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MASTERARBEIT/ MASTER THESIS Titel der Masterarbeit / Title of the Master Thesis Natur und Narratologie Ökologische Erzählweisen in Max Frischs Erzählung „Der Mensch erscheint im Holozän“ und Peter Handkes Erzählung „Die Lehre der Sainte-Victoire“ verfasst von / submitted by Florentine Buchbauer angestrebter akademischer Grad / in partial fulfilment of the requirements for the degree of Master of Arts (MA) Wien, Juli 2019 / Vienna, July 2019 Studienkennzahl lt. Studienblatt / degree programme code as appears on the student record sheet: UA 066 817 Studienrichtung lt. Studienblatt / degree programme code as appears on the student record sheet: Masterstudium Deutsche Philologie Betreut von / Supervisor: Univ.-Prof. Dr. habil. Eva Horn

Natur und Narratologie - othes.univie.ac.atothes.univie.ac.at/58585/1/61831.pdf · Natur und Narratologie Ökologische Erzählweisen in Max Frischs Erzählung „Der Mensch erscheint

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MASTERARBEIT/ MASTER THESIS

Titel der Masterarbeit / Title of the Master Thesis

Natur und Narratologie Ökologische Erzählweisen in Max Frischs Erzählung „Der

Mensch erscheint im Holozän“ und Peter Handkes Erzählung „Die Lehre der Sainte-Victoire“

verfasst von / submitted by

Florentine Buchbauer

angestrebter akademischer Grad / in partial fulfilment of the requirements for the degree of

Master of Arts (MA)

Wien, Juli 2019 / Vienna, July 2019

Studienkennzahl lt. Studienblatt /

degree programme code as appears on

the student record sheet:

UA 066 817

Studienrichtung lt. Studienblatt /

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the student record sheet:

Masterstudium Deutsche Philologie

Betreut von / Supervisor: Univ.-Prof. Dr. habil. Eva Horn

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Inhaltsverzeichnis

1 EINFÜHRUNG UND VORGEHEN .................................................................. 1 2 DAS ANTHROPOZÄN: EINE GESCHICHTE DES MENSCHEN .............. 4

2.1 DIE NEUE RAUM-ZEIT-DIMENSION: DIPESH CHAKRABARTY ........ 8 2.2 DICHOTOMIEN DES ANTHROPOZÄNS ................................................. 14 2.3 NARRATIVE DES ANTHROPOZÄNS ...................................................... 18

3 NATUR IM MENSCHEN, MENSCH IN DER NATUR:

ANTHROPOLOGISCHE GRUNDGEDANKEN ............................................. 22

3.1 PHILOSOPHISCHE ANTHROPOLOGIE 1928: HELMUTH PLESSNER 23 3.2 BRUNO LATOUR: WIR SIND NIE MODERN GEWESEN ...................... 27

4 LANDSCHAFT, KLIMA, ERZÄHLUNG: NATUR UND

NARRATOLOGIE ............................................................................................... 35

4.1 LANDSCHAFT ............................................................................................ 35 4.2 KLIMA ......................................................................................................... 37 4.3 IST NATUR ERZÄHLBAR? ZU LITERARISCHEN

UMWELTNARRATIVEN ................................................................................. 39

5 MAX FRISCH: DER MENSCH ERSCHEINT IM HOLOZÄN ..................... 42

5.1 HERR GEISER SAMMELT WISSEN ......................................................... 45 5.2 HERR GEISER SPÜRT DIE ZEIT ............................................................... 51 5.3 METAMORPHOSE UND INTERDEPENDENZ: HERR GEISER UND

DAS HOLOZÄN ................................................................................................ 56

5.3.1 METAMORPHOSEN KENNT NICHT NUR DER MENSCH ........... 57 5.3.2 INTERDEPENDENZEN: HERR GEISER UND DIE NATUR .......... 64

6 PETER HANDKE: DIE LEHRE DER SAINTE-VICTOIRE ........................ 72

6.1 FORMEN UND FARBEN: PAUL CÉZANNE UND DIE SAINTE-

VICTOIRE ......................................................................................................... 74 6.2 DER ERDWANDLER: HANDKES ÖKOLOGISCHE POETOLOGIE ..... 81 6.3 INTERDEPENDENZEN: DIE SUCHE NACH DEM ZUSAMMENHANG

VON NATUR UND MENSCH .......................................................................... 86

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7 SCHLUSSFOLGERUNG UND FAZIT ........................................................... 91 8 QUELLENVERZEICHNIS .............................................................................. 94

8.1 PRIMÄRQUELLEN ..................................................................................... 94 8.1 SEKUNDÄRQUELLEN .............................................................................. 94 8.3 ONLINE QUELLEN .................................................................................. 101

9 ABSTRACT ...................................................................................................... 103

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1 Einführung und Vorgehen

Der moderne Mensch muss, sofern er sich seiner transhumanen

Position in der Welt bewusst ist, heute wieder über die Natur und

ihre Phänomene denken und sprechen. Die Industrialisierung und

zuletzt die Great Acceleration der 1950er Jahre führte zu einem

exponentiellen Anstieg mehrerer geologisch nachweisbarer Para-

meter, wie sie für das 19. Jahrhundert noch unvorstellbar waren;

die Konsumkultur war geboren und mit ihr der Bau von Staudäm-

men, die Massenmotorisierung, die Gründung von McDonalds-

Restaurants und die Möglichkeit, den internationalen Tourismus

auszubauen.1

Auf einer Tagung des Internationalen Geosphären-Biosphä-

ren-Programms in Mexiko im Jahr 20002 erfand der Atmosphä-

renphysiker Paul Crutzen den Begriff des Anthropozäns als neue

geologische, menschengemachte Erdepoche, welche das Holozän

ablösen sollte. Der Anthropozändiskurs eröffnet, als Basis dieser

Arbeit, die Möglichkeit, interdisziplinäre Narrative zu entwerfen,

welche die verändernden ökologischen Bedingungen für Natur

und Mensch hinsichtlich ihrer Interdependenznetze neu definie-

ren – und erzählbar machen. Die Dichotomien Kultur – Natur,

Mensch – Umwelt und Subjekt – Objekt stehen im Mittelpunkt

dieser Narrative und folgen einer denkerischen Tradition, die bis

ins in die Antike rückwirkt.

Das Vorhaben für diese Arbeit geht von der Annahme aus,

dass ökologische Prozesse mithilfe von literarischen Textstrate-

gien sichtbar und anlehnend an den Diskurs des Anthropozäns für

1 Vgl. Trischler, Zwischen Geologie und Natur, S. 276f. 2 Vgl. hierzu Schwägerl, Christian: Planet der Menschen. In: Zeit Online. URL: https://www.zeit.de/zeit-wissen/2014/02/anthropozaen-planet-der-menschen/komplettan-sicht . [zuletzt aufgerufen am 27.6.2019]

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diesen fruchtbar gemacht werden können. Den Textkorpus bildet

einerseits die 1979 publizierte Erzählung Der Mensch erscheint

im Holozän des Schweizer Schriftstellers Max Frisch sowie die

1980 publizierte Erzählung Die Lehre der Sainte-Victoire des ös-

terreichischen Schriftstellers Peter Handke. Beide Texte reihen

sich, im Zuge der Umweltbewegung der 1970er Jahre, in den Dis-

kurs der Umweltliteratur ein.

Das erste Kapitel skizziert zunächst die Entstehung, Verbrei-

tung und theoretischen Inhalte des Anthropozändiskurs und ver-

sucht gleichzeitig, Kategorien zur Beschreibung literarischer

Texte wie Raum, Zeit und Narratologie zu diskutieren. Zu beach-

ten ist dabei, dass diese Kategorien für die Menschheits- bzw. Na-

turgeschichte bisher vollkommen isoliert betrachtet wurden und

einer Neuauslotung innerhalb des Anthropozäns bedürfen. Die

Auslotung der neuen Zeit- und Raumverhältnisse des Anthropo-

zäns stützt sich auf die Erkenntnisse des indischen Historikers

Dipesh Chakrabarty und fragt gleichzeitig danach, ob der Mensch

und in weiterer Folge die Figuren der Texte die verschiedenen

Raum- und Zeitverhältnisse zu berücksichtigen wissen.

Sowohl Der Mensch erscheint im Holozän als auch Die Lehre

der Sainte-Victoire steht im Spannungsfeld von Mensch und der

ihn umgebenen prozesshaften Natur. Der Protagonist Herr Geiser

in Max Frischs Erzählung sieht sich, abgeschottet von der Außen-

welt, einem nahenden Unwetter ausgesetzt. Das Ich der Lehre

umwandert in kreisförmigen Bewegungen die Montagne Sainte-

Victoire, die er durch die Kunst Paul Cézannes in ihren geologi-

schen Formen und Farben erblickt. Aufgrund der Komposition

beider Erzähltexte fokussiert das zweite Kapitel auf den anthro-

pologischen Grundzusammenhang, welcher Natur und Mensch

zugrunde liegt. Helmuth Plessners Die Stufen des Organischen

und der Mensch von 1928 markiert, mit Arnold Gehlen, die An-

fänge der anthropologischen Philosophie und versucht, die gän-

gige Annahme der Dichotomie von Kultur und Natur in ihren Ein-

zelteilen vorzustellen. Das zweite Werk dieses Kapitels wird als

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Pendant zu Plessner und als anthropozentrische Neulesung der

Natur – Kultur Dichotomie diskutiert: Wir sind nie modern gewe-

sen von Bruno Latour (2008). Latours Anthropologie geht davon

aus, dass der Mensch nie modern war und die Natur durch die

stratigraphische Messbarkeit ihrer Vorgänge selbst narrativ ist.

Das Kapitel Natur und Narratologie geht der Verhandlung ein-

zelner Motive der literarischen Umwelttradition nach. Zudem soll

geklärt werden, ob der Vorwurf, ökologische Phänomene seien

aufgrund ihrer naturwissenschaftlich nachweisbaren Prozesshaf-

tigkeit literarisch nicht erzählbar, zuzustimmen ist.

Die Analysekapitel werden aufgrund ihrer Verschiedenartig-

keit nicht unter denselben Aspekten beleuchtet. Folgende For-

schungsfragen sollen im Zuge dieser Arbeit jedoch für beide

Texte beantwortet werden: Können ökologische Prozesse mit-

hilfe textanalytischer Strategien sichtbar gemacht werden? Wird

ein „literarischer Kommunikationsraum“ zur Naturbeschreibung

geschaffen?

Der Mensch erscheint im Holozän verhandelt die Frage danach,

was der Mensch über die Natur wissen kann und wie dieses Wis-

sen organisiert ist. Darüber hinaus werden, in Anlehnung an

Dipesh Chakrabarty, Textindizien zur Darstellung menschlicher

Alltags- und ökologischer Tiefenzeit untersucht. Das letzte Kapi-

tel zeichnet die Metamorphosen von Mensch und Natur im Text

nach und versucht, Interdependenzen zwischen diesen durch die

Collagetechnik zu erörtern. Darüber hinaus soll, in Anlehnung an

Latours actor-network-theory, erfragt werden, inwieweit die Na-

tur im 3. Kapitel selbst als Akteur im Text auftritt.

Peter Handkes Erzähltext geht dem Wunsch und der Begierde

nach einem Grundzusammenhang aller Dinge nach. Durch die

Bilder Paul Cézannes entwickelt Handke eine poetische Ökolo-

gie, welche die Farben und Formen der Landschaft in den Blick

nimmt, denen das erste Kapitel gewidmet ist. Kapitel 2 nimmt,

denen diese poetische Ökologie in den Blick und versucht über-

dies, eine Form der Akteursmacht ausfindig zu machen. Kapitel

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3 schließlich widmet sich dem letzten Kapitel der Lehre und der

Verschmelzung von Stadt und Natur im Text.

2 Das Anthropozän: eine Geschichte des

Menschen

Wie schon der Titel des Schweizer Schriftstellers Max Frisch an-

klingen lässt, erscheint der Mensch im Holozän, dem geologi-

schen Erdzeitalter welches mit der Erwärmung der Erde vor etwa

11.700 Jahren das Pleistozän ablöste. Und wie der Titel weiter

erahnen lässt, könnte dies alles nur so „erscheinen“. Denn im Jahr

2000, auf einem Symposium in Cuernavaca, Mexiko, verlor der

Atmosphärenchemiker und Nobelpreisträger Paul Crutzen nach

mehrmaliger Erwähnung des Holozäns die Geduld und rief (spon-

tan)3 das Anthropozän als neues Erdzeitalter aus:

For the past three centuries, the effects of humans on the global envi-ronment have escalated. Because of these anthropogenic emissions of carbon dioxide, global climate may depart significantly from natural behaviour for many millennia to come. It seems appropriate to assign the term ‘Anthropocene’ to the present, in many ways human-domi-nated, geological epoch, supplementing the Holocene […].4

Rund vierzehn Jahre nach Crutzens Publikation im Magazin Na-

ture im August 2016 veröffentlichte die Anthropocene Working

Group ein Statement: Der starke Eingriff des Menschen in die

Biosphäre mache ihn selbst zu einem geologischen Wirkungsträ-

ger, die stabile Epoche des Holozäns sei damit überholt, oder, wie

es The Guardian formuliert: „Holocene must give way to [an]

3 Es sei hier das Wort „spontan“ bewusst in Klammern gestellt. Crutzen mag den Begriff zwar popularisiert und für die breite Medienöffentlichkeit diskutierbar gemacht haben, der Begriff selbst wurde jedoch von Eugene F. Stoermer, einem Kollegen Crutzens, bereits in den 1980er Jahren verwendet. 4 Crutzen, Geology of mankind, S. 23.

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epoch defined by nuclear tests, plastic pollution and domesticated

chicken.“5 In Wissenschaftskreisen konnten seitdem Faktoren

wie veränderte Prozesse der Sedimentbildung, neue Materialien

wie Plastik und Kohlenstoffpartikel, der weltweite Anstieg des

Meeresspiegels, die Erwärmung des Planeten sowie die durch

Genmanipulation verursachte Verdrängung von Flora und Fauna

durch invasive Arten nachgewiesen werden:6 Indikatoren dafür,

dass wir das Holozän nun endgültig hinter uns gelassen haben.

Der Begriff Anthropozän leitet sich von den griechischen Be-

griffen ánthropos und kainós ab – der neue Mensch. Neu sind

damit nicht die biologischen Selektionsprozesse, der Mensch

bleibt das „Produkt biologischer und kultureller Genealogien“7,

aber die Wirktätigkeit des Einzelnen. Die transhumane Perspek-

tive des Menschen legimitiert ihn zum Antagonisten der Natur8

und zur Anwendung neuer Wissensformen, verurteilt ihn dadurch

aber auch zum Kontrollverlust. Viele der fortlaufenden globalen

Prozesse sind unaufhaltsam geworden, das Anthropozän markiert

das erstmalige physische und gedankliche „Inkludiert-Sein“ des

Menschen in die Erdgeschichte.

Doch wann begann das Anthropozän? Obwohl sich die Wis-

senschaft einig ist, dass der hochtechnisierte Mensch auf lange

Zeit der entscheidende Akteur in Umweltfragen bleiben wird, dif-

feriert die Datierung des Anthropozäns um mehrere Jahrhun-

derte.9

Die früheste Datierung geht auf die Neolithische Revolution

zurück.10 Diese löste ein stabiles Jäger-Sammler-System ab, als

die ersten sesshaften Gruppen begannen, Landwirtschaft am

5 Carrington: The Anthropocene epoch: scientists declare dawn of human-influenced age. In: The Guardian [29.6.2016] URL:https://www.theguardian.com/environ-ment/2016/aug/29/declare-anthropocene-epoch-experts-urge-geological-congress-human-impact-earth [zuletzt aufgerufen am: 5.6.2018]. 6 Vgl. Trischler, Zwischen Geologie und Natur, S. 281f. 7 Malkmus, Naturgeschichten vom Fisch, S.186. 8 Vgl. ebd. 9 Vgl. ebd., S. 272. 10 Begriffsprägung geht auf Gordon Childe (1936) zurück. Vgl. dazu: Ehlers: Das Anthro-pozän, S. 138.

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Fruchtbaren Halbmond11 zu betreiben. Die Landwirtschaft wei-

tete sich in Folge nahezu gleichzeitig am gesamten Erdball aus.12

Die Etablierung von Nutzpflanzen, Weidetieren und innovativen

Agrartechniken wie dem Pflug oder der Landrodung machte in

erster Instanz Gebiete in Europa erstmals bewohnbar, heute sind

viele dieser Landstriche dem Gegenteil anheimgefallen.13 Erst-

mals, so Trischler, veränderte der Mensch in großem Maße Land-

schaften14, er baute Siedlungen und betrieb Handel15. Moore und

Feuchtgebiete wurden zugunsten von künstlich angelegten Agrar-

flächen natürlich ausgetrocknet, durch hohen Niederschlag und

wenig Bodendichte entstand Erosion – es kam zu Verkarstung,

die Felder konnten nicht mehr bestellt werden.16 Auf die alte Welt

folgte die durch Dynamik und Veränderung geprägte Kultur-

bzw. „Agri-Kulturlandschaft“17; diese wurde zum „ungewollten

Nebenprodukt der landwirtschaftlichen Produktions-und Lebens-

weise“.18 Die Landwirtschaft als vorherrschender Lebensunter-

halt wurde schließlich um 1800 von einem dominanteren System

abgelöst: der Industrialisierung19.

Das Ende des 18. Jahrhunderts war von Verknappung geprägt.

Agrarnutzflächen wurden rar, die schnell wachsende Bevölke-

rung musste gesättigt werden. Andererseits wurden die Ressour-

cen zur Energiegewinnung in den Städten aufgrund der Rodung

der Wälder knapp.20 Die Kohlelagerstätten der Britischen Inseln

markierten den Übergang zur industriellen Revolution oder – wie

der deutsche Historiker Joachim Radkau es formuliert – den

11 Anm.: ein Gebiet der syrischen Wüste am Rande der arabischen Halbinsel 12 Vgl. Stieferle: Rückblick auf die Natur, S. 56. 13 Man vergleiche heutige landwirtschaftliche Probleme in Spanien, speziell die Wasserver-sorgung. 14 Vgl. Trischler, Zwischen Geologie und NaturS. 273. 15 Vgl. Ehlers, Das Anthropozän, S. 37. 16 Vgl. Stieferle, Rückblick auf die Natur, S. 77f. 17 Vgl. ebd., S. 53. 18 Ebd., S. 77. 19 Vgl. zur Begriffsbestimmung und unter Anführung weiterer Literatur Pfister, Art. „In-dustrialisierung“. In: EdN URL: https://referenceworks-brillonline-com.uaccess.uni-vie.ac.at/entries/enzyklopaedie-der-neuzeit/*-a1828000 [zuletzt aufgerufen am 6.7.2019] 20 Vgl. Ehlers, Das Anthropozän, S. 138.

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„Übergang vom solaren zum fossilen Energiesystem als Wesen

dieses Wandels.“21 Die drei vorherrschenden Prozesse, welche

die Industrialisierung vorantrieben, waren die Mechanisierung

der Handarbeit, der Abbau von Kohle und die Erfindung der

Dampfmaschine.22 Parallel entwickelt sich kulturgeschichtlich

eine Infragestellung der Menschlichkeit als Pendant zur Ma-

schine. Die industrielle „Revolution“, die viel mehr als ein Pro-

zess der longue durée, denn ein Ereignis bezeichnet werden

muss23, führte zu langfristig tiefgreifenden Veränderungen der

Gesellschaft gegenüber ihrer Umwelt. Der im 19. und 20. Jahr-

hundert vorherrschende Konflikt zwischen Fortschritt und Ent-

schleunigung zeugt vom Wissen über eine „vom Menschen ge-

machte“ Natur, eine dezidiert „berührte Natur“. Die totale Land-

schaft der alten Welt ist zu dem Zeitpunkt längst verschwunden.

Innerhalb der Anthropozänforschung wird der Beginn der

neuen Erdepoche am häufigsten auf 1800, das Jahrhundert der in-

dustriellen Revolution, datiert. Angesichts der damals zwar noch

langsamen aber stetigen Massenindustrialisierung ist es notwen-

dig, nicht nur von einem neuen Erdzeitalter sondern auch von ei-

nem neuen Denkzeitalter zu sprechen. Die „[...] Jahrhundert-

wende 1800 ist auch diskursgeschichtlich ein Anfang“, so Eva

Horn „denn sie beginnt ganz ausdrücklich, das Anthropozän auch

zu denken.“24

Aber auch ein weiterer Datierungsvorschlag wurde aus gutem

Grund von der Wissenschaft in Betracht gezogen: die Great Ac-

celeration der 1950er Jahre. Sie markiert als aktuellste Datierung,

so könnte man es heute sehen, die unumkehrbare Entscheidung

des Menschen, sich gegen den von Hans Jonas geforderten öko-

logischen Imperativ zu stellen: „Handle so, dass die Wirkungen

21 Ebd., S. 139. 22 Vgl. Trischler, Zwischen Geologie und Natur, S. 275. 23 Vgl. ebd. 24 Horn: Klimatologie um 1800, S.88.

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deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten

menschlichen Lebens auf Erden.“25

2.1 Die neue Raum-Zeit-Dimension: Dipesh

Chakrabarty

Der beginnenden Milliardengesellschaft steht heute eine kran-

kende Natur gegenüber. Die Auswirkungen des Übergangs von

mobilen Lebensformen zur Sesshaftwerdung, der in weiterer

Folge beginnenden Industrialisierung im 18. Jahrhundert sowie

des Beginns der Wohlstandsgesellschaft nach dem zweiten Welt-

krieg sind dramatisch: „It is now virtually certain that CO2 con-

centrations will reach 550 ppm (the doubling point) sometime in

the middle of this century.”26 Der indische Historiker Dipesh

Chakrabarty macht in seinem Artikel Climate and Capital: On

Conjoined Histories auf die Problematik der menschlichen Per-

spektive auf den Klimawandel aufmerksam:

The climate crisis thus produces problems that we ponder on very dif-ferent and incompatible scales of time. Policy specialists think in terms of years, decades, at most centuries, while politicians in democracies think in terms of their electoral cycles. Understanding what anthropo-genic climate change is and how long its effects may last calls for think-ing on very large and small scales at once, including scales that defy the usual measures of time that inform human affairs.27

In der überwiegenden Zahl wissenschaftlicher Diskussionen über

das Anthropozän dominiere die historisch-menschliche Zeit-

spanne über die geologische Zeitspanne, so Chakrabarty.28 Der

indische Historiker kritisiert in seinem Essay Anthropocene Time

die dominierende Rolle des Menschen in der Anthropozände-

batte, welche bereits Crutzen und Stoermer durch ihren Ausruf

25 Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung, S. 36. 26 Edwards, A Vast Machine, S. 438f. 27 Chakrabarty, Climate and Capital, S.3. 28 Vgl. Chakrabarty, Anthropocene Time, S. 6.

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des Anthropozäns in den Mittelpunkt der Diskussion stellten: „

[...] it was not the nature of geological time that was foremost in

their considerations. They saw the world as a convenient short-

hand for pointing out the size of the human footprint on the planet

[...].“29 Dieses Ungleichgewicht zwischen human-centered thin-

king und planet-centered thinking führt dazu, dass der Mensch

das Ausmaß der Erderwärmung nicht hinreichend begreifen kann.

Die vergleichsweise lange Zeitspanne der Erdzeitalter steht einer

rasanten Entwicklung des Menschen gegenüber; beide sind unter-

schiedlich organisiert.

Die historisch-menschliche Zeitspanne (Time of World His-

tory) definiert sich über ihre historischen Einschnitte, ihre sozia-

len Prozesse, politischen Entscheidungen und die Erwartung des

Einzelnen an die Zukunft.30 Vor dem Hintergrund der menschli-

chen Zeitspanne erscheint der Klimawandel lediglich als Projek-

tionsfläche der individuellen und kollektiven Handlungsmacht

und -möglichkeit.31

Die für die Geologie relevante Dimension der geologischen

Zeitspanne kennt allein die stratigraphische Arbeit am Fragment,

an Gesteinsschichten und Ablagerungen; die Nachweisbarkeit

über die Veränderung der Erdtemperatur ist essentiell, jedoch für

die menschliche Zeitspanne schwer denkbar:

[G]lacial-interglacial cycles entail thinking on temporal scales that are indeed too large for any political-affective apprehension, and hence for the making of politics or policy. Some of the earth processes are ex-tremely slow in human terms.32

Für die Kultur- und Geschichtswissenschaft stellt sich hiermit die

Frage, ob der Mensch überhaupt in Zeitaltern denken kann und

wie dieses Wissen organisiert wäre. Welche Zeitspanne ist für

29 Ebd., S. 7. 30 Vgl. ebd., S. 16. 31 Bruno Latour verweist hier unter anderem auf den Klimagipfel in Paris im Jahr 2016. 32 Chakrabarty, Anthropocene Time, S. 22.

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den Menschen überhaupt begreifbar um das Anthropozän ange-

messen denken zu können? Für Chakrabarty liegt die Antwort in

den Schichten der Erde selbst:

These are all events or processes that have been affected by human ac-tivity but they act themselves out not on the time scale of world history but on geological scales of time. Geological time is not identical to ab-solute mathematical time. There remains a material side of time for ge-ologists, for there is no geological time without geological objects. Ul-timately, for the purposes of our discussion, this time is written into the strata of the planet.33

Die Dimension von Zeit in der neuen Erdepoche wird durch die

Stratigraphie, und dadurch auch für den Menschen, erst erkenn-

bar; Noch konkreter, dass ökologische Veränderungen an den na-

türlichen Dingen der Außenwelt lesbar sind. Die politische Infor-

mationsverteilung sorgt jedoch dafür diesen Beweisen – man

denke an das schmelzende Eis der Arktis oder die Verkümmerung

des Great Barrier Reefs infolge der Übersäuerung der Meere –

wenig bis keine politische Beachtung zu schenken. Chakrabarty

problematisiert diese Neigung des Menschen, Wahrscheinlich-

keiten über paläontologisches und geophysisches Fachwissen zu

stellen: „[W]e manage our societies by calculating risks and as-

signing probability values to them.“34 Chakrabarty führt den Ge-

danken weiter und konstatiert: „[T]he world climate system [...]

is there in a relatively predictable form to be managed by human

ingenuity and political mobilization.“35

Die zwei Zeitdimensionen des Anthropozäns zeigen dennoch

die Verlagerung von der Frage der Erde zur Frage des Menschen.

Die Beschäftigung der Geologie mit den natürlichen Prozessen

der Erde, die Außenperspektive auf das, was – mit den Worten

Goethes – die Welt im Innersten zusammenhält, wird von der

33 Ebd. Hervorhebungen durch die Verfasserin. 34 Chakrabarty, Climate and Capital, S. 4. 35 Ebd.

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menschlichen Innenperspektive, die der äußerlichen Natur zerstö-

rerisch begegnet, entmachtet.36 Dem Konzept des Anthropozäns

werden so nachträglich plausible Attribute zugeschrieben. Der

Begriff war schon ausgerufen, bevor die Geologie stratigraphi-

sche Kriterien zur Verifizierung der neuen Erdepoche auswerten

konnte.37 Die Wissenschaft hinkt hinter einem Konzept nach,

welches sich selbst bereits tausendfach multipliziert hat. Den-

noch, so Chakrabarty, muss die Erde weiterhin die Diskussion ih-

rer eigenen Zerstörung anführen: „The protagonist of Earth sys-

tem history is thus the Earth system itself, not humans. Humans,

in any case, come very late in that history.“38

Neben der zeitlichen bedarf es zudem der räumlichen Dimen-

sion des Anthropozäns. Mit der Frage nach dem Raum muss auch

nach der Verantwortung für den Klimawandel gefragt werden.

Chakrabarty bemerkt dazu:

There are good reasons why questions of justice arise. Only a few na-tions (some twelve or fourteen, including China and India in the last decade or so) and a fragment of humanity (about one-fifth) are histori-cally responsible for most of the emissions of greenhouse gases so far.39

Die Verantwortung für die Prozesse des Klimawandels ist somit

keine des einzelnen Menschen per se, aber immer gewisser Kul-

turen und deren Kooperationsbereitschaft „Das kann“, so Eva

Horn, „einerseits bedeuten, sich [...] noch einmal völlig neu Ge-

danken über den Menschen als Spezies zu machen [...].“40 Das

soziale Ungleichgewicht bei dem Ausstoß von Schadstoffemissi-

onen könnte größer und paradoxer nicht sein. „It is, ironically,

thanks to the poor – that is, to the fact that development is uneven

and unfair – that we do not put even larger quantities of green-

house gases into the biosphere than we actually do.“41 Wie soll

36 Vgl. ebd., S. 29. 37 Vgl. Autin, Multiple dichotomies, S. 220. 38 Chakrabarty, Anthropocene Time, S. 25. 39 Chakrabarty, S. 10. 40 Horn: Jenseits der Kindeskinder, S.9. 41 Chakrabarty, S. 11.

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sich die Spezies Mensch nun innerhalb dieses für sie neuen Zeit-

und Raumgefüges verorten? Die „alte“ Zeitdimension, welche die

Epoche des Holozän bestimmte, ist irrelevant geworden. Wollen

wir im Anthropozän leben, muss der Mensch lernen, die innerhalb

seiner human timescale verursachten Handlungen, welche die

Erde wärmer werden lassen, auch in der geological timescale

denken zu können. Ein weiteres Merkmal des anthropozentri-

schen Weltbildes ist die Verschiebung der Raumdimension. Galt

Europa, und hier speziell die Britischen Inseln, als Ursprung der

Industrialisierung, so ist es heute die ganze Welt. Als neue Kli-

masündergröße wird China geahndet, der größte CO2-Produzent

der Welt und das obwohl, und dies erscheint paradox, China in-

nerhalb der WTO bis dato den Status eines Entwicklungslandes

trägt.

Bernhard Malkmus bemerkt hierzu lakonisch, dass, sollten wir

in diesen Paradoxa weiterhin verweilen, „für die Dramaturgie der

Zukunft [...] dann nicht mehr viel übrig [bleibt].“42 Die Frage

nach der Verortung ist zugleich eine Frage nach den Vor- und

Nachteilen, die das Anthropozän mit sich bringt. Die durch die

Great Acceleration und die Atombombentests der 1950er Jahre

veränderten Bedingungen menschlichen Lebens verlangen nach

ethischer Verantwortung und der medialen Verbreitung und Be-

schäftigung mit den geologischen Katastrophenzuständen der Ge-

genwart. Simon Dalby fasst zusammen:

The Anthropocene is now more than a proposed new geological epoch that marks the transformation of the Earth System wrought by human-ity; it has become a contentious term and a lightening rod for political and philosophical arguments about what needs to be done, the future of humanity, the potential of technology and the prospects for civilization. It is so in part because the future is not determined and, while the An-thropocene has already turned out to be bad for many species that have been made extinct as a result of human action, whether it will turn out to be bad for humanity in the future depends in part on what is decided by the rich and powerful parts of our species in coming decades.43

42 Malkmus, Naturgeschichten vom Fisch, S. 188. 43 Dalby, Framing the Anthropocene, S. 34.

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Erstmals in der Geschichte der Menschheit wird ein neues Erd-

zeitalter und damit die sich erwärmende und zunehmend zerstörte

Biosphäre zu einem politischen, kulturellen, wissenschaftlichen,

sozialen und auch literarischen Thema. Die interdisziplinare Di-

mension des Anthropozäns fragt nach einer klar positionierten

Haltung: Ist das Anthropozän nun gut oder schlecht?

Nach dem Early Anthropocene (Neolithische Revolution), der

Great Acceleration der 50er sowie der post-1950 Great Accele-

ration sei es nun an der Zeit, so Kunnas, die zukünftigen Folgen

als gut oder schlecht zu bewerten.44 Ein gutes Anthropozän, so

Kunnas, würde die Einhaltung der ökologischen Belastungsgren-

zen nach Rockström bedeuten45. Vier der neun Belastungsgren-

zen wurden bereits überschritten: die Werte der Erderwärmung,

der Biodiversitätsverlust, der Stickstoff- und Phosphorkreislauf

sowie die agrarische Landnutzung. Die Überschreitung der

Grenzwerte geschieht sowohl auf regionaler als auch planetari-

scher Ebene. Der Wissenschaftler Simon L. Lewis verortet darin

die Problematik der planetary boundaries: „The first flaw, from a

human-welfare perspective, is that not all of the identified para-

meters are true thresholds that, once passed, can be recovered to

move back to Holocene-like conditions. Some parameters are fi-

xed limits, not boundaries.“46

Das Konzept der planetary boundaries macht die anthropo-

zentrische Sicht auf den Menschen und seine Verstrickung als

ökologische Macht besonders deutlich. Die fixed limits wurden

bereits überschritten, ein Zurück ins Holozän ist nicht mehr mög-

lich. Gleichzeitig wird durch die vage Definition von thresholds

die Unsicherheit geologischer Wissensbestände und ihrer Mes-

sungen sichtbar. Auch der amerikanische Wissenschaftler Erle

Ellis spricht sich für eine positive Verhandlung des Anthropozäns

aus. Die Fähigkeit der Menschen, Milliarden zu ernähren, länger

44Vgl. Kunnas, S. 139. 45Vgl. Rockström [u.a.]: A safe operating space for humanity, S. 472 – 475. 46 Lewis: We must set planetary boundaries wisely, S. 417.

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und gesünder zu leben als im Holozän und technische Errungen-

schaften zur Optimierung des Lebensstandards einzusetzen,

seien, so Ellis, eine positive Entwicklung:

A good, or at least a better Anthropocene is within our grasp. Creating that future will mean going beyond fears of transgressing natural limits and nostalgic hopes of returning to some pastoral or pristine era. Most of all, we must not see the Anthropocene as a crisis, but as the beginning of a new geological epoch ripe with human-directed opportunity.47

Die Komplexität der ungenauen Datierung des Anthropozäns,

ferner die modernen Wissensbestände und die Kommunikation

dieser geologischen Veränderungen durch die gesellschaftliche

Lebenswelt stellen den Menschen vor eine ungeahnte Hürde: die

vermeintliche Unerzählbarkeit der prozessualen Natur und die

gleichzeitige Verstrickung der Spezies Mensch in diesen Prozess,

der nach Beschreibung verlangt. Der Mensch hat sich selbst als

Namens- und Zukunftsgeber einer neuen Epoche entpuppt. Es ist,

mit den Worten Ellis, die human-directed opportunity, Interde-

pendenzen zwischen planet-centered thinking und human-cen-

tered thinking zu finden, wie es sich die Geistes- und Kulturwis-

senschaften sich zur Aufgabe gemacht haben.

2.2 Dichotomien des Anthropozäns

Anders als die Klimatheorie Herders und Montesquieu um 1800

steht der Mensch im 21. Jahrhundert vor dem Ende des bisher so

gesehenen dichotomischen Verhältnisses von Mensch und Natur,

und damit auch vor dem Ende des Egozentrimus und mitten in

einem anthropozentrischen Denken. Trischler formuliert dies so:

47Ellis: The Planet of no Return. In: The Breakthrough 2012. URL: https://thebreak-through.org/index.php/journal/past-issues/issue-2/the-planet-of-no-return [zuletzt aufgeru-fen am 18.6.2018]

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Genau darin liegt die zentrale Bedeutung des Anthropozäns als kultu-relles Konzept. Es lässt etablierte Grenzlinien auf vielen Ebenen un-scharf werden. Insbesondere aber eröffnet es die Möglichkeit, sich von überkommenden Dichotomien wie Natur und Kultur zu lösen und das Verhältnis von Umwelt und Gesellschaft als unauflösliche Verknüp-fung neu zu bestimmen.48

Die Fülle an interdisziplinärer Forschungsliteratur belegt jedoch

eines sehr deutlich: Das Anthropozän als neue Erdepoche bleibt

ein informelles wissenschaftliches Konzept, eine Reaktion auf ein

weltweites Problem, welchem nachträglich wissenschaftliche

Termini zugeordnet wurden.49 Gerade diese Pluralität wissen-

schaftlicher Diskurse, welche das Anthropozän in den Medien

diskutierbar macht, bedingt die vielzählige Dichotomienbildung

innerhalb des mittlerweile popularisierten Begriffes.

In der Geologie beläuft sich die vieldiskutierte Dichotomie auf

die Periodisierungsproblematik des Anthropozäns, wie zu Beginn

bereits erläutert wurde. Würde der Beginn der neuen Erdepoche

beispielsweise mit 1945 datiert werden, fielen alle anderen histo-

rischen Einschnitte ins Holozän. Der Begriff büßt dadurch seine

Mulitdisziplinarität ein; umgekehrt erschweren die multiplen De-

finitionsversuche die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft.50 In

Hinblick auf Kunst, Philosophie, Politik und Literatur ist diese

Dichotomie deshalb relevant, da sie die Idee des Anthropozäns

dezidiert als naturwissenschaftliche Hypothese ausweist, die in

die geologische Zeitskala eingeschrieben ist und die Interdiszip-

linarität von Mensch und Natur unterstreicht.51 „Die bisherige

blinde, also zweckfreie Evolution wird durch eine gerichtete Evo-

lution ergänzt [...], so Schwägerl.

Dieser gerichteten Evolution versuchen andere wissenschaftli-

che Disziplinen, vorrangig die Geistes- und Sozialwissenschaf-

ten, zu begegnen. Die zweite, und diese Arbeit bestimmende Di-

chotomie im Anthropozänkonzept stellt sich gegen die Annahme

48 Trischler, S. 271. 49 Vgl. Autin, Multiple dichotomies, S. 220. 50 Vgl. ebd., S. 223. 51 Vgl. Schwägerl, Mensch macht Natur, S. 59.

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der Moderne, „das höherwertige menschliche Tun von der min-

derwertigen Natur abzugrenzen.“52 Die Dichotomie Natur – Kul-

tur bildet eine der wesentlichen Problemfelder der philosophi-

schen Anthropologiekritik, deren Anspruch darin liegt, die Leer-

stelle, welche bei der Übertragung naturwissenschaftlicher Er-

kenntnisse in andere Wissensbereiche entsteht, zu füllen.53 Die

Gegenüberstellung beider Pole legitimiert bereits seit der Antike

den Definitionsversuch von Natur durch Kultur, und vice versa.54

In der Forschung einigt man sich auf drei große Umbrüche im

Verständnis von Natur, welche zugleich drei unterschiedliche Na-

turentwürfe darstellen.55 Ersterer begreift Natur nach Platon als

„Erscheinung ewiger Ordnung“56, mathematisch organisiert und

dadurch für das Individuum kognitiv zugänglich, von göttlichem

Ursprung und zugleich als ein Element der Lebenspraxis des

Menschen.57 Der zweite Umbruch kann mit der vorschreitenden

Entwicklung der Naturwissenschaften und Technik im 18. Jahr-

hundert datiert werden.58 Der dritte Umbruch, den die Gegenwart

gerade erfährt, wurde durch die ökologische Krise und den men-

schengemachten Klimawandel initiiert59 und zwingt zur philoso-

phischen Neuverhandlung des Dualismus Natur/Kultur.

Augenscheinlich ist zunächst, dass der Versuch der Wissen-

schaft eine getrennte Betrachtung der Idee von Natur und Kultur

vorzunehmen dabei helfen kann, die Bestimmungsgrenzen beider

Teile schärfer ziehen zu können.60 Im 2011 erschienenen Band

der Zeitschrift für Kulturphilosophie zum Thema Naturalisierung

werden unterschiedliche Aspekte der Beziehung von Natur/Kul-

tur diskutiert. Einige sollen nun kurz skizziert werden.

52 Ebd., S. 60. 53 Vgl. Rölli, Fines Hominis, S. 8. 54 Vgl. Köchy, Naturalisierung der Kultur, Kulturalisierung der Natur, S. 141. 55 Vgl. Schäfer, Wandlungen des Naturverständnisses, S. 28. 56 Ebd. 57 Vgl. ebd., S. 31f. 58 Vgl. ebd., S. 36. 59 Vgl. ebd., S. 43. 60 Vgl. Köchy, Naturalisierung der Kultur, Kulturalisierung der Natur, S. 141.

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In seinem Modell fragt Thomas Kirchhoff nach der Erfahrbarkeit

natürlicher/ökologischer Vorgänge durch ein Individuum. Denn

setzt die Erfahrbarkeit der Natur als Antonym zur Kultur einen

„kulturell“ eingebetteten BetrachterIn voraus, ist anzunehmen,

dass sich der schwarz-weiß Dualismus in ein Naturmodell auf-

löst, welches nicht objektiv gegeben ist, „sondern etwas Objekti-

ves [darstellt], das intersubjektiv konstituiert ist“ – durch die Kul-

tur.61 Es wurde bereits angedeutet, dass der Mensch ein Konglo-

merat natürlicher und kultureller Genealogien verkörpert.

Thomas Kirchhoff zufolge bildet Kultur „das Resultat eines An-

passungsprozesses von Gesellschaften an Natur [...]“62 ab. Führt

man diesen Gedanken heute weiter würde dies bedeuten, dass

kulturelle Deutungsmuster auf eine Nachahmung zur Anpassung

an die Natur abzielen63, womit man bei einem Naturalismus ver-

weilt, von dem in der heutigen Profit- und Wegwerfgesellschaft

global nur das Gegenteil behauptet werden kann.

Christoph Hubig wiederum sieht Natur als „Inbegriff des Wir-

kens [...], welches ohne Zutun des Menschen oder allenfalls auf

dessen Veranlassung hin eintritt.“64 Hubig geht davon aus, dass

der Natur, will man sie als Ganzheit begreifen, immer schon ein

technomorphes Naturverständnis zugrunde lag; Als „transzen-

dentes Subjekt, personalisiert im Schöpfer, säkularisiert in

Schöpfung oder Evolution“ wird sie zu einer Natur, die ihre Na-

türlichkeit verliert65, ein Gedanke, der an die Philosophie Günther

Anders anknüpft. Für die Geologie ist diese Auffassung von der

Ganzheit der Natur mehr als fraglich. Letztere versucht explizit,

der Erde als prozessuales System und als politischer Akteur eine

Stimme zu geben.

Der deutsche Philosoph Kristian Köchy verweist auf die histori-

sche Wiederholbarkeit der Natur/Kultur-Debatte, welche nicht

61 Vgl. Thomas Kirchhoff, Natur als kulturelles Konzept, S. 69. 62 Ebd., S. 71. 63 Vgl. ebd. 64 Hubig, Von Inbegriffen zu Reflexionsbegriffen, S. 103. 65 Ebd., S. 104.

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zuletzt in den so genannten „Science Wars“ der 1990er Jahre kul-

minierte.66 Er plädiert einerseits für eine Kulturalisierung der Na-

tur, da diese „stets einen Reflexionsbegriff und somit letztlich ein

kulturelles und historisches Konzept darstellt“ und jedes Natur-

verständnis [...] eine kulturelle Sichtweise auf die natürliche Um-

welt zum Ausdruck“67 bringt. Kultur führe so als Entwicklungs-

prozess über die Natur, deren natürliche Objekte sie sich bedient

und deren Zwecke sie ausführt, weit hinaus.68 Andererseits ist ge-

rade die Kultur durch den sie schaffenden Menschen ein Produkt

ihrer Umwelt und damit „naturalisiert“.69

Alle drei Positionen verdeutlichen die Schwierigkeit, die Kon-

zeption von Natur und Kultur getrennt voneinander betrachten zu

können: Natur als evolutionäres Wirken, losgelöst von kulturellen

Prozessen; die Legitimierung der Kulturphilosophie, welche Na-

tur lediglich als Reflexionsbegriff unserer heutigen Welt verste-

hen möchte; das Bindeglied eines menschlichen Betrachters; das

technomorphe Verständnis von Natur und, über allem, die un-

überwindbare Interdependenz zwischen Natur und Kultur. Für die

alte Dichotomie bleiben jedoch nur mehr Gründe für deren Auf-

lösung.

2.3 Narrative des Anthropozäns

Narrative suggerieren Orientierung und simulieren Erkenntnis.

Folgt man dem Anthropozändiskurs so fördert dieser narratologi-

sche Strukturen zutage, welche augenscheinlich nicht in die na-

turwissenschaftliche Debatte rund um die Krise des Planeten ein-

ordbar zu sein scheinen. Die relativ jungen Genres des Ökothril-

lers, des Umweltromans, der Umweltlyrik und der Eco-Graphic-

66 Vgl. Kristian Köchy, Naturalisierung der Kultur, Kulturalisierung der Natur, S. 143. 67 Ebd. S. 142. 68 Vgl. ebd., S. 145. 69 Vgl. ebd., S. 142.

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Novels70 zeigen aber bereits die von Aleida Assmann geforderte

Aufgabe der Literatur- und Kulturwissenschaften, Teil der sich

verändernden Lebensbedingungen zu sein und diese zu reflektie-

ren.71

Um den Brückenschlag von Geologie und Literaturwissen-

schaft zu überwinden, sei – mit den Worten Gabriele Dürbecks –

die These formuliert, dass „das Konzept des Anthropozäns eine

inhärente narrative Struktur hat“ und es „durch das Medium der

Erzählung neuen Deutungen der conditio humana in unserer Zeit

aufzeigt.“72 Die Multiperspektivität des Anthropozäns besitzt

eine Vielzahl solcher Narrative aus unterschiedlichen wissen-

schaftlichen Disziplinen. Dürbecks theoretisches Modell geht

nun von der Annahme aus, dass das Anthropozän selbst das Me-

tanarrativ für eben diese ihm innewohnende Narrative bildet, de-

ren gemeinsame Strukturmerkmale (Plot, Story, Protagonisten,

Zeit, Raum, Handlung) sich rückwirkend auf ihr Metanarrativ be-

ziehen lassen.73 „Bemerkenswert ist“, bemerkt Ursula Heise,

„dass das Anthropozän-Konzept durchgehend als ein Narrativ

präsentiert wird, als eine Geschichte mit Protagonisten, einer Er-

eigniskette, einem Plot mit Ursache-Wirkungs-Verhältnissen“74

und die von Chakrabarty formulierten neuen Raum- und Zeitver-

hältnisse vereint. Die komplexen Zusammenhänge innerhalb des

Anthropozäns werden durch die „Anthropozän-Narrative“, wel-

che „etablierte Positionierungen des Menschen infrage [stel-

len]“75 erst evident.

Dürbeck nennt fünf Narrative, welche sich nicht nur hinsicht-

lich des wissenschaftlichen Diskurses unterscheiden, sondern

auch unterschiedliche Periodisierungsvorschläge des Anthropo-

70 Gabriele Dürbeck, Johannes Nesselhauf: Figuren und narrative Instanzen, S. 2. 71 Vgl. Aleida Assmann, Die Grenzenlosigkeit der Kulturwissenschaften, S. 47. 72 Gabriele Dürbeck, Narrative des Anthropozäns, S. 3. 73 Vgl. ebd. 74 Ursula Heise, Comparative Ecocriticism in the Anthropocene, S. 21. 75 Vgl. Dürbeck, Narrative, S. 7.

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zäns beinhalten. Das erste Narrativ betitelt Dürbeck als Apoka-

lypsennarrativ, welches eng mit der Great Acceleration und der

„Einsicht in die Endlichkeit der natürlichen Ressourcen“76 ver-

knüpft ist. Das Gerichtsnarrativ fragt hingegen nach Ursache und

Verantwortung, nach den Schuldigen und Opfern der Klimakata-

strophe und einem Kollektivsubjekt77, dessen moralische Position

wichtiger ist denn je. Das politische Narrativ der Großen Trans-

formation schwankt zwischen dem good und bad Anthropo-

cene78, während das (bio-)technologische Narrativ Geoenginee-

ring wie das künstliche Planktonwachstum, Weltallspiegel und

künstliche Schwefelwolken zur Verminderung der Sonnenein-

strahlung79 als Schutz des Klimas vorschlägt, jedoch unter Wis-

senschaftlern heftig umstritten bleibt.80

Das fünfte und für diese Arbeit entscheidende Narrativ be-

zeichnet Dürbeck als Interdependenz-Narrativ. Das Überwinden

des cartesianischen Dualismus-Gedankens von Natur und Kultur,

die Aufhebung der Subjekt-Objekt-Beziehung und die Einbin-

dung der „Quasi-Objekte“81 macht die Verhandlung des Anthro-

pozäns als kulturelles Konzept zu einem wichtigen Dreh- und An-

gelpunkt der bisher besprochenen Narrative. Der französische

Philosoph Bruno Latour plädiert für die Aufhebung eben dieser

alten dichotomischen Vorstellung einer objektiven Natur, wel-

cher der subjektiven Kraft des Individuums unterliegt. In seinem

Aufsatz Agency at the time of the Anthropocene konstatiert La-

tour, „ [that] the Earth has now taken back all the characteristics

of a full-fledged actor.“82 Als ein Prozess, der über sich selbst zu

76 Ebd., S. 8. 77 Ebd., S. 9. 78 Man vergleiche hierzu das Bild des „Weltgärtners“ (Schwägerl), der durch richtiges Konsumverhalten, Nachhaltigkeit und moralisches Vorgehen die Welt retten kann und das dazu passende Pendant des Zurücklassens des Planetens und die Suche nach neuem Le-bensraum, wie es Hollywoodproduktionen zelebrieren. 79 Vgl. hierzu: Zeit Online. URL: https://www.zeit.de/wissen/umwelt/2018-08/erderwaer-mung-geoengineering-klimawandel-schwebeteilchen-sonnenlicht-ernteausfaelle [zuletzt aufgerufen am 7.3.2019] 80 Vgl. Dürbeck, Narrative, S. 10-12. 81 Latour, Wir sind nie modern gewesen, S. 96. 82 Latour, Agency in the Anthropocene, S. 3.

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reflektieren weiß, hat das Anthropozän „also das Potenzial, den

Dualismus (gute) Natur versus (böser) Mensch samt seiner Tech-

nik und Kultur zu überwinden und stattdessen Natur-Kultur-

Technik-Gesellschaft als interagierendes, wenn auch hochkom-

plexes Gesamtsystem mit neuen funktionalen und ontologischen

Ensembles zu sehen.“83 Die kulturelle Verhandlung des Anthro-

pozänkonzepts erreicht durch ihre Medienwirksamkeit und glo-

bale Verbreitung nicht nur alle Wissensbereiche und sozialen

Schichten, sie vereint durch Literatur, bildende Kunst, Werbung

und Film auch alle Narrative zu einem kooperierenden Netz-

werk.84

Die Literatur fungiert dabei seit der Antike als Projektions-

und Symbolfläche für die „ästhetische Erkundung physischer

Umwelten“85. In den in dieser Arbeit behandelten Texten wird

diesem Anspruch einerseits mit einer apokalyptischen Sicht auf

die Natur, wie dies der Protagonist von Max Frisch in seinem

Text Der Mensch erscheint im Holozän erfährt, und andererseits

mithilfe der ästhetischen Naturerfahrung, wie es das gehende Ich

in Die Lehre der Sainte-Victoire bei Peter Handke erzählt, begeg-

net. Literatur registriert den Moment der anthropozentrischen E-

piphanie: Die Macht, das Klima zu beherrschen, ist von der Natur

zum Menschen übergegangen, und figuriert sich nun, paradoxer-

weise, wieder in ebendieser und wird dadurch zum Beschrei-

bungs- und Bedrohungspunkt für die Protagonisten in beiden

Texten.

Um die Interdependenznetze zwischen Mensch, Natur, Land-

schaft, Tier, Pflanze, Substanz und Dingen in den Analysekapi-

teln adäquat darstellen zu können bedarf es einer anthropologi-

schen Problematisierung dieser Kategorien. Da die Fülle der wis-

senschaftstheoretischen Debatten des 20. Jahrhunderts den Rah-

83 Schwägerl, Mensch macht Natur, S. 62. 84 Vgl. Dürbeck, Narrative, S. 13-14. 85 Ebd., S. 14.

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men dieser Arbeit sprengen würde, wird der Fokus des nachste-

henden Kapitels auf den anthropologischen Schriften Helmuth

Plessners und Bruno Latour sowie ferner den ästhetisch-philoso-

phischen Schriften Georg Simmels und Michael Serres liegen.

3 Natur im Menschen, Mensch in der Natur:

anthropologische Grundgedanken

Der Mensch erfuhr im Laufe seiner Bevölkerung der Erde nach

Sigmund Freud drei große Kränkungen seines anthropozentri-

schen Weltbildes durch die wissenschaftliche Forschung.86 Mit

der ersten nennt Freud die kopernikanische Kränkung oder die

Wende zum heliozentrischen Weltbild, durch welche der Mensch

sich von der „Neigung, sich als den Herrn dieser Welt zu füh-

len“87 verabschieden muss. Die zweite Kränkung richtet sich auf

die Überhebung des Menschen gegenüber dem Tier und deren

Korrektur durch Charles Darwin – die biologische Kränkung.88

„Der Mensch ist“, so Freud, „ nichts anderes und nichts Besseres

als die Tiere, er ist selbst aus der Tierreihe hervorgegangen

[...].“89 Die psychologische Kränkung und für den Psychoanaly-

tiker die schwerwiegendste der bereits genannten zeigt dem Men-

schen, dass sein Seelenleben ein unbewusstes bleibt, welches nur

durch „unzuverlässige und unvollständige Wahrnehmung dem

Ich zugänglich und ihm unterworfen [wird] [...].“90

86 Vgl. Freud, Die Schwierigkeit der Psychoanalyse, S. 3. 87 Ebd., S. 4. 88 Vgl. ebd. 89 Ebd. 90 Ebd., S. 6-7.

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In der anthropozentrischen Gegenwart scheinen diese Kränkun-

gen überwunden, der Mensch ist wieder Herr seiner Welt gewor-

den, die Beziehung zum Tier wurde im Verlauf des 20. Jahrhun-

derts vollends gekappt91 und der Umgang mit der Natur hat zu

einem zweidimensionierten Umbruch geführt: die aktive Umge-

staltung der Natur durch Technik und Biogenetik und die passive

Umgestaltung und Gefährdung der natürlichen Umwelt durch ge-

genwärtige ökologische Belastungen.92 Die folgenden Kapitel 3

und 4 spannen den Bogen von Helmut Plessners Schrift Die Stu-

fen des Organischen und der Mensch zu Bruno Latours symmet-

rischer Anthropologie in Wir sind nie modern gewesen und stel-

len die Beziehung von Mensch – Natur – Tier in ihren anthropo-

logischen Grundzusammenhang.

3.1 philosophische Anthropologie 1928: Helmuth

Plessner

Die grundlegende These der philosophischen Anthropologie the-

matisiert den Menschen als handlungsorientiertes Wesen, der

seine pluralistischen Weltmodelle ständig neu konstituieren

muss, während das Tier, durch dessen Instinktkonstitution, immer

an die es umgebende Umwelt gebunden ist.

Helmut Plessners phänomenologische Anthropologie unter-

scheidet dahingehend zwischen der Doppelaspektivität93 der, wie

er sie betitelt, organischen (Mensch, Tier, Pflanzen) vs. anorgani-

schen Natur (Dinge), wobei sich die organische Natur durch de-

ren Lebendigkeit und Positionalität94, der Stellung in der Welt,

91 Anm.: Hierunter fallen unter anderem die in den USA üblichen factory farms aber auch die Nicht-Identifikation des homo sapiens (des weisen Menschen) mit seinen tierischen Vorfahren. 92 Vgl. Schäfer, Wandlungen des Naturverständnisses, S. 23. 93 Anm.: vgl. Plessner, Stufen des Organischen, S. 100: Die Doppelaspektivität stellt die erscheinende Gesamtheit des Dingkörpers als Außenseite eines unaufweisbaren Inneren dar. 94 Vgl. ebd., S. 132.

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von den unbelebten Dingen abgrenzt.95 Zur Positionalität eines

lebendigen Körpers gehört zudem die Beziehung zur Zeit, denn

dieser ist „zeithaft aus seinem Wesen heraus“96 und sich zeitlich

selbst vorweg97.

In Opposition zu Pflanzen, Gebirgen und Gewässer, deren Ein-

heit nur durch die Form gewahrt wird98, steht das Tier mit seinem

geschlossenen Organismus: „Dem Tier ist sein Hier-Jetzt-Cha-

rakter nicht gegeben, nicht gegenwärtig, es geht noch in ihm auf

und trägt darin die ihm selbst verborgene Schranke gegen seine

eigene individuelle Existenz.“99 Während der Instinkt Tieren hilft

sich in der Welt zu orientieren, ihre Reaktionen zu korrigieren

und sie dabei aber vollkommen abhängig von ihrer jeweiligen

Umweltsituation bleiben, hängt des Menschen Wahrnehmungs-

welt an den absoluten Dingen, die als Ordnungsträger für dessen

Wahrnehmungswelt fungieren.100 Plessner beschreibt diese diver-

gierende Zeitwahrnehmung zwischen Tier und Mensch wie folgt:

Alles Lebendige überhaupt, ob Pflanze oder Tier, ist seine Vergangen-heit – auf eine an sich durch den Zukunftsmodus, d.h. rückläufig, ver-mittelte Weise. Darin liegt der Unterschied zu den unbelebten Gebil-den. Ein Mineral, ein Berg, eine ganze Landschaft sind auch ihre Ver-gangenheit, aber sie werden unmittelbar von ihr gebildet, sie bestehen aus ihr. Das Lebendige ist dagegen mehr als nur das, was gewesen ist. Denn es ist das Seiende, das ihm vorweg ist. Insofern ist es seiner Ver-gangenheit unmittelbar entzogen und erfüllt wirklich eine Gegenwart. Es steht ihm verlaufend rückläufig in einem echten Praesens [sic] und als solches beharrt es.101

Wenn es dem Menschen möglich ist, in dem von Plessner postu-

lierten „echten Präsens“ zu leben und eodem der von ihm genann-

ten Landschaft eingeschrieben ist, welche These lässt sich dann

für das Phänomen der Klimakrise, verursacht durch eben diesen

Menschen aufstellen? Plessner führt seinen Gedanken weiter und

95 Vgl. ebd., S. 129. 96 Ebd., S. 177. 97 Vgl. ebd., S. 179. 98 Vgl. ebd. S. 218-219. 99 Ebd., S. 239. 100 Vgl. ebd., S. 264-265. 101 Ebd., S. 279.

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konstatiert, dass das Lebendige immer seine Vergangenheit ist,

da es diese „hinter sich hat“102; die Pflanze, der Berg, das Gestein

erfährt die Vergangenheit nur auf indirekte Weise.103

Die Fähigkeit, die Ganzheit der eigenen Vergangenheit zu er-

leben ist aufgrund der Lückenhaftigkeit des menschlichen Ge-

dächtnisses nur durch Destruktion möglich.104 Ungleich dem Tier

ist dem Menschen, so Plessner, dessen Wahrnehmung der eige-

nen Zentralität sowie die Fähigkeit, von sich selbst zu abstrahie-

ren und so über sich selbst zu reflektieren, Teil seiner exzentri-

schen Positionalität.105 Der Mensch besitzt damit die Möglich-

keit, die geschlossene Positionalität des tierischen Körpers „nach

dem Prinzip der Reflexivität zu organisieren und das, was auf der

Tierstufe das Leben nur ausmacht, noch in Beziehung zum Lebe-

wesen zu setzen.“106

Außenwelt, Innenwelt und Mitwelt strukturieren die Umwelt

der Spezies Mensch. Die von Plessner klassifizierte Außenwelt

der Natur gesellt sich neben die Innenwelt der Seele und die Mit-

welt, „die Bedingung der Möglichkeit, daß [sic] ein Lebewesen

sich in seiner Stellung erfassen kann, nämlich als Glied dieser

Mitwelt.“107 Daran knüpfen letztendlich auch Plessners anthropo-

logische Grundgesetze des Menschen an, die einen Bruch mit der

Natur antizipieren und einen Ausblick darauf geben, was ein hal-

bes Jahrhundert später Bruno Latours actor-network-theory zu er-

klären sucht.

Das erste Grundgesetz definiert Plessner als das der natürli-

chen Künstlichkeit. Es ist eine Form der künstlichen Antinomie:

sich aufgrund seiner exzentrischen Positionalität immer erst zu

102 Vgl. ebd. S. 280. 103 Vgl. ebd., S. 282. 104 Vgl. ebd., S. 284. 105 Vgl. hierzu Plessner S. 298-290. Anm: Für den Mensch gilt das Gesetz der Exzentrizi-tät: Sein Hier-Jetzt Sein, sein Erleben fallen nicht mehr in den Punkt seiner Existenz. Er steht auch im Vollzug des Gedankens außerhalb seiner selbst. 106 Ebd., S. 291. 107 Ebd., S. 302.

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dem machen zu müssen, der man ist; die Natürlichkeit der Lebe-

wesen, welche aus ihrer Mitte heraus leben, bleibt ihm ver-

wehrt.108 Die Exzentrik des Menschen bezeichnet Plessner auch

als Ergänzungsbedürftigkeit, diese diene der Kultur.109 Plessners

Weggefährte und Anthropologe Arnold Gehlen beschreibt diese

natürliche Künstlichkeit im nachfolgenden Absatz:

Aus dem bisher Gesagten folge, daß [sic] wir alles Natürliche am Men-schen nur in der Imprägnierung durch ganz bestimmte kulturelle Fär-bungen erfahren können. [...] Wenn die Kultur dem Menschen natürlich ist, so bekommen wir auch umgekehrt seine Natur nie als solche, son-dern nur in der Durchdringung mit je ganz bestimmten kulturellen Zu-sammenhängen zu Gesicht.110

Mit der Etablierung des Naturalismus durch Ibsen, Strindberg

und weitere wurde ein künstlerisches Prinzip zur Erforschung

dessen geschaffen, was den Menschen natürlich macht. Schon

1961 war Gehlen jedoch klar, dass „diese tendenziöse Natur ge-

nauso nichturwüchsig und kulturell durchimprägniert ist, wie es

die Konventionen waren, gegen die man sie zu Hilfe rief.“111 Da

der moderne Mensch nach Gehlen immer etwas Überformtes,

Pluralistisches personifiziert, appelliert er an die Leser,

[...]daß [sic] wir nicht mehr das jeweils hypertroph Gewordene und Überfütterte am Menschen, den Geist oder die Triebe, für den Men-schen erklären. Daß [sic] wir einen Sinn bekommen haben für das Plu-ralistische im Menschen, ja für das der Möglichkeit Anarchische. Und zugleich sehen wir ihn auf dem Hintergrund der jeweiligen Gesell-schafts- und Arbeitsverhältnisse.112

Das zweite anthropologische Gesetz nennt Plessner das Gesetz

der vermittelten Unmittelbarkeit, welches den Bezug zwischen

Mensch und Wissen problematisiert. Der Mensch verfügt allein

über seine Bewusstseinsinhalte, derentwegen sein Wissen über

die Dinge sich nunmehr zwischen ihn und das Ding an sich

108 Vgl. ebd., S. 310. 109 Vgl. ebd., S. 311. 110 Gehlen, Über Kultur, Natur und Natürlichkeit, S. 78f. 111 Ebd. S. 82. 112 Ebd., S. 55f.

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stellt:113 „Die Immanenz im eigenen Bewußtsein[sic], welche

zwischen Ding und Subjekt eine doppelt so große Distanz legt,

als sie für das Tier besteht, ist die einzige Gewähr des Kontakts

zwischen Ding und Subjekt“. Und weiter: „Nur die Indirektheit

schafft die Direktheit, nur die Trennung bringt die Berührung.“114

Bruno Latour wird, wie im folgenden Kapitel gezeigt wird, mit

seiner These über die moderne Verfassung eine Antwort auf diese

Passage Plessners geben.

Das dritte und letzte anthropologische Gesetz ist das des uto-

pischen Standortes, wonach Religion das schafft, woran Natur

und Geist versagen: ein Definitivum.115 Latour hingegen räumt

dem von ihm betitelten „gesperrten Gott“ jedoch nur mehr eine

Platzhalterposition der menschlichen Utopien ein.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass der Mensch in

Plessners Anthropologie aufgrund seines reflektierenden Be-

wusstseins von Beginn an außerhalb der Natur angesiedelt ist;

seine eigene „Natürlichkeit“ zeigt sich nur durch kulturelle Pro-

zesse. Die Beziehung zwischen Mensch und Natur wird bei Pless-

ner auf mehreren Ebenen gekappt. Die Natur wiederum zeigt ihre

Vergangenheit selbst plastisch an sich, während der Mensch diese

auf vermittelnde Weise in Hinblick auf die eigene Zukunft er-

fährt. Plessners Anthropologie destruiert viele Denkmuster, wel-

che den Menschen im 21. Jahrhundert daran hindern, der rasanten

Erderwärmung und an menschlichen Verschulden krankenden

Natur zu begegnen.

3.2 Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen

Bruno Latours Antwort auf die Anthropologie Helmuth Plessners

antizipiert, dass die seine Anthropologie beinhaltende Definition

113 Vgl. Plessner, Stufen des Organischen, S. 329. 114 Ebd., S. 332. 115 Vgl. ebd., S. 342.

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des anthropos dem aktuellen Stand der Erdgeschichte nicht mehr

gerecht zu werden vermag, da der Mensch „modern“ geworden

ist.116

Anthropologie, wie sie Latour in Wir sind nie modern gewesen

(2008) definiert, ist nunmehr sozial, narrativ und real:

Das Ozonloch ist zu sozial und zu narrativ, um wirklich Natur zu sein, die Strategie von Firmen und Staatschefs zu sehr angewiesen auf che-mische Reaktionen, um allein auf Macht und Interessen reduziert wer-den zu können, der Diskurs der Ökosphäre zu real und zu sozial, um ganz in Bedeutungseffekten aufzugehen. Ist es unser Fehler, wenn die Netze gleichzeitig real wie die Natur, erzählt wie der Diskurs, kollektiv wie die Gesellschaft sind?117

Historisch markiert der Sieg des Kapitalismus, der Atomkrieg

und der Kalte Krieg im ausgehenden 20. Jahrhundert nicht nur die

Ausbeutung von Menschen durch die sich neu etablierende Ober-

schicht sondern, und in gleich großem Maße, die Ausbeutung der

Natur118:„[...]die Natur, die man absolut beherrschen wollte, be-

herrscht uns genauso absolut, indem sie uns alle global be-

droht.“119 Der Mensch, so Latour, hat gleichzeitig die Hungersnot

und die Umweltzerstörung erfunden.120 Die Erde Plessners ist

heute eine von quasi objects und quasi subjects bevölkerte und

vom modernen anthropos kontrollierte „Gaia 2.0“121.

Die Problematik der modernen Naturverhandlung nach Latour

liegt in ihrer Reinigungs- und Übersetzungsarbeit: Während die

erste Dichotomie die Trennung von Natur und Kultur vollzieht,

wie bereits verhandelt wurde, versucht die zweite Dichotomie die

modernen Hybriden122, die eine Mischung zwischen Natur und

116 Vgl. Latour, Wir sind nie modern gewesen, S. 15. 117 Ebd., S. 14. 118 Vgl. ebd., S. 16. 119 Ebd., S. 17. 120 Vgl. ebd. 121 Vgl. hierzu Lenton/Latour: Gaia 2.0. In: Sciene 361/6407 (2018), pp. 1066-1068. URL: http://science.sciencemag.org/content/361/6407/1066 [zuletzt aufgerufen am 6.7.2019] 122 Dazu gehören künstliche Embryonen ebenso wie Wale mit ausgestatteten Sendern und cyborgs, vgl. Latour, S. 9.

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Kultur darstellen und die alle drei Bereiche verbindenden Netz-

werke für eine politische Lebenspraxis, die hinter ihren Subjekten

steht, zu übersetzen.123

Die moderne Verfassung, so Latour, fußt auf zwei großen Para-

doxen, die von drei Garantien getragen werden:

1. Paradox: Die Natur ist nicht unsere Konstruktion. Sie ist

transzendent und übersteigt uns unendlich vs. Die Gesell-

schaft ist unsere freie Konstruktion: Sie ist unserem Han-

deln immanent.

2. Paradox: Die Natur ist unsere künstliche Konstruktion im

Labor: Sie ist immanent vs. Die Gesellschaft ist nicht un-

sere Konstruktion: Sie ist transzendent und übersteigt uns

unendlich.124

Die ersten beiden paradoxen Garantien unterstreichen die Ambi-

valenz der Natürlichkeit vs. Künstlichkeit der Natur und Gesell-

schaft. 125 Die dritte konstitutionelle Garantie besagt, dass es „eine

vollkommene Trennung zwischen der Naturwelt – obwohl vom

Menschen konstruiert – und der Sozialwelt – obwohl von den

Dingen zusammengehalten – geben [soll].“126 Die anthropologi-

schen Gesetze Helmuth Plessners werden mit Latour ad absur-

dum geführt, Gott wird von der Oberfläche zwischen Staat und

Natur getilgt. Er erscheint lediglich noch als „gesperrter Gott“127,

ein Statthalter für mögliche kollidierende Interessen, der moderne

Mensch kann so „atheistisch sein und religiös bleiben.“128:

[...]das doppelte Spiel zwischen Transzendenz und Immanenz dieser drei Instanzen erlaubt, alles zu tun und sein Gegenteil. Keine andere

123 Vgl. Latour, Wir sind nie modern gewesen, S. 20 sowie S. 43. 124 Ebd., S. 45. 125 Ebd. 126 Ebd., S. 46. 127 Ebd., S. 47. 128 Ebd., vgl. hierzu auch Chakrabarty, Anthropocene Time S. 8: „Humans are playing dice with the planet, before that it was god.“

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Verfassung hat in der Praxis einen solchen Handlungsspielraum gelas-sen. Für diese Freiheit war jedoch ein Preis zu entrichten: Die Moder-nen blieben unfähig, sich in Kontinuität mit den Vormodernen zu den-ken. Sie mußten [sic] sich für absolut verschieden halten, sie mußten die Große Trennung erfinden, weil die ganze Vermittlungsarbeit aus dem konstitutionellen Rahmen fällt, der sie zwar vorzeichnet, aber ihr Vorhandensein leugnet.129

Die innere „Große Trennung“ von Natur und Kultur, wie sie das

Abendland vollzogen hat, fand, so könnte man es formulieren,

mentalitätsgeschichtlich ihren Ausdruck in der Atombombe, der

radikalen Verschmelzung von natürlichen Elementen, Wissen-

schaft und der menschlichen Begierde, welche „die Menschen

zum ersten Male dazu instandgesetzt hat, ihren eigenen Unter-

gang zu produzieren [...]“130.

Als kurzer Exkurs sei hier auf Günther Anders technophile

Philosophie verwiesen, welche an diesen Untergang anknüpft und

darüber hinaus die Frage nach dem Wesen des Menschen ver-

wirft, welcher durch Auschwitz erstmals in großem Maße zu

Rohstoff verwandelt wurde und die anthropologische Frage nach

dessen Wesen in Zeiten des cloning und der damit einhergehen-

den „Vernichtung der Spezies Mensch durch Herstellung neuer

Typen“131 als sinnfrei erklärt.132 Mit der Erfindung der Maschine

und den modernen Produktionsbedingungen müsste heute, da

„die Welt prinzipiell als Rohstoff gilt, [...] auch das Weltstück

„Mensch“, damit das Prinzip nicht verletzt werde, als solcher be-

handelt werden.“133

Die heutige Generation fühlt, dass sie sich nicht mehr in der

Moderne befindet, jedoch mit dem Gefühl, wie Latour dies be-

merkt, einer Postmoderne innezuwohnen, die kein post aufweist:

„No future ist ihr Slogan, der dem der Modernen, no past, zur

129 Ebd., S. 56. 130 Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, S. 19. 131 Ebd., S. 24. 132 Vgl. ebd., S. 22-25. 133 Ebd., S. 26.

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Seite tritt.“134 Denn was metaphysisch diese dritte industrielle Re-

volution der Maschine, der Ressourcenverteilung und der expo-

nentiell steigenden Erdbelastung zu dieser macht ist, so Anders,

die Frage nach dem, was „Welt“ bedeutet: „Stellt man heute die

Frage, so kann die Antwort also nur lauten: „Rohstoff“. Gemeint

ist die Welt also nicht als ein „an sich“, sondern als eine „für uns,

[...] Inbegriff dessen, woraus etwas zu machen wir verpflichtet

sind“135. Latour führt den Gedanken weiter: „Was Sartre von den

Menschen sagte, daß [sic] ihre Existenz ihrem Wesen vorausgeht,

muß [sic] man von allen Aktanten sagen, von der Elastizität der

Luft wie von der Gesellschaft, von der Materie wie vom Bewußt-

sein [sic].“136 Ungleich Anders betont Latour die anthropozentri-

sche Macht der Maschinen (quasi objects) und negiert die ihnen

von Anders postulierte Bedrohlichkeit für den Menschen; die

Menschheit bestehe aus ihnen wie sie aus ihm, sie ergänzen und

definieren einander137 und können so zum Positiven genützt wer-

den.

Damit sind wir, von Beginn an, nie modern gewesen und be-

nötigen eine Re-lektüre unserer Geschichte138. Latour argumen-

tiert, dass die Moderne ihren eigenen Niedergang antizipiert

hätte, dass die Natur und Wissenschaft, als die eine noch aus der

Distanz beherrschbar war und die andere eine reine Vergewisse-

rungspraxis darstellte, als friedliche Mitspieler galten; doch „[...]

wo läßt [sic] sich die Geschichte mit dem Ozonloch einordnen,

die Erwärmung der Erdatmosphäre oder das Waldsterben? Wo

soll man die Hybriden unterbringen?“139

Die Moderne unterteilt ihre Geschichte in zwei Bereiche: das

Kontingente und das Notwendige, in das von jeher existierende

134 Latour, Wir sind nie modern gewesen, S. 64. 135 Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, S. 32. 136 Latour, Wir sind nie modern gewesen, S. 115-117. 137 Vgl. ebd., S. 183. 138 Vgl. ebd. S. 64f. 139 Ebd., S. 67.

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Menschengeschlecht und nicht-menschliche Dinge, die das Not-

wendige bestimmen und ihm ein neues Gefühl der Zeitlichkeit

vermitteln.140 Man differenziert, so Latour, zwischen der Zeit

„vor“ und „nach“ dem Fall des Römischen Reiches, „vor“ und

„nach“ der digitalen Revolution, „vor“ und „nach“ der Atom-

bombe.141 Die moderne Zeitlichkeit

[...] resultiert aus der brutalen Trennung zwischen dem, was keine Ge-schichte hat, jedoch in der Geschichte auftaucht – die Dinge der Natur – und dem, was nie aus der Geschichte heraustritt – die Leidenschaften und Mühen der Menschen. Aus der Asymmetrie zwischen Natur und Kultur wird damit eine Asymmetrie zwischen Vergangenheit und Zu-kunft.142

Michel Serres schreibt in den 1990er Jahren Folgendes in seinem

Naturvertrag: „Wir sind im Augenblick nicht in der Lage, [...] die

Beziehungen zwischen verstreichender Zeit und herrschendem

Wetter zu denken: ein einziges Wort [im Französischen] zur Be-

zeichnung zweier Realitäten, die gänzlich disparat erscheinen.“143

Auch Günther Anders spricht von „Sabotagekräfte[n]“, die dem

modernen Hiob „wo und wann er etwas in Angriff nahm, deshalb

im Wege standen, weil sie Wege erforderten, also sein Schlaraf-

fenland der Unmittelbarkeit unerreichbar machten.“144 Denn das

letzte Ideal des Menschen besteht nach Anders darin, „Zeit zu ei-

ner antiquierten Angelegenheit, zu einer Sache von gestern, zu

machen.“145 Michael Serres fasst zusammen:

Die Verwalter befinden über die Kontinuität, die Medien über den dis-kontinuierlichen Alltag, nur die Wissenschaft widmet sich dem einzi-gen Zukunftsprojekt, das uns bleibt. Die drei Mächte verfügen über die „Zeit“, um jetzt über das „Wetter“ zu bestimmen und zu entscheiden.146

140 Vgl. ebd., S. 95. 141 Vgl. ebd. 142 Ebd., S. 96. 143 Serres, Der Naturvertrag, S. 51f. 144 Anders, Die Antiquiertheit des Menschen 2, S. 341. 145 Ebd., S. 342. 146 Serres, der Naturvertrag, S. 55f.

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Die Unerreichbarkeit des Ideals – der Abschaffung der Zeit – und

damit auch der Klimakatastrophe unter den derzeitigen Produkti-

onsbedingungen und Tonnen an ausgestoßenem CO2 unter-

streicht die Wichtigkeit der Auseinandersetzung mit der Natur

selbst, denn die Konstruktion von Gesellschaft und Natur bilden

lediglich das Produkt eines wechselseitigen Stabilisierungspro-

zesses147.

Um mit den Worten Latours zu fragen: Welches Narrativ

schafft nun die Möglichkeit zu erzählen, wie das Objekt das Sub-

jekt verändert, und nicht wie in der Geschichte üblich, vom Ent-

stehen des Objekts durch das Subjekt zu berichten? „Die Zeug-

nisse für diese zweite Hälfte der Geschichte bestehen nicht aus

Texten oder Sprachen, sondern aus schweigenden, rohen Reser-

ven wie Pumpen, Steinen und Statuen“: Die neuen Akteure der

Geschichte sind die stummen Dinge.148 Diese Erkenntnis Latours

bildet die Grundlage für seine actor-network-theory (ANT). La-

tours Netzwerktheorie basiert auf dessen Überzeugung, Netze als

Zeichen von richtiger Kraftverteilung und Heterogenität anzuse-

hen.149ANT eliminiert Nähe und Entfernung, ein Produkt der Ge-

ographie, die unsere Vorstellung und Definition von Landschaft

und Gebieten durch Karten prägt: ANT „makes use of the simp-

lest properties of nets and then adds to it an actor that does some

work“150. Weiter denkend tilgt ANT soziale Mikro- und Makro-

strukturen und verzichtet auf ein a priori151:

The notion of network, in its barest topological outline, already allows us to reshuffle spatial metaphors that have rendered the study of soci-ety-nature so difficult: close and far, up and down, local and global, inside and outside.152

147 Vgl. Latour, Wir sind nie modern gewesen, S. 127. 148 Vgl. zu diesem Absatz ebd., S. 111. 149 Vgl. Latour, On actor-network theory, S. 370 150 Ebd., S. 371 151 Vgl. ebd. 152 Ebd., S. 372.

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Dem network wird der actor zur Seite gestellt, welcher in der ang-

losächsischen Tradition meist einen weißen, männlichen Akteur

im Vollzug seiner Machtausweitung beschreibt.153 Latour refigu-

riert den männlichen Akteur vorerst zum Aktanten und damit zu

allem, dem eine Tat zugeschrieben werden kann: nichtmensch-

lich, menschlich, lebendig und nichtlebendig.154 ANT untersucht

somit die Verteilung zwischen menschlichen und nicht-mensch-

lichen Akteuren, ihre Eigenschaften und Relationen zueinander

sowie die Veränderung ihrer Beziehung zueinander.155 In wissen-

schaftlichen Kreisen wird Latours Netzwerktheorie des Öfteren

kritisiert, teils aufgrund ihrer begrifflichen Unklarheit, teils auf-

grund ihrer transzendent anmutenden Auslegung. Für eine anth-

ropozentrische Freilegung der narrativen Beziehungen

Mensch/Natur in den literarischen Texten dieser Arbeit bietet

ANT eine plausible Projektionsfläche für multiple Akteur-Struk-

turen, auch und gerade aufgrund ihrer Nähe zu literarischen Tex-

ten und deren Akteuren. In beiden Texten soll eruiert werden, ob

neben dem erzählenden Protagonisten noch andere, nicht-

menschliche Akteure eine literarische Stimme bekommen und

wie die Interdependenznetze zwischen Mensch und Natur erzähl-

technisch struktuiert sind.

Vom Makrokosmos der anthropologischen Philosophie führt

Latours Netzwerktheorie auf die Textebene. Das nachstehende

Kapitel überführt die bisher gedachten Begriffe von Natur,

Mensch und Kultur auf ihre mikroskopische Ebene der aktiven

Vernetzung im literarischen Text. Von der Natur zur Landschaft

und dem Klima, gedacht und „ersehen“ durch das literarisch-äs-

thetische Subjekt. Das Kapitel untersucht die Annäherung dieser

Begriffe über die Ästhetik der Landschaft von Georg Simmels hin

zu einer ästhetischen bzw. ökologischen Erzählweise der Figuren

153 Vgl. ebd., S. 372f. 154 Vgl. ebd., S. 373. 155 Vgl. ebd.

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und ihrer Landschaft als „Netzwerkliteratur“ bei Max Frisch und

Peter Handke.

4 Landschaft, Klima, Erzählung: Natur und

Narratologie

4.1 Landschaft

Insbesondere in der Literatur multiplizieren sich die kulturell be-

dingten Naturbegriffe. Natur als Landschaft, Natur als Wildnis,

Natur als System, Natur als Wetterphänomen. Landschaft hinge-

gen ist, so Kirchhoff, nicht mit Natur gleichzusetzen156; sie setze

vielmehr einen Betrachter voraus, der einen Teil der Erde als äs-

thetische Ganzheit, eben als Landschaft, wahrzunehmen vermag:

„Wenn wir Natur als Landschaft sehen, so nehmen wir Aus-

schnitte der Erdoberfläche nach einem kulturell geprägten Deu-

tungsmuster als ästhetische Ganzheit wahr.“157 Zu dieser Er-

kenntnis kam der Soziologe und Philosoph Georg Simmel bereits

1913:

»Ein Stück Natur« ist eigentlich ein innerer Widerspruch; die Natur hat keine Stücke, sie ist die Einheit eines Ganzen, [...]. Für die Landschaft aber ist gerade die Abgrenzung, das Befaßtsein [sic] in einem momen-tanen oder dauernden Gesichtskreis durchaus wesentlich; [...] Ein Stück Boden mit dem, was darauf ist, als Landschaft ansehen, heißt einen Ausschnitt aus der Natur nun seinerseits als Einheit betrachten – was sich dem Begriff der Natur ganz entfremdet.158

Um Landschaft als solche zu definieren bedarf es eines Ichs, ei-

nen Betrachter, der diese, als eine Einheit betrachtend, erschaut.

156 Zur Problematisierung des Begriffs Landschaft sei auf Hard (1970) S. 28f verwiesen. 157 Kirchhoff, Natur als kulturelles Konzept, S. 72f. 158 Simmel, Philosophie der Landschaft, S. 142.

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Sowohl Simmel als auch Kirchhoff zeichnen zwei sich wider-

streitende Gegensätze nach. Einerseits unsere neuzeitliche Auf-

fassung von Landschaft, welche eng mit unserem heutigen Sub-

jektbegriff verbunden ist und als Pendant zur objektivistischen

Naturwissenschaft gesehen werden kann159. Andererseits ein die-

sem Konstrukt widersprechendes Lager welches den Sinn der

Landschaftsanschauung als göttlichen Mikrokosmos verstanden

haben will.160 Begann der Mensch sich bereits in der Renaissance

erstmals als freies, individuelles Subjekt zu begreifen, fand diese

Entwicklung mit der Aufklärung ihren Höhepunkt.161 Simmel lei-

tet die Entstehung des Landschaftsbegriffs aus ebendieser Frei-

heitserkämpfung des neuzeitlichen Menschen ab:

Die Individualisierung der inneren und äußeren Daseinsformen, die Auflösung der ursprünglichen Gebundenheiten und Verbundenheiten zu differenzierten Eigenbeständen – diese große Formel der nachmit-telalterlichen Welt hat uns auch aus der Natur erst die Landschaft her-aussehen lassen.162

Durch den die unpersönlich-prozesshafte Natur teilenden Blick

des Menschen wird Natur zur ästhetisch-individuellen Land-

schaft, zur schmerzhaften Abtrennung vom Prinzip der Ganz-

heit.163 Für die Naturwissenschaft des 21. Jahrhunderts besteht

nicht mehr die Chance, zu einer „ganzen Natur“ als Begriffsdefi-

nition zurückzukehren; wird die Naturbetrachtung zu einer öko-

nomischen Betrachtung, verkommt die Natur zur Ressource.164

Landschaft als eigenständiger Teil der Natur, kulturell geformt

und diese gleichzeitig überformend ist, so Simmel, „vielleicht die

fundamentalste Tragödie des Geistes überhaupt, die in der Neu-

zeit zu vollem Auswirken gelangt ist und die Führung des Kultur-

prozesses an sich gerissen hat.“165

159 Vgl. ebd., S. 73. 160 Vgl. ebd., S. 77. 161 Vgl. ebd., S. 73. 162 Georg Simmel, Philosophie der Landschaft, S. 143. 163 Vgl. ebd., S. 142f. 164 Vgl. Kirchhoff, Natur als kulturelles Konzept, S. 75. 165 Simmel, Philosophie der Landschaft, S.143.

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Der Mensch bildet die Begriffe, er konstruiert die Landschaft

durch das Selektieren von Dingen. Die Brücke zu einer ästhetisch

„vollendet“ wirkenden Natur führt, nach Simmel, über die Land-

schaft als bildendes Kunstwerk:166 „Eben das, was der Künstler

tut: daß [sic] aus der chaotischen Strömung und Endlosigkeit der

unmittelbar gegebenen Welt ein Stück herausgrenzt, es als eine

Einheit faßt [sic] und formt, die nun ihren Sinn in sich selbst fin-

det [...].“167 Die ästhetisch-neuzeitliche Naturbetrachtung in Lite-

ratur und Landschaftsmalerei zielt nicht auf die Darstellung einer

kosmologischen Ganzheit der Natur ab, vermag jedoch durch die

Betrachtung eines kleinen Teils deren Ganzheit in den Vorder-

grund zu rücken.168 Das Ich bei Peter Handke beispielsweise, wel-

ches erst über die ästhetische Naturbetrachtung von Berg, Wan-

derwegen und Wäldern seine eigene Position in der Landschaft –

und seine Verschmelzung mit dieser – erfahren kann, vollzieht

diesen Kunstgriff.

4.2 Klima

Auch Klima ist heute wieder ein Begriff geworden, über den der

Mensch nachdenken – und erzählen muss. Extreme Temperatur-

schwankungen sind ein hinzunehmender Faktor des Klimawan-

dels geworden. Man hat angefangen sich zu arrangieren. Die An-

passung an das Klima und das Nachdenken über dieses folgt einer

langen Tradition, welche bis in das 18. Jahrhundert reicht.169 Die

Geologie etablierte sich im Schatten der Anthropologie und löste

das gängige Geschichtsbild der Bibel ab, welches das Alter der

Erde auf etwa 6000 Jahre datierte.170 „Erdzeit und Menschenge-

166 Vgl. ebd., S. 144. 167 Ebd. 168 Vgl. Kirchhoff, Natur als kulturelles Konzept, S. 75. 169 Vgl. Horn, Klimatologie um 1800, S. 89. 170 Vgl. Braungart, Poetik der Natur, S. 56.

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schichte“, so Braungart, „wurden unreflektiert und selbstver-

ständlich als zusammengehörig betrachtet.“171 Es gibt „kein

Nachdenken über das Klima, das nicht ein Nachdenken über den

Menschen wäre; dass Klima eine Form der Anthropologie ist

[...]“172, schreibt Eva Horn. Dieses, betont Horn, verwies im 18.

Jahrhundert vielleicht noch auf eine Tradition des Denkens, wel-

che mit meteorologischen Gegebenheiten ganze Gesellschaften

erdachte und doch immer auch einen geographischen Ort des

Menschen repräsentierte: „Grundidee der Klimatheorien des 18.

Jahrhunderts ist, dass der Mensch und die Formen seiner Kultur

nicht sinnvoll außerhalb dieser lokalen Situiertheit gedacht wer-

den können.“173 Zwei Jahrhunderte nach Herder und Mon-

tesquieu wird der Mensch, Namensgeber einer ganzen neuen Er-

depoche, versuchen, das Klima zu kontrollieren und zu verän-

dern, sich von der „stabile[n] Basis des In-der-Welt-Seins“174 ab-

zugrenzen. Ähnlich dem Überkommen des eigenen Leibes zur

Überformung und Perfektionierung des menschlichen Körpers in

der Moderne scheint der Mensch im Anthropozän ein Denken

über Klima vereiteln zu wollen, welches sinnstiftend für dessen

Freiheit und Verantwortung innerhalb der sich nun gegen ihn

wendenden Natur genutzt werden kann175. Denn Klima ist im 21.

Jahrhundert letztlich globales Klima176, schwer erforschbar und

noch schwerer veränderbar. Horn weist dennoch darauf hin, dass

die Klimatheorie der Aufklärung die Verflechtung von Mensch

und Umwelt und nicht deren Beherrschung durch diesen in den

Blick nimmt, wie es der „nichtmoderne“ Mensch nach Latour

heute tun sollte – eine „pluralistische Anthropologie“ entwerfend,

„die nicht über den Menschen und die Natur spricht, sondern den

171 Ebd. 172 Horn, Klimatologie um 1800, S. 89. 173 Ebd., S. 89, hier: S.90. 174 Ebd., S. 91. 175 Vgl. ebd. 176 Vgl. ebd.

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Blick auf die Vielfalt und Differenzen sowohl der klimatischen

Verhältnisse wie der Zivilisationen richtet.“177

Das Klimasystem, unter welchem auch die Biosphäre subsu-

miert wird, bleibt dessen ungeachtet eine erdgeschichtliche

Größe, welche nicht mit den kurzfristigen Wetterzuständen zu

verwechseln ist, die dem Leser bei Frisch und Handke begegnen.

Und doch zeigt der gegenwärtige Blick auf das Wetter und seine

rapiden Umschwünge die divergierende politische, kulturelle und

ökonomische Handhabung des Klimawandels. Beide in dieser

Arbeit vorgestellten Texte können damit nur einen Ausschnitt der

mitteleuropäisch geprägten Perspektive geben.

4.3 Ist Natur erzählbar? Zu literarischen Umwelt-

narrativen

Die Literatur- und Kulturwissenschaft beschäftigt sich seit dem

Ausruf des Anthropozäns mit den Themen dieses Diskurses.

Nachdem zuvor bereits die Narrative des Anthopozäns diskutiert

wurden, soll kurz auf die Spezifika eines narrativen Umwelttextes

verwiesen werden. Dazu zählen sowohl die planetarische, tiefen-

zeitliche Perspektive als auch das Verhältnis von Mensch und Na-

tur und die Einflüsse des technischen Zeitalters auf diese Ent-

wicklungen.178 Gabriele Dürbeck kritisiert die Fokussierung der

Literaturwissenschaft auf Themen- und Motivkomplexe zuguns-

ten der Handlungsträger dieser Narrative: den Figuren selbst.179

Hannes Bergthaler plädiert für neue Narrative innerhalb der Um-

weltliteratur:

Climate change names a process which takes place at scales vastly ex-ceeding those of everyday experience which is spatially and temporally diffuse, and whose reality can be grasped only by way of complex

177 Ebd. 178 Vgl. Dürbeck, Figuren und narrative Instanzen, S. 1. 179 Ebd., S. 2.

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mathematical models incorporating knowledge from a wide array of scientific disciplines. 180

Bergthaler argumentiert, dass der Klimawandel als eine Folge

von Ereignissen, aber nicht als Narrativ an sich erscheinen

kann.181 Durch diese Konstellation ergeben sich folgende Fragen

an das Genre Umweltliteratur: Warum besitzt der Klimawandel

keine narrativen Qualitäten an sich? Wie können wissenschaftli-

che Fakten in die Handlung eingeschoben werden? Wie sind die

Handlungsträger figuriert? An welchen literarische Traditionen

und Konventionen wird dabei angeknüpft?182 Bergthaler konsta-

tiert, dass die Natur als eine Kette von Ursache und Effekt er-

scheint und erst durch ein Narrativ Anfang und Ende besitzen

kann.183 Dieses Narrativ sortiert und selektiert die Komplexität

der Ereignisse und versucht, diese in einen Grundzusammenhang

zu stellen.184 Anthropozentrische Narrative, so Bergthaler weiter,

müssen über drei Eigenschaften verfügen: die Re-Evaluierung

der gelernten Informationen durch den Leser, eine Anpassung an

die anthropozentrische Realität und einen menschlichen Erzähler

der Ereignisse.185 „Another way of putting this,“ so Bergthaler,

would be to say that narrative form is inherently anthropocentric –[...] that whatever value judgements they make, they must make in terms that are humanly comprehensible, and from a human point of view.186

Raible fügt den Elementen Figur, Narrativ – welches idealerweise

Tradition mit anthropozentrischer Weltsicht und wissenschaftli-

chen Fakten vereinen soll – das Interesse an Botanik hinzu. Na-

turschilderungen sind immer auch Verstehens-Dispositionen und

werden erst durch Fachkenntnisse real.187 Alle drei Elemente

180 Bergthaler, Climate Change and Un-narratability, S. 2. 181 Vgl. ebd., S. 6. 182 Vgl. hierzu Goodbody, Melting Ice and the Paradoxes of Zeno, S. 95. 183 Vgl. Bergthaler, Climate Change and Un-narratability, S. 6. 184 Vgl. ebd. 185 Vgl. ebd., S. 6-7. 186 Ebd., S. 7. 187 Vgl. Raible, Literatur und Natur, S. 114.

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sind, so soll diese Arbeit verdeutlichen, in den Erzählungen nach-

weisbar. Die nachstehende Literaturanalyse dieser Masterarbeit

versucht, die Natur und ihre klimatischen Prozesse in den Mittel-

punkt der Interpretation zu stellen. Dies kann nur gelingen, wenn

die Figureninstanzen die textstrukturierende Stellung des Be-

trachters und des Vermittlers durch ihre der ökologischen Pro-

zesse einnehmen. Die These dieser Arbeit ist es zu zeigen, dass

sowohl die Natur als auch die Figuren der hier vorgestellten Texte

als Handlungsträger eines anthropozentrischen Interdependenz-

netz im Sinne Latours erscheinen und die gängige Dichotomie

von Natur und Kultur aufbrechen. Die Natur, wie die junge Denk-

tradition des Anthropozäns gezeigt hat, dient nicht mehr als Pro-

jektionsfläche für die Handlungsmacht der Figur. Sie erscheint,

wie Dürbeck ausführt, als eigenständiger Akteur im Text, als ein

im Wandel begriffener Prozess, nunmehr verwoben mit der Ge-

schichte des Menschen.188

Die „Helden“ der beiden analysierten Erzählungen, Herr Gei-

ser in Der Mensch erscheint im Holozän und das Ich in Die Lehre

der Sainte-Victoire erscheinen nicht als klassische Helden, son-

dern als Spielfiguren. Die Natur wird im Verlauf beider Texte

zum eigentlichen Handlungsträger, während die menschlichen

Figuren als passive Handlungstragende sich, als Verbindung zwi-

schen dem Narrativ der Erzählung und der prozessualen Natur, in

den ökologischen Prozessen auflösen. Die Analyse begreift auf-

grund des bisher Gesagten daher beide Texte als narrativen Span-

nungsbogen und untersucht diese nicht in Bezug auf gewisse

Textstellen, sondern in ihrer Vollständigkeit. Besonderes Augen-

merk liegt auf der Verhandlung der erzähltechnischen Kategorie

von Zeit und ihrer tiefenökologischen Dimension, das Medium

Bild als Textcollage bei Frisch und „Kunstbild“ bei Handke und

die für die Literatur recht untypische exakte Beschreibung der bo-

tanischen und geologischen Besonderheiten der Landschaft in

188 Vgl. Dürbeck, Figuren und narrative Instanzen, S. 2.

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beiden Texten. Die Ergebnisse der Interpretation ziehen keines-

wegs auf einen Vergleich oder eine Gegenüberstellung der sehr

unterschiedlich komponierten Texte ab. Vielmehr versucht sie

neben der zu prüfenden „anthropozentrischen Gemeinsamkeiten“

– die intrinsisch-narrative Qualität der Natur, die Natur als Hand-

lungsträger und die Interdependenz von Natur und Mensch – die

jeweilige Besonderheit der Texte und ihre Kommunikation der

ökologischen Veränderungen für den Menschen und die Natur

selbst hervorzuheben.

5 Max Frisch: Der Mensch erscheint im Ho-

lozän

Max Frischs Spätwerk ist seit seinen Romanen Stiller (1954) und

Mein Name sei Gantenbein (1964) von der Auflösung des Sub-

jekts und der damit korrelierenden Suche nach einer adäquaten

Erzählposition geprägt und kulminiert 1979 in der Erzählung Der

Mensch erscheint im Holozän. Schon der Titel verweist auf die

neu auszulotende Stellung des Menschen in der erdgeschichtli-

chen Epoche des Holozäns. Aufmerksame Leser bemerken je-

doch auch, dass die ersten Menschen nachweislich im Pleistozän

erschienen sind. Fest steht, dass die Erzählung, wie Urte Stobbe

bemerkt, in einer Zeit publiziert wurde, als die politischen Dis-

kussionen über die sich verändernden klimatischen und ökologi-

schen Verhältnisse ihren ersten Höhepunkt erreicht hatten.189

Die Handlung ist schnell erzählt. Der alternde und an Demenz

erkrankte Protagonist Herr Geiser verharrt während eines Unwet-

189 Vgl. Urte Stobbe, Zur Verbindung von Klima-, Erd-, und Menschheitsgeschichte, S. 357.

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ters, welches seit Tagen das Tessiner Tal von der Außenwelt iso-

liert, eingeschlossen in dessen Haus. Dass der „Held“ der Erzäh-

lung ein aus Basel zugezogener Witwer, studierter „Professore“

und allein mit der Katze Kitty am Hang eines Felsens in einem

kleinen Haus mit Garten lebt, erfährt der Leser erst im Verlauf

der Handlung; die individuelle Geschichte des Protagonisten wird

als „müßig“(H 41)190 und nicht wichtig geschildert. Gegen die ei-

gene Vergesslichkeit tapeziert Herr Geiser die Wände seines

Hauses mit Zetteln aus der Bibel, dem Brockhaus und naturwis-

senschaftlichen Büchern sowie seinen eigenen Notizen. Der

Strom ist aufgrund des Unwetters ausgefallen, die Tomaten im

Garten verrotten, die Lebensmittel neigen sich dem Ende zu. Der

einmalige Versuch, das Tal zu verlassen, misslingt. Ein Leben

geht zu Ende (womöglich durch einen Schlaganfall, dies klärt der

Text nie auf) – nicht ohne vorher noch über den Menschen und

seine Stellung in der Natur nachzudenken.

Der Anfang der Erzählung evoziert sogleich das Bild ihres En-

des – ohne Herrn Geiser. Sein Bewusstsein aber wird in Frischs

Erzählung zur Projektionsfläche und Gedankenbühne einer gan-

zen Erdepoche. Diese wird „erlesen“, auch wenn sich, wie zu Be-

ginn festgehalten wird, Romane nicht dazu eignen. Der Abgesang

auf den Menschen, auf figurenbezogene Geschichten, auf Indivi-

dualschicksale, auf das Erzählen selbst lässt sich, so Stobbe, so-

wohl als reflexiver Kommentar der Hauptfigur auf dessen mini-

mal geschildertes Leben aber auch als klimatische Warnung le-

sen191: „[...] als sei das Gelände dafür gesichert, die Erde ein für

allemal Erde, die Höhe des Meeresspiegels geregelt für allemal.“

(H 16)

190 Zitate aus dem Primärwerk werden im Folgenden mit der Sigle H (Holozän) und der Seitenzahl im Fließtext angegeben. 191 Vgl. Urte Stobbe, Zur Verbindung von Klima-, Erd-und Menschheitsgeschichte, S. 361.

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Dies macht die Erzählung, so Georg Braungart, zu „einer der dif-

ferenziertesten Versuche, den geologischen Diskurs poetologisch

auszubeuten.“192 Frischs Figur beobachtet den Regen, liest über

das Aussterben der Saurier, eruiert Erosionen, studiert die Ge-

schichte Locarnos und denkt dabei über die Endzeit des Men-

schen nach. Obwohl sich die erzählte Zeit nur über wenige Tage

erstreckt, wird erzählt – in Assoziationsketten, Gedankensprün-

gen, Anekdoten.193 Die inkohärente Narration, welche die Form

des literarischen Romans geradezu abzuweisen scheint, bewirkt

durch ihre Lückenhaftigkeit, dass globale Phänomene im Lichte

einer unscheinbaren Existenz erscheinen. Stobbe bemerkt dazu,

dass die Erzählung gerade von dem Kontrast zu den einschneidenden und unvorstellbaren Veränderungen [lebt], die sich zwar (noch) weit-gehend im Verborgenen abspielen, aber schon die ersten Anzeichen er-kennen lassen.194

Während eine Fülle an Aspekten in der Forschung bereits be-

leuchtet wurde195, versucht diese Arbeit, Frischs Text im Zuge

des Anthropozäns neu zu lesen. Die Fokussierung der Analyse

liegt auf den, um Herrn Geiser stattfindenden, ökologischen Pro-

zessen und ihrer Beschreibung durch die Hauptfigur selbst. Die

Hauptfragen an den Text könnten demnach lauten: Wessen Ge-

schichte wird erzählt, die eines Individuums oder der Evolution?

Was bleibt am Ende übrig? Und wie verhält sich die Beziehung

zwischen der Figur und seiner Umwelt zueinander?

Untersucht werden folgende thematische und formale Spezi-

fika: die Collage der vielfältigen Wissensbestände und die Frage

danach, was für den Menschen im Zuge des Anthropozäns über-

haupt denkbar ist; die Verwobenheit von geologischen und

192 Braungart, Poetik der Natur, S. 74. 193 Vgl. Stobbe, Zur Verbindung von Klima-, Erd-, und Menschheitsgeschichte, S. 362. 194 Ebd. 195 Besonderes Augenmerk der Forschung zu Frischs Erzählung liegt auf der psychologi-schen Verfassung des Protagonisten und der „Erosion“ seiner Gedächtnisleistung.

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menschlichen Zeitsträngen durch Frischs Erzähltechnik; die nar-

rative Verarbeitung der Natur und des Wetters im Text und deren

Einfluss auf den Erzählverlauf sowie zuletzt die anthropogene In-

terdependenz von Natur und Kultur durch Herrn Geisers Veror-

tung in der äußeren Welt sowie der inneren Welt seines eigenen

Bewusstseins. Die Kapitel spannen damit zugleich einen Bogen

durch die gesamte Erzählung.

5.1 Herr Geiser sammelt Wissen

„Es müßte [sic] möglich sein, eine Pagode zu türmen aus Knä-

ckebrot, nichts zu denken und keinen Donner zu hören, keinen

Regen, kein Plätschern aus der Traufe, kein Gurgeln ums Haus.“

(H 9) Der Beginn von Der Mensch erscheint im Holozän enthält

in nuce bereits die Themen der Erzählung: Die Abschottung des

Protagonisten von der Außenwelt, das Unwetter, die Stundung

der Zeit. Denn sogleich heißt es: Herr Geiser hat Zeit (H 9). Der

Text ist, bis auf wenige erzählerische Passagen, collageartig kon-

struiert. Die fehlende Narration, durchsprenkelt von Bildcodes,

deutet darauf hin, dass das Subjekt der Erzählung „eine Person im

Zerfall [ist], ein zerbröckelndes Gedächtnis, darüber erschreckt

und lange nicht ahnend, worüber er erschreckt ist, dann einer, der

verstummt.“196 Die interne Fokalisierung mit einem extradiege-

tisch-homodiegetischem Erzähler oszilliert zwischen der Anrede

des Helden mit „Herr Geiser“ und dem Pronomen „man“. Ob-

wohl das Bewusstsein des Herrn Geiser die einzige Wahrneh-

mungsposition für den Leser bleibt, suggeriert dessen Vergess-

lichkeit eine zweite Erzählinstanz, welche dieses Vergessen re-

gistriert: „Die Erzählposition wird flackernd zwischen interner

196 Frisch, Typoskript: Klima, ohne Seitenzahl. Entnommen aus: Müller, Ich habe viele Na-men, S. 76.

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und externer Perspektive, da das Bewusstsein der Figur nicht

mehr konsistent ist.“197

Die Konservierung der Wissensbestände wird zu Herrn Gei-

sers Hauptaufgabe. „Schlimm ist nicht das Unwetter – [...].

Schlimm wäre der Verlust des Gedächtnisses –.“ (H 11-13) Denn:

„Ohne Gedächtnis kein Wissen.“ (H 14) Die Angst, keine Erin-

nerung mehr an das Undenkbare, das Aussterben des Menschen,

zu haben, veranlasst Herrn Geiser alles zu notieren, was nicht ver-

gessen werden soll: Wissenswertes aus dem Lexikon in zwölf

Bänden, Bibelpassagen, Ausschnitte aus der Geschichte des Kan-

tons Tessin, seitenlange Textstellen über das Aussterben der Sau-

rier und Erosionsvorgänge. Das Ende des Unwetters abwartend

„bleibt nichts als Lesen“ (H 16). Dem Wissen um Herrn Geisers

Krankheit und seine Vergesslichkeit wird eine Generierung von

Wissen gegenübergestellt, welche im Kontext des Anthropozän-

gedankens wieder von entscheidender Bedeutung ist:

Wie Flut und Ebbe entstehen, wie Vulkane, wie Gebirge usw., hat Herr Geiser einmal gewußt [sic]. Wann sind die ersten Säugetiere entstan-den? Stattdessen weiß man, wieviel Liter der Heizöltank faßt [sic] und wann der erste Post-Bus fährt [...]. Wann ist der Mensch entstanden und wieso? (H 27-28)

Frisch antizipiert hier einen Gedanken des Anthropozänzeitalters:

sich nochmals neu mit der Geschichte der Natur, und dem Men-

schen in ihr, zu befassen; vom Alltagswissen abzusehen und anth-

ropologische Grundfragen neu zu diskutieren.

Aufgrund des andauernden Unwetters beginnt Herr Geisers

Wissenscollage mit dem Buch der Bücher selbst: der Bibel und

der Entstehung der Welt. (H 17) Auch der Ort der Handlung er-

schließt sich über die Collagetexte: Wissenswertes über die Tessi-

ner Gegend und ihre Bewohner der Urzeit (H 18-19) sowie die

für Herrn Geiser beruhigende Versicherung darüber, dass es trotz

des heftigen Regens zu keinem Erdrutsch kommen kann, wie es

197 Müller, Ich habe viele Namen, S. 78.

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Zettel aus dem 16.Jahrhundert belegen (H 22-23). Neben den aus-

geschnittenen und an den Wänden montierten Zetteln werden

Briefe unvollendet gelassen, ein Abschicken an die Tochter ist

aufgrund des Wetters nicht möglich. Erzähltechnisch wird durch

das Sammeln des Wissens über die Geschichte der Erde eine Me-

tamorphose und Verschiebung dieses Wissens eingeleitet. Der

Eintrag über die Sintflut, an die Herr Geiser nicht glaubt (H 26),

verweist, so Braungart, auf den im 18.Jahrhundert geführten Dis-

put zwischen Genesis und Geologie.198 Folgt man allein den Col-

lagen im Text ist zu erkennen, dass Herr Geiser von der egozent-

rischen Perspektive und einer Definition des anthropos („Wahr-

scheinlich sind es Fische, die uns überleben“ (H 71)) zu einer

transhumanen Perspektive übergeht: „Der Mensch erscheint im

Holozän lebt gänzlich aus der Spannung zwischen der menschli-

chen Egozentrik und der transhumanen Perspektive, welche die

Erdgeschichte nahelegt.“199 Neben Informationen über die ersten

Lebewesen und geologische Formationen dient das Ausschneiden

und Befestigen der Zettel an den Wänden des Hauses auch als

Vergewisserung des noch intakten Gedächtnisses und der eigenen

Existenz angesichts der befürchteten Naturkatastrophe, wie Zettel

mit Wissenswertem über Blitzgeschwindigkeit (H 35) oder sogar

dem Schutz vor einem möglichen Blitzeinschlag (H 39) belegen.

Graphisch nicht vom Text abgehoben wird eine dritte, subjek-

tive Form des Wissens: die Aufzählung von 16 verschiedenen

Donnerarten. Während das Lexikon verschiedene Blitzarten un-

terscheidet, sucht Herr Geiser vergeblich nach Formen des Don-

ners – und kategorisiert diese schließlich selbst. (H 11) Die Kate-

gorisierung und Beschreibung der Donnerarten stellt für Karl-

heinz Rossbacher Angstbewältigung im Angesicht der nahenden

Katastrophe dar. Herr Geiser fürchtet die Natur – und bewältigt

198 Vgl. Braungart, Poetik der Natur, S. 75. 199 Ebd., Katastrophen kennt allein der Mensch, S. 36.

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sich kurzerhand der Beschreibung ihrer Prozesse. „Differenzier-

tes Wissen“, konstatiert Rossbacher, „bedeutet mehr Wissen.

Donner ist nicht ein gewaltiges Geräusch, sondern ein vielfältiges

Naturphänomen. Sind alle seine Arten erfaßt [sic], kann keine

neue mehr kommen.“200

Interessant erscheint, dass sich zu den, sich durch die Form des

wissenschaftlichen Artikels selbst verifizierenden Wissensquel-

len, selbst verfasste Notizen zur Evolution des Menschen und

Entstehung der Erde mischen, Dinge, die Herr Geiser einmal ge-

lernt, noch immer wiedergeben kann: Die Collagetechnik ermög-

licht Frisch, „das Subjekt von sich wegzurücken, nicht „ich“ zu

sagen – und doch von sich zu sprechen“201, wie Müller konsta-

tiert. Es ergibt sich, so sei behauptet, jedoch noch eine zweite,

aktuellere Dimension zwischen den selbstverfassten und ausge-

schnittenen Lexikonartikeln: das Misstrauen in wissenschaftliche

Tatbestände in Zeiten des Klimawandels, denn „manchmal

schreibt Herr Geiser auch auf Zettel, was er ohne Lexikon zu wis-

sen meint und was ebenfalls an die Wand gehört, damit Herr Gei-

ser es nicht vergisst.“ (H 53) So findet sich z.B die Behauptung,

Fische würden nie schlafen202 (H 54) sowie der Mythos vom Un-

tergang Atlantis (ebd.). Diese Inkongruenz wirft die Frage auf,

was der Mensch wissen kann und was er zu wissen meint. Auch

Herr Geiser, die Zettelwand betrachtend, fragt sich unwillkürlich,

„was er denn eigentlich wissen will, was er sich vom Wissen

überhaupt verspricht.“ (H 117)

Es folgen Zeichnungen von Dinosauriern, der Tiefenfaltung

von Gebirgen und dann – „Offenbar hat Herr Geiser den Hut auf

dem Kopf getragen. Sonst läge der Hut nicht auf dem Boden ne-

ben ihm.“ (H 119) Die Generierung all des präsentierten Wissens-

200 Rossbacher, Lesevorgänge, S. 260. 201 Vgl. Müller, Ich habe viele Namen, S. 85. 202 Anm.: Heute weiß man, dass Fische einen Teil ihres Lebens verschlafen. Vgl hierzu Planet Wissen. URL: https://www.planet-wissen.de/natur/tiere_im_wasser/fische/pwie-schlafenfische100.html

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materials gelangt nur durch Max Frischs zerbröckelnden Prota-

gonisten in den Text und büßt damit zugleich an Glaubwürdigkeit

ein; ein Vorgang, der sich durch die Lagerbildung Politik gegen

Wissenschaft manifestierend, in der Verhandlung der Klimakrise

aktuell fortzusetzen scheint.203

Die Zettelflut destruiert im Verlauf der Handlung nicht nur die

Person Herr Geiser204, sondern auch all jene, die ihm in der Ver-

gangenheit nahestanden. So wird das Bild der Ehefrau zugunsten

der letzten verbleibenden leeren Fläche schließlich doch abge-

hängt: „Das Bildnis von Elsbeth (Öl) von der Wand zu nehmen,

um Platz zu haben für weitere Zettel, hat Herr Geiser bis heute

gezögert. Es ist aber nicht anders zu machen.“ (H 53) Die Kata-

strophe des Unwetters wird durch die Tabellen und Zahlenfolgen

zwar gemindert, die Erosion des Gedächtnisses erreicht für Herrn

Geiser jedoch katastrophale Ausmaße: „Consequently, a leitmotif

of the tale is erosion, which links the progressive personal catas-

trophe of dementia to the vision of an unstable natural world of

looming geologic disaster.“205

Der Katastrophendiskurs ordnet Frischs Erzählung nicht nur in

die noch relativ junge Tradition der Klimawandelliteratur ein. Er

eröffnet, wie Peter Utz in seinem Artikel Kultivierung der Kata-

strophe es formuliert, dem Lokalen das Universelle: „Die Kata-

strophe greift, wie ihr Gegenstück, die Utopie, immer auf das

Ganze der Welt [...].“206 Der Begriff der Katastrophe markiert, so

Utz weiter, den Einbruch der Natur in die Kultur und unterliegt

203 Malkmus formuliert einen ähnlichen Gedanken zur Ästhetik der Zettel: „In particular, by deconstructing the grand narratives of scientific knowledge accumulation(through ency-clopedia clippings) and individual perfectibility (through a failed story of quest and Bild-ung), Frisch’s intermedia art offers an aesthetic response to the challenge human beings face today: namely, as Chakrabarty highlights, the need to negotiate the emancipatory po-tential inherent in the ethos of liberty, on the one hand, and the social and environmental limitations imposed on that ethos and its perversion in globalized consumerism, on the other.” Malkmus, Man in the Anthropocene, S. 73. 204 Anm.: Herr Geiser definiert sich selbst durch Informationen über ihn: „IL PROFES-SORE DI BASILEA so nennen sie Herrn Geiser, weil er stets, wenn er aus dem Haus geht, eine Krawatte trägt; dabei wissen sie genau, daß Herr Geiser nicht Professor ist, und was er gewesen ist, steht auf dem Steuerzettel.“ (MH 33) Hervorhebungen durch die Verfasserin. 205 Dürbeck, Ambivalent Characters, S. 114. 206 Utz, Kultivierung der Katastrophe, S. 44.

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dabei kulturell differenten Deutungsmethoden.207 Führt man die

Unwetterkatastrophe mit der am Ende leergefegten Wand und

den „zerschnittenen Bücher[n]“ (H 138) zusammen, ergibt sich

eine doppelte Deutung der Geiserschen Katastrophe. Obwohl die

Natur auf Herrn Geiser letztendlich nicht durch die befürchtete

Unwetterkatastrophe hereinbricht, der er auf seiner Wanderung

entkommen konnte, sondern sich als körperlicher Defekt mani-

festiert, lässt sich am zunehmenden Chaos der Zettel und dem

zerbröckelnden Gedächtnis die Macht der Natur ablesen. Das na-

turwissenschaftliche Wissen wird unbrauchbar, denn

[w]as Herr Geiser nicht bedacht hat: der Text auf der Rückseite, den Herr Geiser erst bemerkt, nachdem er die Illustrationen auf der Vorder-seite sorgsam ausgeschnitten hat, wäre nicht minder aufschlußreich [sic] gewesen; nun ist dieser Text zerstückelt, unbrauchbar für die Zet-telwand. (H 116)

Bis zuletzt bleibt Herr Geiser nur die Reise nach Island als einzig

vollständig erhaltene Erinnerung208, zusammen mit seinem Na-

men. In Man in the Anthropocene untersucht Bernhard Malkmus

unter anderem die etymologische Herkunft dieses Namens:

„[T]he protagonist’s name, Geiser, captures the story’s complex-

ity in a nutshell: it primarily refers to the elemental force of a

geyser, which Herr Geiser witnessed in Iceland during the most

memorable journey in his life [...].“209 Weshalb die Erinnerung an

Island, der Name der Tochter oder die „Matterhorn-Geschichte“

(H 128) der Hauptfigur erhalten bleiben, erklärt sich Karlheinz

Rossbacher folgendermaßen:

»Geologisierung« des Menschen heißt in der Analogietechnik Frischs: Das Kurzzeitgedächtnis ist jene Schicht des Menschen, die der obersten Erdschicht entspricht. Sie ist diejenige, die – weil an der Oberfläche – der Erosion ausgesetzt ist. Die Tiefenschicht – das Langzeitgedächtnis – sind das Bleibende, weil nicht Exponierte.210

207 Vgl. ebd., S. 42. 208 Vgl. Malkmus, Man in the Anthropocene, S. 76. 209 Ebd., S. 75. 210 Rossbacher, Lesevorgänge, S. 258.

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Der Text erscheint, so lässt es bereits dieses Kapitel durscheinen,

als ein einziges Interdependenznetz: Die traditionelle Erzähl-

weise über die Figur des Rentners Herr Geiser und die Collage-

schnipsel bedingen einander und führen die Narration an ihren

Endpunkt – das Verschwinden der Hauptfigur, welche am Ende

nicht weiß, was man eigentlich wissen kann. Eszter Pabis konsta-

tiert, dass erzähltechnisch jene Stellen an Narration einbüßen, an

denen erkennbar ist, dass Herrn Geisers kognitive Fähigkeiten im

Schwinden begriffen sind und der Schlaganfall an diese an-

knüpft211: Dem Artikel zur Erosion (H 139) folgt ein kurzer Wör-

terbuchexkurs ( „kohärent [lat.] zusammenhängend [...]“ (H

140)) und darauf – der letzte Lexikoneintrag mit schematischer

Darstellung des Schlaganfalls (H 141). Herr Geiser verschwindet,

und mit ihm sein Wissen: „Alle die Zettel können verschwinden.

Was heißt Holozän! Die Natur braucht keine Namen. Das weiß

Herr Geiser.“ (H 139)

5.2 Herr Geiser spürt die Zeit

Max Frisch erzählt, so ließ das vorherige Kapitel durchscheinen,

von den Schichten der Zeit und dem Ende eines Individuums. Die

Zeit als Grundkategorie literarischer Texte212 entfaltet ihre Be-

deutung auf mehreren Ebenen im Text: durch ihre Zeitdehnung

als geologische Tiefenzeit der Natur, als Endzeit oder „begrenzte

Lebenszeit“213 für den Protagonisten selbst, als historische Rah-

menzeit der Wissensbestände und zuletzt als stilistischer Bruch

der narrativen Kohärenz214 im Text-Bild.

Die ästhetische Betrachtung des Unwetters verspricht der Text

bereits zu Beginn („Herr Geiser hat Zeit“). Er verspricht auch,

211 Vgl. Pabis, Narration und Kognition, S. 79. 212 Vgl. ebd., S. 77. 213 Ebd., S. 67. 214 Vgl. ebd., S. 77.

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dass es eine Endzeit ohne dieses „man“, Herr Geiser, geben wird.

Die Zeit der Erde wird weiter bestehen, auch wenn es keine Men-

schen mehr gibt – aber „Ob es Gott gibt, wenn es einmal kein

menschliches Hirn mehr gibt, das sich eine Schöpfung ohne

Schöpfer denken kann, fragt sich [auch] Herr Geiser.“ (H 17) Die

Bibelpassage über die Schöpfung der Welt erinnert daran, dass

die Natur zwar keinen Betrachter braucht, das Wissen jedoch ver-

loren gehen würde, und mit ihm auch Gott. Auch Herrn Geisers

Gott ist, im Sinne Bruno Latours, zum weggesperrten Statthalter

geworden – man glaubt nicht mehr an die Sintflut. So ist man be-

ruhigt, „wenn man von Tag zu Tag weiß, daß [sic] die Welt wei-

tergeht.“ (H 37) In Rossbachers Lesevorgängen zu Der Mensch

erscheint im Holozän betont dieser jedoch sehr richtig, wie die

Sintflut, einmal erwähnt, die unterschwellige Katastrophengefahr

der Erzählung bestimmt.215 Vorräte werden gezählt, Listen der

Lebensmittel erstellt und die Tiefkühltruhe inspiziert. Die Endzeit

des Herrn Geisers, der zuletzt sogar die Katze im Kamin braten

muss, wird dem Leser durch den Lexikoneintrag Schlaganfall (H

141) mitgeteilt. Zurück bleibt ein Tal im klimatischen Umbruch,

ein Tal ohne Herrn Geisers Erzählstimme:

Im Oktober kommt es vor, daß [sic] auf den Höhen der erste Schnee gefallen ist; wenn die Sonne scheint, schmilzt er in zwei bis drei Tagen. Die Gletscher, die sich einmal bis Mailand erstreckt haben, sind im Rückzug. [...] Alles in allem ein grünes Tal, waldig wie zur Steinzeit. (H 142-143)

Eine weitere Zeitebene bildet die ökologische Tiefenzeit. Braun-

gart spricht hierbei auch von einer „zeitlichen Marginalisierung“

des Menschen, welche die von Sigmund Freud vergessene vierte

Kränkung des Menschen bedeutete: „Es war die Brücke zwischen

Kopernikus und Darwin, nämlich die Entdeckung der Tiefenzeit

in der Geologie des sogenannten heroischen Zeitalters dieser

Wissenschaft, zwischen 1750 und 1850.“216 Die Zeitdehnung der

215 Vgl. Rossbacher, Lesevorgänge, S. 256. 216 Braungart, Katastrophen kennt allein der Mensch, S. 33.

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Erzählung, das Nicht-Vergehen der Alltagszeit, wird von Herrn

Geiser mit der Zeit der Natur, und den sie beschreibenden Wis-

sensbeständen, gefüllt:217 „Eine kleine Mauer im unteren Garten

(Trockenmauer) ist eingestürzt: Geröll im Salat, Fladen von

Lehm unter den Tomaten. Vielleicht ist es schon vor Tagen ge-

schehen.“ (H 14). Die Situation hat sich mehrere Tage danach

nicht verändert: „Der kleine Rutsch im Garten (Geröll im Salat)

hat sich über Nacht nicht vergrößert.“ (H 21) Die Unsicherheit

über die Zeit lässt sich an den Temporaladverbien ablesen. So

heißt es manchmal „Heute ist Dienstag“ (H 14) um zwei Seiten

darauf zu lesen: „Heute ist Mittwoch. (Oder Donnerstag?) (H 17)

Die exzessive Verwendung der Temporaladverbien könnte so-

wohl zur Vergewisserung der eigenen Existenz als auch der des

bereits brüchig werdenden Gedächtnisses dienen („Es ist also

Samstag – Nur das hat Herr Geiser wissen wollen.“ (H 43))

Die historisch-menschliche Zeitspanne, wie sie Chakrabarty

definiert, richtet sich in Max Frischs Erzählung jedoch weniger

auf die Zukunft des Individuums als auf die geologische Tiefen-

und menschliche Endzeit. Der Versuch, nach Basel zu wandern,

missglückt, die Zukunft Herrn Geisers richtet sich auf das Voran-

schreiten der Zeit und die Beobachtung des Wetters – in mensch-

lichen Zeitformen: Jahre, Wochentage, Stunden, Minuten. Der

Regen ist für den Betrachter nicht messbar, aber nach langer Be-

obachtung beschreibbar geworden:

Sonntag: 10.00 Regen wie Spinnweben über dem Gelände. 10.40 Regen als Perlen an der Scheibe. 11.30 Regen als Stille; kein Vogel zwitschert, im Dorf kläfft kein Hund, die lautlosen Hüpfer in jedem Tümpel, die langsam gleitenden Tropfen an den Drähten. 11.50 kein Regen. 13.00

217 Vgl. Pabis, Narration und Kognition, S. 80.

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Regen, der nicht zu sehen ist man spürt ihn bloß auf der Haut, wenn man die Hand aus dem Fenster streckt 15.10 Regen als Zischen im Laub der Kastanie. 15.20 Regen wie Spinnweben. 16.00 kein Regen, nur das Efeu tropft. 17.30 Regen mit Wind, der gegen die Fensterschreiben klatscht, draußen Spritzer auf dem Granit-Tisch, der schwärzlich geworden ist, die Spritzer wie weiße Narzissen. 18.00 wieder das Gurgeln ums Haus. 19.30 kein Regen, aber Nebel 23.00 Regen als Glitzern im Schein der Taschenlampe. (H 54-56)

Wie Eszter Pabis bemerkt, weist diese Textpassage, die den Ab-

lauf eines ganzen Tages beschreibt und in tagebuchartigen Noti-

zen verfasst ist, kaum Narration auf.218 Die Zeit wird gerafft, der

Regen zum beobachteten ökologischen Prozess. Obwohl hier Pa-

bis „fehlender Narration“ zuzustimmen ist, bewirkt diese jedoch

auch, dass die Natur durch Herrn Geisers Beobachtungen zum

Akteur des Textausschnitts aufsteigt und ihre ihr eigenen, zeitli-

chen Prozesse offenbart – in ästhetisierter beschreibender Form

durch die Figur Herr Geiser.

Die Dimension der Zeit, wie Herr Geiser sie kennt, entgleitet,

er „wehrt sich dagegen“, bemerkt Müller, die Zeit „[...] als Pro-

zess zu erfahren, muss aber zuschauen, wie gerade dieses Ele-

ment, das er negiert, seine rein architektonischen „Gebäude“ [die

Knäckebrot-Pagode (H 9)] immer wieder zum Einstürzen

bringt.“219

Georg Braungart verweist in Bezug auf die Verschiebung von

menschlicher Lebenszeit zu klimatischer Tiefenzeit auf die Tra-

dition neuzeitlicher Subjektivität: „In der Geschichte der neuzeit-

218 Vgl. Pabis, Kognition und Narration, S. 79. 219 Müller, Ich habe viele Namen, S. 95.

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lichen Subjektivität verbindet sich mit dem Zeithorizont der Ge-

ologie und Paläontologie eine ganz ungeheure Relativierung des

Menschen und seiner Kultur.“220 Die Relativierung bewirke wei-

ter, so Braungart, dass der Mensch in seiner „Zeitdimension an

den Rand gedrängt“221 wird. Die Erzählung antizipiert damit, so

Bernhard Malkmus, den Anthropozändiskurs avant la lettre, und

das bereits in den 80er Jahren.222 Die komplexe Erzähllogik spie-

gelt sich, wie bereits erwähnt, auch in der Etymologie des Na-

mens „Geiser“ wider und entwirft, nach Malkmus, ein anthropo-

zentrisches Natur-Kultur-Gefüge:

[…] Herr Geiser’s name is associated with elemental forces and the Ne-olithic Revolution, during which human civilizations transitioned from hunters and gatherers to settlers and herders, from Abel to Cain. the name suggests a dual origin for human beings, defined by natural his-tory (according to which human beings emerged in the Pleistocene era) and by cultural history (according to which human beings emerged dur-ing the Neolithic Revolution, in the Holocene). Furthermore, Geiser is a common Swiss name, in particular around the city of Bern, so Herr Geiser can be seen as a type of Everyman.223

Dieser „Everyman“ weiß, dass ihm nicht viel Zeit bleibt, Wissen

über die menschengemachte, anthropozentrische Erde zu sam-

meln:„ – so viel Zeit hat der Mensch nicht.“ (H 48) Die Beschleu-

nigung und Globalisierung der Welt erreicht das Tessiner Tal:

„Früher hat die Bevölkerung von der Strohflechterei gelebt,

Heim-Industrie mit Kinderarbeit, bis auf dem Markt zu Mailand

die billigen Japaner erschienen sind.“ (H 62)

Die beschleunigte Alltagszeit und geologische Tiefenzeit wer-

den durch die historische Rahmenzeit der Wissensbestände mit-

einander verbunden. Die Bild-Codes bilden einen zweiten Kom-

munikationsraum, der den Protagonisten und Leser zugleich be-

ruhigt und verunsichert. Der Bruch der erzähltechnischen Kohä-

220 Braungart, Katastrophen kennt allein der Mensch, S. 34. 221 Ebd. 222 Vgl. Malkmus, Man in the Anthropocene, S. 72. 223 Ebd., S. 75.

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renz wird durch Einzelsätze, Assoziationsketten und die Textbil-

der noch verstärkt, die Zeit der Handlung ist sprunghaft, was auch

Herrn Geisers Gedächtnisleistung geschuldet ist. Am Fenster ste-

hend und das Unwetter betrachtend sinniert Herr Geiser über das

Vergehen der Zeit nach:

Wieder und wieder auf die Armbanduhr zu blicken, um sich zu über-zeugen, daß [sic] die Zeit vergeht, ist Unsinn. Die Zeit ist noch nie ste-hengeblieben, bloß weil ein Mensch sich langweilt und am Fenster steht und nicht weiß, was er denkt. (H 85)

Denn die Zeit, auch ohne ihn, wird nicht stehenbleiben „ – das hat

es in der ganzen Erdgeschichte nicht gegeben!“ (H 87) Die anth-

ropozentrischen Kategorien Zeit und Wissen verhandeln die er-

zähltechnische Darstellung der Natur, welche im folgenden Ka-

pitel in den Mittelpunkt der Ausführungen rückt.

5.3 Metamorphose und Interdependenz: Herr Gei-

ser und das Holozän

Der Mensch erscheint im Holozän verhandelt, so möchte dieses

Kapitel zeigen, drei Dimensionen der Metamorphose: die imagi-

nierte Metamorphose Herrn Geisers zum Lurch; die evolutionäre

Metamorphose der Fauna, dargestellt in den Wissenscollagen der

Saurier und der Reise nach Island sowie die geologische Meta-

morphose der Natur und die sie bedingende angedeutete Ver-

schiebung der Erdepoche vom Holozän zum Anthropozän.224

Darüber hinaus soll gezeigt werden, wie speziell der Aufbruch

des Protagonisten und das Missglücken dieses Ausbruchs eine

neue Form der „Akteursmacht“ hervorbringt. Zuletzt beleuchtet

dieses Kapitel das Interdependenz-Narrativ von Natur und Kultur

– oder wie hier von Herrn Geiser und seiner Umwelt.

224 Vgl. ebd., S. 80

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5.3.1 Metamorphosen kennt nicht nur der Mensch

Das vorangehende Kapitel demonstrierte die Verschiebung der

menschlichen Perspektive zu einer ökologischen und damit trans-

humanen Perspektive225 und die Überlagerung der geologischen

Tiefenzeit über die menschliche Zeitspanne. Die Metamorphose

Herrn Geisers und der Landschaft, die er „erschaut“, hängen

ebenso eng mit der Verschiebung der Zeit zusammen.

Georg Braungarts geht zwar davon aus, dass Max Frischs

Sprache in Der Mensch erscheint im Holozän nicht als ästhetische

Sprache der Landschaft, sondern rein in der deskriptiven Ver-

handlung der Lexikonartikel zutage tritt.226 Dem ist, so sei ange-

nommen, jedoch nur bedingt zuzustimmen. Obwohl die Collagen

der Zettel als primäre Wissensquelle fungieren, wurde bereits ge-

zeigt, dass sich die Natur auch in der Wahrnehmung Herrn Gei-

sers fort- und umschreibt. Das Unwetter bestimmt das Wissen

über Tektonik, geologische Formationen, die Erdgeschichte und

meteorologische Besonderheiten des Tales.227 Erosion bleibt die

Hauptsorge Herrn Geisers, und doch brauchen die Steine sein Ge-

dächtnis nicht. (Vgl. H 139) „Although the rocks may not need

human memory“, wie Malkmus betont, „ [...] they nonetheless are

memory.“228

Die Natur, um damit auf Plessners Anthropologie zurückzu-

kommen, besteht aus und beinhaltet ihre eigene Vergangenheit,

auch ohne den Menschen. Zu Beginn der Erzählung ästhetisiert

Herr Geiser das Wetter (Regen) und anthropomorphisiert Don-

nerarten: „der stotternde oder Koller-Donner“ (H 12); „der zö-

gernde oder Kicher-Donner“ (H 13); „der Plapper-Donner“ (35).

Die unwissenschaftliche Klassifizierung der Donnerarten zeigt,

225 Vgl. Braungart, Katastrophen kennt allein der Mensch, S. 32. 226 Vgl. ebd., S. 41. 227 Vgl. Malkmus, Man in the Anthropocene, S. 80. 228 Ebd.

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dass die Natur in der literarischen Beschreibung und Verhandlung

dennoch einer äußeren Wahrnehmungsinstanz bedarf.229 Auch

die tagebuchartige Beschreibung des Regens ist, wie bereits ge-

zeigt wurde, ein Versuch, näher an die Sprache der Natur heran-

zurücken. Die Natur in ihrer Historizität wäre umgekehrt ohne

Herrn Geiser und dessen Wissensdrang und Beobachtung nicht

möglich. An anderer Stelle besieht er einen Granitfelsen mit dem

Feldstecher, dessen Riss das Dorf gefährden könnte:

Eine Stunde mit dem Feldstecher genügt, um Gewißheit [sic] zu haben, daß [sic] in dem hohen und fast senkrechen Fels, der als einziger das Dorf verschütten könnte, nirgends ein neuer Spalt entstanden ist; Bruchstellen aus der Gegenwart wären heller, grau und nicht verfärbt wie die ganze Fluh. (H 47)

Die Geschichte dieses Felsen, ein „zuverlässiges Gestein“, wie

Herr Geiser betont, wird erst durch dessen Beschreibung in seiner

historischen Dimension für den Leser erfahrbar.

Die drohende Unwetterkatastrophe bleibt in der Wahrneh-

mung Herrn Geisers jedoch präsent. Dürbeck verweist in Anleh-

nung daran an die vorherrschende schwarze Farbsemantik im

Text: „The imagery of mortality and death pervades the text, with

black being the dominant color and with omnipresent morbid

plants such as decomposed fir tree [...].“230 Der Winter im Tal ist

schwarz, „schwarz der Asphalt“ (H 56), „und schwarz der nasse

Granit“ (H 56) „schwarz das Wasser zwischen verschneiten Stei-

nen. Der Himmel wie Asche und Blei“ (H 56) Die Reise nach

Island verfällt in ihrer Beschreibung ganz einem ästhetisch-bild-

lichen Sprachduktus, der an Peter Handke erinnert:

229 Vgl. hierzu Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 264: Die Wahr-nehmungswelt des Menschen ist an Dinge gebunden, sie bilden die Träger seiner Erfah-rungswelt; ebenso S. 310: Der Mensch muss vollziehen, den Dingen Namen geben, um sich verorten zu können, anders die Natur und die Tiere. Diese existieren direkt und wissen nichts von den Dingen. Herr Geiser versucht, sich in die Natur einzugliedern, sich aufzulö-sen in ihr und anthropomorphisiert sie zu diesem Zweck. 230 Dürbeck, Ambivalent Characters, S. 114.

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Das Wetter wechselt von Stunde zu Stunde, die Wüste bleibt, sie wech-selt nur ihre Farben und es gibt keine Farbe, die in der Wüste nicht vor-kommt im Verlauf der langen Tage. [...] Es gibt Blumen, kleine wie in den Alpen, alle Sorten von Moos und Flechten. [...] Rings um die Fjorde die waagrechten Berge, diese immergleichen Basalt-Tafeln; die Halden hinunter ins Meer sind grün. Welt wie vor der Erschaffung des Men-schen. Mancherorts ist nicht zu erraten, welches Erdzeitalter das ist. (H 68-70)

Island erscheint als Natur ohne Menschen, als evolutionäre Fan-

tasie231 in welcher am Ende es wahrscheinlich „die Fische [sind],

die uns überleben, und die Vögel.“ (H 71) Die Stelle endet mit

einem unkommentierten Eintrag zum Menschen (anthropos)

selbst.

(H 71)

Herr Geiser „maps evolutionary time onto geological deep

time“232, so Bernhard Malkmus. Die Island-Fantasie, mit seiner

bunten Farbsemantik und vielfältigen Flora und Fauna, steht in

231 Vgl. Malkmus, Man in the Anthropocene, S. 78. 232 Ebd., S. 77.

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starkem Kontrast zum schwarzen, vom Menschen eingenomme-

nen Tal im Tessin. Auch wenn die Sonderstellung des Menschen

und dessen geschichtliches Bewusstsein als Zettel an Herrn Gei-

sers Wand hängen, beginnt er, sich mit einem Feuersalamander

zu identifizieren, den er im Badezimmer findet. Dieses „Unge-

tüm: wie ein Saurier. Sein übergroßer Kopf, die schwarzen Augen

ohne Blick. [...] Ein entsetzlicher Stumpfsinn in allen Gliedern.“

(H 81) Bernhard Malkmus sieht in Geisers Wahrnehmung des Sa-

lamanders „the innermost fear of being returned to the’dullness’

he sees embodied in the salamander – a creature that is first and

foremost, as he states elsewhere, marked by the lack of Ges-

chichtsbewusstsein”233. Er beginnt sich intensiv mit Amphibien

und den ausgestorbenen Sauriern zu beschäftigen: vom Plesio-

saurier (H 84) zum Ichthyosaurier (H 85) und Tyrannosaurus Rex

(84, 117) sowie dem goldenen Zeitalter der Saurier im Allgemei-

nen (H 83).

Der versuchte Ausbruch aus dem Tal und nach Basel, die Er-

kenntnis, dass der Mensch mitnichten die Vormachtstellung in

der Welt innehat, verändert „die Inhalte und geistigen Vorausset-

zungen der montierten Textausschnitte“234. Laut Sprengel kon-

kurriert die listenartige Aufzählung der Saurier (H 113), welcher

ein „etc.“ angefügt wird, mit dem unmittelbar vorangehenden

Ausschnitt aus dem Buch der Genesis235 und führt, so Michael

Buttler, zu einer „Zersplitterung des Wissens in eine willkürliche

Aneinanderreihung zusammenhangloser Fakten“236.

Eine ähnliche Spannung registriert Sprengel in der von Herrn

Geiser postulierten Sonderstellung des Menschen (H 71) zum ei-

nen und der doppelten Erwähnung der Metamorphose auf der an-

deren Seite: „VERWANDLUNG VON MENSCHEN IN TIERE,

233 Ebd., S. 76. 234 Sprengel, Darwin in der Poesie, S. 142. 235 Vgl. ebd. 236 Vgl. Butler, Die Dämonen an die Wand malen, S. 99.

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BÄUME, STEINE ETC. SIEHE: METAMORPHOSE/MY-

THOS“ (H 35 und 74)237 Die Dissoziation mit der Spezies

Mensch, die Faszination der Dinosaurier und die darauf imagi-

nierte Metamorphose zum Lurch in Herrn Geisers Bewusstsein

verstärkt sich nach dem missglückten Fluchtversuch vor dem Un-

wetter. Anzeichen darauf sind aber bereits davor im Text zu fin-

den. Während er die Geschichte des Tals in unzusammenhängen-

den Bruchstücken erzählt, erinnert er sich beispielsweise an eine

Gruppe Spechte, die einen ganzen Sommer lang anstatt auf die

Rinde der Kastanie an die Fensterscheiben des Hauses pickten

und sich nicht verscheuchen ließen. „Im Sommer darauf“ so re-

sümiert Herr Geiser die Begegnung mit den Spechten, „hatten sie

es wieder vergessen.“ (H 66) Auch Herr Geiser beginnt zuneh-

mend zu vergessen, Mensch zu sein.

Die Feuersalamander, die in sein Haus eindrangen, und das

Aussterben der Saurier werden zum Schicksalspunkt der Erzäh-

lung. Der Salamander238 gilt im Alpenraum als Prophet des Wet-

ters aber auch als Sinnbild des Dämonischen, dessen Blick in

volkstümlichen Überlieferungen in Spanien, Frankreich und der

Schweiz tödlich enden kann.239 Rossbacher erklärt das Salaman-

der-Motiv als doppelte Utopie: einerseits die Regression zu einer

ausgestorbenen Spezies, als dessen Nachfahre bzw. Vorläufer der

Salamander als Mahnmal dient, andererseits die negative Denk-

möglichkeit des Aussterbens ganzer Arten als Sinnbild des mög-

lichen Aussterbens des Menschen selbst.“240 Der Tyrannosaurus

Rex und alle weiteren Saurier verschwanden am Ende der Krei-

dezeit und mit ihrem Verschwinden begann ein neues Erdzeital-

ter. Die beinahe manische Aneinanderreihung von naturwissen-

237 Vgl. Sprengel, Darwin in der Poesie, S. 142. 238 Anm. aus Klausman, Krefeld, Dämonisierung und Tabuisierung des Salamanders, S. 197: Dem „schwarz-gelb gefleckten Feuersalamander (salamandra salamandra) und dem schwarzen Alpensamalander (atra salamandra) – werden im volkstümlichen Aberglauben geheimnisvolle und zauberische Fähigkeiten zugesprochen.“ 239 Vgl. ebd., S. 198-199. 240 Vgl. Rossbacher, Lesevorgänge, S. 258-259.

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schaftlichen Illustrationen der ausgestorbenen Saurier, der Konti-

nentaldrift seit dem Jura und Schemata der Tiefenfaltung von Ge-

birgen durch Herrn Geiser dokumentiert laut Urte Stobbe den un-

geheuren Wandel der Evolution sowie „das Verschwinden der

einstigen und heutigen Herrscher auf der Erde im Zuge erdmor-

phologischer Veränderungen.“241

(H 118)

Auch der Mensch könnte, so lässt es der Text offen, verschwin-

den und wie der Saurier ähnliche Lurch, dessen Schwundform an

die einst so mächtigen Dinosaurier erinnert242, im Kaminfeuer in

Herrn Geisers Haus landen. Denn auch „wenn Herr Geiser aus-

sieht wie ein Lurch“ (H 124) ist er keiner, denn er weiß noch

241 Stobbe, Zur Verbindung von Klima-, Erd-, und Menschheitsgeschichte, S. 368. 242 Vgl. ebd., S. 367.

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sein Geburtsjahr und die Vornamen der Eltern, auch den Mädchenna-men seiner Mutter und wie die Straße nach Basel heißt, wo er geboren worden ist, die Hausnummer – (was ein Lurch alles nicht weiß). Herr Geiser ist kein Lurch. (H 125)

Der Vergleich mit dem Lurch ist eine beinahe trotzige Betonung

der Sonderstellung der eigenen Existenz: „Herr Geiser weiß, wie

er aussieht. (ein Lurch weiß nicht einmal das).“ (H 127) Die Re-

gression des Protagonisten, das Auflösen des Subjekts in die Tie-

fenzeit der Evolution und die Angst Herrn Geisers vor der Ver-

wandlung in den dämonisierten Salamander wird durch das Wort

„Mythos“ am Ende des Eintrags über die Metamorphose (H 74)

als intertextueller Verweis auf Ovids Metamorphosen abgemil-

dert:

In the Grimms’ German dictionary, geiszvogel, literally “goat bird,” is a term (now obsolete) for partridge—in Greek, perdix. In ancient my-thology, Perdix is the nephew of Daedalus, the Greek arch-architect.243 Ironically, the metamorphosis into an amphibian (salamander) that Herr Geiser dreads so much is counterbalanced by a mythological parable about the hubris of homo faber that features Herr Geiser’s redemptive figure of a bird (as exemplified by the ichthyornis and the Arctic birds).244

Die Lexikonartikel porträtieren, so zeigt dieses Kapitel, nicht nur

die Embryonalentwicklung der Lurche, ihre evolutionäre Meta-

morphose, die „animalische Anpassung“245 des Protagonisten,

seine eigene Metamorphose und Auflösung in unterschiedliche

Spezies, sondern auch die geologische Metamorphose der Natur

selbst.

243 Anm.: Perdix, ein begabter Erfinder und Neffe Dädalus, erfährt dessen Neid, welcher ihn darauf vom Partheon stößt. Minerva erbarmt sich seiner und verwandelt Perdix in einen Vogel, genauer in ein Rebhuhn. Aus Angst vor dem Fall baut dieses Nester in Zäunen und fliegt nur nahe am Boden. Vgl. hierzu: Ovid’s Metamorphosen., 8.Buch, V 250-259 in URL: https://www.gottwein.de/Lat/ov/met08de.php#Perdix 244 Malkmus, Man in the Anthropocene, S. 80. 245 Stobbe, Zur Verbindung von Klima-, Erd-, und Menschheitsgeschichte, S. 367.

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5.3.2 Interdependenzen: Herr Geiser und die Natur

Die Frage nach den Akteuren des Textes ist immer auch eine

Frage nach deren gegenseitiger Beeinflussung. Wie bereits erör-

tert wurde, reihen sich sowohl Der Mensch erscheint im Holozän

als auch Die Lehre der Sainte-Victoire in den heutigen Diskurs

der Umweltliteratur ein; beide Schriftsteller flechten neben ihren

männlichen, einsamen Beobachtern nicht-menschliche Agenzien

in den Text ein. Bei Frisch wird das Wetter, welches von Beginn

an den Duktus der Erzählung als nicht-kontrollierbare Kraft be-

stimmt, zur eigenen Negation und narrativen Akteur: dem Unwet-

ter.246 „Only through Unwetter“, so Malkmus, „can we begin to

understand our dependency on weather and our desire to conceive

of it as something ontologically separated from us.“247 In den ers-

ten Tagen wird der Regen zum Mitakteur der Handlung: „es müs-

sen Bäche sein überall, viele Bäche, die es sonst nicht gibt. Ein

stetes Rauschen aus dem ganzen Tal.“248 (H 17) Die Bäche, die

es sonst nicht gibt, alarmieren Herr Geiser. Auf diese Zeilen folgt

der erste Lexikoneintrag über die Sintflut, später ein Eintrag über

außergewöhnliche Hochwasser (H 27). Im Kontrast dazu erinnert

sich Herr Geiser an Dürreperioden: „Noch vor kurzem, im Juni,

war es wolkenlos, das Gras dürr und gelblich.“ (H 26) Während

in London die Sonne scheint, imaginiert Herr Geiser eine Sintflut:

Ein See, ein lehmbrauner See, der nach und nach das Tal füllt, ein na-menloser See, der, indem sein, Wasserspiegel steigt von Tag zu Tag und auch in den Nächten, sich mit den steigenden Seen der andern Täler vereint, bis die Alpen nur noch ein Archipel sind, eine Gruppe von In-seln aus Fels und Gletschern, die ins Meer hangen, ist nicht denkbar. (H 30)

246 Vgl. Malkmus, Man in the Anthropocene, S. 75. 247 Ebd. 248 Anm.: Hervorhebungen durch die Verfasserin.

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Das Thetysmeer, welches aufgrund der Plattentektonik der afri-

kanischen und eurasischen Platte vor 150 Millionen Jahren ver-

schwand, schreibt sich als lehmbrauner, namenloser See in den

Text ein.249 Bernhard Malkmus konstatiert, dass an dieser Stelle

die Angst vor einer Klimakatastrophe als Angst vor der ungewis-

sen Zukunft erscheint.250 Der namenlose See, der das Tal über-

schwemmen könnte, präsentiert sich gleichzeitig als Akteur, als

ökologische Kraft ohne kulturelle, da vom Menschen nichtbe-

nannte, Entität.

„Herr Geiser glaubt nicht an die Sintflut. (H 26) Niemand rech-

net mit der Sintflut.“ (H 44) Dass die mögliche Katastrophe we-

der Herrn Geiser noch die anderen BewohnerInnen des Tales be-

kümmert, bezeugt folgende Textstelle: „Die Burschen haben ih-

ren lauten Spaß; die Erosion, die draußen stattfindet, bekümmert

sie überhaupt nicht.“ (H 44) Malkmus prognostiziert einen zent-

ralen Gedanken des Anthropozäns bezüglich der Verhandlung

des Unwetters im Text: „Herr Geiser denies the metaphysical di-

mension and ignores the climatological explanations of Unwetter

[...].Thus, he still reads as weather what became climate long

ago.“251

Darüber hinaus wird der ökologische Fußabdruck des Men-

schen auf drei Ebenen thematisiert: „loss of biodiversity, invasive

species and climate change.“252 Tiefenzeitliche klimatische Ver-

änderungen werden oft zusammenhanglos in den Gedankengang

Herrn Geisers eingefügt: „Herbstzeitlosen schon im August“

(H 46). An anderer Stelle sinniert Herr Geiser über den Winter

und den Rückgang der Gletscher. Dass der Wandel des Klimas

kein geregelter Ablauf, sondern einen fluktuierender Prozess ist,

belegen zwei kurz aufeinanderfolgende Kommentare: „Die Glet-

scher, die sich einmal bis Mailand erstreckt haben, sind überall

249 Vgl. ebd., S. 75. 250 Vgl. ebd. 251 Ebd., S. 76. 252 Ebd., S. 81.

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im Rückzug; die letzten Lappen von schmutzigem Schatten-

schnee schmelzen auch in der Höhe spätestens im Mai.“ (H 57)

Auf Seite 63 heißt es wiederum: „Die Gletscher befinden sich seit

Jahrhunderten im Rückzug. Die letzten Lappen von schmutzigen

Schattenschnee schmelzen spätestens im Juli oder August.“253

Der „gelbe Bulldozer“ (H 57), welcher die Straße verbreitert und

dabei Reste der Gletscher und damit der letzten Eiszeit beseitigt,

evoziert das Bild des Eingriffs der Kultur in die Natur – der Ein-

bruch des Anthropozäns in das Holozän.

Ein weiteres repetierendes, anthropozentrisches Motiv ist der

Kastanienkrebs. Herr Geiser beobachtet den Vorgang vorerst nur:

„Die Feigen werden nicht reif, aber die Trauben. Viele Kastanien

haben den Krebs.“ (H 62) Später, als die innere Katastrophe des

Protagonisten evident geworden ist, lernt der Leser mehr über

diesen Krebs. Der Kastanienbaum, älter als die menschliche Zeit-

rechnung, wurde von Kleinasien bis nach Italien gebracht.(H 139)

Der zweite bildliche Ausschnitt thematisiert das erste Vorkom-

men des Kastanienkrebses 1904 in New York, der, so lässt sich

der Artikel deuten, durch den zweiten Weltkrieg nach Italien und

damit auch nach Locarno kam. (H 140) Malkmus bemerkt hierzu,

dass Frisch Thematiken wie Globalisierung, invasive Arten und

Militärmacht durch die Montagetechnik scheinbar zusammen-

hanglos verknüpft:

Frisch follows the schoolbook snippet with a fragment from a local- history book about ancient Roman military colonies in Ticino, inter-weaving the motifs of military power, globalization, and invasive spe-cies without identifying or corroborating any concrete connection among them. The section on chestnut blight foreshadows the ecological devastation wreaked by invasive species, such as the emerald ash borer and the fungus causing Dutch elm disease, in the wake of more recent globalization processes.254

253 Hervorhebungen durch die Verfasserin. 254 Malkmus, Man in the Anthropocene, S. 81.

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Das Tessin wird zur Schaubühne eines universellen ökologischen

Wandels, aber auch zu dessen gesellschaftlich rückständigen Au-

ßenseiter. „Alles in allem kein totes Tal“ (H 60), wie Herr Geiser

betont, aber ein stilles Tal „ohne Durchgangsverkehr.“ (H 62) Die

katholische Bevölkerung erlebt eine Auswanderung der Jungen,

der Schmuggel lohnt sich nicht mehr, Inzucht und Sodomie sind

im Rückgang. Aus der Froschperspektive zeigt sich der weltum-

fassende Wandel: „die weiße Spur von Verkehrsflugzeugen [...],

die man nicht hört. Der letzte Mord im Tal, nur gerüchteweise

bekannt, da er nie vor ein Gericht gekommen ist, liegt schon um

Jahrzehnte zurück.“ (H 65) Jahrzehnte zurück liegt auch die Be-

siedelung des Tales durch die Adler – Bären, Eber und Wölfe gibt

es keine mehr. Der Rückgang der Biodiversität begünstigt

hemerophile Arten wie die viel bedachten Eidechsen der Erzäh-

lung. Sprengel fasst die Verbindung von figurativer Regression

und ökologischer Vergänglichkeit und Wiederkehr zusammen:

[...] der Vergewisserung über das, was früher gewesen ist, über urtüm-liche Wesen und Welten wohnt auch eine abgründige Faszination inne: die Option der Regression in ein Stadium, wo Sein und Wissen möglich ist und die Einheit mit der Natur auf anderem Wege als dem des histo-rischen Gedächtnisses gelebt werden kann.255

Die Wiederholung einzelner Sätze, wie der Rückgang der Glet-

scher und der Kastanienkrebs, spiegelt die Interdependenz zwi-

schen den äußeren ökologischen Prozessen und der inneren Ver-

fassung des Protagonisten wider. Auffallend für das Interdepen-

denznetz zwischen Herrn Geiser und der ihn umgebenden Natur

ist die Verschiebung der Handlungsmacht – Herr Geiser, vorerst

der lesende Beobachter der natürlichen Prozesse in den Ge-

schichtsbüchern versucht später vor dieser mächtigen Natur zu

„flüchten“.

255 Sprengel, Darwin in der Poesie, S. 143.

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Als Exkurs sei hier auf Bruno Latours Artikel Agency at the Time

of the Anthropocene verwiesen, der literarische Verhandlungen

der Macht zwischen Mensch und Natur beleuchtet. Latour er-

wähnt unter anderem John McPhee’s Bestseller The Control of

Nature. Er beschreibt drei Versuche der Menschen, natürliche

Prozesse zu kontrollieren. Latour beschreibt diese als „stories

about how heroic humans are dealing with invincible natural

agents – water, landslides, and volcanoes.“256 Latour plädiert, in

Anlehnung an die Konnektivität von Natur und Mensch durch die

poetische Verwendung von Handlungsverben in The Control of

Nature, für eine Anthropomorphisierung der Natur:

For all agents, acting means having their existence, their subsistence, come from the future to the present; they act as long as they run the risk of bridging the gap of existence –or else they disappear altogether. In other words, existence and meaning are synonymous. As long as they act, agents have meaning.257

Indikatoren für eine agierende Natur in Der Mensch erscheint im

Holozän liefert der erste längere Lexikonausschnitt über die geo-

logische Entstehung des Kantons Tessin:

Kaum aber waren diese Erdkrustenteile aus dem Meeresspiegel empor-getaucht, da setzten auch schon die natürlichen Kräfte der Verwitterung ein und der Erosion ein und begannen ihre Modellier- und Abtragungs-arbeit. Während Fröste und Winde Bergkämme und Gipfel aus den em-porgehobenen Felsmassen herausarbeiteten, verbissen sich Wasser und Gletscher in die Furchen und sägten erste Täler ein. (H 18)258

Herrn Geiser Furcht vor einer agierenden, mächtigen, zerstöreri-

schen Natur wird einerseits durch die Sammeltätigkeit des Wis-

sens, andererseits durch das Beobachten der äußeren Zustände ab-

gemildert. „Was Herrn Geiser beruhigt: keine Risse im Asphalt.“

(H 40) Für kurze Momente steht die Täuschung im Raum, die

Beunruhigung steigt: „Einen Augenblick lang, vom Fenster her,

hat es wirklich ausgesehen wie ein handbreiter Riß [sic] durch das

256 Latour, Agency at the Time of the Anthropocene, S. 8. 257 Ebd., S. 12. 258 Hervorhebungen durch die Verfasserin.

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ganze Gelände – “. (H 46)259 Der Gedankenstrich evoziert kunst-

voll diesen Moment der ungewissen Spannung, welche in der ver-

suchten Wanderung, zur Distanzschaffung vor dem Unwetter,

kulminiert.

Während in der bisherigen Forschungsliteratur der Weg aus

dem Tal als Flucht vor Langweile, Flucht vor dem Altern und

dem Alltag interpretiert wird, plädiert Stobbe für eine Interpreta-

tion in Verbindung mit der Ko-Textualität des kurz vor der Wan-

derung eingeschobenen Artikels aus dem Brockhaus, in welchem

es heißt:

Das organische Leben [...] strebt höhere Stufen, reicherer Formenent-wicklung und höherer Qualität zu. Dabei spielt die Umgestaltung des Erdbildes mit; durch sie werden Pflanzen und Tiere zur Anpassung an neue Lebensverhältnisse, zur Wanderung oder zum Untergang gezwun-gen. (H 89)260

Das Unwetter zwingt Herrn Geiser, sich für eine dieser drei Hand-

lungsoptionen zu entscheiden. Der Ausbruch aus dem eigenen

Mikrokosmos bekommt, so Stobbe, „den Beiklang einer rational

geplanten Maßnahme, um den sich abzeichnenden grundlegen-

den klimatischen und erdmorphologischen Veränderungen zu

entgehen.“261 Die 1076 Meter über dem Meer liegende Passhöhe

ist das Ziel Herrn Geisers. Auffallend ist, dass seine Gedächtnis-

leistung zunimmt, denn „Herr Geiser weiß, was er tut“ (H 89),

„sein Gedächtnis bekommt recht:“ (H 95). Die Passhöhe, an die

er sich nun auch aus früheren Spaziergängen erinnern kann, ist

umgeben von Trockenmauern, Weiden, Buchen, jedoch keinen

Birken. (Vgl. H 96) Es wird eine, wie Raible es formuliert, tat-

sächliche Landschaft beschrieben, kein idealer Mischwald son-

dern ein aufeinander eingestelltes Ökosystem.262 Für Momente

260 Hervorhebungen durch die Verfasserin. 261 Stobbe, Zur Verbindung von Klima-, Erd-, und Menschheitsgeschichte, S. 364. 262 Vgl. Raible, Literatur und Natur, S. 111.

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steht Herr Geiser außerhalb allen Lebens, welches von ihm wis-

sen kann, verschluckt von der Natur: „Kein Vieh – // kein Vogel

– // Kein Laut – „ (H 96) weiß, wo er sich befindet. Den letzten

Weg bis auf die Anhöhe legt Herr Geiser auf allen Vieren zurück

– ein Verweis, wie Stobbe vermutet, „dass er den aufrechten

Gang des Menschen aufgibt, um sich so unbewusst auf die Stufe

mit den übrigen landgängigen Säugetieren zu stellen.“263 Sein

Haus „gehört kaum noch zur Gegenwart“ (H 100); beim Abstieg,

zwischen zwei und vier Uhr, bricht die Handlung ein, die Gedan-

ken nehmen überhand:

- wenn das Eis der Arktis schmilzt, so ist New York unter Wasser, des-gleichen Europa, ausgenommen die Alpen.

- viele Kastanien haben den Krebs

- Katastrophen kennt allein der Mensch, sofern er sie überlebt; die Natur kennt keine Katastrophen.

- der Mensch erscheint im Holozän. (H 103)

Die Wanderung wird unter größten Herausforderungen für den

Protagonisten begonnen – und wieder beendet. Die Gedanken-

splitter markieren den Höhepunkt der Erzählung. Die persönliche

Katastrophe des Protagonisten manifestiert sich als ein universa-

lisierendes Moment, dem die ganze Welt anheimfällt.264 Fast zy-

nisch erscheint der Gedanke, dass der Wandel der Natur keine

Katastrophe kennt; ob der Mensch diese überlebt, bleibt offen.

Als Mahnung liest sich der letzte Satz, die Nennung des Titels der

Erzählung: Erscheint der Mensch im Holozän, könnte dies, als

Fortschreibung des vorherigen Gedankens, bedeuten, dass auch

nur er die eigens verursachte Katastrophe abzuwenden weiß. Das

Ende der Erzählung macht deutlich, dass die Natur auch ohne den

263 Stobbe, Zur Verbindung von Klima-, Erd-, und Menschheitsgeschichte, S. 365. 264 Vgl. Utz, Kultivierung der Katastrophe, S. 48.

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Menschen, und das Tessiner Tal ohne Herrn Geiser, fortbesteht.

Max Frischs Erzählung zeigt das Netzwerk dieser Prozesse, die

Interdependenzen zwischen Mensch und Natur. Das fragmentari-

sche Erzählen, die Collage des „zu Wissenden“, das Unwetter als

Akteur, welches Herrn Geiser am Ende überdauert, zeigt aber

auch, dass es keine objektive Natur außerhalb der menschlichen

Sphäre mehr geben kann.265

265 Vgl. Malkmus, Man in the Anthropocene, S. 83.

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6 Peter Handke: Die Lehre der Sainte-Victoire

Die Lehre der Sainte-Victoire gehört zu den unbekannteren Wer-

ken des Kärntner Schriftstellers Peter Handke. Sie knüpft an

Handkes Roman Langsame Heimkehr an, welcher die Geschichte

des Geologen Valentin Sorgers erzählt, der zur Kartographierung

und Bestimmung von Naturformen nach Alaska reist und am

Ende wieder nach Europa zurückkehrt. Die Lehre der Sainte-Vic-

toire setzt an diesem Ende an und beginnt mit dem Satz: „Nach

Europa zurückgekehrt, brauchte ich die tägliche Schrift und las

vieles neu.“ (LSV 9)266 Die Spätphase der literarischen Produk-

tion Peter Handkes verschiebt sich, so Alexander Honold, ab den

späten 80er Jahren von einer durch politische Provokation ge-

prägten Sprache zu langen, großangelegten Landschaftsbeschrei-

bungen.267

Die Handlung kreist um die Beschreibung und Erforschung

der Montagne Sainte-Victoire und deren Umgebung. Die Be-

trachtung des Berges oszilliert zwischen der Auseinandersetzung

mit der Formation und der vegetativen Umgebung durch die den

Berg porträtierenden Kunst Paul Cézannes und einer beobachten-

den ästhetisch-ökologischen Position des Ichs selbst. Der Berg

wird zum Drehpunkt des Gehens, zum Bezugspunkt zwischen

Provence, Paris, Berlin und Salzburg.

Die Ende 1979 verfasste literarische Mischgattung, welche in

der Forschung keiner eindeutigen Textsorte zuzuordnen ist, folgt

einem namenlosen, gehenden Ich, welches sein Recht zu schrei-

ben, zu be-schreiben, auf Wanderungen in der französischen Pro-

vence erfragt. Claudia Albes groß angelegte Studie zur Lehre

266 Zitate aus dem Primärwerk werden im Folgenden mit der Sigle LSV (Lehre Sainte-Vic-toire) und der Seitenzahl im Fließtext angegeben. 267 Vgl. Honold, Der Erd-Erzähler, S. 2.

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schlägt drei mögliche Gattungszuschreibungen vor: die Erzäh-

lung, den Essay und die Beschreibung. Aufgrund des ökologi-

schen Forschungsaspekts dieser Arbeit sei die Lehre hier vorsich-

tig als ein Erzähltext definiert, in welchem sich erzählende und

beschreibende Passagen abwechseln.268 Albes gelangt zu der Er-

kenntnis, dass die Hälfte der beschreibenden Passagen269 durch

die Sainte-Victoire eingenommen werden.270 Die Kernge-

schichte, wie Albes weiter ausführt, kreist um die Montagne und

ihre sie umgebende Landschaft sowie die Bilder Cézannes.271

Gleich dem Maler Paul Cézanne wandert das Ich auf der

Route Paul Cézanne zum Bergmassiv der Sainte-Victoire. Es ist

eine Erzählung über den Ur-Zusammenhang zwischen den Din-

gen, den äußeren der Natur und den inneren des Ichs. Peter

Handke testet die Grenzen der literarischen Darstellung; die

Lehre des Berges erscheint als die selbst auferlegte Überarbeitung

einer ästhetisch-erzähltechnischen Technik. Das Erschauen und

Erfragen der Dinge durch die Bilder Cézannes und anderer Künst-

ler führt den Ich-Erzähler schließlich von der französischen Pro-

vence über Paris und Berlin bis nach Salzburg. Europa wird „er-

wandert“ – seine Farben, seine Städte, seine Natur.

Das Motiv der Heimat, der Kindheit sowie das Motiv der Mi-

litärmacht wurde in der Sekundärliteratur eingehend beleuch-

tet.272 Diese Arbeit fokussiert daher auf drei Erzähltechniken

Handkes in Die Lehre der Sainte-Victoire: die Entdeckung der

Farb-, und Formsemantik der Landschaft durch die Werke Paul

Cézannes, die Kontinuität des Gehens als Wandeln zwischen

Kunst und Wirklichkeit und als Teil der ökologischen Poetologie

268 Vgl. Albes, Erzählen – Argumentieren – Beschreiben, S. 183. 269 Anm.: Passagen, die eine hohe Dichte an Beschreibungen aufweisen sind: die Werke Cézannes (und anderer Künstler), beispielsweise Der Mann mit den verschränkten Armen (LSV 30), die Kapitel Die Anhöhe der Farben (LSV 31), worunter auch die Beschreibung des Berges selbst fällt, Die Hochebene des Philosophen (LSV 37), Das Bild der Bilder (LSV 60), Der Hügel der Kreisel (LSV 81) sowie das letzte Kapitel Der große Wald (LSV 93), welches bis auf eine kommentierte Passage rein beschreibend organisiert ist. 270 Vgl. Albes, Erzählen – Argumentieren – Beschreiben, S. 224. 271 Vgl. ebd. 272 Vgl. hierzu Schröder (2015), Pfeiffer (1986)

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Peter Handkes und die Interdependenzen zwischen Natur und

Stadt. Erzähltechnisch ist Die Lehre der Sainte-Victoire eine

„Ort- und Zeitmarke eigener Art.“273 Anders als Herr Geiser in

Der Mensch erscheint im Holozän ist die Erzählung kein Ringen

um Zeit, kein manisches Zusammenraffen von Wissen. Was die

beiden Werke verbindet, ist die Auflösung des Menschen, des Er-

zählers in der Natur. Die Zeitdehnung der Beobachtungen durch

den Ich-Erzähler suggeriert trotz der häufigen Ortswechsel „un-

begrenzte Reserven an Zeit.“274 Das Sammeln des Wissens über

die Natur bei Max Frisch wird bei Peter Handke zum Sehen der

Landschaft. Die Hauptquelle der vorliegenden Ausführungen bil-

det die große ökologische Studie zu Peter Handke, Der Erd-Er-

zähler von Alexander Honold. Honold beschreibt Handkes Poe-

tologie wie folgt:

Hier wirkt ein Erzähler der Erde, ein mit fußgängerischer Langmut und penibler Beharrlichkeit vorgehender Chronist von Orten, Räumen und Landschaft ein. Einer, dem sich die Welt als Erfahrung in doppelter Weise erschließt, durch die eigene Fortbewegung im Raum und durch den sie nach- und umgestaltenden Zug des eigenen Schreibens in der Zeit.275

Das folgende Kapitel behandelt die Semantik der Farben und For-

men in Die Lehre der Sainte-Victoire und versucht darüber hinaus

die ökologische Poetik Peter Handkes näher zu definieren.

6.1 Formen und Farben: Paul Cézanne und die

Sainte-Victoire

„Einmal bin ich dann in den Farben zuhause gewesen. Büsche,

Bäume, Wolken des Himmels“ (LSV 9). Einer der ersten Sätze

der Erzählung folgt einem beseelten Moment des Ichs, das den

273 Honold, Der Erd-Erzähler, S. 3. 274 Ebd., 275 Ebd., S. 11.

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Zusammenhang erkennt: „Naturwelt und Menschenwerk, eins

durch das andere“ (LSV 9) Bereits in diesem Satz lässt sich eine

anthropozentrische Perspektive erahnen, wenn von Naturwelt

und Menschenwerk die Rede ist.276 Die Euphorie hält jedoch

nicht lange; die Farben, die sich dem Ich auf der Route Paul

Cézanne offenbaren, sind schwer zu nennen: „Das Unterscheiden

und, noch mehr, das Benennen von Farben ist mir seit je schwer-

gefallen.“ (LSV 10) Auch die Benennung des Erzählers wird im

Verlauf des Textes zunehmend schwerer. Die Erzählposition

folgt zunächst einem homodiegetischen Ich-Erzähler, welcher

sich immer mehr in den Farben der Landschaft aufzulösen

scheint. Die wirklichen und gedanklichen Umkreisungen der

Sainte-Victoire durch den Erzähler, strukturiert in 9 Kapiteln,

spannen den Bogen bis zum letzten Kapitel Der große Wald. Der

Erzähler reflektiert in einer Passage schließlich die eigene Kon-

stitution innerhalb der Erzählung:

Es war für mich eine Zwischenzeit; ein Jahr ohne Ortsansässigkeit. [...] Auch mein Held war dabei, wie schon für die vielen vor mir, der home-rische Odysseus: Wie er hatte ich mich in eine (vorläufige) Sicherheit gebracht, indem ich sagen konnte, daß [sic] ich Niemand sei. (LSV 35-36)

Das letzte Kapitel wird nicht mehr aus der Sicht eines erzählen-

den Ichs präsentiert, sondern als wahrnehmende, jedoch „unper-

sönliche kollektive Instanz“277; ein undefiniertes „man“ be-

schreibt ein Dorf und den Weg in den Morzger Wald bei Salzburg

basierend auf der Beschreibung des Gemäldes Der große Wald

von Jacob van Ruisdael. Diese erzählerische Komposition lässt

an das langsame Verstummen des Herrn Geiser denken. Die Er-

zählposition erlaubt Anlehnungen an Handkes autobiographi-

sches Schreibverfahren278 und zeichnet gleichzeitig eine Parallele

zu Frischs „Everyman“ des Holozäns.

276 Hervorhebungen durch die Verfasserin 277 Albes, Erzählen – Argumentieren – Beschreiben, S. 229. 278 Vgl. Honold, Der Erd-Erzähler, S. 181.

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Die Ästhetik der Farben entdeckt der Ich-Erzähler durch die Be-

schäftigung mit der Landschaftsmalerei Paul Cézannes. Honold

verweist darauf, dass

die Betrachtung Cézannes und seiner Landschaftsbilder [...] sich zuneh-mend als ein Studium von Linienführungen und Schriftbildern [er-weist], auch wenn in der Landschaft Cézannes zunächst die Aus-druckswelt der Farbe dominiert.279

Die Farbbeschreibungen des gehenden Ichs sind bunt, schatten-,

und lichtreich und bilden damit einen starken Kontrast zu den

schwarzen, die Katastrophe vorzeichnenden Farben Herrn Gei-

sers. Die Farben des Ichs rühren an das Leben Paul Cézannes, der

die Kriegszeit malend in L’Estaque verbrachte und dem selbst die

Schatten der ihn umgebenden Natur in Farben erschien: in Rot,

Schwarz, Braun, Weiß, Blau und Violett. (Vgl. LSV 13) „Zu ent-

decken ist hier“, laut Honold, „wie das Sehen und Lesen, das

Zeichnen und Schreiben zusammengehören – anhand des Zusam-

menspiels von Farbe und Form in den Landschaften Cézan-

nes.“280 Poetologisch erscheint die Natur dem Ich zum ersten Mal

durch die bildende Kunst. Cézannes Bilder präsentieren dem Ich

Wahrnehmungsinhalte und -formen und gleichzeitig immer nur

eine mögliche Form des Sehens.281 „Es waren die Dinge; es war

die Schrift; es war der Strich – und es war das alles im Einklang.“

(LSV 62) Diese Erkenntnis des Ichs skizziert die Bildbetrach-

tung: Der Strich des Malers, die Schrift als Übersetzung des

Wahrgenommenen, sei es die Welt selbst oder Cézannes Ge-

mälde, und das Bild als dessen Einheit.282 Selbst die menschen-

gemachte, in die Natur eingreifende Kultur als Metapher der as-

phaltierten Straße wird als farbliche Form wahrgenommen:

Ja, dem Maler Paul Cézanne verdanke ich es, daß [sic] ich an jener freien Stelle zwischen Aix-en-Provence und dem Dorf Le Tholonet in

279 Honold, Der Erd-Erzähler, S. 182. 280 Ebd. 281 Vgl. Borgards, Sprache als Bild, S. 22-23. 282 Vgl. ebd., S. 25-27.

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den Farben stand und sogar die asphaltierte Straße mir als Farbsubstanz erschien. (LSV 14)

Natur und Kultur erscheinen bei Handke von Beginn an als farb-

licher Schriftzusammenhang. Das Sehen, die Beobachtbarkeit der

äußeren Dinge, verbindet die Kunst Cézannes mit der äußeren

Natur und deren Realisation im Schriftbild:

Als ich davon las, erinnerte ich mich wieder, daß [sic] ich beim Anblick des Bildes die Kiefern und Felsblöcke als verschlungene Schriftzeichen gesehen hatte, so eindeutig wie unbestimmbar. (LSV 61)

An dieser Textpassage realisiert sich, so Borgards, dass „die Ge-

genstände selbst dazu [tendieren], als Schrift wahrgenommen zu

werden“283, worauf im folgenden Kapitel näher eingegangen wer-

den soll.

Die Assoziationen des Ichs wechseln zu Beginn der Erzählung

zunächst zeitlich und topographisch zwischen Erinnerungen an

die Kindheit und die Zeit beim Militär sowie den „magischen Far-

ben“ als Erfahrung mit einer ehemaligen Frau scheinbar arbiträr

hin und her.284 Das „Heranschreiben“ an den ersehnten Zusam-

menhang erfolgt, so Roebstorff-Robiano, einerseits durch das Le-

xem „Farbe“.285 Die Problematik der farblichen Beschreibung der

Dinge rückt in den Mittelpunkt der Provence-Assoziationen.

„Farben und Formen, ohne Gegenstand, waren zu wenig – die

Gegenstände in ihrer Tagvertrautheit zu viel.“ (LSV 16) Das Fin-

den der Farben in Cézannes Bildern und ihre ästhetische Überset-

zung durch den Blick des Ichs auf die Natur strukturiert Handke,

verweist man auf Honold, anhand der „Entfabelung“, welche den

Text durch die Nennung von realen Orten und Wegbeschreibun-

gen für den Leser gliederbar macht.286 Der die Basis bildende Ge-

283 Ebd., S. 26 284 Aufgrund des Umfangs dieser Arbeit wird auf die Analyse dieser Handlungselemente verzichtet. 285 Vgl. Roebstorff-Robiano, intermediale Verzauberung, S. 138. 286 Vgl. Honold, Der Erd-Erzähler, S. 184

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genstand der erzählerischen Reflexion ist die Werkgenese Cézan-

nes und die damit verknüpften persönlichen Farberinnerungen ei-

nes früheren Lebens. Erinnerungen an „die Frau [...], damals,

noch in der Zeit der magischen Bilder“ (LSV 18) und an Jugosla-

wien vor „den dunklen Zypressen vom Sommer 1971“ (LSV 21)

knüpfen an die Problematik der Wirklichkeitsdarstellung in

Cézannes Werken an:

Cézanne hat ja anfangs Schreckensbilder, wie die Versuchung des Hei-ligen Antonius, gemalt. Aber mit der Zeit wurde sein einziges Problem die Verwirklichung (»réalisation«) des reinen, schuldlosen Irdischen: des Apfels, des Felsens, eines menschlichen Gesichts. Das Wirkliche war dann die erreichte Form. [...] Doch was dem Leben sein Gefühl gibt, wird beim Weitergeben dann das Problem. (LSV 18)

Die Notwendigkeit der Entzifferung der Landschaft durch die Ta-

gesfarben (LSV 22), die gehend erschaut werden, wird durch

diese Passage gefestigt. Das Erträumen der erzählten Dinge wird

verworfen: „Nein, die magischen Bilder – auch der Zypressen –

waren nicht die richtigen für mich. [...] Nur außen, bei den

Tagesfarben, bin ich.“ (LSV 22) Die Farben- und Lebenslinien

entwerfen, orientiert an der bildenden Kunst, einen episodischen

Lebenslauf des Gehenden287, welche die Erinnerung als

Beschreibungsmöglichkeit zunehmend verwirft. Das Wandeln in

dieser sich erinnernden Traumlandschaft auf der Suche nach

einem Lehrmeister (LSV 27) markiert den Kern der Erzählung:

das Erblicken der Sainte-Victoire. Albes differenziert hier

zwischen achronischem Erzählen der Erinnerungen, welche den

Text einleiten, und dem Stillstehen der Zeit, wenn

Beschreibungen der Montagne Sainte-Victoire einsetzen.288 Auf

einer Ausstellung mit Bildern Cézannes 1978 erblickt der

Erzähler zum ersten Mal das Bild der Sainte-Victoire, welches er

vorerst nur beiläufig betrachtet und ihm schließlich zum Ziel des

287 Vgl. ebd., S. 186. 288 Vgl. Albes, Erzählen – Argumentieren – Beschreiben, S. 228.

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inneren Dranges wird: „[M]it der Zeit färbte er sich in mir immer

dunkler.“ (LSV 31)

Die erste Beschreibung der Formen und Farben des Berges

wird als eine beschreibende Passage proleptisch vor der wirkli-

chen Erforschung an einem Tag im Juli in den Text eingefügt.289

Das Kapitel Die Anhöhe der Farben beschreibt die geologischen

Formen und Farben der Sainte-Victoire. Albes unterteilt die ein-

einhalb Buchseiten umfassende Deskriptionsassoziation des Ber-

ges in „einrahmende“ Informationen, welche die Größe, Gestalt

und Farbe der Sainte-Victoire benennen sowie die Ausrichtung

der Bergkette in topographischer Hinsicht gleich einer Wander-

karte beschreiben.290 Diese wird als eine „mächtige Kalkschol-

lenauffaltung“ (LSV 32) beschrieben, deren Brüche durch den

„Wechsel der Felsfarben und des Gesteinsmuster“ (LSV 32) für

den Betrachter sichtbar trennend wirken. Die Skizzierung der ge-

ologischen Formationen führen den Erzähler von Cézannes Mo-

tiven weg zu einem subjektiven Gefühl: „es war der Berg, der

mich anzog, wie noch nichts im Leben mich angezogen hatte.“

(LSV 33) Während die Beschreibung des Berges aus der Instanz

eines unpersönlichen „man“ beschrieben wird, ist letzteres Zitat

wieder dem Erzähler zuzuordnen. „Die Sainte-Victoire“, so Ho-

nold, „erscheint somit als ein immer wieder neugestaltetes,

gleichsam im Blick erst entstehendes und sich umformendes

Bergmassiv.“291

Das Ich nähert sich dem Höhenkamm der Sainte-Victoire

schließlich an einem Julitag auf der Route Paul Cézanne. An die-

ser Textstelle wird die Verschiebung des Blickes evident. „Der

Berg wird schon vor Le Tholonet sichtbar. Er ist kahl und fast

einfarbig; mehr ein Lichtglanz als eine Farbe.“ (LSV 37) Die Ge-

stalt des Erzählers, wie er das Bergmassiv betrachtet, wird durch

289 Vgl. ebd., S. 234. 290 Vgl. ebd. 291 Vgl. Honold, Der Erd-Erzähler S. 194.

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die Auslotung der Räume zwischen Mensch und Natur, der Ver-

änderung des Standortes und des Blickes fast physisch spürbar.292

Das Ich fragt sodann:

Genügt nicht schon ein Baumbraun und aus dem durchschimmernden Blau wir eine Form? – Die Sainte-Victoire, ohne Vogelschwarm (oder sonst etwas) dazwischen, stand gleich entrückt, und doch unmittelbar vor mir. (LSV 38)

Die Sainte-Victoire wird dem Erzähler zum „Ort der Wahrheit“293

und wie das Orakel zu Delphi (LSV 37), zum Mittelpunkt der

Welt. Der Weg auf der Serpentinenstraße, „immer angesichts des

Berges“ (LSV 40) avanciert zu einem „topographischen Annähe-

rungsvorgang, indem er aus den Blickwinkeln der Straße und ih-

ren Krümmungen die vielfältigen Formen und Farben des Berg-

massivs erzeugt.“294

Das Recht zu schreiben, eine Lehre der Sainte-Victoire zu ver-

fassen, kollidiert nach dem Abstieg (das Gipfelerlebnis bleibt

aus) mit dem rotierenden Ausbleiben und Wiederkehren der Far-

ben und ein damit einhergehendes Rätseln des Erzählers über die

Erzählform und Heldenfigur der zu schreibenden Geschichte

(LSV 58): „Wo ist die Farbe, die noch aus der Substanz des Dings

selber kommt? Welches jetzige Ding ist ein Augenstoff? Dafür

suche ich umso bedürftiger eine unberührte Natur.“ (LSV 56)

Während die Natur für den Protagonisten in Der Mensch er-

scheint im Holozän an der Wissenswand sichtbar immer wieder-

kehrt, findet das Ich in Handkes Erzählung die Natur als Analogie

des Berges Sainte-Victoire in dessen Farben wieder. Der Berg

kehrt „in der Analogie von Farben und Formen fast alltäglich wie-

der“ (LSV 67) und schafft eine Verbindung zwischen Natur und

Kultur, zwischen Leben und Kunst.

292 Vgl. Handke, Sainte-Victoire: „Sonst ist an entfernten Flächen ja oft etwas Eigentümli-ches zu beobachten: diese Hintergründe, so formlos sie sind, verändern sich, sobald zum Beispiel ein Vogel aufflattert. Die Flächen entrücken, und nehmen andererseits spürbar Ge-stalt an; und die Luft zwischen dem Auge und ihnen wird stofflich, S. 37. 293 Honold, Der Erd-Erzähler, S. 195. 294 Ebd.

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6.2 Der Erdwandler: Handkes ökologische Poetolo-

gie

Der Erzähler der Lehre „erschaut“, „ergeht“ und „erschreibt“ die

Landschaft des Textes. In der Kontinuität des Gehens drückt sich

die Verhandlung von Erdreich, von Pflanzen und geologischen

Veränderungen durch den Menschen aus. Die neun Kapitel sind

bis auf das 6. und 7. Kapitel nach geologischen Formationen be-

nannt, wie Weymann ausführt.295 Honold konstatiert, dass die Er-

zählung darüber hinaus „doppelt orchestriert“ ist: einerseits durch

im Präsens verfasste topographische Beschreibungspassagen und

andererseits durch das Subjekt bestimmte erlebte Rede, welche

zwischen Vergangenheit und Präsens zirkuliert.296

Die geologische Beschaffenheit der Sainte-Victoire findet

sich, wie bereits erwähnt, in der ersten Beschreibung des Berges,

noch bevor der Erzähler die Reise antritt. Die Beschreibung weist,

so Albes, zahlreiche geomorphologische Fachausdrücke auf, wel-

che darauf schließen lassen, dass der Sinneswahrnehmung Wis-

sensinformationen zur Seite stehen.297 Der Berg wird sowohl von

unten als auch aus der Vogelperspektive („[...]deren Kamm in der

fast gleichmäßigen Höhe von tausend Metern über dem Meer an-

nähernd eine Gerade beschreibt.“ (LSV 31)) geologisch erfasst.

Fachausdrücke wie „Kamm“, „Gipfel“, „Höhenkamm“,

„Kalkschollenauffaltung“, „Grat“, „Dreispitz“ etc. (LSV 31-32)

skizzieren die Entstehung, den Verlauf und die äußerliche Form

des Berges.298 Bei Honold findet sich eine wichtige Notiz zur ge-

henden Annäherung an die Sainte-Victoire. Dieses Gehen zielt

295 Vgl. Weymann, Intermediale Grenzgänge, S. 169. 296 Vgl. Der Erd-Erzähler, S. 196. 297 Vgl. Albes, Erzählen – Argumentieren – Beschreiben, S. 235. 298 Vgl. ebd., S. 236.

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auf „das Darstellungsziel einer prozessualen Ästhetik der Annä-

herung.“299 Prozessualität verweist, liest man Handkes Text als

geologisch-anthropozentrischen Text, auf eine Natur, welche in

ihrer Verwandlung literarisch verhandelt werden kann.

Das Referenzobjekt dieser prozessualen Ästhetik sind die

Werke Paul Cézannes. Albes verweist in Anlehnung an Handkes

Versuch, Naturphänomene mit Cézannes Kunst zu verbinden, auf

Joachim Gasquet. In seinem Buch Cézanne. Drei Gespräche fin-

den sich folgende Worte Cézannes: „Um eine Landschaft richtig

zu malen, muß [sic] ich zuerst die geologischen Schichten klarle-

gen.“300 Weiter spricht Cézanne von der Geologie der Erde, ihrem

Skelett aus Stein und der Notwendigkeit für seine Malerei, „[e]ine

lufterfüllte, farbige Logik [...] an die Stelle der düsteren, hartnä-

ckigen Geometrie“301 zu stellen. Im Text findet sich nachfolgende

Stelle:

In einem Brief von Cézanne las ich weiter, er male keinesfalls »nach der Natur« - seine Bilder seien vielmehr »Konstruktionen und Harmo-nien parallel zur Natur«. – Und dann verstand ich, durch die Praxis der Leinwand: die Dinge, die Kiefern und die Felsen, hatten sich [...] zu einer zusammenhängenden, in der Menschheitsgeschichte einmaligen Bilderschrift verschränkt. (LSV 62)

Diese Überschreibung des Pinselstrichs des Malers in die Schrift

und Beschreibung der Natur durch den Literaten, verbindet sich

auf der Ebene des Schriftbilds durch die Zeit hinweg302. Ein Bei-

spiel hierzu liefert der Text in der Beschreibung des Gemäldes Le

grand pin: „Es gibt von Cézanne ein Bild, das man Le grand pin

genannt hat. [...] Es zeigt eine große, für sich stehende Kiefer am

Fluß [sic] Arc, südöstlich von Aix“ (LSV 24). Am Ende der Seite

beschreibt der Erzähler ein weiteres Bild, welches eine Pinie

zeigt:

299 Honold, Der Erd-Erzähler, S. 192. 300 Gasquet, Drei Gespräche, S. 18, hier: Albes, Erzählen – Argumentieren – Beschreiben, S. 236. 301 Ebd., S. 20, hier Albes, Erzählen – Argumentieren – Beschreiben, S. 237. 302 Vgl. Borgards, Sprache als Bild, S. 25.

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In einem von ihnen (auf dem eine Signatur ist) winkt ihr unterer Ast sozusagen in die Landschaft hinein und formt mit Zweigen einer Nach-barkiefer einen Torbogen für die Ferne, in der sich in den hellen Farben des Himmels das Massiv des Sainte-Victoire-Gebirges erstreckt. (LSV 24)

Dieses Bild des Torbogens wird, leicht verändert, im Erblicken

des realen Bergmassivs von einer Gaststätte aus als „Akazien-

blattwerk“ erneut heraufbeschwört. Dieses „verzweigt sich vor

den durchschimmernden Bergwänden wie ein Spalier.“ (LSV 40)

Das Torbogen-Motiv wird letztlich im Kapitel Der große Wald

erneut erwähnt: „Der Wald ist schon im Torbogen zu erkennen“

(LSV 95). Die Schirmpinien verweisen darüber hinaus, laut Pfeif-

fer, auf ein „sich [E]inlassen“ auf die äußere Welt.303

Insgesamt rekurriert Handkes Text in fünf Beschreibungen auf

die Gestalt des Berges. Claudia Albes liest diese als zusammen-

hängenden Subtext innerhalb der Handlung.304 Der Erzähler er-

blickt vorerst die „im Sockel horizontal weiterlaufende[n] [...]

Schichtfalten“ (LSV 37) und diese aus weiter Ferne. Zu Mittag

beginnt der Anstieg, „die Serpentinen“ und „Felswände“ (LSV

39) rücken in den Blick des wahrnehmenden Ichs. Das Ende der

Umkreisung des Berges und der tatsächliche Aufstieg über den

„idealen Pass“, der sich dem Ich nun als nichts weiteres als eine

„Felsbresche“ (LSV 52) präsentiert, hat kein Ziel: „Es gab kein

Gipfelerlebnis.“ (LSV 53) Nach dem Abstieg und in den darauf-

folgenden Monaten begegnet der Berg dem Ich im Alltägli-

chen305, bis er schließlich, inspiriert von Cézannes Zeichnungen,

erneut zu diesem aufbricht.

Mit der Annäherung an den Berg rücken gleichzeitig die Flora

und Fauna in den Mittelpunkt der Erzählung. Oder, wie Honold

es formuliert: „Mit jedem erreichten Jetztpunkt der Wanderung

303 Vgl. Pfeiffer, Einheitsphantasien, S. 270. 304 Vgl. Albes, Erzählen – Argumentieren – Beschreiben, S. 237. 305 „(Gewiß [sic], nach Aix habe ich einmal am roten Kunststoffboden des Flughafens in Marseille einen Schimmer des Mergels von der Sainte-Victoire gesehen...)“ LSV 65.

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›erweckt‹ der Vorwärtsschreitende eine neue Situation innerhalb

der begangenen Topographie zu plastischer, erlebter Wirklich-

keit.“306 Der Serpentinenweg wird vom Ich mit allen Sinnen er-

fasst:

Im roten Mergelsand eines ausgetrockneten Bachbetts die Abdrücke von Kinderfüßen. Kein Geräusch, nur die im weiten Umkreis gegen den Berg anschrillenden Zikaden. Aus einer Pinie tropft Pech. Ich biß [sic] von einem frischgrünen Zapfen ab, der schon von einem Vogel ange-nagt war und nach Apfel roch. (LSV 39)

Der rote Mergelsand (visuell) das Schrillen der Zikaden (auditiv),

der Biss in den Zapfen (gustatorisch), der befühlte und besehene

angeknabberte Zapfen (taktil) und der Geruch nach Apfel (olfak-

torisch) lassen die Natur als Sinneserlebnis erscheinen. Die trop-

fende Pinie, die aufgebrochene Rinde derselben und die Verewi-

gung von Spuren bereits hier gewesener Menschen307 unterstrei-

chen die ökologische Tiefendimension. Die Entdeckung von

Schneckenhäusern, „die in Scharen an den Stengeln klumpten“

(LSV 41) lassen das Ich die Entstehung des Berges imaginieren:

„Sie bildeten eine Fossilienlandschaft, der einmal auch der Berg

angehörte, indem er in einem Blick wieder jäh seinen Ursprung,

das monumentale Korallenriff, zeigte.“ (LSV 41) Mit einem

Blick wird der Zusammenhang aller Dinge, über Jahrtausende

hinweg, erkannt.308 So wie Cézanne das „Reich der Welt“ (LSV

42) durch dessen Kunst zusammenhält, erschließt das Ich schrei-

bend die Evolution der Gegend rund um die Sainte-Victoire. Die

Begegnung mit der schwarzen Dogge309 leitet die einzige Text-

stelle ein, an welcher die Fauna rund um Puyloubier beschrieben

wird: Weltabgekehrte Katzen, Fische, Hornissen, Schmetterlinge,

Schlangen, Vögel, Libellen als „Vor-Osterfarben“ (LSV 43-44).

306 Honold, Der Erd-Erzähler, S. 197. 307 Vgl. ebd. 308 Vgl. Weymann, Intermediale Grenzgänge, S. 188. 309 Anm.: Das Kapitel Der Sprung des Wolfs (LSV 43) wird durch folgende Bemerkung zu Cézannes Werkmotiven eingeleitet: „Seine einzigen Tiere, und nur ganz am Anfang, sind die Köter, die bei dämonischen Picknicks und Nacktszenen dabeihocken, und die man als gegen die Geistessehnsucht gezogene Fratzen gedeutet hat.“ LSV 42.

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Der Schrecken vor dem Hund lässt die Farben der Landschaft

kurzzeitig verschwinden. Nach Puyloubier und der Begegnung

mit dem „absolut Bösen“310 gewinnt die Natur ihre Farben zu-

rück: „Ich ging mit der letzten Sonne, im belebenden Gegenwind;

das Blau des Berges, das Braun der Wälder und das Karminrot

der Mergelböschungen als meine Farbenbahnen.“ (LSV 50)

Der zweite Aufbruch zur Sainte-Victoire dürfte aufgrund von

Indizien im Text im Spätherbst stattgefunden haben. „Die Plata-

nen am Cours Mirabeau hatten fast all ihre Blätter verloren“, ist

da zu lesen, und die „Sommerprachtstraße von Aix war jetzt naß

[sic], grau und kahl und gehörte zum Straßennetz von Paris.“

(LSV 84) Einerseits erblickt das Ich die Natur zu einer anderen

Jahreszeit, andererseits suggeriert die Phrase „gehörte zum Stra-

ßennetz von Paris“ den Einbruch der Stadtfarben in die Natur.

Honold definiert diese Veränderung in der Erzählstruktur wie

folgt:

Das die Erdfläche durchquerende Subjekt nimmt zu einem bestimmten Zeitpunkt jeweils eine konkrete Raumposition ein, die den Weg in Ver-gangenes (die zurückgelegte Strecke) und Künftiges (die noch ausste-hende Fortsetzung) auf teilt und insofern eine dem Erzählvorgang und der Handlungsdarstellung vergleichbare ›geopoetische‹ Spannungsdi-mension generiert.311

Die Sainte-Victoire ist ohne Jahreszeit, nur die immergrünen Kie-

fern haben ihre Farbe behalten, das Geräusch der Zikaden wurde

von reibenden Ästen abgelöst. Handke ersetzt Naturphänomene

gemäß den wechselnden klimatischen Verhältnissen, die Meta-

morphose der Landschaft wird ohne Bruchstelle als Prozess der

Kontinuität begriffen. Der Berg, von Le Tholonet aus gesehen,

spiegelt diese Prozesse eindrucksvoll wider: Ein kahler Hügel

nach einem Waldbrand im Sommer, das Pyramiden und Türme

aufrichtende fließende Wasser. „Momente von Spannung und

310 Honold, Der Erd-Erzähler, S. 198. 311 Ebd., S. 196-197.

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plötzlichem Weichwerden in der Natur; wie eins ins andere geht.“

(LSV 92)

6.3 Interdependenzen: Die Suche nach dem Zusam-

menhang von Natur und Mensch

Der Erzähler der Sainte-Victoire berichtet am Anfang der Erzäh-

lung von dem Moment des Zusammenhangs aller Dinge, der

Dinge der Natur und des Menschen. Im Verlauf der Handlung

können für ihn zwei Wünsche extrahiert werden: das Ersehnen

dieses Zusammenhangs und der Wunsch, völlig in diesem aufzu-

gehen. Der Modus des Gehens lässt den Erzähler zusehends eine

Verbindung zwischen ihm selbst und der Natur erkennen: „Im

Weitergehen warf ich einen Apfel auf, der sich in der Luft drehte

und meinen Pfad mit dem Wald und den Felsen verband.“ (LSV

54) Die Gegenstände Cézannes, die doppelt betrachtete Natur der

Kunst und jene der äußeren Welt verbergen das Ich in der Land-

schaft.

Die Erde hat sich durch den Menschen zusehends geändert, zur

„Zeit der Fels-und-Baum-Bilder“ (LSV 63) lässt Handke

Cézanne sagen: „In einigen hundert Jahren werde alles verflacht

sein [...]. Man muss sich beeilen, wenn man noch etwas sehen

will. Alles verschwindet.“ (LSV 63) Ein im Text ohne Titel ge-

nanntes, darauffolgendes Gemälde Cézannes zeigt Flaschen,

Schalen, Vasen und Früchte; „Märchendinge“ (LSV 63), die zu

leben scheinen und dennoch den „Moment vor dem Erdbeben“

markieren – „als seien diese Dinge die letzten.“ (LSV 63) Die

Nennung des Erdbebens ist die einzige Stelle in der Lehre, welche

eine künftige Katastrophe für möglich erscheinen lässt. Hinweise

auf die Zerstörung der lebendendigen, farbgetränkten Natur fin-

den sich aber bereits auf Seite 14:

Gegen die Jahrhundertwende entstanden um L’Estaque die Raffinerien, und Cézanne hörte auf, den Ort zu malen; in ein paar hundert Jahren

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werde es überhaupt sinnlos sein, zu leben. – Nur auf den geologischen Karten erscheint die Region noch unversehrt im Farbenspiel [...].

Die Beschreibung der Montagne Sainte-Victoire in ihrer Formen-

vielfalt, von allen Seiten betrachtet durch das gehende Ich, wel-

ches das Gebären und Sterben der Natur in ihren Farben wieder-

findet, lässt Parallelen zu den geologischen Karten der Region zu,

welche die Welt als „festes tragendes Erdreich“ (LSV 20) ewig-

lich erhalten. „Die schöpferische Phantasie“, bemerkt Pfeiffer,

„vermag visionär zur Ganzheit zusammenzusetzen, was diesseits

der Kunst in Bruchstücke zerfällt.“312 Das Verschwinden der un-

berührten Natur ist dem Erzähler bewusst. Während Max Frisch

die Natur als Unwetter, als ständigen Begleiter Herrn Geisers und

als eigenständige Präsenz im Text inszeniert, ist Handkes Natur

in ihrer Formen- und Farbenvielfalt in Gefahr.

Die „textstrukturierende Funktion“313 des Berges zieht Kreise

bis in die Straßen Paris und Berlins, in die Städte, deren „ver-

zweckte, etikettierte und gerade deswegen nicht mehr deutbare

Welt“314 keine eigenen Farben mehr besitzt. Im Kapitel Das kalte

Feld (LSV 67) wirkt die Sainte-Victoire im Erblicken des Mont

Valérian nach. Das Ich, welches sowohl die Einzeldinge als auch

ihr Interdependenznetz, welches die Farben der Natur mit dem

Werk des Menschen verbindet, beobachtet, ist auf eine, wie Ho-

nold ausführt, adäquate Bildlektüre Cézannes zurückzuführen.

Darunter subsumiert Honold einerseits die Beschreibung der ver-

sammelten Einzeldinge als auch deren Bedingtheit zueinander „in

einer gemeinsamen Raumdimension und im farblich-förmlichen

Kommunizieren miteinander“.315

Auf der literarischen Ebene des Textes folgt die Beschreibung

des Gesehenen eben genannten Maximen. Zu diesen Interdepen-

312 Pfeiffer, Einheitsphantasien, S. 272. 313 Albes, Erzählen – Argumentieren – Beschreiben, S. 238. 314 Pfeiffer, Einheitsphantasien, S. 272. 315 Honold, Der Erd-Erzähler, S. 213.

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denzbeschreibungen können gezählt werden: die von Kriegsku-

geln durchlöcherten Baumstämme im Park Bois de Boulogne

(LSV 68), die in beweglichen Goldfarben sich zeigende Periphe-

rie-Autobahn (LSV 68), der Matthäusfriedhof, gebaut auf einem

durch Schmelzwasser entstandenen Hang in Berlin (LSV 74). An

der einsamen „Gipfelbesteigung“ des Mont Valérian und des Ha-

velbergs in Berlin beschwört der Erzähler die erlernte ästhetische

Form des Sehens herauf316 und verbindet diese mit den Formen

der Städte. „Bis dahin war mir [...] nie aufgefallen“, sinniert der

Protagonist am Havelberg sitzend, „daß [sic] Berlin in einem

breiten Urstromtal liegt (und es hätte mich vorher wohl auch

kaum interessiert)“ (LSV 74) Den Bleistift gezückt, das „Spülen

des Vorzeitwassers“ (LSV 75) hörend, erhält der Protagonist die

Natur lebendig – auch jetzt, wo die Betonbauten dominieren.317

Zurück am Gipfel der Sainte-Victoire im nassen Aix-en-Provence

verbindet der Protagonist die natürlichen und menschlichen

Strukturen miteinander in der Metapher des Kleides: „Der Über-

gang muss für mich klar trennend und ineinander sein.“ (LSV 93)

Das letzte Kapitel der Lehre der Sainte-Victoire realisiert den

lang ersehnten Zusammenhang aller Dinge. Das Kapitel beginnt,

der Tradition der bisherigen Beschreibung folgend, dem eingangs

beschriebenen Bild von Ruisdael. Es zeigt Eichen-, und Birken-

stämme, geteilt durch einen Karrenweg, der in den Wald hinein-

führt. Auffallend ist, dass es kein Gemälde Cézannes ist und das

Kapitel losgelöst von der restlichen Handlung wie eine Nach-

schrift erscheint. Das Bild Ruisdaels fungiert als Projektionsflä-

che für die Beschreibung des Morzger Waldes bei Salzburg durch

ein nicht näher definiertes „man“ – das Ich der Farben und For-

men sowie der die Lehre besonders machende Aspekt des Ver-

weises auf ihren Hauptakteur, die Sainte-Victoire, ist verschwun-

den. Im Text heißt es sodann: „Einen derartigen Wald [wie bei

316 Vgl. ebd., S. 227. 317 Vgl. ebd., S. 231.

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Ruisdael] gibt es in der Nähe von Salzburg; kein Stadtwald von

heute, kein Wald der Wälder; doch wunderbar wirklich.“ (LSV

95) Der Wald, der weder durch den Menschen erobert, noch voll-

ständig wild ist, erscheint als anthropozentrisches Schlüsselmotiv

des Textes. Sprachlich rekurrieren Beschreibungsausdrücke, die

von der Montagne Sainte-Victoire bekannt sind: Der Torbogen,

durch welchen der Wald sichtbar ist, die hohen, von Osten nach

Westen sich erstreckenden Bäume. (vgl LSV 95) Die Ampeln des

Dorfes Morzg trennen die Umfahrungsstraße vom ruhigen

Thumeggerbezirk, „an dem nichts Städtisches mehr ist“ (LSV

96); ein ansteigender Weg führt zu einem Plateau, auf dem die

Wiese keine Stadtwiese ist, vereinzelt ein Bauernhaus. (Vgl. LSV

96) Der Übergang zwischen Dorf und Wald, zwischen menschli-

chem und natürlichem Lebensraum ist trennend und ineinander-

geschoben. Die dritte Wiese, folgt man dem Weg des Betrachters

weiter, ist „keine Stadtwiese mehr, auch keine bäuerliche Nutz-

fläche, sondern ein weiter, fast baumloser Plan [...].“ (LSV 98)

Baumarten, Sträucher, umliegende Berge, Tiere und Lebens-

räume bestimmen das geologische Vokabular dieses Kapitels.

Auf Seite 99 wird der Wald, eingerahmt durch Haselnusssträu-

cher, betreten. „Der letzte Textabschnitt in der Lehre der Sainte-

Victoire ist“, so Roebstorff-Robiano, „interpunktiert von Harmo-

nien und Dissonanzen zwischen Kultur und Natur.“318 So ver-

wendet Handke beispielsweise „anorganische“ Vorgangsverben

für geologische Prozesse, wie zur Beschreibung einer Anhöhe im

Morzger Wald:

wie er [Hellbrunner Felsen] hat sie sich in einer Zwischeneiszeit aus den Schottermassen gebildet, die der Schmelzfluß [sic] da in einen gar-dagroßen See ablagerte und mit dem kalkigen Wasser zu dem heutigen Felsen zementierte. (LSV 100-101)319

.

318 Roebstorff-Robiano, intermediale Verzauberung, S. 146. 319 Hervorhebungen durch die Verfasserin.

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Der Felsen wird hier mit menschengemachten Begriffen be-

schrieben: Er „zementierte“ sich selbst und entstand aus einem

„gardagroßen“ See. Der Felsen wird weiters in seiner Höhe klei-

ner als der Hellbrunner Felsen beschrieben, welcher „vielleicht

vier Stockwerke hoch“ und „kaum länger als ein mittlerer Stra-

ßenzug“ (LSV 101) ist. Das Kapitel weist zahlreiche weitere Bei-

spiele für die Verschränkung von Geologie und menschlich-urba-

nen Sprachformen auf, wie „die rundlichen Steine unter dem

Gras, regelmäßig und dichtgefügt, wie ein Kopfsteinpflaster.“

(LSV 101-102)

Am Ende erscheint, so sei behauptet, die bei Roebstorff-Robi-

ano evozierte mögliche Harmonie jedoch als Trugschluss: „Im

eisfreien runden Teich kreist fast unmerklich das Wasser. Es ist

fischreich, und obenauf schwimmen Stücke wie von vulkani-

schem Tuffstein, die Styropor sind.“ (LSV 107-108) Die optisch

wie Tuffstein wirkenden Styroporstücke evozieren durch diesen

Vergleich ein Bild der Harmlosigkeit – ob der Fischbestand heute

noch als „reich“ bezeichnet werden kann, ist fraglich. Die Formen

und Farben folgen ein letztes Mal. Darauf heißt es:

Dann einatmen und weg vom Wald. Zurück zu den heutigen Menschen; zurück in die Stadt; zurück zu den Plätzen und Brücken; zurück zu den Kais und Passagen; zurück zu den Sportplätzen und Nachrichten; zu-rück zu den Glocken und Geschäften; zurück zu Goldglanz und Falten-wurf. Zu Hause das Augenpaar? (LSV 109)

Dieses „Zurück“ in Verbindung mit dem Augenpaar verweist auf

die Klage um die Schönheit der gemachten Dinge, sei es die

Kunst oder Natur: „Es gibt nur die episodische, traurige Schön-

heit um die gemachten Dinge, die nichts verläßlich [sic] Wieder-

kehrendes ist und also unwirklich bleibt. [...] Wohl also dem, den

zu Hause ein Augenpaar erwartet.“ (LSV 65) Das Begehren nach

dem Zusammenhang, welches eingangs formuliert wurde, wird

erreicht – und destruiert; die „Utopie der Versöhnung“320 ist in

320 Pfeiffer, Einheitsphantasien, S. 272.

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ihrer Ganzheit nicht möglich. Peter Handkes Erzählung schließt

mit einem „[Z]urückmüssen“ des Menschen. Die Montagne

Sainte-Victoire bleibt in ihren Farben und Formen im Werk

Cézannes ewiglich erhalten.

7 Schlussfolgerung und Fazit

Max Frisch und Peter Handke schrieben ihre Erzählungen Der

Mensch erscheint im Holozän (1979) und Die Lehre der Sainte-

Victoire (1980) über den Menschen und seine Beziehung zur Na-

tur, zu ihren Farben, ihrer Geschichte und ihren Katastrophen in

einer Zeit, als das Genre des Ökoromans im Zuge der politischen

Auseinandersetzung mit der Umwelt seinen Anfang nahm; zwan-

zig Jahre bevor das Konzept des Anthropozäns in der bildenden

Kunst, in Film und Literatur debattiert und als ein Metanarrativ

für das Zusammendenken von Erdwissenschaften und Kultur-

,Sozial-, und Geschichtswissenschaften etabliert wurde.

Mit dem Anthropozän wird der Mensch erstmals als entscheiden-

der Mitspieler in ökologische Prozesse eingebunden – das Anth-

ropozän impliziert damit zugleich, dass es der Mensch ist, der auf

die ökologischen Veränderungen reagieren muss und kann. Die

Definition der anthropologischen Begriffe „Mensch“ und „Natur“

bei Helmuth Plessner und Bruno Latour ergaben zusätzlich die

Frage, wie das Ozonloch, das Massensterben der Arten und das

Schmelzen des Eises beschreibbar gemacht werden können. Das

Anthropozän bezeichnet damit nicht nur eine neue Erd-, sondern

auch eine neue Denkepoche und verweist darin auf die Tradition

des 18. Jahrhunderts, Klima und naturwissenschaftliche Prozesse

beschreiben und auch literarisch verhandeln zu wollen.

Eingangs wurde die Frage gestellt, ob der Mensch es vermag,

in geologischen Zeitskalen zu denken und über kontinuierliche,

fluktuierende Prozesse auch zu berichten. Ebenso stellte sich die

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Frage, ob beide untersuchten Texte anthropozentrische Fragestel-

lungen verhandeln, obwohl sie weitaus älter als das vorgestellte

Konzept sind. Aufgrund der Analyse der Textpassagen und der

Komposition beider Texte wird geschlussfolgert, dass sowohl

Der Mensch erscheint im Holozän als auch Die Lehre der Sainte-

Victoire als „Netzwerkliteratur“ die Natur und ihre Prozesse in

den Mittelpunkt des Erzählten stellen. Indizien dafür finden sich

einerseits in der Komposition der Handlung und der inkohärenten

Erzählweise und andererseits in der Raumästhetik und Poetologie

beider Autoren. Darüber hinaus verhandeln beide Texte geologi-

sche Zeitskalen in unterschiedlicher Richtung: Herr Geiser anti-

zipiert das Ende des Holozäns, das Ich der Lehre sucht nach dem

Ewigen und findet dies in der Montagne Sainte-Victoire figuriert.

Diese Arbeit konnte zeigen, dass beide Erzählungen Natur als

narrativen Handlungsträger begreifen und geologische sowie bo-

tanische Fachausdrücke zu deren Beschreibung durch einen

männlichen Beobachter verwenden. Durch den doppelten Kom-

munikationsraum der Erzähltechnik spannen Frisch und Handke

ein Netz des „zu Sagendem“: Herr Geiser, welcher über die Zet-

telcollage Evolution und Katastrophe verbindet und der Erzähler

der Sainte-Victoire, der mithilfe der Bilder Cézannes ein Referen-

zobjekt für die Beschreibung der natürlichen Formen findet. Als

„anthropozentrisches Netzwerk“ gelesen führt das Sammeln des

Wissens in Der Mensch erscheint im Holozän zum „Ersehen“ und

„Beschreiben“ der Landschaft in der Lehre der Sainte-Victoire

und stellt außerdem den eigentlichen Akteur beider Texte in den

Mittelpunkt der Erzählung: die Natur selbst.

Diese braucht, so konnten beide Texte zeigen, den Menschen,

um sie zu beschreiben. Die Analyse konnte ebenso offenlegen,

dass die Naturbetrachtungen und – beobachtungen durch Herrn

Geiser und das namenlose Ich der Lehre , welche die natürlichen

Prozesse in kulturelle Deutungsmuster übersetzen, am Ende als

unbestimmtes „man“ ihre Auflösung in der Natur finden, „inscri-

bing them into a narrative about the limitedness of human history

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as an episode of the history of the Earth.“321 Das Eingliedern der

Figuren in die ökologische Tiefenzeit resultiert in beiden Texten

in eine Natur ohne Menschen. Max Frisch und Peter Handke an-

tizipieren damit bereits um 1980 eine der drängendsten Fragestel-

lungen unserer Zeit und der modernen Umweltliteratur: Wer,

folgt die Menschheit dem Kurs der Zerstörung des Planeten, am

Ende übrig bleiben wird.

321 Dürbeck, Ambivalent Character, S. 119.

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9 Abstract

Die vorliegende Arbeit geht, basierend auf dem Konzept des

Anthropozäns als neue geologische Erdepoche, ökologischen Er-

zählweisen in Max Frischs Der Mensch erscheint im Holozän und

Peter Handkes Die Lehre der Sainte-Victoire nach. Diese zeigen,

dass Natur in beiden Texten als eigener ökologischer Handlungs-

träger mit intrinsisch-narrativen Qualitäten erscheint. Die in den

1980er Jahren verfassten Erzählungen antizipieren damit das ak-

tuellste Problem unserer Zeit: Den Klimawandel als menschen-

gemachter Prozess. Als Pendant zur historischen Tradition der

anthropologischen Dichotomie von Natur und Kultur, welche seit

der Antike besteht, zeigt die Interpretation und Analyse beider

Texte deren Destruktion. Stattdessen werden Interdependenzen

zwischen Mensch und Natur, basierend auf Bruno Latours Netz-

werktheorie, evident. Darüber hinaus behandelt diese Arbeit, in

Bezug auf die Ausführungen des indischen Historikers Dipesh

Chakrabarty, die Diskrepanz zwischen menschlicher Alltags- und

ökologischer Tiefenzeit. Max Frisch und Peter Handke zeigen,

wie die ökologische Lesart Natur vom bloßen Beschreibungsge-

genstand der Handlung in literarischen Texten zum Dreh-und An-

gelpunkt der Geschichte des Menschen macht. Die Arbeit bein-

haltet Bildausschnitte zur graphischen Darstellung.