" Moderne kann ich

nicht folgen. Seine These, die Postmoderne sei als Revision der Moderne nur ein Teil oder

eben eine andere Moderne, scheint mir zu stark an der Materialisierung, also den Formen der

Dinge, festgemacht zu sein. Der von Klotz bevorzugte Begriff der "Fiktion" – als Gegenteil

der Funktion – bedeutet eine Re-Semantisierung der Gegenstandswelt.

Genau an dieser Stelle treffen seine Begriffe auch nicht mehr die aktuelle Debatte, zum

Beispiel die des InterfaceDesigns oder der virtuellen Realität. Zwar stellt Klotz zaghaft die

Frage, "ob nicht überhaupt das Bild der Zukunft bewegte Bilder sein wird" (36). Er übersieht

auch nicht die wachsende Bedeutung der "Interaktion", die die kontemplative Haltung des

Betrachters gegenüber einem Gegenstand verändern und zu neuen Kunstwerken führen könne

(37). Die elektronischen Technologien sind für ihn aber nur fiktionale Kunstwerke einer

Zweiten Moderne.

Ganz anders Otl Aicher, der als reflektierender und gestaltender Praktiker nicht mit

kunsthistorischen Kategorien arbeitete. Er sah die "Krise der Moderne" (38), so der Titel

seines kritischen Essays, gerade darin begründet, daß Design und Architektur von den

Kunsthistorikern verwaltet würden:

"design ist alles andere als kunst. design und kunst verhalte sich wie wissen und glauben. es

mag wissenschaftler geben, die religiös sind, aber wissenschaft ist prinzipiell etwas anderes

als religion … aber was ist der maßstab von design, die neuen sachverhalte oder die kunst?

heute ist design abgesackt und degeneriert zur angewandten kunst." (39)

Aicher wandte sich vehement gegen die Behauptung von Klotz, die Ulmer Hochschule für

Gestaltung (HfG) habe in der Fortsetzung des Bauhauses "Kunst- und Industrieprodukte

verbunden". Das Gegenteil sei der Fall gewesen. Die Arbeiten der HfG resultierten nicht aus

einer Verbindung, sondern aus der Trennung von Kunst und lndustrie (40). Otl Aicher

verwies darauf, daß der in Ulm fortentwickelte Begriff der Gestaltung nur auf rational

überprüfbare Kriterien zurückgriff. Zu diesen gehörten zum Beispiel Wahrnehmungs- und

Gestaltungsphänomene, Farbtheorien, syntaktische Formlehren, topologische Verfahren,

typographische Regelungen und Rastersysteme. Der Hang zur Wissenschaft war stärker als

der zur Kunst.

21

Vielleicht fand die Auseinandersetzung über den Unterschied zwischen Kunst und Design in

Ulm deshalb so intensiv statt, weil es eben an der HfG viele "Künstler-Ateliers" gab. Obwohl

oder gerade weil einige Dozenten (neben Aicher z. B. Bill, Bonsiepe, Maldonado und

Zeischegg) aus "der Kunst" kamen, suchte man jetzt vielleicht eher die Reflektion.

Aichers kritische Auseinandersetzung mit der Moderne deckt sich weitgehend mit der

gängigen Geschichtsschreibung. Ausgehend vom Kristallpalast der Weltausstellung von 1851

über die FagusWerke von Gropius aus dem Jahr 1911 oder Peter Behrends Maschinenhalle

für die AEG aus dem Jahr 1909, skizzierte er den Weg der Moderne von London über

Weimar und Dessau bis nach Ulm. Diese Zweite Moderne ist auch bei ihm die der

industriellen Massenproduktion. Mit dem Wohnhaus von Charles Eames beginnt für ihn dann

die Dritte Moderne. (41) Seine Begründung:

Dies sei "...ein bewohnbares haus, zum gebrauchen gemacht... es wurde 1949 erbaut, ein

stahlskelettbau mit standardelementen aus der industrie. das haus hat den charakter eines

ateliers. die ganze lebensform ist die eines ateliers, es gibt kein vornehmes wohnzimmer

mehr, keinen salon, keine zweite etage des lebens. es zerfällt nicht in kult und alltag. der

alltag ist der kult. der gebrauch macht das haus aus."

Gegen Ende seines Essays zeichnet Aicher das Bild eines "neuen designers". Das ist für ihn

jemand, der die Tugend der Wissenschaft – nämlich die Neugierde – auf die Disziplin des

Designs übertragen kann, Der Wissenschaftler wolle finden, er wende nicht Wissen an, er

lerne das Fragen und trainiere das Finden. Als Designer würde man entwerfen, weil man

suche, nicht weil man wisse. Wer alles wisse, sei eher ein Karosserie-Designer. Er verpacke

die Dinge in seine Vorstellung und schließe sie darin ein. Nur wer suche. komme zu offenen,

strukturellen Lösungen.

Aichers Wertschätzung von Charles Eames, Hans Gugelot und Norman Forster zeigt, daß er –

genauso wie diese – seiner Zeit voraus war. In seiner Dritten Moderne schimmert bereits

etwas von dem durch, was mit der Habermas'schen "kommunikativen Vernunft" gemeint sein

könnte. Ich möchte deshalb versuchen, noch einmal den ideengeschichtlichen Faden

aufzunehmen, an dem sich der Funktionalismus entlang entwickelt hat. Vereinfacht gesagt,

geht es dabei um die Frage: "Für wen wird eigentlich etwas gestaltet?"

22

Eingangs hatten wir den Begriff der Funktion, der Brockhaus-Enzyklopädie folgend, mit

"Aufgabe, Tätigkeit, Stellung" definiert. Es geht also um Beziehungen zwischen Objekten

und auch Subjekten. Genau dieses Beziehungsgeflecht muß von den Designern – schon

Vitruv und seine Nachfolger haben dies für die Architektur dargelegt – erkannt und aufgebaut

werden. So einfach stellen sich die Dinge jetzt dar.

Alle im vorliegenden Buch gesammelten Essays und Zeichnungen zeigen, daß, um mit

Umberto Eco zu sprechen, die "erste Funktion" – also die Denotation – im Verlauf der

Geschichte immer mehr in den Hintergrund gerückt ist, während die "zweite Funktion" – die

Konnotation – immer wichtiger wurde. Inzwischen gibt es sogar schon Produkte, bei denen

die "erste Funktion" zugunsten der "zweiten Funktion" völlig aufgegeben wurde. Man

versuche zum Beispiel einmal, mit der Zitronenpresse von Philippe Starck eine echte Zitrone

auszupressen. Ein sinnloses Unterfangen. Dieses Produkt gehört nicht in die Küche, sondern

in die Nippes-Vitrine oder, noch besser, auf das designte Sideboard.

Jetzt sehen wir das historische Mißverständnis des Funktionalismus: Er meinte über weite

Strecken immer nur die erste (die praktische) Funktion. Dabei war, auch historisch gesehen,

die zweite (die kommunikative) Funktion schon immer genauso wichtig, wenn nicht sogar

wichtiger. Denn das Funktionale selbst beruht immer auf "Setzung".

Die zwei Kulturen

Vor diesem historischen Hintergrund lassen sich spätestens seit Mitte der 80er Jahre zwei

deutlich verschiedene Designkulturen erkennen und benennen.

Bei ihrer Definition soll uns Charles Percy Snow (42) helfen, ein englischer Schriftsteller und

Literaturwissenschafter, der bereits Ende der 50er Jahre in seiner berühmten Rede über "Die

Zwei Kulturen" zwei diametral gegenüberstehende Gruppen von Wissenschaftlern

unterschieden hat: die Literaten (Geisteswissenschaftler) und die Naturwissenschaftler. Beide

hätten nichts miteinander zu tun, sie verstünden einander in keinster Weise.

Der Begriff "Kultur" hatte für Snow zwei Bedeutungen, eine lexikalische, im Sinne von

geistiger Entfaltung des Verstandes, und eine technische. In diesem technischen Sinne würde

er von Anthropologen verwendet, um eine Gruppe von Personen zu bezeichnen, die im selben

23

Milieu lebten und durch gemeinsame Gewohnheiten, gemeinsame Voraussetzungen und einen

gemeinsamen Lebensstil miteinander verbunden seien.

Überträgt man diese Snow'schen Kategorien auf das heutige Design, so kann man zwei

Design-Kulturen unterscheiden:

Die eine spielt in der Welt der Medien, Galerien und Museen. Hier wird unter Korruption des

Avantgarde-Begriffs (43) ein Design betrieben, das, wenn überhaupt, nur für eine marginale

Gruppe der Bevölkerung eine Rolle spielt. Der Begriff "funktional" ist zum beliebigen

Versatzstück für kreative Wortspiele verkommen (siehe oben). Mit der Lebenswirklichkeit

hat er nichts mehr zu tun.

Dagegen bemüht sich die zweite Design-Kultur seit einigen Jahren darum – und das

erfreulicherweise mit wachsendem Erfolg – zeitgemäße Aspekte des Designs zu

kommunizieren, zum Beispiel in der Produktsprache, im Corporate Design, in der Design-

Strategie, im Interface-Design, aber auch in ökologischen Fragen. Das hohe Niveau, das diese

zweite Design-Kultur inzwischen erreicht hat, demonstrieren eindrucksvoll die alljährlichen

Wettbewerbe des Rats für Formgebung, des Design Zentrums NRW in Essen oder der if in

Hannover. Wer sich diese Ausstellungen anschaut, wird feststellen, daß der rigide

Funktionalismus der 60er und 70er Jahre passé ist und die "kommunikative Vernunft" immer

mehr an Boden gewinnt.

Die Stimmen, die erneut einen Paradigmenwechsel im Design ankündigen, mehren sich. Ob

Donald A. Norman (44), der die neue soziale Aufgabe des Designs darin sieht, die Dinge in

ihrem Gebrauch verständlich zu machen, oder Jean Nouve1 (45), der die strukturelle

Lesbarkeit seiner Gebäude betont, oder Volker R. Grassmuck (46), der im Sinne

Wittgensteins die Bedeutung eines Mediums in seinem Gebrauch sieht: Zaghaft zeichnet sich

gegen Ende unseres Jahrhunderts eine Neuorientierung ab. Jenseits der Frage nach einer

Ersten, Zweiten oder Dritten Moderne heißt es wieder ganz einfach: "ll faut être absolutment

moderne. "

Der Münchener Soziologe Wolfgang Welsch hat Mitte der 80er Jahre in seinem Buch

"Unsere postmoderne Moderne" eine gewagte Prognose geäußert: "Es gilt – postmodern wie

ideologisch – die Rahmenbedingungen unserer Lebensverhältnisse zu verändern. Im Sinne

24

dieses erweiterten Designbegriffs könnte – während das 20. Jahrhundert ein Jahrhundert der

Kunst war – das 21. Jahrhundert ein Jahrhundert des Designs werden. "

Wer weiß. Wenn die kommunikative Vernunft weiter so wächst, könnte die Welsch'sche

Vision vielleicht sogar noch wahr werden.

Fußnoten 1 ) siehe dazu z. B.: Albus, Volker, und Borngräber, Christian: "Design Bilanz", Köln 1992 Hauffe, Thomas: "Fantasie und Härte", Gießen 1994 2) Dawson, Layla: "Die Deutsche Schule der Schweißer und Black & Decker-Werkler", in: Kursbuch, Heft 106, Berlin 1991 3) siehe dazu z. B: Braun-Feldweg, W.: "Industrial Design heute. Umwelt aus der Fabrik", Reinbek bei Hamburg 1966 4) Fischer, Volker/Albus, Volker: "13 nach Memphis", München 1995 5) Bürdek, B. E.: "Design", a.a.O., S. 15 6) Marcus Vitruvius Pollio: "Über die Baukunst", neu bearbeitet und herausgegeben von Erich Stürzenacker, Essen 1938 7) Marzona, Stefano: "Designer sind keine Alchimisten", in: form 144-IV-1993 sowie: Diskussion zu diesem Beitrag, in: form 144-IV-1993, S. 20–21 8) Oehlke, Horst: "Zum Anliegen und zu den Erwartungen an das Kolloquium", in: Ethik & Design, 15. Designtheoretisches Kolloquium, Burg Giebichenstein, Hochschule für Kunst und Design, Halle/Saale 1994 9) Meadows, Dennis: "Die Grenzen des Wachstums", Stuttgart 1972 10) Haug, Wolfgang: "Kritik der Warenästhetik", Frankfurt a. M. 1971 11) Burckhardt, Lucius: "Kriterien für neues Design", in: Werkarchithese, Nr. 4/1977 12) Ohl, Herbert: "Design ist meßbar geworden", in: form 78-11-1977 13) Adorno, Theodor W.: "Funktionalismus heute", in: Ohne Leitbild. Parva Aesthetica Frankfurt a. M. 1967 14) Eckstein, Hans a.a.O., S. 112 15) Kruft, Hanno-Walter: "Geschichte der Architektur-Theorie", München 1991, Seite 52 16) Marcus Vitruvius Pollio a. a. 0.

25

17) ebenda, S. 210 18) ebenda, S. 216 19) ebenda, S.335 20) a. a. O. 21) Venturi, Robert: "Complexity and Contradiction in Architecture", New York 1966 (dt. Braunschweig 1978 22) Klotz, Heinrich: "Kunst im 20. Jahrhundert – Moderne – Postmoderne – Zweite Moderne", München 1994 23) Mönninger, Michael: "Der gebaute Urschrei" in: Der Spiegel, Nr. 11/95 24) Habermas, Jürgen: "Kleine politische Schriften 1–IV", Frankfurt a. M. 1981 25) Habermas, Jürgen: "Moderne und postmoderne Tradition in: Die andere Tradition München 1981, nachgedruckt in: Habermas, Jürgen "Die Neue Unübersichtlichkeit" Frankfurt a. M. 1985 26) Klotz, Heinrich: "Kunst im 20. Jahrhundert", a.a.0. 27) Aicher, Otl: "Die dritte Moderne", in: Die Welt als Entwurf München 1991, S. 40 ff. 28) Habermas, Jürgen: "Der philosophische Diskurs der Moderne", a.a.O., S. 107 29) Habermas, Jürgen a.a.O., S. 279 f. 30) ebenda, S.304 31) Eco, Umberto: "Einführung in die Semiotik", München 1972 32) Eco, Umberto a.a.O. 33) Habermas, Jürgen "Der philosophische Diskurs der Moderne", a.a.O., S. 344 f 34) ebenda, a.a.O. 35) Klotz, Heinrich, a.a.O. 36) ebenda, S.175 37) ebenda, S.182 38) Aicher, Otl: "Krise der Moderne", in: Die Welt als Entwurf, a.a.O., S. 15 ff. 39) ebenda, S.19 40) ebenda, S.22

26

41) Aicher, Otl "Die dritte Moderne", a.a.O., S. 53 42) Snow, C.P.: "Die zwei Kulturen. Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz", Stuttgart 1967 43) Bürdek, B. E. : "Verkommt der Begriff Avantgarde?", in: Design Report, Nr. 10/1994 44) Norman, Donald A.: "Dinge des Alltags", Frankfurt/New York 1989 45) Nouvel, Jean: "Projekte, Wettbewerbe, Bauten 1980-1990" in: Noever, Peter (Hrsg.): Architektur im Umbruch. Neun Positionen zum Dekonstruktivismus München 1991 46) Grassmuck, Volker R.: "Die Turing-Galaxis. Das Universal-Medium auf dem Weg zur Weltsimulation" in: Lettre International, Nr. 48 Frühjahr 1995