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969. An Paul Deussen in Berlin Nizza (France) den 3. Januar 1888 pension de Genève Lieber Freund, das Jahr hat begonnen, ich schreibe eben zum ersten Male seine drei Achten: was kann ich zu seinen Ehren Besseres thun als meinem alten Freunde Deussen einen Neujahrsbrief zu schreiben? Zumal derselbe in diesem Falle zugleich auch ein Geburtstagsbrief sein wird. Wie alt man schon ist? Wie jung man noch werden wird?… Ich habe einen so hohen Begriff von Deiner thätigen und tapfren Existenz, daß es wenig Sinn hat, besondre Wünsche auszudrücken. Wer einen eigenen Willen in die Dinge zu legen hat, über den werden die Dinge nicht Herr; zuletzt arrangieren sich die Z u f ä l l e noch nach unsern eigentlichsten Bedürfnissen. Ich erstaune oft, wie wenig die äußerste Ungunst des Schicksals über einen Willen vermag. Oder vielmehr: ich sage mir, wie sehr der Wille selbst Schicksal sein muß, daß er immer wieder auch g e g e n das Schicksal Recht bekommt, ὑπὲρ μόρον — Seltsam, daß gerade jetzt mir meine ältesten Freunde wieder in die Nähe gekommen sind (außer Dir zum Beispiel auch Carl von Gersdorff, von dem ich jüngst einen herrlichen Brief hatte) Nämlich zu gleicher Zeit, wo ich meiner radikalen Vereinsamung mir b e w u ß t werde und wo ich, schmerzhaft und ungeduldig, eine menschliche Beziehung nach der andren von mir ablöse, ablösen m u ß . Im Grunde macht jetzt Alles Epoche bei mir; mein ganzes Bisher bröckelt von mir ab; und wenn ich zusammenrechne, was ich in den letzten 2 Jahren überhaupt gethan habe, so erscheint es mir jetzt immer als ein und dieselbe Arbeit, mich von meiner Vergangenheit zu isolieren, die Nabelschnur zwischen mir und ihr zu lösen. Ich habe so viel erlebt, gewollt und, vielleicht,e r r e i c h t , daß eine Art Gewalt noth thut, um wieder fern und los davon zu werden. Die Vehemenz der inneren Schwingungen war ungeheuer; daß dies ungefähr auch aus der Ferne bemerkbar ist, erschließe ich aus den regulären epithetis ornantibus, mit denen man mich seitens der deutschen Kritik behandelt („excentrisch“, „pathologisch“, „psychiatrisch“ et hoc genus omne) Diese Herren, die keinen Begriff von meinem centrum, von der großen Leidenschaft haben, in deren Diensten ich lebe, werden schwerlich einen Blick dafür haben, wo ich bisher außerhalb meines centrums gewesen bin, wo ich wirklich „excentrisch“ w a r . Aber was liegt daran, daß man sich über mich und an mir vergreift! Schlimmer wäre es, wenn man’s n i c h t thäte (— es würde mich

Nietzsches Briefe, 1888 - 1889

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Nietzsches Briefe, 1888 - 1889

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969. An Paul Deussen in Berlin

Nizza (France) den 3. Januar 1888pension de Genève

Lieber Freund,

das Jahr hat begonnen, ich schreibe eben zum ersten Male seine drei Achten:was kann ich zu seinen Ehren Besseres thun als meinem alten Freunde Deusseneinen Neujahrsbrief zu schreiben? Zumal derselbe in diesem Falle zugleich auchein Geburtstagsbrief sein wird.

Wie alt man schon ist? Wie jung man noch werden wird?…Ich habe einen so hohen Begriff von Deiner thätigen und tapfren Existenz,

daß es wenig Sinn hat, besondre Wünsche auszudrücken. Wer einen eigenenWillen in die Dinge zu legen hat, über den werden die Dinge nicht Herr; zuletztarrangieren sich die Z u f ä l l e noch nach unsern eigentlichsten Bedürfnissen.Ich erstaune oft, wie wenig die äußerste Ungunst des Schicksals über einenWillen vermag. Oder vielmehr: ich sage mir, wie sehr der Wille selbst Schicksalsein muß, daß er immer wieder auch g e g e n das Schicksal Recht bekommt,ὑπὲρ μόρον —

Seltsam, daß gerade jetzt mir meine ältesten Freunde wieder in die Nähegekommen sind (außer Dir zum Beispiel auch Carl von Gersdorff, von dem ichjüngst einen herrlichen Brief hatte) Nämlich zu gleicher Zeit, wo ich meinerradikalen Vereinsamung mir b e w u ß t werde und wo ich, schmerzhaft undungeduldig, eine menschliche Beziehung nach der andren von mir ablöse,ablösen m u ß . Im Grunde macht jetzt Alles Epoche bei mir; mein ganzesBisher bröckelt von mir ab; und wenn ich zusammenrechne, was ich in denletzten 2 Jahren überhaupt gethan habe, so erscheint es mir jetzt immer als einund dieselbe Arbeit, mich von meiner Vergangenheit zu isolieren, dieNabelschnur zwischen mir und ihr zu lösen. Ich habe so viel erlebt, gewollt und,vielleicht,e r r e i c h t , daß eine Art Gewalt noth thut, um wieder fern und losdavon zu werden. Die Vehemenz der inneren Schwingungen war ungeheuer; daßdies ungefähr auch aus der Ferne bemerkbar ist, erschließe ich aus den regulärenepithetis ornantibus, mit denen man mich seitens der deutschen Kritik behandelt(„excentrisch“, „pathologisch“, „psychiatrisch“ et hoc genus omne) DieseHerren, die keinen Begriff von meinem centrum, von der großen Leidenschafthaben, in deren Diensten ich lebe, werden schwerlich einen Blick dafür haben,wo ich bisher außerhalb meines centrums gewesen bin, wo ich wirklich„excentrisch“ w a r . Aber was liegt daran, daß man sich über mich und an mirvergreift! Schlimmer wäre es, wenn man’s n i c h t thäte (— es würde mich

mißtrauisch gegen mich selber machen)Jetzt begehre ich für eine Reihe Jahre nur Eins: Stille, Vergessenheit, die

Indulgenz der Sonne und des Herbstes für etwas, das r e i f werden will, für dienachträgliche Sanktion und Rechtfertigung meines ganzen Seins (eines sonstaus hundert Gründen ewig problematischen Seins!)

Für Alles, was Du Deinerseits vorhast, habe ich, wie Du weißt, eine tiefeSympathie. Auch gehört es zu den wesentlichsten Förderungen meinerVorurtheilslosigkeit (meines „übereuropäischen Auges“) daß Dein Sein undWirken mich immer wieder an die einzige große Parallele erinnert, die es zuunsrer europäischen Philosophie giebt. Hier in Frankreich herrscht in Betreffdieser indischen Entwicklung noch immer die alte vollkommene Unwissenheit:so daß z. B. die Anhänger A. Comte’s ganz naiv G e s e t z e für eine historisch-n o t h w e n d i g e Entwicklung und Folge der philosophischenHauptdifferenzen construiren, bei denen die Inder gar nicht in Betrachtkommen, — Gesetze, denen die indische Entwicklung w i d e r s p r i c h t . Aberdas weiß Ms. de Roberty nicht (l’ancienne et la nouvelle Philosophie 1887)

Gieb mir irgendwann einmal wieder ein Lebenszeichen, alter Freund;inzwischen empfehle ich, gesetzt, daß Du Lust und Zeit hast Dich mit mir zuunterhalten, Dir etwas von meiner I m m o r a l i s t e n -Litteratur zu Gemüthe zuführen (besonders „die fröhliche Wissenschaft und die Morgenröthe“, wohlverstanden in den n e u e n Ausgaben: — auch giebt es da dies und jenes zulachen)

Deiner lieben Frau, welche mir mit ihrer kleinen tapfren und treuen Art sehrgut im Gedächtniß geblieben ist, meinen ergebensten Gruß und Glückwunsch.

Von HerzenDein Nietzsche

Mein Wunsch, den Winter einmal wieder an einer gelehrten StätteDeutschlands zu verleben mit der Nachbarschaft guter Freunde und Bücher (einWunsch, der in Hinsicht auf die Ernährungsbedürfnisse meines Geistes sichbisweilen zum Hunger und zur Tortur steigert) ist bisher immer an der forcemajeure (oder mineure —) meiner Gesundheit gescheitert. Aber „einst wirdkommen der Tag“ - - -970. An Constantin Georg Neumann in Leipzig (Postkarte)

Nice, pension de Genève3 Jan. 1888

Geehrtester Herr Verleger,

Hier, außer einem guten Gruß und Glückwunsch zum neuen Jahre, nur die

Anfrage, ob vielleicht jetzt meine Nota für die ganze Drucklegung bereit ist. —Das, was Sie in der Buchhändler-Anzeige meines Buches gesagt haben, hatmeine ganze Billigung; auch verstand ich die Intention, ohne erst einerErklärung zu bedürfen. — Die Adresse des Herrn Dannreuther in Newjork fehltmir auch; lassen wir also diese Sendung unterwegs! — Die übersandtenRecensionen sind im Grunde gar nicht zu unterschätzen: sie zeigen eine ArtErstaunen und Neugierde. Solche Prädikate wie „excentrisch“ „pathologisch“„psychiatrisch“ laufen regelmäßig jedem großen Ereigniß in der Geschichte undder Litteratur voraus: ich bin für meinen Theil für solche Worte d a n k b a r e rals für irgendein Lob.

Ihr ergebensterProf. Dr. Nietzsche

971. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)

Nizza den 4. Jan. 1888.

Dein lieber Brief sammt dem Gelde glücklich angelangt; schönsten Dank! Nurein Wort hinsichtlich des Buchs: es war der Deutlichkeit wegen geboten, dieverschiedenen Entstehungsheerde jenes complexen Gebildes, das Moral heißt,künstlich zu isoliren. Jede dieser 3 Abhandlungen bringt ein einzelnes primummobile zum Ausdruck; es fehlt ein viertes, fünftes und sogar das wesentlichste(„der Heerdeninstinkt“) — dasselbe mußte einstweilen, als zu umfänglich, beiSeite gelassen werden, wie auch die schließliche Zusammenrechnung allerverschiedenen Elemente und damit eine Art A b r e c h n u n g m i t d e rM o r a l . Dafür sind wir eben noch im „Vorspiele“ meiner Philosophie. (ZurGenesis des Christenthums bringt jede Abhandl. einen Beitrag; nichts liegt mirferner, als dasselbe mit Hülfe einer einzigen psychologischen Kategorie erklärenzu wollen) Doch wozu schreibe ich das? Dergleichen versteht sich eigentlichzwischen Dir und mir von selbst.

Treulich und dankbarDein N.

972. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig (Postkarte)

Nizza (France)pension de Genève

6 Jan. 1888

Werthester Herr Fritzsch, Sie haben mich noch nicht davon benachrichtigt, obdie Bücher für Dr. Georg Brandes in Kopenhagen expedirt sind. Ein Brief des

genannten Herrn, der dieser Tage einlief, gab mir darüber Zweifel ein.Hoffentlich ist Nichts verloren gegangen. Ich brauche wohl kaum daran zuerinnern, wie sehr Sie wider Ihr eignes Interesse handeln würden, wenn Sieeinen so wohlgemeinten Wink nicht zu würdigen wüßten. Es kostet michÜberwindung genug, meinerseits dafür Sorge zu tragen, daß man mich liest; ichhabe das bisher nie gethan, und wenn ich’s jetzt thue, so geschieht es gewißnicht meinetwegen. — Aber ich nehme an, daß es in der Weihnachtszeit für Siezu viel Arbeit gab. —

Mit der Bitte, mich umgehend über diesen Punkt ins Klare zu bringen

Ihr ergebensterProf. Dr. Nietzsche

973. An Heinrich Köselitz in Venedig

Nizza, den 6. Jan. 1888

Lieber Freund,

Sie haben mir nicht gesagt, ob ein Brief zwischen Venedig und hier verlorengegangen ist: fast schließe ich daraus, d a ß es geschehen ist und bedaure es tief.Denn, so wunderlich es klingt, die Briefe aus Venedig sind die einzigen jetzt, dieich ohne Mißtrauen und geheime frissons empfange. In Hinsicht auf alleanderen bin ich bis zur Absurdität reizbar und muß sie wörtlich b ü ß e n , mitschlaflosen Nächten und gastrisch-hypochondrischen Tierquälereien. SchlechtesZeichen! Aber dies soll besser werden. Um gleich von dem letzten Briefe zureden, den ich bekam, vom Dr. G<eorg> Brandes, so brachte er die Meldung,daß die Bücher, welche ich ihm versprochen hatte, n i c h t eingetroffen sind:kurz, Fritzsch, dieser unverbesserliche Esel, hat nichts gethan, ja mich nichteinmal benachrichtigt, daß er nichts von dem gethan hat, was mein Brief ihmvorschlug. Und ich hatte es i n s e i n e m I n t e r e s s e vorgeschlagen,nachdem er mir seine Noth ausgedrückt hat, irgendwelche Schriftsteller undGelehrte für mich zu interessiren! Zuletzt ist Dr. B<randes> vielleicht derEinzige, der genug Übung in der Nachrechnung complicirterer Rechen-Exempelder Psychologie hat, um über mich keine grobe Ungereimtheit zu sagen. SeineBriefe sind eminent delikat und französisch, (er sagt von sich „ich bin oftdumm, aber nie im Geringsten bornirt“. Von Taine, den er sehr liebt, gebrauchter die hübsche Wendung in Bezug auf dessen Geschichte der Revolution, die ernicht ganz billigt, „T<aine> bedauert und haranguirt ein Erdbeben“)

Es macht mir Verlegenheit, hier etwas versprochen zu haben, das ichaugenblicklich nicht halten kann. Wollen wir Herrn B<randes> einstweilenunsrerseits das Einzige senden, was im Bereiche u n s r e r Kräfte steht, nämlich

jenes Ineditum, dessen Siegelbewahrer Sie sind, liebster Freund? Bitte, lassenSie ein hübsches Exemplar des v i e r t e n Zarathustra nach Kopenhagenabgehn, unter dieser Adresse:

Dr. Georg B r a n d e sKopenhagen (Danemark)

St. Anne-Platz 24.(— er sandte eine sehr gescheute Abhandlung über Zola als Schüler und„Verwandten“ Taines; insgleichen gab es, zu meiner Überraschung, Nachrichtüber Dr. Rée und sogar über Fräulein Lou, mit großer Auszeichnung für Beide,die er von Berlin her kennt)

Miss Helen Zimmern hat mir von Florenz aus zum Neujahr gratulirt: wissenSie, die gescheute Engländerin (resp. Jüdin), welche die Engländer mitSchopenh<auer> bekannt gemacht hat. Sie gehört zu den geschätztesten und„bestbezahlten“ Mitarbeitern der Times und der großen Revuen. (Den vorletztenSommer war sie in Sils-Maria, als meine Tischnachbarin)

Zuletzt will ich nicht verschweigen, daß diese ganze letzte Zeit für michreich war an synthetischen Einsichten und Erleuchtungen; daß mein Muthwieder gewachsen ist, „das Unglaubliche“ zu thun und die philosophischeSensibilität, welche mich unterscheidet, bis zu ihrer letzten Folgerung zuformulieren.

Vorigen Donnerstag habe ich meinen ersten Besuch in Monte Carlo gemacht,zu einem concert classique (welchem auch der Kaiser von Brasilien beiwohnte)Lauter modernste französische Musik: oder vielmehr, deutlicher zu reden, lauters c h l e c h t e r W a g n e r . Ich halte diese pittoreske Musik ohne Ideen, ohneForm, ohne jedwede Naivetät und Wahrheit nicht mehr aus. Nervös, brutal,unausstehlich zudringlich und großthuerisch — und so geschminkt!! Das Einewar eine Art Seesturm, das Andre eine wilde Jagd, das dritte ein Erinnyen-Ballet(zur Oresteia des Aeschylus!!!)

D i e s ist décadence…Dabei gedachte ich wie eines verlorenen Glückes der Musik meines

Venediger maestro; der Oktober bei Ihnen war dies Jahr mein einziges Labsal,ich kann Ihnen nicht dankbar genug sein.

Von Herzen Ihr FreundN.

974. An Georg Brandes in Kopenhagen

Nizza den 8. Januar 1888Verehrter Herr,

Sie sollten sich gegen den Ausdruck „Culturmissionär“ nicht wehren. Womitkann man dies heute mehr sein, als wenn man seinen U n g l a u b e n an Cultur„missionirt“? Begriffen zu haben, daß unsre europäische Cultur ein ungeheuresProblem und durchaus keine Lösung ist — ist dieser Grad von Selbstbesinnung,Selbstüberwindung nicht eben heute d i e C u l t u r s e l b s t ? —

— Es befremdet mich, daß meine Bücher noch nicht in Ihren Händen sind.Ich will es an einer Erinnerung in Leipzig nicht fehlen lassen. Um dieWeihnachtszeit herum pflegt diesen Herrn Verlegern der Kopf zu rauchen.Inzwischen möge es mir gestattet sein, Ihnen ein verwegenes curiosummitzutheilen, über das kein Verleger zu verfügen hat, ein ineditum von mir, daszum Persönlichsten gehört, was ich vermag. Es ist der vierte Theil meinesZarathustra; sein eigentlicher Titel in Hinsicht auf das, was vorangeht und wasf o l g t , sollte sein:

D i e Ve r s u c h u n g Z a r a t h u s t r a ’ s .Ein Zwischenspiel.

Vielleicht beantworte ich so am besten Ihre Frage in Betreff meinesMitleids-Problems. Außerdem hat es überhaupt einen guten Sinn, gerade durchdiesen Geheim-Thür den Zugang zu „mir“ zu nehmen: vorausgesetzt, daß manmit Ihren Augen und Ohren durch die Thür tritt. Ihre Abhandlung über Zolaerinnerte mich wieder wie Alles, was ich von Ihnen kennen lernte (zuletzt einAufsatz im Goethe-Jahrbuch) auf das Angenehmste an Ihre Naturbestimmung,nämlich für alle Art psychologischer Optik. Wenn Sie die schwierigerenRechenexempel der âme moderne nachrechnen, sind Sie damit ebenso sehr inIhrem Elemente als ein deutscher Gelehrter damit a u s seinem Elementeherauszutreten pflegt. Oder denken Sie vielleicht günstiger über die jetzigenDeutschen? Mir scheint es, daß sie Jahr für Jahr in rebus psychologicis plumperund viereckiger werden (recht im Gegensatz zu den Parisern, wo Alles nuanceund Mosaik wird), daß ihnen alle t i e f e r e n Ereignisse entschlüpfen. ZumBeispiel mein „Jenseits von Gut und Böse“ — welche Verlegenheit hat es ihnengemacht! Nicht ein intelligentes Wort habe ich darüber zu hören bekommen,geschweige ein intelligentes G e f ü h l . Daß es sich hier um die lange Logikeiner ganz bestimmten philosophischen Sensibilität handelt und n i c h t um einDurcheinander von hundert beliebigen Paradoxien und Heterodoxien, ichglaube, davon ist auch meinen wohlwollendsten Lesern nichts aufgegangen.Man hat nichts dergleichen „erlebt“; man kommt mir nicht mit dem Tausendstelvon Leidenschaft und Leiden entgegen. Ein „Immoralist“? Man denkt sich garnichts dabei. —

Anbei gesagt: die Formel „document humain“ nehmen die Goncourt für sich

in Anspruch, in irgend einer ihrer Vorreden. Aber auch so dürfte immer nochMs. Taine der eigentliche Urheber sein.

Sie haben recht mit dem „Haranguiren des Erdbebens“: aber eine solcheDon-Quixoterie gehört zum Ehrwürdigsten, was es auf der Erde giebt.

Mit dem Ausdruck besonderer Hochschätzung

IhrNietzsche

975. An Ferdinand Avenarius in Dresden

Nizza, pension de Genèveden 14. Januar 1888

Hochgeehrter Herr,

es freut mich, Herrn Carl Spitteler bei Ihnen a n g e l a n g t zu sehen: und just inder Weise, in welcher ich es wünschte und erwartete. (Wissen Sie ihm nichteinen Verleger für eine Sammlung der interessantesten Aesthetica ausfindig zumachen? Er hat m i c h angefragt in dieser Hinsicht, — aber ich lebe, wasVerleger angeht, auf dem Monde)

Inzwischen ist mir eine Unterlassungssünde eingefallen. Ich hätte Ihnenschlechterdings einen Dritten noch empfehlen sollen, Herrn Dr. Carl Fuchs (inDanzig: diesen Adresse genügt). Das ist in allen Problemen dermusikal<ischen> Aesthetik und Technik der gelehrteste Kopf, den ich kenne, einPhilosophen- und Musikerkopf in Einem; überdies einer unserer geistreichstenSchriftsteller. (— ich empfehle Niemanden, der mich irgendwann einmalgelangweilt hat: das vergebe und vergesse ich nie).

Mit meinem angelegentlichsten Grussund einem Glückwunsch für Sie

und Ihre ZeitungDr. Friedrich Nietzsche

Prof.N. B. Ich schreibe Ihnen das Unheil Schopenhauers über die N o r m a ab: esscheint, dass Sch<openhauer> vom Theater her durch Nichts einen grösserenEindruck bekommen hat als durch dies Werk. D i e W e l t a l s W i l l e u n dVo r s t e l l u n g , zweiter Band, S. 498 der Gesamtausgabe:

Hier sei es erwähnt, dass selten die acht tragische Wirkung der Katastrophe,also die durch sie herbeigeführte Resignation und Geisteserhebung des Helden,so rein motiviert und deutlich ausgesprochen hervortritt, wie in der OperN o r m a , wo sie eintritt in dem Duett Qual cor tradisti, qual cor perdesti, inwelchem die Umwendung des Willens durch die plötzlich eintretende Ruhe der

Musik deutlich bezeichnet wird. Ueberhaupt ist dieses Stück, — ganz abgesehenvon seiner vortrefflichen Musik, wie auch andererseits in der Diktion, welchenur die eines Operettentextes sein darf, — und allein seinen Motiven und seinerinneren Oekonomie nach betrachtet, ein höchst vollkommenes Trauerspiel, einwahres Muster tragischer Anlage der Motive, tragischer Fortschreitung derHandlung und tragischer Entwicklung, zusammt der über die Welt erhebendenWirkung dieser auf die Gesinnung des Helden, welche dann auch auf dieZuschauer übergeht; ja, die hier erreichte Wirkung ist um so unverfänglicherund für das wahre Wesen des Trauerspiels bezeichnender, als keine Christen,noch christliche Gesinnungen darin vorkommen.

— (Vielleicht könnte auch diese Stelle Schopenhauers etwas dazu dienen,solchen unanständigen Verkleinerern Wagners, wie sie auf S. 79 Ihrer Zeitungerwähnt werden, den Mund zu stopfen)976. An Heinrich Köselitz in Venedig

Nizza, den 15. Jan.1888.

Lieber Freund,

das letzte Wort Ihres Briefes überrascht und betrübt mich über alle Maaßen. Wiegeht doch dergleichen zu? Wie unsinnig, wie zufällig erscheint Einem Alles!Mir ist in solchen Fällen immer, als ob ich a u f w a c h t e , und als ob ich imGrunde gar nicht lebte, sondern träumte. Ich weiß mich mit keiner Art Realitätmehr zu arrangieren. Wenn ich es nicht zu Stande bringe, sie zu vergessen,bringt sie mich um. Ich erschrecke, wenn ich mir denke, wie Sie sich befindenmögen. Unsre Haut, unsre Einsiedlerhaut ist nicht Fell genug für solche Dinge,— um nichts vom Herzen zu sagen.

— Mir fällt der stupide Egoism aufs Gewissen mit dem ich meinen letztenBrief an Sie geschrieben habe, ohne Ihnen etwas Andres zu erzählen als meineincurata und incurabilia. Sonderbar! Nicht in der schlechtesten Zeit meinerGesundheit ist mir das Leben so sehr als S c h w i e r i g k e i t erschienen wiejetzt. Es giebt Nächte, wo ich mich auf eine vollkommen demüthigende Weisenicht mehr aushalte. Trotzalledem: es bleibt so Vieles noch zu thun (A l l e ssogar! —) Folglich w i r d man’s aushalten. Zu dieser „Weisheit“ bringe ich’swenigstens den Vormittag.

— M u s i k giebt mir jetzt Sensationen, wie eigentlich noch niemals. Siemacht mich von mir los, sie ernüchtert mich von mir, wie als ob ich mich ganzvon Ferne her überblickte, überf ü h l t e ; sie verstärkt mich dabei, und jedesMal kommt hinter einem Abend Musik (— ich habe 4 Mal Carmen gehört) ein

Morgen voll resoluter Einsichten und Einfälle. Das ist sehr wunderlich. Es istals ob ich in einem n a t ü r l i c h e r e n Elemente gebadet hätte. Das Lebenohne Musik ist einfach ein Irrthum, eine Strapatze, ein Exil.

— Inzwischen hat sich in mir Ihre Pastorale- Musik mit demNachmittagslicht von San Michele in mir verschmolzen: ich möchte B e i d e sum mein Leben gern noch einmal Wiederhören. Nichts Lieberes kann ich mirdenken, als daß Sie ein Finale „wälzen“.

— Wälzen Sie nicht auch ein wenig volumina, ich meine Schreibpapier-Blätter? Herr Avenarius hat die letzten Nummern des „Kunstwarts“ gesandt,ersichtlich, um Herrn Spitteler als arrivé zu präsentieren.

— Fritzsch ist von mir aufs Neue über die Sendung nach Kopenhagenbefragt worden. Keine Antwort. Dr. B<randes> hat gestern Abend gemeldet,daßN i c h t s angelangt sei. Ich nehme an, daß die Ve n e d i g e r Sendungunmittelbar nach Abgang seines Briefes in seine Hände gelangt sein wird.Meinen besten Dank für Ihre Bemühung, lieber Freund! — (Der Brief war vom11. Januar.)

Er erzählt, unter Anderem, daß er jetzt der angefeindetste Mensch im ganzenNorden sei, und das seit seiner langen letzten Fehde mit Björnson, (bei derübrigens auch alle deutschen Zeitungen g e g e n Brandes Partei genommenhaben: ein schönes Zeichen der Zeit!) Haben Sie nicht von Björnson’s Drama„der Handschuh“ gehört, von seiner Propaganda für die V i r g i n i t ä t derMänner und von seinem Bund mit den weiblichen Fürsprecherinnen der„sittlichen Gleichheits-Forderung“? (— dies ist die F o r m e l ) In Schwedenhaben die tollen Frauenzimmer große Vereine geschlossen, in welchen sieversprechen, nur „jungfräuliche Männer zu heirathen“. (— also garantirt, wieUhren, widrigenfalls usw)

B<randes> jammert über die gräßliche Uniformität des deutschen Lebens;das deutsche Schriftstellerthum vom Verlegerthum erstickt; alle guten Köpfe inden Generalstab oder die Administration gehend (— „Sie sind ohne Zweifel deranregendste aller deutschen Schriftsteller“. Ungefähr das Gleiche hat mir Ms.Taine gesagt)

Ihre Worte über „reaktive Musik“ haben mich sehr interessirt; derGesichtspunkt könnte deutlicher sein als „klassisch“ und „romantisch“, u n dv i e l l e i c h t d e r s e l b e . Sehen Sie, bitte, noch Hasse an, das VorbildMozarts. Absolute Herrschaft des W i s s e n s um die delikatesten Bedingungen,welche eine s c h ö n e S t i m m e an die Melodie stellt …

In treuer Freundschaft Ihr N.Eben langt ein Werk des Dr. Brandes bei mir an, das er angekündigt hatte:

Aufsätze über Renan, Flaubert, de Goncourt, Turgenjew, Ibsen, St. Mill usw —feines Zeug, wie es scheint.977. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig (Postkarte)

<Nizza> 22 Januar <1888>

Werthester Herr Verleger, ich begreife nicht, warum keine Nachricht von Ihnenda ist, nachdem ich dringend mir eine solche ausgebeten habe. Sie haben mirimmer noch nicht gemeldet, ob die Bücher an Hrn. Dr. G. Brandes abgegangensind. Inzwischen hat der genannte Herr mir seinerseits s e i n e Werke zumGeschenk gemacht: ich möchte gerne annehmen, daß dies bereits eine Antwortauf die In-Empfangnahme der meinigen ist. Daß es auch in I h r e m Interesseliegt, wenn der freisinnigste und geschätzteste Schriftsteller des Nordens sichgründlich mit meinen Ideen bekannt macht (— und er hat mir dies versprochen),braucht nicht wiederholt zu werden. Ich glaube Ihnen gar keine angenehmereMittheilung machen zu können. (Wer hat Ihnen denn Deutscher Seits eineBesprechung der Schriften in Aussicht gestellt? Ich hörte gerne die Namen)

Ihr Nietzsche978. An Franziska Nietzsche in Naumburg

<Nizza, 23. Januar 1888>

Verzeihung, meine liebe Mutter, daß ich auch heute nur ein Kärtchen schicke,um mich für Deinen gütigen Brief zu bedanken. Ich habe die Augen ganz undgar für meine Arbeit nöthig gehabt und bin infolge davon ein wenig a u ß e rVe r b i n d u n g mit aller Welt. Das Wetter war bisher sehr schön; sein Einflußauf mein Gesammtbefinden der günstigste (nachdem mir die erste Hälfte desWinters durch trübe Zustände des Wetters und der Gesundheit fast verlorengegangen ist…) Es gäbe jetzt alles Mögliche hier zu sehn und zu hören: aberDein Geschöpf hat keine Zeit dafür. Wir sind auf der Höhe der Saison; diegroßen Rennen; es wimmelt von großen Personnagen; glänzendes Theater; derCarneval vor der Thür; und immer das reinste blaue sonnige Wetter, das mansich wünschen kann. Nächstens bekommst Du einen langen Brief: für heuteentschuldige mich!

In Liebe Dein F.979. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Entwurf)

<Nizza, 29. Januar 1888>

LenbachDeine Haus-Sorge

Köselitz: Gesundheitkein Ort mehr, wo ich in D<eutschland> leben möchte: warten —meine Gesundheit immer noch absolut abhängig vom hellen Himmel und derTrockenheit der Luftich habe jetzt seit 10 Jahren nicht einen Laut von ächter Sympathie gehört undlauter zu viel — — —

Ich bin so froh, daß ich wieder habe arbeiten können: oder andersausgedrückt, daß mein Geist wieder den M u t h hatte zu der Aufgabe, in derenDienst ich bisher gelebt habe. Die Zeiten, wo dieser Muth fehlt, sind über dieMaaßen schwer zu überwinden; und da, nach reichlichster Erfahrung geurtheilt,kein M<ensch> einen Begriff hat, worum es sich bei mir handelt und mit wasfür einer Last <ich> mir das Leben schwer gemacht habe, so weiß auchNiemand, womit man mich etwas <zu> erholen und ermuthigen vermöchte.Meine Versuche in dieser Hinsicht — im Grunde alle meine Reisen nachDeutschland seit 10 Jahren — sind mir ins Gegentheil umgeschlagen, alsförmliche Niederlagen und Demüthigungen, deren Consequenz an meinerGesundheit und leider auch an <meiner> Erinnerung ich immer erst spätlosgeworden bin. Ich bin jetzt vorsichtiger… ich hoffe endlich dies absurdeBedürfniß, von den Mitmenschen etwas zu wollen, was sie mir absolut nichtgeben könnten, — Erholung, Erquickung, Ermuthigung — losgeworden zu sein.Im Grunde ist es eine Tragödie; das Mißverhältniß ist zu groß geworden. Ichhabe diesen Deutschen mitten in der Periode ihres geistigen Niedergangs Werkeersten Ranges gegeben, um deren willen die Nachwelt vielleicht diesemZeitalter verzeihen wird, daß es dagewesen ist: habe ich auch nur ein Worttiefen Dankes oder nur den Millionstel Theil der Ehre erfahren, auf den ichdafür Anspruch hätte?

Ihr habt alle keinen Glauben an mich — meine Mutter ebenso wenig wiemeine Schwester

Ich wünsche durchaus, mich nicht wieder der Gefahr auszusetzen, in einemAugenblick, wo ich stolz darauf bin, etwas Unsterbliches gethan zu haben,beschimpft, beschmutzt, verhöhnt zu werden — Dergleichen vergißt man nie:<es> wurmt den wohlwollendsten Charakter.— —

Wer kommt denn neben mir in diesem Zeitalter in Betracht?.. Aber ich binvon aller Welt preisgegeben… <Ich> habe keine Lust, mir das zu Gemüth zuführen. Seit 10 Jahren wirkt jede Berührung mit dem deutschen Norden aufmich wie eine Niederlage: Du kannst Dir das nicht vorstellen, welchen Eindruckes auf mich gemacht hat, nach den fürchterlichsten Jahren der tiefstenGesundheits-Erschütterung, nachdem ich das tiefste größte Werk des ganzen

J<a>hr<hundert>s hervorgebracht hatte, so behandelt worden zu sein, wie ichjahrelang behandelt worden bin. Dergleichen vergißt man nicht: und so wie jetztAlles steht, ist nichts mehr wieder gut zu machen.980. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)

Nizza den 30. Januar 1888

Meine liebe Mutter, es scheint mir, daß es heute wieder heller und besser steht.Gestern habe ich Dir, wenn ich mich recht erinnere, einent r a u r i g e n Geburtstagsbrief geschrieben. Ich war halbtodt und müde vorvielen Schmerzen. Auch stand der Himmel voll dicker Schneewolken. Ichglaube, so würde ich mich oft fühlen, wenn ich den Winter im Norden lebte:denn ich bin ein schwermüthiges Thier und habe mehr als Andere denSonnenschein j e d e r Art noth. Verzeihung!

Dein altes Geschöpf981. An Elisabeth Förster in Asuncion (Entwurf)

<Nizza, vermutlich Ende Januar 1888>

Liebe Schw<ester>, Dein eben erhaltener Brief legt so unverkenntlich voneinem so g u t e n W i l l e n in Hinsicht auf mich Zeugniß ab, daß ich mir vonNeuem vornehme, auch meinerseits in diesem etwas extremen Falle an Nichtsfehlen zu lassen. Zuletzt bin ich viell<eicht> auf nichts mehr durch mein ganzesLeben eingeschult; im Grunde — — —

Ich habe mich nie darum bemüht, von Kindesbeinen an, bei M<enschen>,mit denen ich umgehe, meine eignen Ansichten und Wünschbarkeitenanzupflanzen noch weniger habe ich sie bei ihnen vorausgesetzt. Es that mir imGrunde zu wohl wenigstens von Zeit zu Zeit von mir selberl o s z u k o m m e n ,durch irgend einen Verkehr. Glücklicher Weise fehlt es mir nicht völlig an einemsolchen Verkehre: ich wünsche mich nicht verdoppelt oder verhundertfacht.

Diese an sich bedenkliche Sache ist freilich im Verlauf meines Lebens aufden Gipfel gekommen, daß fast alle mir bekannten und befreundetenM<enschen> nachgerade in das mir fremdeste Parteilager abgeschwenkt sind (z.B. auch W<agner> dessen letzte 6 Jahre ich als eine ungeheuerliche Entartungempfunden habe) Wo sie verehren, verachte ich. Seitdem agacirt mich derUmgang mit „alten Bekannten“. Die unbekanntesten gleichgültigstenM<enschen> sind mir recht: das ist der Vorzug z. B. von Nizza. Auch bin ichhoffnungslos in diesem Punkte, wie als ob ich es je anders haben würde.Werkann mir nur ein Tausendstel von Leidenschaft und Leidenentgegenbringen, um etwas von dem zu errathen, was ich will? Oder muß?

Thatsächlich empfinde ich zwischen uns nicht einmal einen Gegensatzsondern bloß die vollkommene Fremdheit (— denn Gegensätzlichkeit wäreetwas ganz Artiges und Einfaches — ich liebe Gegensätzlichkeit.)

Ich wünschte, nicht in dem Maaße durch ein — — —Das sehr innerliche und schmerzhaft-vereinsamte Leben, das ich bisher

gelebt habe, hat nachgerade eine Vereinsamung mit sich gebracht, gegen die eskein Heilmittel mehr giebt. Mein liebster Trost ist immer noch der, der Wenigenzu gedenken, die es unter ähnlichen Verhältnissen ausgehalten haben, ohne zuzerbrechen und eine hohe und gütige Seele dabei sich bewahrt haben.982. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig (Entwurf)

<Nizza, Ende Januar 1888>

Herr Fr<itzsch> Sie setzen mich in Erstaunen. Was soll ich mit Ihnen anfangen?Waren Sie krank? Ich habe jetzt drei Mal eine Antwort von Ihnen verlangt.

Sie haben die Ehre, mit einem der ersten Geister des J<ahr>h<undert>s zuthun zu haben — und Sie benehmen sich gegen mich, wie Sie es sich gegenNiemanden erlauben dürfen. Seit den zwei Jahren, da ich wieder mit Ihnen imVerkehr bin, haben Sie meinen Stolz oft verletzt.

— Erwägen Sie, ob Sie wollen, daß das mein letztes Wort zu Ihnen ist.Nun gut, das ist Ihre Sache. Ich enthalte mich jedes Worts darüber. Aber

meine Sache ist, daß Hr. Dr. <Brandes> die Bücher, die ich ihm versprochenhabe, bekommt.

Senden Sie mir die Rechnung für dieselben umgehend. Sie sollen nicht aufdie Bezahlung zu warten haben.

Die Adresse des Herrn ist: — — —983. An Heinrich Köselitz in Venedig

Nizza, den 1. Febr. 1888.

Lieber Freund,

wie nahe sind Sie mir diese ganze Zeit gewesen! wie viel habe ich mirausgedacht, Thörichtes und Kluges, wo Sie immer als Hauptperson mitspielten!Es gab eine schöne chance: die letzte Ziehung der Lotterie Nizza’s, — undwenigstens eine halbe Stunde habe ich mir den kleinen dummen Luxus erlaubt,als sicher anzunehmen, daß ich das große Loos gewinnen würde. Mit dieserhalben Million ließe sich viel Vernunft auf Erden wieder herstellen; zumMindesten würden wir Beide m i t m e h r I r o n i e , mit mehr „Jenseits“ derUnvernunft unsres Daseins zusehn — und im Grunde gehört, um solche Dingezu machen wie Sie und ich sie machen und um sie g a n z g u t u n d

g ö t t l i c h zu machen, Eins dazu, Ironie (a l s o — denn so lautet die Logikauf Erden — eine halbe Million, die P r ä m i s s e der Ironie…)

Der Mangel an Gesundheit, an Geld, an Ansehn, an Liebe, an Schutz — unddabei n i c h t zum tragischen Brummbär werden: dies ist die Paradoxie unsresjetzigen Zustands, sein P r o b l e m . Bei mir ist ein Zustand vonc h r o n i s c h e r Ve r w u n d b a r k e i t eingetreten, an dem ich in gutenZuständen eine Art Revanche nehme, die auch nicht vom Schönsten ist, nämlichals ein Exceß von H ä r t e . Zeugniß meine letzte Schrift. Doch nehme ich dasAlles mit der Klugheit eines raffinirten Psychologen hin und ohne die geringstemoralische Verurtheilung: oh wie l e h r r e i c h es ist, in einem solchenextremen Zustande zu leben, wie der meinige ist! Ich verstehe jetzt erst dieG e s c h i c h t e , ich habe niemals tiefere Augen gehabt als in den letztenMonaten.

Lieber Freund, Ihre psychologische Nachrechnung über den EinflußVenedigs ist richtig. Hier, wo man unter so vielen Gästen und Patientenbeständig von der Idiosynkrasie bestimmter Clima-Einwirkung reden hört, habeich allmählich das Cardinale dieser Frage begriffen. In Hinsicht auf dasoptimum, auf die Verwirklichung unsrer allerpersönlichsten Wünsche (— unsrer„Werke“) muß man auf d i e s e Stimme der Natur hören: gewisse Musikgedeiht ebensowenig unter feuchtem Himmel wie gewisse Pflanzen. Ebenerzählte mir meine Tischnachbarin, daß sie bis vor 2 Wochen in Berlin k r a n kgelegen sei, unter der größten Besorgniß der Ärzte und nicht mehr fähig, voneiner Straßenecke zur andern zu gehn. Jetzt — ja was sich verändert hat, sieweiß es nicht zu sagen: aber sie läuft und ißt und ist heiter und b e g r e i f tn i c h t m e h r , daß sie krank war. Da sich dieselbe Geschichte bei ihr schondrei Mal zugetragen hat, so schwört sie auf „L u f t t r o c k e n h e i t “ als Receptgegen alle Übel der S e e l e (— denn sie hat an einer Art melancholischerDesperation gelitten). — Daß Sie jahrelang Venedig als Contrastclima (zumClima Ihrer Jugend) wohlthätig und gleichsam ö l h a f t c a l m i r e n dempfunden haben, ist vollkommen correkt: ich verhandelte im Engadin mitÄrzten über diesen principielle Frage: daß d a s s e l b e C l i m a als Reiz- undContrastclima — also nur für eine bestimmte Zeit verordnet — geradezu denentgegengesetzten Einfluß hat, wenn es als Dauerklima benutzt wird; daß z. B.der Engadiner unter dem beständigen Einflüsse seines Climas ernst,phlegmatisch, etwas anämisch wird, während der G a s t d i e s e s C l i m a svon ihm eine außerordentliche Belebung und Gesammtverstärkung desanimalischen Seins davonträgt. Moral: Sie sollten der G a s t Ve n e d i g s sein(— g e w e s e n sein —!) Es thut mir ordentlich weh, das zu sagen, das auch

nur zu begreifen: denn so Vieles ist auf eine himmlische und würdige Weisedaselbst geordnet, wie es zunächst nirgendswo für Sie zu finden ist. EinAufenthalt in C o r s i c a ? Man hat mir von Bastia erzählt, daß man daselbstsich in Pension kleiner Hôtels geben könne zu 3—4 frs. pro Tag. Es haben soviele Flüchtlinge aller Länder in Corsica gelebt (namentlich italiänischeGelehrte usw.) Eben ist die E i s e n b a h n von Bastia nach Corte eröffnet (1.Febr. 1888). Die große Bescheidenheit der corsischen Lebensweise, dieSimplicität der Sitte würde unser-Einem daselbst zu Gute kommen. Und — wasist man dort w e i t w e g von der „Modernität“! Vielleicht reinigt und stärktsich dort die Seele und wird s t o l z e r … (— ich mache mir nämlich klar, daßman jetzt weniger l e i d e n würde, wenn man stolzer wäre: Sie und ich, w i rs i n d n i c h t s t o l z g e n u g …)

In Liebe und TreueIhr N.

Vergebung für einen Wink! Eine Übersiedelung nach Corsika hätte in denAugen Ihrer verehrten Angehörigen den Sinn (die Ve r n u n f t ) einesunabweislichen Versuchs: denn man wird von Ihrer c o r s i s c h e n Operwissen. — (Hinreisen; von dort aus das fait accompli melden) Corte wäre einWinter- u n d Sommeraufenthalt. Denken Sie ein wenig voraus: 5 Jahre Corsicawäre ein grandioser Contrast zu 5 Jahren Venedig, eine C u l t u r ..

An Fritzsch habe ich 3 Briefe geschrieben in der Sache Brandes, jedes Malmit der dringenden Bitte um Antwort. Er schweigt.984. An Franz Overbeck in Basel

Nizza den 3. Februar 1888.

Lieber Freund,

hier ist endlich die Rechnung des Herrn C. G. Naumann: darf ich Dich bitten,dieselbe mit Hülfe des dazu deponirten Geldes zu berichtigen? Eile thutn i c h t noth; ich mache mir ein Gewissen daraus, Dich mit solchen Anliegen inDeiner Arbeits-ruhe zu stören. —

Auch ich bin sehr in Thätigkeit; und die Umrisse der ohne allen Zweifelungeheuren Aufgabe, die jetzt vor mir steht, steigen immer deutlicher aus demNebel heraus. Es gab düstere Stunden, es gab ganze Tage und Nächteinzwischen, wo ich nicht mehr wußte, wie leben und wo mich eine schwarzeVerzweiflung ergriff, wie ich sie bisher noch nicht erlebt habe. Trotzdem weißich, daß ich weder rückwärts, noch rechts, noch links weg entschlüpfen kann:ich habe gar keine W a h l . D i e s e Logik hält mich jetzt allein aufrecht: vonallen andern Seiten aus betrachtet ist mein Zustand unhaltbar und schmerzhaft

bis zur Tortur. Meine letzte Schrift verräth etwas davon: in einem Zustandeeines bis zum Springen gespannten Bogens thut einem jeder Affekt wohl,gesetzt, daß er gewaltsam ist. Man soll jetzt nicht von mir „schöne Sachen“erwarten: so wenig man einem leidenden und verhungernden Thiere zumuthensoll, daß es mit A n m u t h seine Beute zerreißt. Der jahrelange Mangel einerwirklich erquickenden und heilenden m e n s c h l i c h e n Liebe, die absurdeVereinsamung, die es mit sich bringt, daß fast jeder Rest von Zusammenhangmit Menschen nur eine Ursache von Verwundungen wird: das Alles ist vomSchlimmsten und hat nur Ein Recht für sich, das Recht, nothwendig zu sein. —

Habe ich nichts Besseres zu schreiben? Es sind mir schöne Zeichen vonPietät und tiefer Erkenntlichkeit seitens mehrerer Künstler zugekommen:darunter Dr. Brahms, H. von Bülow, Dr. Fuchs und Mottl. Insgleichen hat eingeistreicher und streitbarer Däne, Dr. G. Brandes, mehrere Ergebenheits-Briefean mich geschrieben: erstaunt, wie er sich ausdrückt, von dem ursprünglichenund neuen Geiste, der ihm aus meinen Schriften entgegenwehe und dessenTendenz er als „aristokratischen Radikalismus“ bezeichnet. Er nennt mich denbei weitem ersten Schriftsteller Deutschlands. — Daß Gersdorff in dergründlichsten und rechtschaffensten Weise sein Verhältniß zu mirwiederhergestellt hat, habe ich Dir wohl schon geschrieben? Ich bedaure, nichtdas Gleiche von Rohde melden zu können. Auf zwei Briefe, die ich mit demherzlichsten Willen, ihm wohlzuthun und den vorgekommenen Exceß vergessenzu machen geschrieben habe, hat er nicht geantwortet; ebensowenig auf dieZusendung meines letzten Buches. Das macht ihm keine Ehre: aber er wirdkrank sein, er steckt in einer schlechten Haut. — Von Paraguay giebt es sehrberuhigende Nachrichten: die Entwicklung der ganzen an sich so gewagtenUnternehmung kann nicht anders als glänzend genannt werden. In der neuenColonie sind c. 100 Personen bereits in Thätigkeit; darunter mehrere s e h r gutedeutsche Familien (z.B. die Mecklenburger Baron Malzahn’s); meineAngehörigen gehören zu den größten Grundbesitzern in Paraguay; der EinflußDr. Försters ist, wie ich ganz indirekt und zufällig gehört habe, derartiggewachsen, daß eine Anwartschaft auf die nächste Präsidentschaft der Republikdurchaus nicht außer der Wahrscheinlichkeit liegt. Daß e r und i c h eineAnstrengung sonder Gleichen zu machen haben, um uns nicht direkt a l sF e i n d e zu behandeln, kannst Du errathen… Die antisem. Blätter fallen übermich in aller Wildheit her (— was mir hundert Mal mehr gefällt als ihrebisherige Rücksicht) So viel für heute! Mit besten Wünschen für Dich undDeine liebe Frau

Dein N.

985. An Josef Viktor Widmann in Bern

Nizza, Pension de Genève,den 4. Febr. 1888.

Hochgeehrter Herr Doctor,

die Besprechung meiner Litteratur durch Herrn Spitteler hat mir großesVergnügen gemacht. Was für ein feiner Kopf! Und wie gern man sich von ihmtadeln läßt! Er beschränkt sich aus guten Gründen fast ganz auf das Formale: erläßt die eigentliche Geschichte hinter dem Gedachten, die Leidenschaft, dieKatastrophe, die Bewegung gegen ein Ziel, gegen ein Ve r h ä n g n i ß hineinfach bei Seite: — das kann ich nicht genug loben, darin ist wirklichedelicatezza. Es fehlt nicht an Uebereilungen. Er hat ersichtlich die Schriftenzum ersten Mal gelesen (und nicht einmal immer gelesen —). Umsomehrbewundere ich die Sicherheit des ästhetischen Taktes, mit der er die Form derverschiedenen Bücher und Epochen von einander abhebt. Ich bin sehrunzufrieden damit, daß „Jenseits“ unberücksichtigt geblieben ist: Damit fehlteihm eigentlich der Boden unter den Füßen, um über die letzterschienene„Streitschrift!“ (Genealogie der Moral) mitzureden.

Die Schwierigkeit meiner Schriften liegt darin, daß es in ihnen einUebergewicht der seltneren und neuen Zustände der Seele über die normalengiebt. Ich lobe das nicht; aber es ist so. Für diese noch ungefaßten und oft kaumfaßbaren Zustände suche ich Zeichen; es scheint mir, daß ich darin meineErfindsamkeit habe. Nichts liegt mir ferner, als der Glaube an einen „allein seligmachenden Stil“, an den, wenn ich recht verstehe, Herr Spitteler glaubt? Hatnicht die Absicht einer Schrift nicht immer erst das Gesetz ihres Stils zus c h a f f e n ? Ich verlange, daß, wenn diese Absicht sich ändert, man auchunerbittlich das ganze Prozedurensystem des Stils ändert. Dies habe ich zumBeispiel im „Jenseits“ gethan, dessen Stil meinem früheren Stil nicht mehrähnlich sieht: die Absicht, das S c h w e r g e w i c h t war verlegt. Dies habe ichnochmals in der letzten „Streitschrift“ gethan, wo ein Allegro feroce und dieLeidenschaft nue, crue, verte an Stelle der raffinirten Neutralität und zögerndenVorwärtsbewegung vom „Jenseits“ getreten ist. Es ist möglich, daß HerrNietzsche mehr Artist ist, als Herr Spitteler es uns glauben machen möchte…

Mit meinem verbindlichsten Dank und Gruß

IhrNietzsche.

1 essay(s) in Contexta986. An Josef Viktor Widmann in Bern (Postkarte)

<Nizza, 4. Februar 1888>

N a c h t r ä g l i c h zu meinem eben abgesandten Brief.Wir wollen die Neujahrsnummer an die vier Adressen lieber n i c h t

schicken. Ich ärgere mich über die Taktlosigkeit des letzten Satzes. Andrewürden es noch mehr thun…

N.987. An Carl Spitteler in Basel (Entwürfe)

Nizza, 10. Februar 1888 oder kurz davor

das ist die Absurdität meiner Lage: ich habe seit 10 Jahren lauter Meisterwerkehervorgebracht — und man will, daß ich mich ihretwegen entschuldigen soll

ich habe meine ungeheure Sache so kühn, so deutlich, mit so starkenGebärden vorgebracht, wie ich noch nie etwas gesagt habe. Ich habe Accentedes Zorns, des Hasses darin, die mir unfaßbar sind.

aber ich bin indignirt über die leichtfertige Weise, sich mit meinem letztenWerke auseinanderzusetzen. Haben Sie einen Begriff davon, wasichg e l e i s t e t h a b e ? — Aber Sie haben keinen Begriff von mir.

<P. Michaelis’ Rezension von „Jenseits von Gut und Böse“, National-Zeitung, Berlin 4. Dezember 1886, ist> die achtbarste Recapitulation meinesGedankengangs, die ich bisher gelesen habe: daß sie mit Abneigung gemachtist, verarge ich dem Referenten durchaus nicht: — ihre relative Objektivität istmir um so ehrenwerther (der schließliche Versuch, den er macht mich alsSymptom einer gegenwärtigen, socialen Strömung zu verstehn, liegt natürlichabseits von meinen Interessen)988. An Carl Spitteler in Basel

Nizza den 10. Februar 1888.(Pension de Genève)

sehr geehrter Herr,

haben Sie vielleicht die Neujahrs-Beilage des „Bund“ zu sehen bekommen? Ichhabe mich dafür bei dem ausgezeichneten Redakteur des „Bund“ bedankt, einwenig ironice, wie billig. —

Herr Spitteler hat eine feine und angenehme Intelligenz; leider lag, wie mirscheint, die Aufgabe selbst in diesem Falle zu sehr abseits und außerhalb seinergewohnten Perspektiven, als daß er sie auch nur gesehn hätte. Er redet und siehtNichts als Aesthetica: meine P r o b l e m e werden geradezu verschwiegen, —ich selbst eingerechnet. Es ist nicht ein einziger wesentlicher Punkt genannt, der

mich charakterisirt. Und zuletzt fehlt es auch im Reiche des Formalen, zwischenvielem Artigen, nicht an Übereilungen und Fehlgriffen. Zum Beispiel: „einenAnti-Strauß hat nur ein Professor begehn können“ (— womit etwa das UrtheilKarl Hillebrands in „Völker, Zeiten und Menschen“ zu vergleichen wäre,insgleichen das Unheil Bruno Bauers und ungefähr aller tieferen Naturen, diemir damals ihren Dank und ihre Verehrung ausgedrückt haben) Oder: „diekurzen Sprüche gerathen ihm am wenigsten“ (— und ich Esel habe mireingebildet, daß seit Anfang der Welt Niemand eine solche Gewalt über denp r ä g n a n t e n S p r u c h gehabt hat wie ich: Zeugniß mein Zarathustra)Zuletzt findet Herr Spitteler gar vom Stile meiner Streitschrift, er sei dasGegentheil eines guten; ich würfe Alles auf’s Papier, wie es mir gerade durchden Kopf gienge, ohne mich auch nur zu besinnen. Es handelt sich um einAttentat auf die Tugend (oder wie man’s nennen will); ich spreche mit einerleidenschaftlichen und schmerzlichen Kühnheit von dreien der schwerstenProbleme, die es giebt und in denen ich am längsten zu Hause bin; ich schonedabei, wie es in solchen Fällen der höhere Anstand will, mich selbst so wenigals irgend was und wen; ich habe mir dazu eine neue Gebärde von Spracheerfunden für diese in jedem Betracht neuen Dinge — und mein Zuhörer hörtwieder nichts als Stil, noch dazu schlechten Stil und bedauert am Ende, seineHoffnung auf Nietzsche als Schriftsteller sei damit bedeutend gesunken. Macheich denn „Litteratur“? — Er scheint selbst meinen Zarathustra nur als einehöhere Art von Stilübung zu betrachten (—das tiefste und entscheidendsteEreigniß — der S e e l e , mit Erlaubniß! — zwischen zwei Jahrtausenden, demzweiten und dem dritten —)

Ein letztes Fragezeichen: warum ist mein „Jenseits“ verschwiegen? Ich weißsehr wohl, daß dasselbe als v e r b o t e n e s Buch gilt — aber trotzalledementhält es den Schlüssel zu mir, w e n n es einen giebt. Man muß es zuerst lesen.(Ich lege zwei Besprechungen dieses Buchs bei: die des Dr. Widmann und dieder Nationalzeitung. Letztere, abgeneigt und unehrerbietig, wie sie ist, stellttrotzdem den Gedankengang des Buchs mit leidlicher Deutlichkeit hin)

Ihnen, werther Herr, zu Dank verpflichtet und, wie ich hoffe, n i c h t z u ml e t z t e n M a l e

Friedrich Nietzsche989. An Reinhart von Seydlitz in Cairo

Nizza, pension de Genèveden 12. Februar 1888.

Lieber Freund,

das war kein „stolzes Schweigen“, das mir inzwischen den Mund fast gegenJedermann verbunden hat, vielmehr ein sehr demüthiges, das eines Leidenden,der sich schämt zu verrathen, wie sehr er leidet. Ein Thier verkriecht sich inseine Höhle, wenn es krank ist; so thut es auch la bête philosophe. Es kommt soselten noch eine freundschaftliche Stimme zu mir. Ich bin jetzt allein, absurdallein; und in meinem unerbittlichen und unterirdischen Kampfe gegen Alles,was bisher von den Menschen verehrt und geliebt worden ist (— meine Formeldafür ist „Umwerthung aller Werthe“) ist unvermerkt aus mir selber etwas wieeine Höhle geworden — etwas Verborgenes, das man nicht mehr findet, selbstwenn man ausgienge, es zu suchen. A b e r m a n g e h t n i c h t d a r a u fa u s … Unter uns gesagt, zu Dreien — es ist nicht unmöglich, daß ich der erstePhilosoph des Zeitalters bin, ja vielleicht noch ein wenig mehr, irgend etwasEntscheidendes und Verhängnißvolles, das zwischen zwei Jahrtausenden steht.Eine solche absonderliche Stellung büßt man b e s t ä n d i g ab — durch eineimmer wachsende, immer eisigere, immer schneidendere Absonderung. Undunsre lieben Deutschen!.. In Deutschland hat man es, obwohl ich im 45.tenLebensjahr stehe und ungefähr fünfzehn Werke herausgegeben habe (—darunter ein non plus ultra, den Zarathustra —) auch noch nicht zu einereinzigena u c h n u r mäßig achtbaren Besprechung a u c h n u r eines meinerBücher gebracht. Man hilft sich jetzt mit den Worten: „excentrisch“,„pathologisch“, „psychiatrisch“. Es fehlt nicht an schlechten undverleumderischen Winken in Bezug auf mich; es herrscht ein zügellosfeindseliger Ton in den Zeitschriften, gelehrten und ungelehrten — aber wiekommt es, daß nie Jemand dagegen protestirt? daß nie Jemand sich beleidigtfühlt, wenn ich beschimpft werde? — Und Jahre lang kein Labsal, kein TropfenMenschlichkeit, nicht ein Hauch von Liebe —

Unter diesen Umständen muß man in N i z z a leben. Es wimmelt auch diesMal von Nichtsthuern, Grecs und anderen Philosophen, es wimmelt von„Meinesgleichen“: und Gott läßt, mit dem ihm eigenen Cynismus, gerade überu n s seine Sonne schöner scheinen als über das so viel achtbarere Europa desHerrn von Bismarck (— das mit fieberhafter Tugend an seiner Bewaffnungarbeitet und ganz und gar den Aspekt eines heroisch gestimmten Igels darbietet.)Die Tage kommen hier mit einer unverschämten Schönheit daher; es gab nieeinen vollkommneren Winter. Und diesen Farben Nizza’s: ich möchte sie Dirschicken. Alle Farben mit einem leuchtenden Silbergrau durchgesiebt; geistige,geistreiche Farben; nicht ein Rest mehr von der Brutalität der Grundtöne. DerVorzug dieses kleinen Stücks Küste zwischen Alassio und Nizza ist eineErlaubniß zum Africanismus in Farbe, Pflanze und Lufttrockenheit: das kommt

im übrigen Europa nicht vor.Oh wie gern säße ich mit Dir und Deiner lieben verehrten Frau zusammen

unter irgend einem homerisch-phäakischen Himmel… aber ich d a r f nichtmehr südlicher (— die A u g e n zwingen mich bald zu nördlicheren undstupideren Landschaften) Schreibe mir, bitte, noch einmal über die Zeit, wo Duwieder in München bist und vergieb mir diesen d ü s t e r e n Brief!

Dein getreuer Freund Nietzsche.Seltsam! Ich habe drei Tage Deine Ankunft hier im Hôtel erwartet. Es war

Besuch aus München angemeldet, man wollte mir nicht sagen, w e r ; manmachte zwei Plätze neben mir bei Tisch frei — Enttäuschung! Es waren alteSpieler und Montecarlisten, welche mir zuwider sind…1 essay(s) in Contexta990. An Franz Overbeck in Basel (Entwurf)

<Nizza, um den 13. Februar 1888>

Hier nur drei Worte, um etwas Gutes zu melden. Große Ruhe und Erleichterungeingetreten; eine lange äußerst schmerzhafte Crisis, bei der meine ganzeSensibilität in Aufruhr war, scheint ad acta gelegt.

Als factum brutum ausgedrückt: die erste Niederschrift meiner„Umwerthung aller Werthe“ ist fertig. Die Gesammt-Conception dafür war beiweitem die längste Tortur, die ich erlebt habe, eine wirkliche Krankheit. Ihra n d e r n „Erkennenden“, Ihr habt es besser, und n i c h t so unvernünftig! Ihrkennt die Wahrheit nicht als Etwas, das man sich Stück für Stück vom Herzenabreißt und bei dem jeder Sieg sich mit einer Niederlage rächt.991. An Heinrich Köselitz in Venedig

Nizza, den 13. Februar 1888

Lieber Freund,

ich hätte Ihnen unter allen Umständen heute geschrieben und will mich amwenigsten dadurch abhalten lassen, daß eben, als schönster Morgengruß, IhrBrief bei mir eingetreten ist. Das, was Sie mir zuerst erzählen, von einer ArtGemüths-Reconvalescenz, correspondirt angenehmer Weise mit einem eigeneninzwischen bewerkstelligten Fortschritte zur „Vernunft“: und sogar in Betreffder Art des Mittels ist unser Instinkt auf derselben Fährte gewesen. — LieberFreund, ich sage mir jetzt in jedem gesunden Augenblick (— und dabei denkeich wenigstens so sehr an Sie als an mich): „es ist sehr Viel e r r e i c h t ! Esistt r o t z a l l e d e m sehr Viel erreicht! man soll bei sich den Muth zu diesemallerberechtigtsten Stolze aufrecht erhalten!“…

— In Wahrheit kommen Sie sogar, bei einer solchen Nachrechnung, w a seigentlich erreicht ist, viel besser weg als ich. Ich selber bin über Versuche undWagnisse, über Vorspiele und Versprechungen aller Art nicht hinausgekommen:aber so Etwas aus der Welt des Vollkommenen und Glücklichen, wie es Ihreganze Oper ist, liegt ruhig in seinem eignen Lichte und winkt nicht, wie Allesbei mir, über sich hinweg —. Und was die „Idealität“ in der Musik betrifft, sohabe ich noch von meinem letzten Venediger Besuche einen unauslöschlichenGeschmack von Etwas auf der Zunge zurückbehalten, für das ich gar keinenandern Namen habe als „Idealität“. Damals sagte ich mir „es steht so gut als esstehen kann mit dem Freunde Köselitz — er erfindet sich seine eignenHeilmittel und reinigt sich mit bains intérieurs von allem Unverdaulichen, dassein Leben in ihn geworfen hat (— Verzeihung für das allzu klinisch geratheneGleichniß: eine der züchtigsten Damen Frankreichs, Madame Valmore bedientesich des Ausdrucks bains int<érieurs> in gewissen Fällen)

— Ich fand bei Plutarch, mit welchen Mitteln sich Cäsar gegenKränklichkeit und Kopfschmerz vertheidigte: ungeheure Märsche, einfacheLebensweise, ununterbrochner Aufenthalt im Freien, Strapazen…

— Mein Einwand gegen Venedig liegt vor allem darin, daß es zu sehre i n s c h l i e ß t : ich sollte glauben, man müsse eine K u r von Zeit zu Zeitgegen Venedigs Einfluß nöthig haben… Dann geht oder g i e n g e es vielleicht.

— Ein Sprung in die Venediger Alpen? — Es ist erstaunlich, was die variatios a n a t . Für fruchtbare und weibsartig periodische Wesen (wie es alle Künstlersind) scheint mir das brüske Einlegen von Zwischenakten, Contrasten beinaheunerläßlich. Vielleicht erwägen Sie, liebster Freund, alsbald das Problem Ihresnächsten Sommers — oder schon Frühjahrs? Die Luft in der Heimat Tizian’svielleicht? Eine Fußreise dorthin? — Zuletzt wird Ihnen nichts übrig bleiben alssich ganz auf venetianischem Fuß einzurichten: aber dazu gehört, wie mirscheint, die F l u c h t vor Venedig, Land, Berg, Wald, die ganze inVenedigv e r g e s s e n e Welt.

Schließlich möchte ich eine Anfrage nicht unterlassen. Von welchem Orte(oder Menschen) aus glauben Sie jetzt am ersten noch, daß Etwas zu GunstenIhres Bekanntwerdens gethan werden könnte? Ist irgend ein M u s i k f e s t inAussicht? (— ein S t u t t g a r t e r , erste Hälfte Juni, mit Brahms, Albert,Joachim ist das Einzige, von dem ich weiß) Haben Sie an Riedel vielleichtgeschrieben? — Eben fällt mir Bologna ein: großes Fest im Mai. Ist es nichtmöglich, Ihrerseits dazu etwas einzuschicken? zur Concert-Aufführung? —

— Über Spitteler werden Sie Recht haben. Die Sache ist mir verdrießlich.Fritzsch schweigt. — Mein Druck bei Naumann hat ca. 200 Thaler gekostet. —

Ich habe die erste Niederschrift meines „Versuchs einer Umwerthung“ fertig: eswar, Alles in Allem, eine Tortur, auch habe ich durchaus noch nicht den Muthdazu. Zehn Jahre später will ichs besser machen. —

Von Herzen

Ihr Freund Nietzsche.(Schreiben Sie mir, bitte, etwas G e n a u e s darüber, was und wieviel jetzt

fertig geworden ist und woran Sie noch arbeiten…)Vor der kleinen prätensiosen und absolut bis jetzt l e e r e n Zeitschrift des

Avenarius möchte ich eher warnen. Sie brauchen Athem, freien Raum.992. An Josef Viktor Widmann in Bern (Postkarte)

<Nizza, d. 13. Febr. 1888.>

Hochgeehrter Herr Doctor,

ich schreibe Ihnen eine Kritik über „die Kritik“ ab, die mir eben vonz u s t ä n d i g s t e r S e i t e zugeht (— es steht Ihnen frei, dieselbe HerrnSpitteler zu übermitteln).

„Spitteler’s Aufsatz im „Bund“ scheint mir ein tolles Gemisch von richtigerWitterung und Oberflächlichkeit, von Achtung und Unverschämtheit, von Ernstund Trivialität zu sein. Er nimmt Sie beinahe nur von der litterarisch-artistischenSeite und schießt dabei Böcke, über die ich lachen mußte. Ueber Ihrephilosophische Tendenz erhält der Leser keinen Wink; das Ganze ist noch v o reinem wirklichen Eindringen in Ihre Welt geschrieben. Als Anzeige wirkt esjedoch stark, — ich habe mich gewöhnt, derartige Besprechungen endlich nurnoch nach ihrem Einfluß auf den buchhändlerischen Vertrieb anzusehen.“

Hochachtungsvoll Ihr ergebensterProf. Dr. Nietzsche.

993. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig

Nizza, den 14 Febr. 1888pension de Genève

Sehr geehrter Herr,

Sie haben mir noch nicht mitgetheilt, wie viel und welche Zeitschriften IhnenGesammtberichte über meine Litteratur versprochen haben. Was meineBemühungen in dieser Hinsicht angeht, so ist der Gesammtbericht des „Bund“,auf welchen ich Sie hatte rechnen lassen, inzwischen erschienen, in der erstenJanuar-Nummer: leider nicht, wie zu erwarten stand, aus der Feder seinesvortrefflichen Redakteurs Dr. Widmann, sondern aus der eines geistreichen, aber

oberflächlichen Herrn S p i t t e l e r , der sich mit der überaus schwierigenAufgabe auf seine Weise abgefunden hat. Doch wirkt die Anzeige alsAnzeiges t a r k — und darauf kommt es allein an. Ich will mich darangewöhnen, derartige Besprechungen nur noch nach ihrem Einfluß auf denbuchhändlerischen Betrieb anzusehn

Was den berühmten Dänen Dr. Georg B r a n d e s anbetrifft (KopenhagenSt. Anne-Platz 24 ist wieder seine Adresse) so nehme ich an, daß meineSchriften inzwischen in seine Hände gelangt sind. Ich habe durchaus keinVersprechen dafür, daß er über dieselben einen litterarischen Bericht abstattet,und ich würde mich schämen, je etwas Derartiges von ihm zu wollen. Was michaber freut, das ist, ihn gründlich bemüht zu sehn, sich mir zu nähern und einenZugang zu meiner so schwierigen Welt zu suchen. Dr. Brandes ist, nach seineraußerordentlichen Übung, die verwickelten Fälle des modernen Geistes zuanalysiren, vielleicht noch am Ersten befähigt, sich über mich nicht zuvergreifen.

Ich habe insgleichen bei Herrn Dr. Carl Fuchs in Danzig eine bescheideneAnfrage gemacht, ob er seine intelligente und beredte Feder zu einer solchenArbeit hergeben würde. Er ist mir sehr zugethan; aber vielleicht ist eranderweitig zu stark in Anspruch genommen. Trotzdem möchte eine diskreteSondirung Ihrerseits hier nicht unangemessen sein.

Endlich gehört hierher ein Brief, der eben angelangt ist, und den ich beilege:er stammt von einem meiner Freunde von der Berliner Universität, demProfessor Dr. Paul Deussen. Diesen Brief bitte ich mir wieder zurück zu senden,zugleich mit einer Mittheilung über das, was Sie hinsichtlich der daringemachten Vorschläge gethan haben.

Ist nirgendswo eine Besprechung meines „Hymnus“ erschienen? Mir sindvon mehreren Orten Aufführungen in Aussicht gestellt z. B. von Mottl inCarlsruhe.

ErgebenstProf Dr Nietzsche

994. An Constantin Georg Naumann in Leipzig

Nizza, pension de Genèveden 14. Febr 1888.

Geehrtester Herr Verleger,

Ihren letzten Bericht habe ich mit großem Interesse gelesen: es ist mir lieb, zuhören, daß die „Streitschrift“ überhaupt in irgend welchem Maaße verlangtworden ist. Ich hatte das Gegentheil erwartet. Mir selber ist inzwischen der

Zweifel gekommen, ob der T i t e l glücklich (ich meine im Sinne desbuchhändlerischen Vertriebs glücklich) gewählt ist. Vielleicht wäre es rathsamgewesen, den Titel „Jenseits von Gut und Böse“ zu wiederholen unddarüberzusetzen. A n h a n g . D r e i A b h a n d l u n g e n .

An dem leichtfertigen, im Einzelnen geistreichen Aufsatze des SchweizerLitteraten habe ich keine Freude gehabt. Trotzdem glaube ich, daß er alsAnzeige meiner Gesammtlitteratur s t a r k wirkt. Er war mir noch unbekannt;ersichtlich hatte der Redakteur nicht gewagt, mir ihn zu senden. Von derSchweiz her ist mir inzwischen eine gewisse Entrüstung von mehreren Seitenausgedrückt worden, in Hinsicht auf die „Nullität und Unverschämtheit diesesSpitteler.“ —

Sie werden, wie ich annehme, mit Vergnügen hören, daß eine sorgfältigereArbeit über mich in Berlin im Werke ist. Zu diesem Zwecke ersuche ich, meinezwei Bücher „Jenseits“ und die „Genealogie“ an diese Adresse abzusenden (mitdem Zettel „im Auftrage“ usw):

Herrn Lothar Volkmar, RechtsanwaltBerlin W. Leipziger Str. 135Was die Berichtigung der eingesandten R e c h n u n g „Herstellungskosten

des Drucks“ betrifft: so habe ich umgehend einen Auftrag darüber nach Baselabgehn lassen; ich darf vielleicht voraussetzen, daß die Angelegenheitinzwischen schon erledigt ist.

Hochachtungsvoll IhrProf. Dr. Nietzsche

Man beklagt sich bei mir, daß die „Genealogie“ schlecht geheftet ist, daß sieauseinanderfällt, daß das Umschlagpapier nicht Stand hält (—es ist viel dünnerals das des „Jenseits“)995. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Entwurf)

<Nizza, vermutlich 17. Februar 1888>

Dies Mal muß ich an m<eine Mutter> einen recht freundlichen und lieblichenBrief schreiben, nachdem ich sie das letzte Mal so arg erschreckt habe. Aber essteht wirklich diesen Winter schlimm mit mir; und wenn Du es aus der Nähesähest, würdest Du mir gewiß einen solchen schmerzlichen Schrei verzeihen(wie es mein letzter Brief gewesen sein muß). Ich verliere mich mitunter ganzaus der Gewalt; und bin beinahe die Beute der düstersten Entschließungen.Leide ich etwa an der Galle? Ich habe Jahr aus Jahr ein zu viel Schlimmeshinunterschlucken müssen und sehe mich rückwärts blickend, vergebens nach

auch nur Einem guten Erlebniß um. Jetzt bin ich von einer ganz und garlächerlichen und erbärmlichen Verwundbarkeit, daß beinahe Alles, was vonaußen kommt, mich krank macht, und das Kleinste zu einem Unthier anwächst.Das Gefühl allein zu sein, der Mangel an Liebe, die allgemeine Undankbarkeitund selbst Schnödigkeit gegen mich — aber ich will nicht fortfahren in dieserTonart. Die Wahrheit ist, daß Dein Sohn ein tapferes Thier ist und daß erErstaunliches in dem letzten Jahre wieder durchgesetzt hat: aber warum mußjede meiner Thaten mir hinterdrein zur Niederlage werden? Warum fehlt mirjeder Zuspruch, jede tiefe Theilnahme, jede herzliche Verehrung?

Eine unerträgliche Spannung liegt Tag und Nacht auf mir hervorgebrachtdurch die A u f g a b e , die auf mir liegt und die absolute Ungunst aller meinersonstigen Verhältnisse zur Lösung einer solchen Aufgabe: das ist dieHauptsache

Meine Gesundheit hat sich unter der Gunst eines außerordentlich schönenHimmels und guter Nahrung (und stärk<enden> Spaziergehen<s>) ziemlichaufrecht erhalten: nichts ist krank, nur die liebe Seele. Ich fürchte mich geradezuvor dem Frühling: dies ist immer meine schwache Zeit. Andrerseits weiß ichkeine Stelle mehr, wo ich M<enschen> habe, die mir jetzt nütze wären: undmeine gute M<utter> ist zu weit weg.

Es thut mir wohl, was Du mir aus dem B<rief> vom Lama abschreibst:wirklich habe ich lauter häßliche Briefe an sie geschrieben und zuletzt hat mansich lieb, wie sehr man sich auch wehe gethan hat.996. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Fragment)

<Nizza, vermutlich 17. Februar 1888>

[+ + +] Brief schreiben, nachdem ich sie das letzte Mal so arg erschreckt habe.Aber es steht wirklich diesen Winter schlimm mit mir; und wenn Du es aus derNähe sähest, würdest Du mir gewiß einen solchen schmerzlichen Schrei, wie esmein letzter Brief war, verzeihen. Ich verliere [+ + +]

[+ + +] mir gestellt ist und die absolute Ungunst aller sonstigen Verhältnissezur Lösung einer solchen Aufgabe: hier steckt jedenfalls die Hauptnoth. DasGefühl, allein zu sein, der Mangel an Liebe, die allgemeine Undankbarkeit undselbst Schnödigkeit gegen mich [+ + +]

[+ + +] Entschließungen. Leide ich etwa an der Galle? Ich habe Jahr aus Jahrein zu viel Schlimmes hinunter schlucken müssen und sehe mich, rückwärtsblickend, vergebens nach auch nur Einem guten Erlebniß um. Das hat eine ganzund gar lächerliche und erbärmliche Verwundbarkeit schließlich hervorgebracht,Dank der beinahe Alles, was von außen an mich herankommt, mich krank

macht, und das [+ + +][+ + +] tapferes Thier ist, daß er Erstaunliches auch wieder in dem letzten

Jahre durchgesetzt hat: aber warum muß jede meiner Thaten hinterdrein zurNiederlage werden? Warum fehlt mir jeder Zuspruch, jede tiefe Theilnahme,jede herzliche Verehrung? —

Meine Gesundheit hat sich unter der Gunst eines außerordentlich s c h ö n e nWinters, [+ + +]

[+ + +] <Auch will ich nicht> verschweigen, daß der Winter an geistigemGewinn für meine Hauptsache sehr reich gewesen ist: also auch der Geist istnicht krank, nichts ist krank, nur die liebe Seele.

Ich fürchte mich geradezu vor dem Frühling: [+ + +]Ich möchte Dich um einen kleinen Dienst bitten. Schreib ein paar Worte an

meinen Leipziger h ö c h s t t a k t l o s e n u n da b g e s c h m a c k t e n Verleger, mit dem ich beinahe am Ende bin, Herrn E. W.Fritzsch (Leipzig, Königsstrasse 6) Sage ungefähr [+ + +]997. An Georg Brandes in Kopenhagen

Nizza den 19. Febr. 1888.Verehrter Herr,

Sie haben mich auf das Angenehmste mit Ihrem Beitrag zum Begriff„Modernität“ verpflichtet: denn gerade diesen Winter ziehe ich in weitenKreisen um diese Werthfrage ersten Ranges herum, sehr oberhalb, sehrvogelmäßig und mit dem besten Willen, so unmodern wie möglich aufsModerneh e r u n t e r z u b l i c k e n … Ich bewundere — daß ich es Ihnengestehe! — Ihre Toleranz im Unheil ebensosehr wie Ihre Zurückhaltung imUrtheil. Wie Sie alle diesen „Kindlein“ zu sich kommen lassen! Sogar Heyse!—

Ich habe mir für meine nächste Reise nach Deutschland vorgesetzt, mich mitdem psychologischen Problem Kierkegaard zu beschäftigen, insgleichen dieBekanntschaft mit Ihrer älteren Litteratur zu erneuern. Dies wird für mich, imbesten Sinn des Worts, v o n N u t z e n sein, — und wird dazu dienen, mirmeine eigne Härte und Anmaaßung im Urtheil „zu Gemüthe zu führen“. —

Gestern telegraphirte mir mein Verleger, daß die Bücher an Sie abgegangensind. Ich will Sie und mich mit der Erzählung verschonen, warum dies so spätgeschehen ist. Machen Sie, ich bitte Sie, verehrter Herr, eine gute Miene zu dem„bösen Spiel“, ich meine, zu dieser Nietzsche’schen Litteratur.

Ich selber bilde mir ein, den „neuen“ Deutschen die reichsten,e r l e b t e s t e n und unabhängigsten Bücher gegeben zu haben, die sieüberhaupt besitzen; ebenfalls selber für meine Person ein capitales Ereigniß in

der Krisis der Werthurtheile zu sein. Aber das könnte ein Irrthum sein; undaußerdem noch eine Dummheit —: ich wünsche, über mich nichts glauben zum ü s s e n . Ein paar Bemerkungen noch: sie beziehen sich auf meine Erstlinge(— die Juvenilia und J u v e n a l i a )

Die Schrift gegen Strauß, das böse Gelächter eines „s e h r freien Geistes“über einen solchen, der sich dafür hielt, gab einen ungeheuren Skandal ab: ichwar damals schon Prof. ordin. trotz meinen 24 Jahren, somit eine Art vonAutorität und etwas B e w i e s e n e s . Das Unbefangenste über diesen Vorgang,wo beinahe jede „Notabilität“ Partei für oder gegen mich nahm und eineunsinnige Masse von Papier bedruckt worden ist, steht in Carl Hillebrand’s„Völker, Zeiten und Menschen“ Band 2. Daß ich das altersmüde Machwerkjenes außerordentlichen Kritikers verspottete, war n i c h t das Ereigniß, sonderndaß ich den deutschen Geschmack bei einer compromittirendenGeschmacklosigkeit in flagranti ertappte: er hatte Straußens „alten und neuenGlauben“ einmüthig, trotz aller religiös-theologischen Partei-Verschiedenheit,als ein Meisterstück von Freiheit und Feinheit des Geistes (auch des S t i l s !)bewundert. Meine Schrift war das erste Attentat auf die deutsche B i l d u n g(— jene „Bildung“, welche, wie man rühmte, über Frankreich den Siegerrungen habe —); das von mir formulirte Wort „Bildungsphilister“ ist aus demwüthenden Hinundher der Polemik in der Sprache zurückgeblieben. —

Die beiden Schriften über Schopenhauer und Richard Wagner stellen, wiemir heute scheint, mehr Selbstbekenntnisse, vor allemS e l b s t g e l ö b n i s s e über mich dar als etwa eine wirkliche Psychologiejener mir ebenso tief verwandten als antagonistischen Meister. (— ich war derErste, der aus Beiden eine Art Einheit destillirte: jetzt ist dieser Aberglaube sehrim Vordergrunde der deutschen Cultur: alle Wagnerianer sind AnhängerSchopenhauers. Dies war anders als ich jung war: damals waren es die letztenHegelinge, die zu Wagner hielten, und „Wagner u n d Hegel“ lautete die Parolein den fünfziger Jahren noch.)

Zwischen den „unzeitgemäßen Betrachtungen“ und „Menschliches,Allzumenschliches“ liegt eine Krisis und Häutung. Auch leiblich: ich lebte Jahrelang in der nächsten Nachbarschaft des Todes. Dies war mein größtes Glück: ichvergaß mich, ich überlebte mich… Das gleiche Kunststück habe ich nocheinmal gemacht. —

— So haben wir also einander Geschenke überreicht: ich denke, wie zweiWanderer, die sich freuen, einander begegnet zu sein? —

Ich verbleibe Ihr ergebenster

Nietzsche

1 essay(s) in Contexta998. An Franz Overbeck in Dresden

Nizza, den 22. Febr. 1888.

Lieber Freund,

es betrübt mich sehr, daß Du aus solchen Gründen hast nach Deutschlandverreisen müssen. So hat der an sich schon so düstere Winter Dir auch diesenSchlag und Schmerz noch gebracht! Zwar muß ich nach Allem, was ich von Dirhöre, annehmen, daß es sich in diesem Falle um eine wirkliche Erlösunggehandelt hat, die eher zu spät als zu früh eingetreten ist; und so wünsche ichvon Herzen, daß etwas recht Erquickliches und Gutes Dir zum Entgelt zu Theilwerde, und so Deine Wunde wieder heile. Zuletzt: Du bist nicht allein. Icherschreckte bei der Vorstellung, wie wenig ein Einsiedler mit einem solchenEreigniß anzufangen wüßte.

Von mir will ich heute nur soviel sagen, daß es wieder besser geht, und daßdie schmerzhafte Spannung und Melancholie, unter der ich noch meinen letztenBrief an Dich geschrieben habe, überwunden erscheint. Einstweilen bin ich, wasDich überraschen wird, ganz unter dem Eindrucke der Nachrichten aus S a nR e m o : welche mir, durch einen seltsamen Zufall, in ganz andrer Weise zuGebote stehn als den Zeitungen (so daß ich die intima intimissima dieserschauerlichen und nicht ganz mittheilbaren Geschichte kenne) Vielleicht istauch hier die Erlösung in der N ä h e .

Von Herzen theilnehmend

Dein FreundNietzsche

999. An Hermann Credner in Leipzig (Entwurf)

<Nizza, den 25. Februar 1888>

Dies Mal ist es nicht für mich, sondern für einen Anderen, einen beinaheunversehens entdeckten geistreichen und originellen <Kopf,> daß ich an Sie dieAnfrage richte, ob Sie Lust haben, ein gutes Buch in Verlag zu nehmen.Dasselbe soll eine Sammlung Aesthetica enthalten: um irgend einenGeschmack, davon zu geben, sende ich Ihnen einen Aufsatz, der zufällig imBund abgedruckt worden ist und der im Kreise mir befreundeter Musiker undMusikliebhaber lebhaft diskutirt worden ist. Ich kenne vom gleichen Verfassereine sehr merkwürdige Kritik einiger Theater-Vorurtheile: das Unabhängigsteund Radikalste, was ich über das Problem des modernen Dramas gelesen habe.

Herr Prof. Spitteler ist, wie Sie es aus der kleinen Probe errathen werden, ein

Mann von Geist und Witz, reich an neuen Gesichtspunkten und Wagnissen desGedankens, er scheint wie nur Wenige, über Form- und Stilfragen mitzureden.

Der genannte Herr ist bisjetzt unter dem Namen Felix Tandem litterarischbekannt geworden (Prometheus 1882. Extramundana 1883) — Ich bemerkeausdrücklich, daß er mir nicht persönlich bekannt ist; insgleichen daß er meinereignen Denkweise und Philosophie fremd gegenüber steht. Ich wünsche Ihneneinen originellen Kopf empfohlen zu haben, n i c h t einen Anhänger oderJünger.1000. An Heinrich Köselitz in Venedig

Nice, pension de Genève26. Febr. 1888.

Lieber Freund,

trübes Wetter, Sonntag Nachmittag, große Einsamkeit: ich weiß nichtsAngenehmeres mir zu erfinden als etwas zu und mit Ihnen reden. Eben merkeich, daß die Finger blau sind: meine Schrift wird nur dem erräthlich sein, der dieGedanken erräth…

Was Sie über den Stil Wagner in Ihrem Briefe sagen, erinnert mich an eineeigne irgendwo geschriebene Auslassung darüber: wie sein „dramatischer Stil“nichts weiter ist als eine Species des s c h l e c h t e n Stils, ja sogar des N i c h t -Stils in der Musik. Aber unsre Musiker sehn darin einen F o r t s c h r i t t …

Eigentlich ist Alles ungesagt, ja wie ich argwöhne, fast ungedacht aufd i e s e m Bereiche von Wahrheiten: Wagner selber, als Mensch, als Thier, alsGott und Künstler geht tausendfach über den Verstand und Unverstand unsrerDeutschen hinaus. Ob auch über den der Franzosen? — Ich hatte heute dasVergnügen, mit einer Antwort Recht zu bekommen, wo schon die Frageaußerordentlich hazardirt scheinen konnte: nämlich — „wer war bisher ambesten vorbereitet für Wagner? wer war am Naturgemäßesten und InnerlichstenWagnerisch, trotz und ohne Wagner?“ — Darauf hatte ich mir seit lange gesagt:das war jener bizarre Dreiviertels-Narr B a u d e l a i r e , der Dichter der Fleursdu Mal. Ich hatte es bedauert, daß dieser grundverwandte Geist W<agner>nnicht bei Lebzeiten entdeckt habe; ich habe mir die Stellen seiner Gedichteangestrichen, in denen eine Art W a g n e r s c h e r S e n s i b i l i t ä t ist, welchesonst in der Poesie keine Form gefunden hat (— Baudelaire ist libertin,mystisch, „satanisch“, aber vor allem Wagnerisch) Und was muß ich heuteerleben! Ich blättere in einer jüngst erschienenen Sammlung von Œuvresposthumes dieses in Frankreich auf’s Tiefste geschätzten und selbst geliebtenGenies: und da, mitten unter unschätzbaren Psychologicis der décadence („mon

cœur mis à nu“ von der Art, wie man sie im Falle Schopenhauers und Byronsverbrannt hat) springt mir ein unedirter Brief W a g n e r s in die Augen,bezüglich auf eine Abhandlung Baudelaire’s in der Revue européenne, avril1861. Ich schreibe ihn ab: Mon cher Monsieur Baudelaire, j’étais plusieurs foischez vous sans vous trouver. Vous croyez bien, combien je suis désireux de vousdire quellei m m e n s e s a t i s f a c t i o n vous m’avez préparée par votrearticle qui m’honore et qui m’encourage plus que tout ce qu’on a jamais dit surmon pauvre talent. Ne serait-il pas possible de vous dire bientôt, à haute voix,comment je m’ai senti enivré en lisant ces belles pages qui me racontaient —comme le fait le meilleur poème — les impressions que je me dois vanterd’avoir produites sur une organisation si supérieure que la vôtre? Soyez millefois remercié de ce bienfait que vous m’avez procuré, et croyez-moi bien fier devous pouvoir nommer ami. — A bientôt, n’est-ce pas? Tout à vous

Richard Wagner(Wagner war damals 48 Jahre alt, Baudelaire 40: der Brief ist rührend,

obschon in miserablem Französisch.)Im selben Buche finden sich Skizzen Baudelaires, in denen er auf eine

leidenschaftliche Weise Heinrich H e i n e gegen französische Kritik (JulesJanin) in Schutz nimmt. — Man hat, in der letzten Zeit seines Lebens noch, woer halb irre war und langsam zu Grunde gieng, W a g n e r s c h e Musik wieM e d i z i n an ihm angewandt; und selbst wenn man nur Wagner’s Namennannte, „il a souri d’allégresse“. (— Einen Brief dieser Art Dankbarkeit undselbst Enthusiasmus hat, wenn mich nicht Alles trügt, Wagner nur noch einmalgeschrieben: nach dem Empfang der Geburt der Tragödie.)

— Wie geht es jetzt, lieber Freund? Ich habe mir geschworen, eine Zeit langnichts mehr ernst zu nehmen. Auch dürfen Sie ja nicht glauben, daß ich wieder„Litteratur“ gemacht hätte: diesen Niederschrift war f ü r m i c h ; ich will alleWinter von jetzt ab hintereinander eine solche Niederschrift f ü rm i c h machen — der Gedanke an „Publicität“ ist eigentlicha u s g e s c h l o s s e n . — Der Fall Fritzsch ist telegraphisch in Ordnunggebracht. — Herr Spitteler hat geschrieben, nicht übel, sich für seine„Unverschämtheit“ (— so sagt er selbst) entschuldigend. — Der Winter ist hart;es fehlt mir aber augenblicklich Nichts, es wäre denn eine göttliche und stilleMusik, I h r e Musik, lieber Freund!

Ihr N.Die Zeitungen und Zeitschriften, welchen Fritzsch durch ein artiges Circular

letzten Herbst ein Gesammt-Exemplar meiner Schriften angeboten hatte, zumZweck einer Besprechung, haben ihm sammt und sonders nicht geantwortet —

Overbecks Vater ist gestorben, 84 Jahr alt. Overbeck selbst ist dazu nachDresden gereist: wie ich fürchte, zum Nachtheil seiner eigenen Gesundheit, diediesen Winter wieder Schwierigkeiten macht. — Schneestürme überall, Eisbär-Humanität.

Aus einem Briefe B<audelaire>s: „ich wage nicht mehr von W<agner> zureden: man hat sich zu sehr über mich lustig gemacht. Diese Musik ist eine derganz großen Freuden meines Daseins gewesen: ich habe gut fünfzehn Jahrekeine solche Erhebung (vielmehr e n l è v e m e n t ) gefühlt.“.1 essay(s) in Contexta1001. An Franz Overbeck in Basel

Nice, pension de Genève den 3. März 1888.

Lieber Freund,

vergieb mir, daß ich, eben im Besitz Deines guten Briefes, sofort Dich wiedermit meinen Angelegenheiten behelligen muß. Die Rechnung L o r e n z e n s istdurchaus bedenkeneinflößend: ich kann nur einen einzigen Posten anerkennen.Die sechs ersten Posten habe ich bei meiner letzten Abreise vonLeipzigb e z a h l t , den siebenten und achten (Dionys. und Apollodor) wedererhalten, noch je zu erhalten verlangt. Doch darüber will ich mit Lorenzs e l b s t verhandeln. —

Dagegen beunruhigt es mich, daß Du nichts über die Bezahlung meinerDruckrechnung bei C. G. N a u m a n n bis jetzt mir gemeldet hast. Ich habe dieRechnung in meinem vorletzten Briefe beigelegt: — muß ich fürchten, daß derBrief mit der Rechnung verloren gegangen ist? — in diesem Winter derLawinen und Eisenbahn-Störungen scheint Viel verloren zu gehn..

Ich wundere mich seit Wochen, daß C. G. Naumann mir nicht den Empfangdes Geldes signalisirt. —

Die Druckkosten der „Genealogie“ betrugen: 588 Mark 65 Pfennige.Was den gegen Ende des Monats fällig werdenden Gehalt angeht, so bitte ich

mir denselben h i e r h e r noch aus. Doch wäre ich dankbar für jeden Tag, dener früher kommt; im Grunde ist meine Zeit für Nizza a b g e l a u f e n — derGlanz der Sonne (bei übrigens kaltem Wetter) ist für meine Augen jetzt schon zuintensiv. — Sonst geht es wieder besser; auch bin ich mit meinem Winter, derlauter radikalen Problemen und Entscheidungen geweiht war, nicht übelzufrieden. — Sende einfach Basler Papier, bitte. — Der Ofen war de rigueur, Duhast Recht. Namentlich für mein Nordzimmer. Ich begreife übrigens absolutnicht, wie ich einen nordischen Winter aushielte: so sehr ich es w ü n s c h e nmuß, aus den allerletzten Gründen. Aber es ist selbst h i e r jeder eigentliche

düstere und winterliche Tag, an dem die Sonne fehlt, für mich eine wahreTortur: ich bin krank und in einer kaum glaublichen Weise gedrückt, leiblichund geistig. Dieser absurde Grad von Dependenz hat etwas Demüthigendes;aber es hilft nichts, ich muß mit diesem Faktor rechnen. Engadin und Nizza sindnicht eigentlich mehr in Frage zu ziehn: sie sind das einzig B e w i e s e n e . DasFrühjahr macht mir Furcht; es ist mir an jedem Orte bisher mißrathen. — Dasvergangene J a h r z e h e n d mit meiner habituellen Schwäche und Reizbarkeitan Kopf und Nerven, die aus den geringsten Zufällen und Unfällen wahreKatastrophen schuf, sollte schlechterdings aus meiner Erinnerung ausgewischtwerden. Aber einstweilen muß ich schon mit Tagen und Wochen zufrieden sein,wo ich es vergesse. D i e s e r Grad von menschlicher décrépitude, der meinerganzen Denkweise so unangemessen wie möglich ist, hat, wie ich mir nichtverberge, meinen Stolz etwas exasperirt: schlimm genug, aber man hält dieMisère nur um diesen Preis aus. — Mir ist zu Muthe, wie einem Troglodyten,dem es Mühe macht, an das L i c h t zu glauben; man wird extrem mißtrauisch;man wird problematisch.

Lieber Freund, es scheint mir nicht unmöglich, daß ich Dich dieses Jahreinmal wieder in Basel begrüße: obwohl ich es heute noch nicht versprechenwill. Mit den herzlichsten Wünschen für Dich und Deine liebe Frau Dein

Nietzsche.(Die Straße pet. rue St. Etienne ist jetzt umgetauft: rue Rossini)

1002. An Carl Spitteler in Basel

Nizza den 4. März1888

Werther Herr Spitteler,

heute, statt aller Antwort, eine gute Nachricht. Es ist mir, nach vielfachenFehlversuchen und Entmuthigungen, zuallerletzt doch noch gelungen, einenVerleger für die Herausgabe Ihrer Aesthetica zu interessiren. So eben schriebmir der Chef eines der angesehensten Leipziger Häuser (Firma Veit und Co),Herr Hermann Credner, in einer Weise, die nicht anders als entgegenkommendgenannt werden kann: er verspricht diese Angelegenheit im Auge zu behalten.Ich hatte ihm Ihre Kritik des modernen Orchesters übersandt, zugleich miteinem längeren Briefe: er sagt, daß er diese Kritik „mit Spannung und Genuß“gelesen habe. Insgleichen sprach ich ihm von einer früheren Abhandlung, die imBund erschienen ist, dramaturgische Fragen behandelnd. (Diese beiden Aufsätzewerden, wie ich voraussetze, jener Sammlung von Aestheticis einverleibt?Wenigstens habe ich dies zu verstehen gegeben) — Die Frage der Ausstattung,

ebenso wie die des Honorars ist natürlich nicht berührt worden: darüberVorschläge zu machen steht bei Ihnen. Zunächst aber thut es Noth, genau zuformulieren, was der Band enthalten soll; insgleichen seine ungefähreAusdehnung und Bogenzahl.

— Und seien Sie, im Verkehre mit diesem etwas verwöhnten undanspruchsvollen Verleger (der aus einer alten Leipziger Professoren-Familiestammt und überdies der Verleger des deutschen Reichsgerichts ist) nicht zu„schweizerisch“!…

— Mit dem Wunsch, Ihnen auch fürderhin einen Dienst erweisen zu können

Ihr Dr. Nietzsche Prof(Credner gehört, nach seinem eignen Ausdruck, zu den amateurs m e i n e r

Litteratur)Adresse: Herrn Hermann Credner (Veit & Co) Leipzig (Johannisgasse)

1003. An Franziska Nietzsche in Naumburg

Nizza, den 5. März 1888.

Meine liebe gute Mutter,

heute morgen hätte ich Dir ohne Zweifel einen kleinen Brief geschrieben, selbstwenn nicht Deine herzliche Mahnung bei mir angelangt wäre. Es lag Allesschon bereit dazu. Außerdem hat sich mein Zustand wirklich verbessert und diebösen Wochen der Melancholie sind wieder überwunden. Es betrübt mich, daßich zwei so düstere Briefe an Dich abgesandt habe: aber es giebt Zeiten, wo mannicht mehr Herr über sich ist und Dinge thut, die man beim ersten Sonnenstrahlekaum mehr begreift. Der Winter war übrigens für alle Welt hart und traurigmachend: und für eine solch delikate und krankhafte Maschinerie, wie ich esbin, besonders. Die Nachrichten von San Remo haben auch nichtsWohlthuendes: dies System von Lüge und willkürlicher Entstellung der Fakten,wie es diese Engländerin, im Bunde mit einem nichtswürdigen englischen Arzte,von einem Monat in den andern fortsetzt, hat sogar die Ausländer empört, garnicht zu reden von dem deutschen Arzte, von der ganzen kaiserlichen Familie,von Bismarck. Ich bin durch einen Zufall sehr gut, zu gut über die intimaintimissima dieser schauerlichen Geschichte unterrichtet. — Wir habenübrigens, seit dem 1. März, hier den großen Z o l l k r i e g zwischen Italien undFrankreich: unsre Provinz ist am stärksten durch denselben betroffen. Nizzabezog A l l e s , was man zur Ernährung nöthig hat, aus Italien: — Fleisch, Eier,Butter, Gemüse, Wein, Oel. Der Zollkrieg, mit seinen u n e r h ö r t e n Taxen,macht einfach einen Schnitt zwischen den beiden Ländern: so daß die ganzeKüste versuchen muß, sich anderswoher ihre Nahrungsmittel zu schaffen. Man

will eine direkte Dampfschiffverbindung zwischen Nizza und Algier herstellen,dieser Tage schon: 42 Stunden Fahrt zwischen hier und A f r i k a . —

Trotzdem: wie gut, daß man in Europa ist, sei es nun in Naumburg, oder inNizza — und n i c h t in diesem erstaunlich unanmuthigen Paraguay! DerBericht ist sehr ehrlich, ich glaube wirklich nicht, daß er irgendwelche guteSeite verschweigt. Offenbar ist das Leben in der Hauptstadt und das Leben indieser Wald- und Wüsten-Wildniß etwas recht Verschiedenes; in der ersterenwird man immer noch glauben, in Europa zu sein. Nichts für u n s ! meine guteMutter! —

F r i t z s c h hat telegraphisch die Sache in Ordnung gebracht; auch einenentschuldigenden Brief geschickt. Ich danke sehr für den kleinen Hochdruck,den Dein Brief ausgeübt hat.

Inzwischen ist Overbecks Vater in Dresden gestorben; insgleichenKöselitzens Leipziger Schwester. Man hat überall zu tragen und zu überwinden.— Deine freundliche und liebe Einladung, den Frühling in Naumburg zuverbringen, stimmt leider in keinem Punkte jetzt zu dem, was meine absurdeGesundheit verlangt. Erstens: ich darf nicht weit reisen, ich halte es nicht aus.Zweitens: ich habe das größte Mißtrauen gerade gegen den deutschen Frühlingund denke mit Schrecken an das Gefühl von Schwäche und Entmuthigung, dasder letzte Frühling in Naumburg und Leipzig bei mir hervorgebracht hat. Essteht noch nicht fest, wohin ich gehe; aber nicht gar weit, und etwas in dieBerge, wo eine kräftige Luft weht; und so daß ich den Zugang zum Engadin imAuge behalte (für Mitte J u n i : eher kann man nicht hinauf)

Zuletzt, meine gute Mutter, macht es Dir etwas, mir die 96 Mark hierher,nach Nizza, zu schicken? Oder hast Du gerade jetzt kein Geld? Ich bin nämlichin einiger Verlegenheit, und wäre dankbar, j e t z t Geld geschickt zubekommen. Paßt es Dir nicht, so würde ich Hrn. Kürbitz darum angehn. (Ameinfachsten ein Hundert-Mark-Schein. Der Brief r e c o m m a n d i r t , aber dasGeld n i c h t darauf bezeichnet. Oder auch ein Hundert-F r a n k e n -Schein (96Mark = 115 frs.) dies vorzuziehen.

In herzlicher Liebe und DankbarkeitDein altes Geschöpf

1004. An M. Pfyffer in Viznau (Entwurf)

<Nizza, Mitte März 1888>

Sehr geehrter Herr

Ich möchte gern mich mit Ihnen für den Fall verständigen, daß ich Ende diesesMonats zu einem langen Aufenthalt bei Ihnen eintreffe. Eine Schweizerin, die

Sie kennen und deren freundliche Grüße ich Ihnen auszurichten habe, Frau Fäsiaus Zürich, macht es mir wahrscheinlich, daß ich in Ihrem Hause das findenkönnte, was ich vor allem nöthig habe, sei es für meine Gesundheit, sei es fürmeine Arbeiten: Ruhe. Ein S ü d zimmer, eingerichtet für den Gebrauch einesGelehrten, ein Bett mit einer guten festen Matratze, eine Chaise longue — daswürde ebenfalls zu schaffen sein.

Ich setze voraus, daß wir uns über einen Tagespreis der Pension von 4 1/2frs. tout compris arrangiren werden: wobei ich ausdrücklich bemerke, daß ichmir frühmorgens meinen Thee selbst bereite, nach alter Gewohnheit, somit inden Pensionspreis nur die zwei Haupt-Mahlzeiten, das Zimmer und dieBedienung einbegriffen sind. Man lobt mir Ihre Küche.

Es wäre mir werthvoll, für mich einen guten Zwischenaufenthalt für denFrühling ausfindig zu machen: meine Versuche in den letzten Jahren sind mirnicht zum Besten meiner Gesundheit ausgeschlagen.1005. An Franziska Nietzsche in Naumburg

Nice d. 20. März 1888.

Meine liebe Mutter

Du hast mir mit Deiner Sendung und dem sie begleitenden Briefe eine großeFreude gemacht: beinahe als ob Du mir ein Geschenk gemacht hättest. Ich wargerade etwas knapp daran mit Finanzen; und vielleicht habe ich schongeschrieben, daß diesen Winter mein Leben im Hôtel sich vertheuert hat.Trotzdem sind auch jetzt noch die Bedingungen, unter denen ich hier lebe,bedeutend unter den durchschnittlichen, die Jedermann hier im Hause zu zahlenhat; und andrerseits habe ich auch diesen Winter etwas, das ich sonst nicht hatte:ein Zimmer, das mir gefällt, hoch, mit einem ausgezeichneten Lichte für meineAugen, neu hergerichtet, mit großem schwerem Tisch, chaise longue,Bücherschrank und mit dunklen roth-braunen Tapeten, die ich selbst ausgewählthabe. Es scheint mir immer noch, daß ich an Nizza festzuhalten habe: seinklimatischer Einfluß ist so wohlthätig wie kein andrer auf mich. Ich kann hiergerade noch einmal so viel Gebrauch von meinen Augen machen als anderswo.Der Kopf ist unter diesem Himmel freier geworden, von Jahr zu Jahr; dieunheimlichen Folgen jahrelangen Siechthums in der Nähe und Erwartung desTodes treten hier milder auf. Ich will nicht vergessen, daß auch meineVerdauung hier besser ist als sonst wo; vor allem aber, mein G e i s t fühlt sichhier aufgeweckter und trägt im Allgemeinen seine Bürde leichter — ich meinedie Bürde eines Lebenslooses, zu dem ein P h i l o s o p h einmal verurtheilt ist.Ich gehe Vormittags eine Stunde, Nachmittags drei Stunden durchschnittlich

spazieren, in scharfem Schritte — Tag für Tag den gleichen Weg: er ist schöngenug dazu. Nach dem Abendessen sitze ich noch bis 9 Uhr im Salon, unter fastlauter Engländern und Engländerinnen, bei einer Lampe mit Lampenschirm anmeinem Tische. Ich stehe halb sieben auf und mache mir meinen Thee selbst:dazu einige Zwiebäcke. Um 12 Uhr das Frühstück; um 6 Uhr dieHauptmahlzeit. Kein Wein, kein Bier, keine Spirituosen, kein Kaffe: größteGleichmäßigkeit in der Lebens- und Ernährungsweise. Seit vorigem Sommerhabe ich mich an Wassertrinken gewöhnt: ein gutes Zeichen, ein Fortschritt.Übrigens war ich gerade jetzt drei Tage krank: doch ist heute wieder Alles inOrdnung. Für Ende März denke ich Nizza zu verlassen: der Lichtglanz ist mirbereits zu stark, auch die Luft schon zu weich, zu frühlingsmäßig. Es istmöglich, daß ich noch Besuch bekomme: nämlich S e y d l i t z , der auf seinerRückreise von Aegypten „mit Weib, Mutter, Hund und Diener“ bei mireintreffen will. Auch der alte Freund G e r s d o r f f schrieb wieder guter Dinge:er hatte gerade seinen Monat Dienst in Berlin hinter sich (— er ist Kammerherrder alten Kaiserin) Aber das Schönste war ein langer Brief vom L a m a : achtSeiten voll lauter herzlicher und sogar gescheuter Dinge. Noch in Asunciongeschrieben; aber voll guten Muths („gewiß, ich habe ein Lebensloos, zu demich passe, das ist eine schöne Sache“ —) Doch drückt sie Besorgniß aus, daß esdie nächste Zeit zu viel zu thun giebt: weil eine Unmasse neuer Colonistenangemeldet sind, und vielleicht noch nicht genug dazu vorbereitet ist. — Ichvergaß zu erzählen, daß ein alter Schulkamerad (mein „Unterer“), derLieutenant G e e s t hier in Pflege der Diakonissen vom rothen Kreuz ist: ichgehe zuweilen hin. Sehr norddeutsche Atmosphäre: Frau von Münchow, Frl.von Diethfurth usw. Meine Tischnachbarin ist auch diesen Winter wieder dieBaronin P l ä n c k n e r , eine geb. Seckendorf<f>: und als solche mit allenSeckendorf<f>s am Hofe und in der Armee in allernächstem Verkehr (z. B. mitdem Grafen Seckendorf<f>, der, wie bekannt bei der neuen Kaiserin die „rechteHand“ ist — und noch etwas mehr!) Auch ist sie mit dem Geheimrath vonB e r g m a n n nahe befreundet und selbst in seiner Kur: so daß ich über dieDinge in San Remo sehr gut unterrichtet war. Ich habe sogar Blätter, die derKronprinz ein Paar Tage vor seiner Abreise geschrieben hat, in den Händengehabt. - - -

So viel, meine liebe gute Mutter! Es umarmt Dich in Dankbarkeit

Dein altes Geschöpf.Ich möchte Dir gerne eine förmliche Quittung über die Zahlung der ersten

Jahres-Zinsen ausstellen: denn so ist es in der Ordnung. Nun bitte ich mir erst zusagen, was ich schreiben soll.

Grüße, mit herzlicher Antheilnahme, Herrn und Frau Rektor Volkmann vonmir. Was macht Heinze? Fast habe ich ihn erwartet. Übrigens war ein LeipzigerProfessor zwei Tage hier im Hause.1006. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig

Nice (France)pension de Genève

21. März1888

Werthester Herr Fritzsch,

inzwischen ist mir noch Jemand bekannt geworden, der auf eine intelligenteWeise das Bekanntwerden meiner Schriften fördert: das ist Herr P. Michaelis,Domhülfsprediger in Bremen. Derselbe ist für die Nationalzeitung thätig:welche in den letzten zwei Jahren bereits zwei Mal über mich (resp. überBücher von mir) Aufsätze gebracht hat. Ersichtlich kennt er die „Morgenröthe“und die „fröhliche Wissenschaft“ nicht: ich würde Ihnen vorschlagen, diesebeiden Bücher ihm zu übersenden zugleich mit der beiliegenden Karte vonmeiner Seite.

A d r e s s e : Bremen. Am Deich 55.Der ausgezeichnete Däne, Dr Brandes, hat seit dem Empfang der Schriften

schon zwei Mal wieder geschrieben, jedes Mal sich unterzeichnend „Ihraufmerksamer und dankbarer Leser“

Mich bestens empfehlend und mit angelegentlichem Glückwunsche zu dembevorstehenden Familien-Feste

Ihr ergebensterProf. D. Nietzsche.

1007. An Heinrich Köselitz in Venedig

N i c e , pension deGenève

(r u e R o s s i n i )21. März 1888

Lieber Freund

inzwischen hat die Gesundheit viel Störung gegeben: sonst hätten Sie längsteinen Dankesbrief erhalten. Ich war durch Alles, was Sie mir das letzte Mal inpuncto Wagneri schrieben, geradezu erbaut. Sie sind heute der Einzige, dersolche Geschmacks-finesses nicht nur haben, sondern auch begründen kann:während ich umgekehrt mich in meiner absurderen Weise zum bloßen Tasten

und Tappen verurtheilt fühle. Ich kenne nichts mehr, ich höre nichts mehr, ichlese nichts mehr: und trotzalledem giebt es Nichts, was mich eigentlich mehra n g i e n g e als das Schicksal der Musik.

Nicht zu vergessen: ich habe doch etwas gehört — drei Sachen vonO f f e n b a c h (la Pericholle, la grande Duchesse, la fille du tambour-major) —und war entzückt. Vier, fünf Mal in jedem Werke erreicht er einen Zustandübermüthigster Bouffonerie, aber in der Form des klassischen Geschmacks,absolut logisch — und dabei noch wunderbar Pariserisch!.. Dabei hat diesesverwöhnte Menschenkind das Glück gehabt, die geistreichsten Franzosen zuLibrettisten zu haben: Halévi, der jüngst wegen dieser Geniestreiche la belleHelène etc. in die Akademie aufgenommen worden ist, Meilhac und Andere.Die Texte Offenbachs haben etwas Bezauberndes und sind wahrscheinlich dasEinzige, was die Oper zu G u n s t e n der Poesie bisher gewirkt hat. —

M o t t l , nach dem Sie fragten, hat nichts mehr von sich hören lassen. Ichnotiere Ihnen noch ein Wort S e y d l i t z e n s , der jüngst aus Aegypten schriebund wahrscheinlich mir, „zusammen mit Weib, Mutter, Hund und Diener“ aufseiner Rückreise einen Besuch abstatten wird. Er beklagt sich über den dortwehenden Chamsin „der einer ins Meteorologische übersetzten BrahmsschenSymphonie gleicht: rücksichtslos, sandig, trocken, unbegreiflich,nervenzerrüttend, etwa ein zehnfacher scirocco“. — Auch der alte FreundGersdorff hat wieder geschrieben, mit vieler und herzlicher Erinnerung auch anSie („— ich denke mit Vergnügen an die guten Stunden, die ich mit ihm unddurch ihn erlebte und die nur durch Nerina und Rascovicz getrübt wurden) Auchsagt er „wie viel Kraft und Muth muß man haben, um heute gute Musik zumachen. Es giebt heute kaum einen Menschen, dem Wagner nicht das Conceptverrückt hätte“. Gersdorff hatte eben seinen Hofdienst wieder hinter sich: er ist,wie Sie wissen werden, Kammerherr der alten Kaiserin. —

Etwas ist mir g e l u n g e n , worüber Sie lachen werden: ich habe jenemS p i t t e l e r (unangenehmen Angedenkens), unaufgefordert, aber imBewußtsein, daß sonst Niemand etwas für ihn thut, einen Ve r l e g e r für einendicken Band Aesthetica verschafft: Firma Veit & Co (Hermann Credner inLeipzig, ein „amateur“ meiner Litteratur) Sp<itteler> hat sich gehütet, mir dafürzu danken. —

Von Kopenhagen kommen öfters Briefe, immer sehr intelligent, aber auchvoll vieler Zeichen einer l e i d e n d e n Existenz: B<randes> ist dermaaßenimKrieg und allein, daß er Jemanden nöthig zu haben scheint, zu dem erpersönlich redet. Das Angenehmste war ein langer Brief meiner S c h w e s t e r ,deren Unternehmung überraschend für sie selber geräth: sie haben jetzt 80

Deutsche und 3 Schweizer auf der Colonie „Nueva Germania“, und es sind soViele für die nächsten Monate angekündigt, daß man fürchtet, nicht genugvorbereitet zu sein. —

Eben traf eine intelligente und nicht unsympathische Besprechung meiner„Genealogie“ in der Nationalzeitung ein: abgesandt von dem Verfasser, P.Michaelis, Domhülfsprediger in Bremen. „Nietzsche ist grob, aber —“

So viel, lieber Freund: es ist wenig genug. Nun stehe ich wieder vor derwiderlichen Erwägung, was ich mit mir die nächsten Monate anfangen soll, bisich wieder h i n a u f kann .. Es ist eine schlechte Zeit, es sind alle Versuche undOrte eigentlich mißrathen — noch vom letzten Jahr her habe ich dengreulichsten Nachgeschmack von dieser Zwischenzeit, die mich schwach machtund entnervt. Wohin?.. Denn mit Nizza ist es wieder vorbei; der Lichtglanz istzu stark, die Luft schon zu weich. Zürich? Nimmermehr! Die italiänischenSeen? — drückend, herabstimmend! Die Schweiz? noch zu winterlich, wolkig,nebelig. Ich habe diese ganze Nacht gewacht in der Unruhe solcher Fragen. —

Mein alter Freund und maestro, es wünscht Ihnen einen guten Morgen

IhrNietzsche

Verzeihung, daß der Brief endet, wie er nicht enden sollte, — ich thue so vielVe r k e h r t e s .1008. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)

N i c e 22. März 1888.Lieber Freund, die Recrudescenz des Winters macht mich anders über dienächste Zukunft denken; insbesondere scheint es mir noch lange nicht erlaubt,in die Schweiz zu reisen. Unter diesen Umständen würde ich Dich bitten, einenTheil des zu erwartenden Gehalts in italiänischem Papier mir zu übermitteln(vielleicht 300 frs.)

Deine Mittheilung, daß das Haus wieder verkauft ist, hat mich geradezuerschreckt. Bist Du denn von einem besonderen noch unentdeckten Dämonheimgesucht, einem deus ignotus Basileensis? Ich bedaure Dich und Deine liebeFrau aufs Höchste.

N.(Die Gesundheit wieder rückwärts.)Lorenz hat die Rechnung annullirt und sich sehr entschuldigt. —

1009. An Georg Brandes in Kopenhagen

Nizza den 27. März 1888

Verehrter Herr,

ich wünschte sehr, Ihnen für einen so reichen und nachdenklichen Brief schonfrüher gedankt zu haben: aber es gab Schwierigkeiten mit meiner Gesundheit, sodaß ich in allen guten Dingen arg verzögert bin. An meinen Augen, anbeigesagt, habe ich einen Dynamometer meines Gesammtbefindens: sie sind,nachdem es in der Hauptsache wieder vorwärts, aufwärts geht, dauerhaftergeworden, als ich sie je geglaubt habe, — sie haben die Prophezeiungen derallerbesten deutschen Augenärzte zu Schanden gemacht. Wenn die Herren Gräfeet hoc genus omne Recht behalten hätten, so wäre ich schon lange blind. So binich — schlimm genug! — bei Nr. 3 der Brille angelangt, a b e r i c h s e h en o c h . Ich spreche von dieser Misère, weil Sie die Theilnahme zeigten, michdarnach zu fragen, und weil die Augen in den letzten Wochen besondersschwach und reizbar waren. —

Sie dauern mich in Ihrem dies Mal besonders winterlichen und düsterenNorden: wie hält man da eigentlich seine Seele aufrecht! Ich bewundere beinaheJedermann, der unter einem bedeckten Himmel den Glauben an sich nichtverliert, gar nicht zu reden vom Glauben an die „Menschheit“, an die „Ehe“, andas „Eigenthum“, an den „Staat“…

In Petersburg wäre ich Nihilist: hier glaube ich, wie eine Pflanze glaubt, andie S o n n e . Die Sonne Nizza’s — das ist wirklich kein Vorurtheil. Wir habensie gehabt, auf Unkosten vom ganzen Reste Europa’s. Gott läßt sie mit dem ihmeigenen Cynismus über uns Nichtsthuer, „Philosophen“ und Grecs schönerleuchten als über dem so viel würdigeren militärisch-heroischen „Vaterlande“—

Zuletzt haben auch Sie, mit dem Instinkte des Nordländers, das stärksteStimulans gewählt, das es giebt, um das Leben im Norden auszuhalten,denK r i e g , den a g g r e s s i v e n Affekt, den W i k i n g e r -Streifzug. Icherrathe aus Ihren Schriften den geübten Soldaten; und nicht nur die„Mittelmäßigkeit“, noch mehr vielleicht die Art der selbständigeren undeigeneren Naturen des nordischen Geistes mag Sie beständig zum Kampfeherausfordern. Wie viel „Pfarrer“, wie viel Theologie ist in all diesemIdealismus noch rückständig!… Dies wäre für mich schlimmer noch alsbedeckter Himmel, sich über Dinge entrüsten zu müssen, d i e E i n e nn i c h t s a n g e h n ! —

Ihr Erlebniß mit dem Leipziger Verleger Herrn Hermann Credner versteheich nur zu gut. Auch ich war vor zwei Jahren tief mit ihm engagirt, habe aber beidem ersten Anzeichen seiner absurden Verleger-Selbstherrlichkeit einen solchenSchreck gehabt, daß ich brüsk mein Manuscript telegraphisch zurückforderte. Er

ist voriges Jahr gerichtlich verurtheilt worden, weil er sich erlaubt hatte, in einerGeschichte der neueren deutschen Politik hinter dem Rücken des Autors durcheine heimtückische N a c h correktur die ganze T e n d e n z des Werkesumzudrehn! — Er ist der Verleger des deutschen Reichsgerichts. —

So viel für dies Mal: es ist wenig genug. Ihre „deutsche Romantik“ hat michdarüber nachdenken machen, wie diese ganze Bewegung eigentlich nur alsMusik zum Ziel gekommen ist (Schumann, Mendelsohn, Weber, Wagner,Brahms): als Litteratur blieb sie ein großes Versprechen. Die Franzosen warenglücklicher. — Ich fürchte, ich bin zu sehr Musiker, um nicht Romantiker zusein. Ohne Musik wäre mir das Leben ein Irrthum. — Es grüßt Sie, verehrterHerr, herzlich und dankbar

IhrNietzsche

1010. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)

<Nizza, 31. März 1888>

Lieber Freund,

so weit ist Alles vorbereitet, daß ich übermorgen früh nach T u r i n abreise. Ichglaube mich zu erinnern, daß Sie selbst mir einmal zu diesem Versuche gerathenhaben. Meine Absicht ist, daselbst zwei Monate zu bleiben, um dann direkt in’sEngadin zu gehn. Man rühmt mir die t r o c k n e Luft, die stillen Straßen, dieaußerordentliche Ausdehnung der Stadt, so daß ich, ohne mich dem Sonnenlichtauszusetzen, große Wege machen kann. H i e r gieng es nicht zum Besten. —Wie mag es in Ihrem Ve n e d i g sein? Ich bin öfters darnach gefragt worden,da die vortrefflichen Köchlin’s dorthin verreisen wollen. Der Winter ist einhartnäckiger Gesell, überall: nur hier nicht, scheint es. Meine Tischnachbarin,die Baronin Plänckner reist nach C o r t e ab: es geräth mir immer, Andre zudem zu verführen, wozu ich selbst nicht den Muth habe.

Ihnen von Herzen zugethanN.

Adresse: Torino, ferma in posta.1011. An Elisabeth Förster in Nueva Germania

N i z z a , Sonnabend vor Ostern <31. März> 1888Dies Mal, mein liebes Lama, bekommst Du auch den letzten Brief, den ich inNizza schreibe, wie Du den ersten von diesem Winter bekommen hast. Es machtmir großes Vergnügen zu denken, daß er Dich in Deiner neuen undselbstgeschaffenen Heimat begrüßen wird — und er soll Dir und Deinem

Bernhard meine allerherzlichsten Glückwünsche an der Schwelle dieses neuenDaseins zu Füßen legen. Nach Allem, was Du schreibst, zieht die Hoffnungzugleich mit Euch dort ein: und wenn wahrscheinlich das Leben etwas strengund arbeitsam sein wird, so dürft Ihr Euch mit dem Dichter trösten, deru n g e f ä h r gesagt hat: „nur der verdient die Freiheit und das Leben in NuevaGermania, der täglich sie erobern muß“ …

Was Du vom „Lebensloose“ sagst und „daß es eine schöne Sache sei, dazuzu passen“, scheint mir wirklich in Deinem Falle keine Selbsttäuschung. Es istalles ü b e r r a s c h e n d g u t vorwärts gegangen: so daß es mir mitunterbeikommt, Deine Attitüde nachzuahmen, von der Du schreibst und „mich aufden Rücken zu legen“. Auch dürft Ihr in jedem Sinn damit zufrieden sein, imlieben Europa zu f e h l e n : dieses starrt heute mit dem Heroismus eines Igels inWaffen und hat alle Sorten von Damokles-Schwertern über sich aufgehängt. Ichrede noch nicht einmal vom W i n t e r , vom härtesten Winter, von dem dieberühmten „ältesten Leute“ wissen: der gebildete Europäer ist im Kampfe mitallen Elementen — und, wie bekannt „die Elemente h a s s e n den gebildetenEuropäer“. Zum Mindesten glaubte Schiller so etwas Ähnliches. —

Wir hier in Nizza sind nicht schlecht dabei weggekommen: Gott läßt, wie esscheint, mit einem an ihm nicht ungewöhnlichen Cynismus, die Sonne überDeinen philosophisch-nihilistischen Nichtsnutz von Bruder schöner leuchten alsüber Herrn von Bismarck und die deutsche r e i c h s f r o m m e Tugend. Ichwollte, ich hätte selber diesen Winter etwas mehr „geleuchtet“: aber es gabdüstere Wochen, wo ich wie ein verdrossener Bär in der Höhle saß. Trotzdemglaube ich, daß es in der Hauptsache v o r w ä r t s gegangen ist und daß icheinen Schritt mehr aus der vieljährigen Misère und Décadence herausgetretenbin. Auch erleichtert es mich, meine „Litteratur“ abgethan zu haben: ich binsogar gebildet genug, sie nicht mehr zu mögen. Man schreibt keineMeisterwerke im Zustande der décadence: das gienge gegen dieNaturgeschichte! —

Wie sehr ich eigentlich krank gewesen bin, das weiß im Grunde Niemand.Und es ist gut so. —

Übermorgen früh geht es nach T o r i n o : das ist ein neuer Versuch, dieZwischenzeit bis zum Engadin (c. 10. Juni) auszuhalten, nachdem mir allebisherigen Versuche schmählich und schmerzlich mißrathen sind. Der Frühlingist meine s c h w a c h e Zeit. Turin hat eine energische Luft, sagt man mir,diet r o c k e n ist: es ist reinlich, großstädtisch, ruhig, sehr ausgedehnt, so daßes mir erlaubt, lange Wege im S c h a t t e n zu machen: während die Reizbarkeitmeiner Augen gerade in den Frühlingsmonaten besonders groß ist. Auch bin ich

der Schweizer etwas satt: zu viereckig und unbeholfen, wie auch der SchweizerStädte. — Nach dem Engadin ein Monat (c. 20. Sept. — 20. Okt.) Venedig: umden ersten Musiker, der jetzt lebt, zu erheitern und mich durch ihn. Dann,wahrscheinlich, wieder Nizza. — Es fehlen mir alle Wünsche. Wozu sollteIrgend-Etwas anders werden?… Nur brauche ich eine Art von Besinnung undConcentration, die nicht ihres Gleichen hat — von wegen der berühmten„Lebensaufgabe“, zu der ich bisher, wie ich fürchte, g a r n i c h t g e p a ß th a b e .

Mein liebes Lama, es umarmt Dich und Deinen „conquistadore da NuevaGermania“ viele Male

Dein F r i t z1012. An Franziska Nietzsche in Naumburg

Nizza, Sonnabend vor Ostern <31. März 1888>

Eben, meine liebe Mutter, ist Dein so herzlicher Brief eingetroffen: ichbeantworte ihn sofort, weil es der letzte Augenblick ist, noch ein paar Worte zuschreiben und weil ich Dir für die nächsten Monate meine Adresse geben muß.Ich reise Montag Morgen ab, nach T u r i n dies Mal: ein neuer Versuch, die fürmich so bedenkliche und schädliche Zeit den Frühling auszuhalten. Turin wirdvon Nizza in Einem Tage erreicht: Morgens um 6 Uhr fort, Abends um 1/2 7Ankunft. Turin ist eine große Stadt, mit prachtvollem Pflaster und weiten stillenStraßen: da kann ich Stunden lang, geschützt vor der Sonne spazierengehn, undin einem kräftigen Clima: denn die Alpen sind nicht weit davon, und die Windekommen von dort. Auch liegt es etwas hoch. Hoffentlich mißräth der Versuchnicht. Mein Wunsch ist, die Monate April und Mai dort zuzubringen und dannd i r e k t ins Engadin zu gehn. Es ist Alles nicht zu sehr von einander abseits.— Hier hatten wir ein sehr unruhiges Wetter, mitunter unausstehlich schwül,mächtige Gewitter, sehr frühlingsmäßig und den Nerven unzuträglich. Ichmußte meine Spaziergänge aufgeben. Auch der Wind weht jetzt am Tage ganzunangenehm gewaltsam. —

Das Hôtel ist immer noch voll; die Wintersaison zieht sich dies Mal sehr indie Länge. Daß ich „lebe wie ein Graf“, wie Du schreibst, hat mich lachengemacht: oh, es steht nicht gerade so mit mir, daß ich hier zu beneiden wäre. —

Anbei in der Form, die Du vorschlägst, das Quittungsbüchlein.Von Herzen Dich umarmend

Dein altes Geschöpf.Ich schreibe eben auch an’s Lama. Dies Mal bekommt es den l e t z t e n

Brief aus Nizza, wie ich ihr den e r s t e n diesen Winter geschrieben habe. —

Adresse Al Sigre illustmo Signore Dottore N i e t z s c h e ferma in postaTorino Italia1013. An Heinrich Köselitz in Venedig

Turin, den 7. April1888.

Lieber Freund,

wie hat mir das wohlgethan! Der erste Gruß, der mich hier empfieng, war vonIhnen; und der letzte, der mich in Nizza erreichte, war auch von Ihnen. Und wiegute seltsame Dinge meldeten Sie! Daß Ihr Quartett in irgend welcherkalligraphischen Vollkommenheit vor Ihnen liegt und daß Sie seinethalben nunauch diesen Winter segnen! Im Grunde wird man eine sehr anspruchsvolle ArtMensch, wenn man bei sich sein Leben durch Werke s a n k t i o n i r t :namentlich verlernt man damit, den Menschen zu gefallen. Man ist zu e r n s t ,sie spüren das: es ist ein teufelsmäßiger Ernst hinter einem Menschen, der vorseinem Werke R e s p e k t h a b e n w i l l ..

Lieber Freund, ich benutze die erste Windstille einer sehr stürmischen Fahrt,um an Sie zu schreiben. Vielleicht giebt mir dies einige Ruhe und Haltung: dennich war bisher außer Rand und Band und bin noch nie unter so ungünstigenVerhältnissen g e r e i s t . Ist es möglich, zwischen Montag und Samstag so vielabsurde Dinge zu erleben! Es mißrieth Alles, von Anfang; ich lag zwei Tagekrank, wo? — in Sampierdarena. Glauben Sie ja nicht, daß ich dahin habe reisenwollen. Nur mein Koffer hatte die ursprüngliche Intention nach Turinfestgehalten; wir Andern, nämlich mein Handgepäck und ich, giengen inverschiednen Richtungen auseinander. Und wie theuer war die Reise! Wiebereicherte man sich an meiner Armut! Ich bin wirklich nicht gemacht mehrzum Alleinreisen: es regt mich zu sehr auf, so daß ich Alles dumm anfange.Auch hier gieng es zunächst drunter und drüber. Nachts schlaflos, erstaunt, nichtbegreifend, was der Tag Alles gebracht hatte. — Wenn ich Sie einmal wiedersehe, will ich Ihnen eine Scene in S a v o n a beschreiben, die einfach in diefliegenden Blätter gehörte. Nur machte sie mich krank. —

In Genua bin ich herumgegangen wie ein Schatten unter lauterErinnerungen. Was ich einstmals dort liebte, fünf sechs ausgesuchte Punkte,gefiel mir jetzt noch mehr: es schien mir von unvergleichlicher b l e i c h e rnoblesse und hoch über Allem, was die Riviera bietet. Ich danke meinemSchicksal, daß es mich in diesen harte und düstre Stadt in den Jahren derdécadence verurtheilt hatte: geht man aus ihr heraus, so ist man auch jedes Malaus sich heraus gegangen — der Wille w e i t e t sich wieder, man hat nicht den

Muth mehr, feige zu sein. Ich war nie dankbarer als bei dieser Eremitage beiGenua. —

Aber T u r i n ! Lieber Freund, seien Sie beglückwünscht! Sie rathen mirnach dem Herzen! Das ist wirklich die Stadt, die ich j e t z t brauchen kann!Dies ist handgreiflich für mich und war es fast vom ersten Augenblick an: wieschauderhaft auch die Umstände meiner ersten Tage waren. Vor allemmiserables Regenwetter, eisig, unbeständig, auf die Nerven drückend, mitschwülen halben Stunden dazwischen. Aber was für eine würdige und ernsteStadt! Gar nicht Großstadt, gar nicht modern, wie ich gefürchtet hatte: sonderneine Residenz des 17 Jhs. welche nur Einen commandirten Geschmack in Allemhatte, den Hof und die noblesse. Es ist die aristokratische R u h e in Allemfestgehalten: es giebt keine mesquinen Vorstädte; eine Einheit des Geschmacks,die bis auf die Farbe geht (die ganze Stadt ist gelb, oder rothbraun) Und für dieFüße wie für die Augen ein klassischer Ort! Was für Sicherheit, was für Pflaster,gar nicht zu reden von den Omnibus und trams, deren Einrichtung hier bis insWunderbare gesteigert ist! Man lebt, scheint es, billiger hier als in den anderngroßen Städten Italiens, die ich kenne; auch hat mich noch Niemand betrogen.Man hält mich für einen „ufficiale tedesco“ (während ich diesen Winter imoffiziellen Fremden-Verzeichniß Nizza’s comme Polonais figurirte) Nein, wasfür ernste und feierliche Plätze! Und der Palaststil ohne Prätension; die Straßensauber und ernst — und Alles viel würdiger als ich es erwartet hatte! Dieschönsten Cafés, die ich sah. Diese Arkaden haben bei einem solchen Wechsel-Clima etwas Nothwendiges: nur sind sie großräumig, sie drücken nicht. Abendsauf der P o b r ü c k e : herrlich! Jenseits von Gut und Böse!!

Das Problem bleibt das W e t t e r Turins. Ich habe außerordentlich bisherunter ihm gelitten: ich erkannte mich kaum wieder. — Es grüßt Sie in dankbarerErgebenheit Ihr Freund

Nietzsche1014. An Georg Brandes in Kopenhagen

Torino (Italia)ferma in posta

den 10. April 1888.

Aber, verehrter Herr, was ist das für eine Überraschung! — Wo haben Sie denMuth hergenommen, von einem vir obscurissimus öffentlich reden zu wollen!..Denken Sie vielleicht, daß ich im lieben Vaterlande bekannt bin? Man behandeltmich daselbst, als ob ich etwas Absonderliches und Absurdes wäre, etwas, dasman einstweilen nicht nöthig hat, e r n s t z u n e h m e n … Offenbar wittern

sie, daß auch ich sie nicht ernst nehme: und wie sollte ichs auch, heute, wo„deutscher Geist“ ein contradictio in adjecto geworden ist! —

Für die Photographie bedanke ich mich auf das Verbindlichste. Leider giebtes nichts dergleichen auf meiner Seite: die letzten Bilder, die ich besaß, hatmeine Schwester, die in Südamerika verheirathet ist, mit davon genommen.

Anbei folgt eine kleine vita, die erste, die ich geschrieben habe. Was dieAbfassungszeiten der einzelnen Bücher betrifft, so stehen sie auf dem Titel-Rückblatt von „Jenseits von Gut und Böse“. Vielleicht haben Sie das Blatt nichtmehr.

„Die Geburt der Tragödie“ wurde zwischen Sommer 1870 und Winter 1871abgefaßt (beendet in Lugano, wo ich zusammen mit der Familie desFeldmarschall Moltke lebte)

Die „Unzeitgemäßen Betrachtungen“ zwischen 1872 und Sommer 1875 (essollten 13 werden: die Gesundheit sagte glücklicher Weise Nein!)

— Was Sie über „Schopenhauer als Erzieher“ sagen, macht mir großeFreude. Diese kleine Schrift dient mir als Erkennungszeichen: wem sienichtsP e r s ö n l i c h e s erzählt, der hat wahrscheinlich auch sonst nichts mitmir zu thun. Im Grunde steht das Schema darin, nach dem ich bisher gelebthabe: sie ist ein strenges Ve r s p r e c h e n .

„Menschliches, Allzumenschliches“ sammt seinen zwei FortsetzungenSommer 1876—1879. Die „Morgenröthe“ 1880. Die „fröhlicheWissenschaft“J a n u a r 1882. Zarathustra 1883 — 85 (jeder Theil in ungefährzehn Tagen. Vollkommener Zustand eines „Inspirirten“, Alles unterwegs, aufstarken Märschen concipirt: absolute Gewißheit, als ob jeder Satz Einemzugerufen wäre. Gleichzeitig mit dem Gefühl größter körperlicher Elasticitätund Fülle —)

„Jenseits von Gut; und Böse“, Sommer 1885 im Oberengadin u. den folg.Winter in Nizza.

Die „Genealogie“, zwischen dem 10. und 30. Juli 1887 beschlossen,durchgeführt und druckfertig an die Leipziger Druckerei geschickt.

(Natürlich giebt es auch P h i l o l o g i c a von mir. Das geht aber u n sBeide nichts mehr an.)

Ich mache eben einen Versuch mit T u r i n , ich will hier bis zum 5ten Junibleiben, um dann ins Engadin zu gehn. Winterlich, hart, böse bis jetzt. Aber dieStadt superb ruhig und meinen Instinkten schmeichelnd. Das schönste Pflasterder Welt.

Es grüßt Sie Ihr dankbar ergebener

Nietzsche

Ein Jammer, daß ich weder Dänisch noch Schwedisch verstehe! —V i t a . — Ich bin am 15. Okt. 1844 geboren, auf dem Schlachtfelde von

L ü t z e n . Der erste N a m e , den ich hörte, war der Gustav Adolfs. MeineVorfahren waren polnische Edelleute (Niëzky); es scheint, daß der Typus guterhalten ist, trotz dreier deutscher „Mütter“. Im Auslande gelte ich gewöhnlichals Pole; noch diesen Winter verzeichnete mich die Fremdenliste Nizza’scomme Polonais. Man sagt mir, daß mein Kopf auf Bildern Matej<k>o’svorkomme. Meine Großmutter gehörte zu dem Schiller-Goethe’schen KreiseWeimars; ihr Bruder wurde der Nachfolger Herders in der Stellung desGeneralsuperintendenten Weimars. Ich hatte das Glück, Schüler derehrwürdigen S c h u l p f o r t a zu sein, aus der so Viele (Klopstock, Fichte,Schlegel, Ranke usw usw), die in der deutschen Litteratur in Betracht kommen,hervorgegangen sind. Wir hatten Lehrer, die jeder Universität Ehre gemachthätten (oder h a b e n —) Ich studirte in Bonn, später in Leipzig; der alteR i t s c h l , damals der erste Philolog Deutschlands, zeichnete mich fast vonAnfang an aus. Ich war mit 22 Jahren Mitarbeiter des „litterarischenCentralblattes“ (Zarncke) Die Gründung eines philologischen Vereins inLeipzig, der jetzt noch besteht, geht auf mich zurück. Im Winter 1868—69 trugmir die Universität Basel eine Professur an; ich war noch nicht einmal Doktor.Die Universität Leipzig hat mir die Doktorwürde h i n t e r d r e i n gegeben, aufeine sehr ehrenvolle Weise, ohne jedwede Prüfung, selbst ohne eineDissertation. Von Ostern 1869—1879 war ich in Basel; ich hatte nöthig, meindeutsches Heimatsrecht aufzugeben, da ich als Offizier („r e i t e n d e rA r t i l l e r i s t “) zu oft einberufen und in meinen akademischen Funktionengestört worden wäre. Ich verstehe mich, nichtsdestoweniger, auf zwei Waffen:Säbel und Kanonen — und, vielleicht, noch auf eine dritte… Es gieng Alles sehrgut in Basel, trotz meiner Jugend; es kam vor, bei Doktorpromotionennamentlich, daß der Examinand älter war als der Examinator. Eine große Gunstwurde mir dadurch zu Theil, daß zwischen Jakob B u r c k h a r d t und mir eineherzliche Annäherung zu Stande kam: etwas Ungewöhnliches bei diesem sehreinsiedlerischen und abseits lebenden Denker. Eine noch größere Gunst, daß ichvom Anfang meiner Basler Existenz an in eine unbeschreiblich nahe Intimitätmit Richard und Cosima W a g n e r gerieth, die damals auf ihrem LandguteTribschen bei Luzern wie auf einer Insel und wie abgelöst von allen früherenBeziehungen lebten. Wir haben einige Jahre alles Große und Kleine gemeinsamgehabt: es gab ein Vertrauen ohne Grenzen. (Sie finden in den gesammeltenSchriften Wagners (Band 7) ein „S e n d s c h r e i b e n “ desselben an michabgedruckt, bei Gelegenheit der „Geburt der Tragoedie“) Von jenen

Beziehungen aus habe ich einen großen Kreis interessanter Menschen (u n d„Menschinnen“) kennen gelernt, im Grunde fast Alles, was zwischen Paris undPetersburg wächst. Gegen 1876 verschlimmerte sich meine Gesundheit. Ichbrachte damals einen Winter in Sorrent zu, mit meiner alten Freundin derBaronin Meysenbug („Memoiren einer Idealistin“) und dem sympathischen Dr.Rée. Es wurde nicht besser. Ein äußerst schmerzhaftes und zähes Kopfleidenstellte sich heraus, das alle meine Kräfte erschöpfte. Es steigerte sich in langenJahren bis zu einem Höhepunkt habitueller Schmerzhaftigkeit, so daß das Jahrdamals für mich 200 Schmerzenstage hatte. Das Übel muß ganz und garl o k a l e Ursachen gehabt haben: es fehlt jedwede neuropathologischeGrundlage. Ich habe nie ein Symptom von geistiger Störung gehabt; selbst keinFieber, keine Ohnmacht. Mein Puls war damals so langsam wie der des erstenNapoleons (= 60) Meine S p e z i a l i t ä t war, den extremen Schmerz cru, vertmit vollkommener Klarheit zwei bis drei Tage hintereinander auszuhalten, unterfortdauerndem Schleim-Erbrechen. Man hat das Gerücht verbreitet, als ob ichim Irrenhause gewesen sei (oder gar darin gestorben sei) Nichts istirrthümlicher. Mein Geist wurde sogar in dieser fürchterlichen Zeit erst r e i f :Zeugniß die „Morgenröthe“, die ich in einem Winter von unglaublichem Elendin Genua, abseits von Ärzten, Freunden und Verwandten, geschrieben habe.Dies Buch ist eine Art „Dynamometer“ für mich: ich habe es mit einemM i n i m u m von Kraft und Gesundheit verfaßt. Von 1882 an ging es, s e h rlangsam freilich, wieder aufwärts: die Krisis schien überwunden (— mein Vaterist sehr jung gestorben, exakt in dem Lebensjahr, in dem ich selbst dem Tode amnächsten war) Ich habe auch heute noch eine extreme Vorsicht nöthig; ein paarBedingungen klimatischer und meteorologischer Art sind unerläßlich. Es istnicht Wahl, sondern Z w a n g , daß ich die Sommer im Oberengadin, die Winteran der riviera zubringe … Zuletzt hat mir die Krankheit den a l l e r g r ö ß t e nN u t z e n gebracht: sie hat michh e r a u s g e l ö s t , sie hat mir den Muth zumir selbst zurückgegeben… Auch bin ich, meinen Instinkten nach, ein tapferesThier, selbst ein militärisches: der lange Widerstand hat meinen Stolz ein wenigexasperirt. — Ob ich ein P h i l o s o p h bin? — Aber was liegt daran!..1 essay(s) in Contexta1015. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig (Postkarte)

T u r i n , 10. April 1888.Werthester Herr Verleger, es wird Ihnen von Interesse sein, zu hören, daß derausgezeichnete Däne, Dr. Georg Brandes an der Kopenhagener Universitäteinen Cyklus öffentlicher Vorlesungen „über den deutschen PhilosophenF r i e d r i c h N i e t z s c h e “ veranstaltet. Können Sie dieser Notiz nicht

einige Verbreitung verschaffen? (— es würde mir Vergnügen machen, wenn Siedieselbe zum Beispiel in das Leipziger Tageblatt einschmuggeln könnten)Adresse bis Juni: T o r i n o (Italia) ferma in posta

N.1016. An Franz Overbeck in Basel

T o r i n o (Italia) ferma in posta10 April 1888.

Lieber Freund,

ich argwöhne, daß Du mit Deinem kleinen Sprung nach dem Süden dem bösenWetter nicht entsprungen bist. Es muß ungefähr überall abscheulich gewesensein. Auch mir hat es arg zugesetzt. Die Reise von Nizza bis Turin, anscheinendeine kleine Sache, war vielleicht die unglücklichste Reise, die ich gemacht habe.Eine tiefe Schwäche überfiel mich unterwegs: so daß ich Alles falsch und dummmachte. Es wurde mir ad oculos (— u n d leider auch ad saccum „Geldbeutel“demonstrirt, daß ich das Allein-Reisen nicht mehr riskiren sollte. Schließlich lagich zwei Tage in einem affreusen Zustande krank — wo? inS a m p i d iA r e n a ! Obwohl ich ein Billet nach Turin hatte! Aber siehe da, beimUmsteigen aus einem Zuge in den andern, war ich in Etwas Falschesgestiegen…

Der Coffer hat in braver Weise den Grundgedanken der Reise aufrechterhalten; das Handgepäck hatte sich zerstreut, so daß es Mühe gab, es wiederzusammen zu telegraphiren. —

Ich mache einen sehr erwogenen Versuch mit T u r i n . Mein Wunsch ist,hier bis zu Anfang Juni auszuhalten, um direkt dann ins Engadin zu gehn. —

Die Stadt ist mir auf eine unbeschreibliche Weise sympathisch; Turin ist dieeinzige Großstadt, die ich gern habe. Irgend etwas Ruhiges undZurückgebliebenes schmeichelt meinen Instinkten. Ich gehe diese würdigenStraßen mit Entzücken. Und wo giebt es solch ein Pflaster! Ein Paradis für dieFüße, auch für meine Augen!… Der Frühling ist m e i n e böse Jahreszeit,gerade die Augen pflegen absurd reizbar zu sein. Ich rechne hier auf einegewisseE n e r g i e der Luft, bedingt durch die nahen Alpen: bis jetzt habe ichmich nicht verrechnet. Die Einwohner sind mir angenehm, ich bin wie zuHause. Man nimmt mich come un uffiziale tedesco: durchaus kein üblerEindruck unter den jetzigen politischen Verhältnissen! — Auch lebe ich billigerhier als in Nizza, Venedig, Schweiz. Ein Zimmer, an der süperben piazza CarloAlberto, 25 frs. den Monat, mit Bedienung. Ich esse in einem sehr gutenRestaurant; da ich aber wenig esse (immer nur eine minestra und e i n Fleisch),

so halte ich diesen Luxus aus (— unter uns, ich wurde fast krank vor Degout anden gewöhnlicheren trattorie)

Auch bin ich wieder in voller Arbeit; und Augen und Kopf sind gutwillig: —was in Nizza nicht mehr der Fall war. — K ö s e l i t z meldet zu meiner großenErbauung, daß sein Quartett fertig geworden ist. S e y d l i t z schrieb allerliebstaus Aegypten (wohin er „Weib, Mutter, Hund und Diener“ mitgenommen hat)Aus Dänemark langte ein Zeitungsausschnitt an, der mich unterrichtete, daß Dr.B r a n d e s an der Kopenhagener Universität einen Cyklus öffentl.Vorlesungen„om den tyske Filosof F r i e d r i c h N i e t z s c h e “ hält.

Mit dem herzlichsten Wunsche für Dich und Deine Gesundheit, und michangelegentlich Deiner lieben Frau zu Gnaden empfehlend

Dein FreundNietzsche

1017. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)

<Turin,> 11. April 1888

Heute nur die Nachricht, meine liebe Mutter, daß ich wenn auch nicht glücklich,so doch mit Haut und Haar in Turin eingetroffen bin. Die Reise war böse; ichlag unterwegs zwei Tage krank. Turin selbst gefällt mir ausnehmend; meinLebensmuth ist wieder im Wachsen.

Herrn Köselitz hast Du sehr glücklich durch einen Brief gemacht; er hat mirmit wahrer Rührung darüber geschrieben. —

Eine Nachricht, die Dich vielleicht erbauen wird. An der UniversitätKopenhagen hält der geistreichste dänische Gelehrte, Dr. Brandes einenC y k l u s ö f f e n t l i c h e r Vo r l e s u n g e n über Dein altes Geschöpf.Unter dem Titel „Der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche“.

Adresse: Torino (Italia) ferma in posta.1018. An Carl Fuchs in Danzig

Turin, den 14. April 1888.

Lieber und werther Herr Doktor,

ich habe auch hier wie in Nizza Ihr Bild vor mir auf dem Tische: was Wunders,wenn mich gar nicht selten die Lust ankommt, mit Ihnen zu reden? Und daßich’s thue? — Wozu, frage ich mich, diesen absurde Entfremdung durch denRaum (durch jenen Raum, von dem die Philosophen sagen, er sei von unserfunden —), diese L ü c k e zwischen den wenigen Menschen, die sich etwaszu sagen hätten! — —

Kennen Sie Turin? Das ist eine Stadt nach meinem Herzen. Sogar dieeinzige. Ruhig, fast feierlich. Klassisches Land für Fuß und Auge (durch einsüperbes Pflaster und einen Farbenton von gelb und braunroth, in dem Alleseins wird). Ein Hauch gutes achtzehntes Jahrhundert. Paläste, wie sie u n s zuSinnen reden: n i c h t Renaissance-Burgen. Und daß man mitten in der Stadtdie Schnee-Alpen sieht! Daß die Straßen schnurgerade in sie hineinzulaufenscheinen! Die Luft trocken, sublim-klar. Ich glaubte nie, daß eine Stadt durchLicht so schön werden könnte.

Fünfzig Schritt von mir der palazzo Carignano (1670): mein grandioses Vis-à-Vis. Noch einmal fünfzig Schritt das teatro Carignano, wo man gerade sehrachtungswürdig „Carmen“ präsentirt. Man kann halbe Stunden in Einem Athemdurch hohe Bogengänge gehn. Hier ist Alles frei und weit gerathen, zumal diePlätze, so daß man mitten in der Stadt ein stolzes Gefühl von Freiheit hat.

Hierher habe ich mein Huckepack von Sorgen und Philosophie geschleppt.Bis zum Juni wird es gehn, ohne daß die Hitze mich quält. Die Nähe der Bergegarantirt eine gewisse Energie, selbst Rauhigkeit. Dann kommt meine alteSommer-Residenz Sils-Maria an die Reihe: das Oberengadin, m e i n eLandschaft, so fern vom Leben, so metaphysisch.. Und dann ein MonatVenedig: ein geweihter Ort für mein Gefühl, als Sitz (Gefängniß, wenn manwill) des einzigen Musikers, der mir Musik macht, wie sie heute unmöglicherscheint: tief, sonnig, liebevoll, in vollkommener Freiheit unter dem Gesetz —

Irgendwo und irgendwann las ich, daß man nur in wenig StädtenDeutschlands Schopenhauer’s Gedächtniß gefeiert habe. Man hob Danzighervor. Dabei gedachte ich Ihrer.

Wie Alles davon läuft! Wie Alles auseinander läuft! Wie still das Lebenwird! Kein Mensch, der mich kennte, weit und breit. Meine Schwester inSüdamerika. Briefe immer seltner. Und man ist noch nicht einmal a l t !!!! N u rPhilosoph! N u r abseits! N u r compromittirend abseits! —

Ein curiosum: eben trifft ein Zeitungsblatt aus Dänemark ein. Daraus lerneich, daß an der Kopenhagener Universität ein Cyklus öffentlicher Vorlesungen„om den tüske filosof Friedrich Nietzsche“ gehalten wird. Der Vortragende istder Privatdozent Dr. Georg Brandes. —

Erzählen Sie mir ein wenig von Ihrem Schicksale, werther Freund! Wohintreibt jetzt das Schiff? Und warum liest man nicht Ihre gesammelten Critica? Ichhörte von Niemanden lieber W e r t h u r t h e i l e de rebus musicis etmusicantibus.

Treulich der Ihre Nietzsche.

(Torino, ferma in posta1 essay(s) in Contexta1019. An Resa von Schirnhofer in Zürich

Torino, den 14. April 1888.

Mein sehr liebes Fräulein Resa,

aber das ist hübsch und sogar mehr als hübsch, daß Sie mir dies schreiben. Nurmuß man nach Turin kommen, um mich jetzt zu haben. Der Frühling hat mirbisher überall erbärmlich zugesetzt, am schlimmsten in Ihrem Zürich; ich habees verschworen, diesen Fehler zu wiederholen. Turin ist eine süperbe Stadt; dieWinde des Hochgebirges reinigen sie von allem Weichlichen und Feuchten. Esgab bereits Tage, die in Licht, Klarheit und Trockenheit vollkommen desEngadins würdig waren. Ich will hier bis zum 5ten Juni bleiben und dann direkt— Mailand, Como, Chiavenna — nach meiner Sommer-Residenz Sils-Mariaübersiedeln. Es würde mich freuen, wenn Ihre Pläne sich irgend wie mit denmeinen zusammenfädeln ließen: machen Sie einen kleinen Versuch P a r z e zuspielen!…

Ich wohne hier gegenüber dem grandiosen palazzo Carignano (in demVittore Emanuele geboren ist), „werthe Werthe um“ — hoffentlich verstehn Siediesen Tropus? — und ergötze mich Abends bald an vorzüglichem gelato, baldan einer guten Aufführung von Carmen, — Alles fünf Schritte weit von mir.Eigentlich giebt es keine so honnette und vornehme Stadt wie dies Turin:klassisches Pflaster, sublime portici und der Ernst feierlicher Plätze. Dabei still.Die Schneealpen mitten in der Stadt sichtbar. Man glaubt, daß die Straßen direktsich in sie verlaufen.

— Ich wohne via Carlo Alberto Nr. 6, piano quarto. —Es grüßt Sie, verehrtes Fräulein so herzlich wie möglich

der alte PhilosophBrummbär und Immoralist

Nietzsche.1020. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig

<Turin, kurz nach dem 14. April 1888>

Lieber Herr Fritzsch,

mit beiliegendem Briefe, den ich zu lesen bitte, meldet sich ein in N e w Yo r klebender Bewunderer meines Zarathustra, bereit, meinen Schriften überhauptdurch einen englisch geschriebenen Essai in seinem Lande „zur gebührendenAchtung zu verhelfen“. Die beigelegte Liste seiner eignen Schriften, litterar-

und kulturhistorischen Inhalts, scheinen eine gewisse Garantie zu geben: siegeben sogar zu verstehn, daß wir es mit einer Hauptpersonnage deslitterarischen Völker-Verkehrs zu thun haben. Entscheiden Sie vollkommennach Ihrem Ermessen, ob seinem Wunsche beizupflichten ist. Principiell weisenalle meine Erfahrungen darauf hin, daß meine Wirksamkeit p e r i p h e r i s c hbeginnt und erst von da aus auf das „Vaterland“ zurückströmen wird. Ebenmeldet man mir, daß ein im Auftrage des F l o r e n t i n e r Archivio storicogemachter sehr umfänglicher Gesammtbericht über neuere deutscheGeschichtslitteratur meine Gesichtspunkte aus der 2. UnzeitgemäßenB<etrachtung> sehr zu Ehren bringt: diese italiänische Publikation desgenannten Archivio Stor<ico> läuft in das Lob meiner Ansichten aus. — GebenSie mir mit drei Worten Nachricht, was geschehn soll. Im entsprechenden Fallwill ich selbst noch ein Paar Worte nach New-York schreiben.

Hochachtungsvoll Ihrergebenster

Prof. Dr NietzscheAdresse bis 4. Juni: T o r i n o (Italia) ferma in postavon da an: S i l s - M a r i a , Oberengadin, Schweiz.1021. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)

<Turin, 18. April 1888>

Lieber Freund, ich habe neulich eine Sache vergessen, über die Du Auskunfthaben mußt. Nämlich die Frage, was mit dem unausstehlichen „Kunstwart“werden soll. Meine Bitte ist, daß Du Herrn Ferdinand Avenarius (Dresden,Redaktion des „Kunstwart“) eine höfliche Karte schreibst: daß Prof. Nietzschehiermit den W u n s c h a u s d r ü c k e , daß die ferneren Nummern desKunstwart ihm nicht mehr zugesandt werden (oder irgend etwas derart) Duersparst mir damit, daß ich einen unhöflichen Brief schreibe (— der betr.Avenarius hat mich drangsalirt mit Liebenswürdigkeiten..) Er glaubt, daß ichbegeistert für dies Schund- und Schandblatt bin —!

Herrliches Wetter. Verbesserte Gesundheit. Was macht das „Haus“?

Dein N.1022. An Heinrich Köselitz in Venedig

T o r i n o , Freitag. <20. April 1888>Briefe wie bisher ferma in posta

Lieber Freund,

wie merkwürdig ist das Alles! Daß nun doch noch der Stern über B e r l i n

aufgehn soll! Daß es wieder einen kleinen Flügelschlag der Hoffnung giebt! —Eigentlich gehört die D i v e r s i o n Ihrer letzten Zeit, von der Sie melden, zuden unwahrscheinlichsten und unvorhergesehensten Dingen, die auf dieser Erdemöglich sind. Man glaubt wieder an’s W u n d e r : ein großer Fortschritt in derKunst zu leben!… Daß da etwas Heiteres und Buntes Ihnen über den Weggeflogen ist, das macht mich ganz glücklich, lieber Freund: denn genau dashätte Ihnen geschafft werden sollen — aber was sind wir A n d e r n alle fürdüstere Esel und Nachteulen!… Da war einmal die K r a u s e ’sche Philosophieam Platz — und n i c h t die Nietzschesche! …

Was l e t z t e r e angeht, so muß es wirklich so Etwas geben, so fern maneiner d ä n i s c h e n Zeitung trauen darf, die neuerdings bei mir anlangte. Siemeldet, daß an der Universität in Kopenhagen ein Cyklus öffentlicherVorlesungen „om den tüzke Filosof Friedrich Nietzsche“ abgehalten wird. Vonwem? Sie errathen es!… Was man diesen Herrn Juden noch Alles verdankenwird! — Denken Sie einmal an meine Leipziger Freunde an der Universität: undwievielM e i l e n weit sie von dem Gedanken entfernt sind, über mich zu lesen!—

Turin, lieber Freund, ist eine c a p i t a l e Entdeckung. Ich sage Einigesdarüber, mit dem Hintergedanken, daß unter Umständen auch Sie davon Nutzenziehn könnten. Ich bin guter Laune, in Arbeit von früh bis Abend — ein kleinesPamphlet über Musik beschäftigt meine Finger — verdaue wie ein Halbgott,schlafe, trotz dem daß die Carossen Nachts vorüber rasseln: alles Zeichen einereminenten Adaptation von Nietzsche an Torino. Das thut die L u f t : — trocken,anregend, lustig; es gab Tage mit dem allerschönsten Engadin-Charakter derLuft. Wenn ich an meine Frühlinge anderswo denke, z. B. in Ihrerunvergleichlichen Zauber-Muschel: wie groß ist der Gegensatz: der erste Ort, indem ich m ö g l i c h bin!… Und dabei Alles entgegenkommend, die Menschensympathisch und guten Muths. Man lebt b i l l i g : 25 fs. mit Bedienung einZimmer im historischen Centrum der Stadt, vis-à-vis dem grandiosen palazzoCarignano von 1780: fünf Schritt von den großen portici und dem piazzoCastello, von der Post, vom teatro Carignano! — In letzterem, seitdem ich hierangekommen bin, C a r m e n : natürlich!!! successo piramidale, tutto Torinocarmenizzato! Der gleiche Capellmeister wie in Nizza. Außerdem Lala Roekhvon Fél<icien> David, dem Lehrer Bizets. Ein junger Componist führt eineOperette auf, zu der er selbst den Text gedichtet hat, Herr Miller junior. ImAdreßbuch sind 21 Componisten verzeichnet, 12 Theater, eine accademiaphilarmonica, ein Lyceum für Musik und eine Unzahl von Lehrern allerInstrumente. Moral: beinahe ein M u s i k - O r t ! — Die weiträumigen hohen

portici sind ein S t o l z : ihre Ausdehnung beträgt 20 020 Meter d. h. zwei guteStunden zum Marschiren. D r e i sprachige große Buchhandlungen. Dergleichenhabe ich noch nirgends getroffen. Die Firma Löscher sehr aufmerksam für mich.Ihr jetziger Chef Hr. Clausen unterrichtet mich in vielen Dingen (— ich erwägeim Stillen die Möglichkeit eines Winters hierselbst) Eine treffliche Trattoria, woman den deutschen Professor aufs Artigste behandelt: ich zahle für jedeMahlzeit incl. Trinkgeld 1 fs. 25 ct. (minestra oder risotto, ein gutes StückBraten, Gemüse und Brod — alles schmackhaft!) Das Wasser herrlich; der Caféin den ersten Cafés 20 ct. das Kännchen; das Eis, höchste Cultur, 30 ct. DiesAlles giebt Ihnen einen Begriff. —

Heute ist der Himmel bedeckt und regnerisch. Aber es scheint mir nicht, daßich verdrießlich bin. Vom Sommer sagt man mir, daß bloß 4 Stunden des Tagswirklich heiß sind. Die Morgen und die Abende erfrischt. Man sieht mitten ausder Stadt heraus in die Schneewelt hinein: es scheint, daß man nichts zwischensich hat, daß die Straßen direkt in die Alpen hineinlaufen. Der Herbst soll dieschönste Zeit sein. Zuletzt muß ein Energie-gebendes Element hier in der Luftsein: wenn man hier heimisch ist, wird man K ö n i g von Italien…

Soviel, mein lieber alter Freund! Es grüßt Sie auf das Herzlichste

Ihr N.Ich moralisire so: Sie brauchen einen Ort, wo Sie das ganze Jahr leben

können, aber unter anderen meteorologischen Einflüssen als in Venedig,vielleicht auch der Musik benachbarter, der Aufführbarkeit… Und I t a l i e nsollten wir festhalten!!!!!!

Erzählen Sie mir noch ein wenig von Ihrem Quartett. Wohin es führt.1 essay(s) in Contexta1023. An Franziska Nietzsche in Naumburg

Turin, <20. April 1888> F r e i t a g .Endlich bekommt auch meine alte Mutter wieder einen Brief von ihrem Sohn,der in Turin sitzt und die Ohren in die Arbeit versteckt hat. Das ist, wie Dufinden wirst, ein g u t e s Zeichen: denn bisher war an all den Orten, wo ichmeine Frühlinge zubrachte, an Arbeit nicht zu denken. Der Geist widerwillig,das Fleisch schwach; der Magen ohne Kraft.. H i e r giebt es eine herrlichet r o c k n e Luft, die ich noch nicht in einer Stadt gefunden habe. Sehranregend, sehr Appetit machend: es gab Tage, wo ich wie im Engadin zu seinglaubte. Die Nähe des Hochgebirges ist dabei der entscheidende Faktor: auf dreiSeiten von Turin hat man die Schneealpen vor sich. Hübsch in der Ferne,natürlich: aber doch so, daß man mitten in der Stadt direkt in die Hochgebirgs-Welt hineinschaut: wie als ob die Straßen darin endeten. — —

Turin ist eine prachtvolle und vornehme Stadt, mit schönen Plätzen undPalästen überhäuft. G r o ß außerdem: 270 000 Einwohner. Sitz mehrererFürsten, auch des obersten Generalstabs, sehr militärisch: sodannU n i v e r s i t ä t ; 12 Theater, darunter ausgezeichnete. Die Buchhandlungen fürdrei Sprachen (italiänisch, deutsch und französisch) gleich gut assortirt. —

Eigentlich ist es die einzige Stadt, in der ich gern lebe. Ihr Stolz sind dieherrlichen hochräumigen Portici, Säulen- und Hallengänge, die alleHauptstraßen entlang laufen, so großartig, wie man im ganzen Europa keinenBegriff hat, überdies weithin die Stadt durchziehend, in einerGesammtausdehnung von 10 020 Meter (d. h. zwei Stunden gut zu marschiren)Damit ist man gegen jedes Wetter geschützt: und eine Sauberkeit, eineSchönheit von Stein und Marmor, daß man wie in einem Salon zu sein glaubt.

Seltsam! Dabei lebe ich billiger hier als in Nizza und Engadin; billiger auchals in Leipzig. Ich wohne, an der feierlichen piazza Carlo Alberto, gegenüberdem grandiosen palazzo Carignano und zahle für mein hübsches Zimmer (mitBedienung) 25 frs. (=20 Mark) den Monat (Centrum der Stadt, geschätztesteLage, schöner palazzo) Für eine sehr schmackhafte Mahlzeit zahle ich, Alles,selbst Trinkgeld eingerechnet, nach Eurem Gelde e i n e Mark (— und esschmeckt mir zehn Mal besser als in Leipzig, wo ich Widerwillen vor der Küchehabe) Der Café in den ersten Café’s (großartig und glänzend, wie man keineVorstellung bei Euch hat) 16 Pfennige, das Eis 24 Pfennige: aber Alles vielbesser als man es in Deutschland versteht. Das Wasser ist ausgezeichnet,Gebirgswasser: das Brod insgleichen. Man ißt zu allen Sachen ganz dünneBrodröhrchen, grissini genannt, die sich knuppern <lassen> und überdies demMagen sehr zuträglich sind. Ich vergaß die Chokolade Turin’s zu rühmen, dieberühmteste Europa’s. —

Die Straßen sind nicht übermäßig belebt: man hat seine Ruhe darin. Ich binnirgendswo mit so viel Vergnügen spazieren gegangen als in diesen vornehmenunbeschreiblich würdigen Straßen, in denen viele alte Paläste sind. GroßeRaumverschwendung überall: nichts Gedrücktes. Ein mächtiger Fluß giebt derStadt an der Einen Seite ihr Ende. Höchst malerische Ufer. Überall alte großereiche Baum-Alleen, wie sie einer alten Königs-Residenz würdig sind. —

Freund K ö s e l i t z hat eine sehr glückliche Bekanntschaft undGönnerschaft gefunden; es ist möglich, daß er zu Herbst nach Berlin zumBesuch einer vornehmen Familie kommt, die Alles thun wird, um bei Hofe undsonst seine Werke in Aufnahme zu bringen.

Daß Du für mich nähest und flickst, höre ich mit Vergnügen. Ich bin wiederrecht herunter. Die Kleider e r b ä r m l i c h . Unwürdig dieser schönen Stadt, wo

man etwas auf sich hält!

Dein altes Geschöpf F.Schönsten Dank für Deinen lieben Brief! Adresse nach wie vor: T o r i n o

(Italia) ferma in posta1024. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Fragment)

<Turin, 16. April 1888>

[+ + +]— Der Tod meines alten Vormundes betrübt mich sehr: ich denke auch noch

daran, daß er mir den einzigen Prozeß meines Lebens glücklich in Ganggebracht hat, und daß ohne die von ihm g e r e t t e t e n Gelder Dein altesGeschöpf in den letzten Jahren nichts hätte herausgeben und drucken können.So hängt Alles zusammen, wo man’s oft am wenigsten vermuthet. Ich willsehen, daß ich der Tante ein Paar Worte der Theilnahme schreibe.

— Zuletzt eine Bitte, die ich nur sehr ungern an Dich richte. Jener DänischeGelehrte Dr. Brandes, der über mich die Vorlesung hält, bittet mich ummeineP h o t o g r a p h i e auf das Allerinständigste, indem er mir zugleich dieseine schickt. Nun ist der Fall so außerordentlich, daß ich ihm wirklich Nichtsjetzt verweigern möchte. G i e b t e s n o c h e i n e P h o t o g r a p h i e , undwäre es die letzte, so wollen wir sie ihm schicken. Ich verspreche Dir fürmeinen ersten Aufenthalt in Deutschland, mich für Dich photographiren zulassen.

Ich nehme an, daß Du noch ein Bild von den guten Schultzschen hast.Opfere es, bitte. Und mache diesen Adresse:

Herrn Dr. Georg B r a n d e sin

(St. Anne-Platz 24) K o p e n h a g e n(Dänemark)

Herr K ö s e l i t z schrieb mir heute: „beim Lesen Ihres gütigen Briefs wurdeich fast schwindelig vor Entzücken über B r a n d e s . Mit ihm scheint mir einwirklicher Anfang Ihrer Wirksamkeit gemacht: denn bis jetzt hatten Sie keineAnhänger, Jünger, Schüler, sondern nur Diebe. Und Jedweder kann da nichthintreten und den Menschen von Ihnen predigen; Ihr erster Prediger muß selbereines gewissen Ansehens genießen. Dies ist bei Brandes der Fall. Er darf vonIhnen reden, ohne Sie zu compromittiren oder Ihnen gar zu schaden; er ist keinFremdling unter Ihresgleichen, wie die gewöhnlichen andren Besprecher IhrerGedanken. Zudem hat er die gelesensten Zeitschriften zu seiner Verfügung undein e u r o p ä i s c h e s Publikum (— er schreibt dänisch, französisch, deutsch,

schwedisch, russisch, polnisch)“T u r i n , zum Schluß gesagt, wäre wirklich der Ort, wo ich meine alte

Mutter einmal am liebsten hätte. Das würde Dir s e h r v i e l Vergnügenmachen: es ist nur so arg weit.

Dein altes Geschöpf1025. An Heinrich Köselitz in Venedig

Turin, 1. Mai 1888.

Lieber Freund,

Ihr südländischer Titel gefällt mir sehr gut; er hat Farbe, er p r o t e s t i r t —Vielleicht setzen Sie besser „Heimkehr nach Avignon“ statt des etwasgemüthlich klingenden Imperativs „Heim nach Avignon!“ —

Und das erinnert mich an die H e i m k e h r n a c h A n n a b e r g und, werweiß? an ein Turnier in Berlin; dem, hoffentlich, auch etwas Ballspiel folgt,nebst Notturno, und was Alles auf einem schönen Landsitze, abseits von dergroßen Stadt, möglich ist! Das scheint mir Alles sehr gut ausgedacht: und heuteüber’s Jahr liegt, wie ich von Herzen wünsche, ein tüchtiges und schönes StückL e b e n hinter Ihnen — in „kalligraphischer Vollkommenheit“…

Das Wetter ist heute betrübt: umso unparteilicher kann ich über Turinschreiben, von dem ich Ihnen gern noch einen p r a k t i s c h e r e n Begriffgeben möchte als meine letzten Briefe thaten. Denn daß Turin gerade mir, einemKranken und Absurd-Abhängigen, klimatisch gut thut, und daß es z. B. fürmeine Beine und Augen ein gelobtes Land ist, macht mich noch nicht blinddafür, daß Ihnen Turin ganz andre Vortheile bieten müßte, um, n a c h Venedig,überhaupt möglich zu sein. Sie schreiben, daß es als eine theure Stadt gilt? Diesmag im Munde eines Beamten oder Militär-Chefs auch vollkommen correktsein: eine solche Stadt ist theuer, weil sie zur R e p r ä s e n t a t i o n seinerStellung zwingt, und weil es beinahe die erste Großwürden- und Beamten-StadtItaliens ist (Sitz des Generalstabs usw.) Von u n s aus geurtheilt, die wir nichtsrepräsentiren wollen und im Gegentheil die Ve r b o r g e n h e i t in einergroßen Stadt uns zu Gemüthe führen, steht es exakt umgekehrt. Ich habe nochkeinen billigeren Ort kennen gelernt, am wenigsten in Italien: aber auch Leipzigist theurer. Das macht die großstädtische Concurrenz in allen H a u p t sachen(Wohnung, Kleidung, Ernährung) Ich esse hier entschieden besser,s o l i d e r alsich in Leipzig esse, ebenfalls als in der panada, seligen Angedenkens, — u n dbilliger! Es giebt eine große Menge starkbesuchter Trattorien, wo man nochbedeutend die Preise reduzirt: die Stadt ist voll von jungen Leuten (und älterenJunggesellen), dank den vielen höheren Schulen, der Universität, dem

Offiziercorps, — das will Alles gut essen und nicht viel bezahlen. In den erstenluxuriösesten Cafes wird im Entgegenkommen geradezu Unglaublichesgeleistet. Das Café nazionale zum Beispiel, das an Monte-Carlo erinnert, hatAbends seine glänzenden Räume voll, man hört ein Concert von 12 Nummern,ein kleines hübsches Orchester — und man zahlt auch keinen centesimo mehrals man sonst zahlt (Café 20 ct., Chocolade 30, das pezzo gelato 30 usw) Auchdie Theaterpreise sind s e h r mäßig: mir fällt übrigens das verkableTheaterf i e b e r auf, das hier herrscht. Alle Theater (außer dem t<eatro> regio)in voller Aktivität; eine Pariser comédie-Gesellschaft, besten Renommée’s,anlangend, zwei neue Operetten-Gesellschaften insgleichen. Turin wirkt durcheinen gewissen Strom von Leben, es drückt nicht, es ist n i c h t das Abbild deskleinen Erwerbs und Vorwärts-K r i e c h e n s . Die räumliche Größe undGroßartigkeit hat etwas Contagiöses; man geht mit mehr Freimuth herum. Jetzthat die Stadt ihren herrlichen Frühlingsschmuck, die Alleen, — das war immerein f ü r s t l i c h e r Geschmack. Ich traue immer noch meinen Augen nicht,wenn ich Abends am Po entlang gehe und h i n ü b e r sehe, in diesen reiche,bunte, malerische Baum- und Hügelwelt! Neulich entdeckte ich, auf der andernSeite des Po, eine hohe B a u m - A l l e e , dicht am Po 1 1/2 Stunde entlangführend: auf der andern Seite ein voller Bach; tiefste Stille; der Fluß mit kleinengrünen Inselchen geschmückt, und, zur Seite, ohne Unterbrechung, instrahlender Reinheit, das H o c h g e b i r g e . Dies ist doch sehr nahe: mankommt mit 50 Minuten Eisenbahnfahrt nach Lanzo: — da h a t man bereits dasHochgebirge. Von ihm aus ist das hiesige Clima bedingt; in Sonderheit dievielen g a n z h e l l e n Tage, auch im Winter (im Ganzen nur 50 Tage wenigerals in Nizza) Mir fällt auf, wie gut ich hier mit trübem Wetter und bedecktemHimmel fertig werde: — ich habe fort und fort gearbeitet, mehr als im ganzenNizzaer Winter bereits! An schönen Tagen weht hier eine reizende, leichte,leichtfertige Luft, in der die schwerfälligsten Gedanken Flügel bekommen… (—ich habe bis heute noch nicht Carmen gehört! Beweis, w i e ich mit mirbeschäftigt bin. Ein Mal nur im Theater: eine neapolitanische Farce — warum?Weil der maestro E. Sassone hieß!! „Induction psycho-motrice“ nennt man dasheute. Nach Hause kommend leuchtete ich mir meinen alten palazzo hinauf, miteinem Wachsstreichkerzchen, das ich i c h w e i ß n i c h t w e m verdanke.Nochmals: induction psycho-motrice!! —)

Treulich Ihr FreundN.

Es muß etwas wie C o o r d i n a t i o n des Geschmacks geben: hier, womeine Augen und Nerven sich wohlfühlen, scheinen mir auch die Speisen nach

dem Schema meines Personalgeschmacks ausgedacht. U n d sogar das Wasser!Überall fließt es; ich gehe immer mit einem Gläschen.1 essay(s) in Contexta1026. An Paul Deussen in Berlin (Postkarte)

Turin, 3. Mai 1888

Lieber Freund,

dies Mal nur einen allerherzlichsten Gruß aus meiner Frühjahrs-ResidenzT u r i n , wo ich tief in der Arbeit, aber in guter Laune sitze. Letztere hängtEtwas von den Berichten aus Kopenhagen ab. An der dortigen Universität hältder geistreiche Dr. Georg Brandes einen Cyklus von Vorlesungen „über dendeutschen Philosophen Friedrich Nietzsche“. Dieselben haben einen glänzendenVerlauf. Der Saal jedes Mal zum Bersten voll. Mehr als 300 Zuhörer. Diegroßen Zeitungen geben Berichte. — Sic i n c i p i t gloria mundi… DankbarDein Freund

NietzscheA d r e s s e bis 5. Juni Torino, ferma in posta. Von da an Sils-Maria,

Oberengadin1027. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig (Postkarte)

T o r i n o , 3. Mai 1888Werthester Herr Verleger,

aus Kopenhagen wird mir gemeldet, daß die Vorlesungen des Dr. Brandes großeTheilnahme erregen, daß der Saal jedes Mal „zum Bersten voll“ ist, mehr als300 Zuhörer. Dr. B<randes> hofft, wie er schreibt, mir auf diese Weise „einigegute Leser im Norden zu verschaffen“.

Er hat von meinem „Hymnus an das Leben“ gehört, er möchte gerne Allesbesitzen, was es von mir giebt. Wollen Sie diesem Wunsch entsprechen? — DieAdresse, nach wie vor:

Dr. Georg BrandesK o p e n h a g e n

St. Anne-Platz 24 (Dänemark)Mit herzlichem Gruße

seitens Ihres ergebensten

Nietzsche1028. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)

Turin, 3 Mai 1888

Meine liebe Mutter,

die Vorlesungen in Kopenhagen haben einen glänzenden Verlauf. Der Saal jedesMal zum Bersten voll. Mehr als 300 Zuhörer. Die großen Zeitungen gebenBerichte. — Ich wiederhole meine Bitte, die P h o t o g r a p h i e betreffend,weil sie inzwischen durch Dr. Brandes selbst wiederholt worden ist. Aber nureine von den besten! Sonst lieber nichts. — Hoffentlich hast Du mir meinenletzten Brief nicht übel genommen: ich habe mich vielleicht etwas zu starkausgedrückt? Herzlich grüßend

das alte Geschöpf1029. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)

<Turin, 3. Mai 1888>

Lieber Freund,

ich habe jetzt durch Dr. Brandes selbst Nachricht. Seine Vorlesungen nehmeneinen glänzenden Verlauf. Der Saal jedes Mal „zum Bersten“ voll. Mehr als 300Zuhörer. Alle großen Zeitungen geben Berichte. — Er bittet mich um den„Hymnus an das Leben“: zuletzt bringt er dessen erste Aufführung zu Stande.— Ich bin heute fertig mit meinem e r s t e n Monat in Turin und versuche nocheinen zweiten. Dann direkt ins Engadin. Sehr in Arbeit, aber bei guter Laune.

Dein Nietzsche1030. An Georg Brandes in Kopenhagen

Turin, den 4. Mai 1888Verehrter Herr,

was Sie mir erzählen, macht mir großes Vergnügen und mehr noch, daß ich’sgestehe — Überraschung. Seien Sie überzeugt davon, daß ich’s Ihnen„nachtrage“: Sie wissen, alle Einsiedler sind „nachträgerisch“? ..

Inzwischen wird, wie ich hoffe, meine Photographie bei Ihnen angelangtsein. Es versteht sich von selbst, daß ich Schritte that, nicht gerade um mich zuphotographiren (denn ich bin gegen Zufalls-Photographen äußerst mißtrauisch),sondern um Jemandem, der eine Photographie von mir hat, dieselbezue n t f r e m d e n . Vielleicht ist mir’s gelungen; denn noch weiß ich es nicht.Im andren Falle will ich meine erste Reise nach M ü n c h e n (diesen Herbstwahrscheinlich) benutzen, um mich wieder zu versinnbildlichen.

Der „Hymnus auf das Leben“ wird dieser Tage seine Reise nachKopenhagen antreten. Wir Philosophen sind für nichts dankbarer, als wenn manuns mit den Künstlern v e r w e c h s e l t . Man versichert mich übrigens von

Seiten der ersten Sachverständigen, daß der Hymnus durchaus aufführbar,s i n g e b a r und in Hinsicht auf Wirkung sicher sei (— „r e i n im Satz“: diesLob hat mir am meisten Freude gemacht) Der vortreffliche HofkapellmeisterMottl von Carlsruhe (Sie wissen, der Dirigent der Bayreuther Festaufführungen)hat mir eine Aufführung in Aussicht gestellt. —

Aus Italien meldet man mir eben, daß die Gesichtspunkte meiner 2.Unzeitgemäßen Betrachtung in einem Berichte über deutsche Geschichts-litteratur sehr zu Ehren gebracht seien, den ein Wiener Gelehrter Dr. vonZdekauer im Auftrage des Florenzer Archivio storico gemacht hat. Der Berichtläuft in dieselben aus. —

Diese Wochen in Turin (wo ich noch bis zum 5. Juni bleibe) sind mir bessergerathen als irgend welche Wochen seit Jahren, — vor allem philosophischer.Ich habe fast jeden Tag ein, zwei Stunden jene Energie erreicht, um meineGesammt-Conception von O b e n n a c h U n t e n sehn zu können: wo dieungeheure Vielheit von Problemen, wie ein Relief und klar in den Linien, untermir ausgebreitet lag. Dazu gehört ein maximum von Kraft, auf welches ichkaum mehr bei mir gehofft hatte. Es hängt Alles zusammen, es war schon seitJahren Alles im rechten Gange, man baut seine Philosophie wie ein Biber, manist nothwendig und weiß es nicht: aber das Alles muß man s e h n , wie ich’sjetzt gesehen habe, um es zu glauben. —

Ich bin so erleichtert, so gestärkt, so guter Laune, — ich hänge denernstesten Dingen einen kleinen Schwanz von Posse an. Woran hängt das Alles?Sind es nicht die guten N o r d w i n d e , denen ich das verdanke, diesenNordwinde, die nicht immer aus den Alpen kommen? — sie kommen mitunterauch ausK o p e n h a g e n !

Es grüßt Sie dankbar ergeben

Ihr Nietzsche1031. An Constantin Georg Naumann in Leipzig (Postkarte)

Turin, den 7. Mai 1888

Geehrtester Herr Verleger,

hiermit ersuche ich Sie, je ein Exemplar meiner beiden Schriften Ihres Verlagsdem Commissionär Volckmar zu übermitteln. Derselbe befördert sie dann durchden Buchhändler L. Zickel in New-York an den Herrn, dem dieselben zugedachtsind

Herrn Karl K n o r t z540 East 155th Str.

New York

Der genannte Litterarhistoriker verspricht einen englischen Essai über meinegesammten Schriften. — Vielleicht interessirt es Sie, zu hören, daß Dr. GeorgBrandes an der Kopenhagener Universität einen stark besuchten Cyklus vonVorlesungen „über den deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche“ hält. Mehrals 300 Zuhörer. —

Ihr ergebensterDr. Nietzsche

Adresse: T o r i n o (Italia)ferma in posta

1032. An Constantin Georg Naumann in Leipzig (Postkarte)

Torino, den 9. Mai 1888

Geehrtester Herr Verleger,

ich habe noch einen kleinen Posten bei dem Antiquar Herrn Alfred Lorentz zuberichtigen, nämlich 7 M a r k 30 Pf. (sieben Mark dreißig Pfennige) lauteingesandter Abschluß-Rechnung (vom 28. April). Sie würden michverpflichten, wenn Sie diese Sache in meinem Namen erledigen wollten? Einebesondere Notifikation darüber ist nicht nöthig.

Hochachtungsvoll IhrProf. Dr. Nietzsche

Vorgestern ist bereits eine Karte an Sie abgegangen New-York betreffend; imgleichen Sinn auch an E. W. Fritzsch1033. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)

<Turin, 10. Mai 1888>

Das hast Du s e h r g u t gemacht, meine liebe Mutter, viel besser als ich’s mirausgedacht hatte. Allerschönsten Dank! Wie viel verlangt jetzt der Photographfür ein Bild? Ich hätte fast nöthig, mir noch fünf dazu machen zu lassen. —Heute nur die Mittheilung, daß ich mir einen c o m p l e t e n A n z u g beieinem guten Schneider bestellt habe (: so daß mein letzter Wunsch hinsichtlicheiner Weste erledigt ist) Der Preis ist 64 M. (= 80 frs) sehr solider Stoff. DerSchneider kritisirte die Sachen, die ich anhatte, aufs schärfste; er wollte absolutnicht glauben daß sie a u f M a a ß gemacht seien, er sagte, so schlechteSchneider gäbe es nicht. (Es war die schwarze Hose für 29 Mark, und eine derbeiden Westen vom vorigen Sommer) Ich habe gelacht; aber allen Ernstes, seit10 Jahren habe ich kein Kleidungsstück auf dem Leib gehabt, das mir gepaßthätte. — Es umarmt Dich

Dein altes Geschöpf1034. An Reinhart von Seydlitz in München

Adresse: Torino <Italia>, ferma in posta.(gültig bis zum 5. Juni)

Turin, den 13. Mai 1888

Lieber Freund,

es dünkt mich unwahrscheinlich, daß Du Dich endgültig zur Mumie(männlicher geredet: zum M u m ) entschlossen hast. Der Frühling ist da: Duwirst wieder für die Reize des „deutschen Gemüths“ offen stehn — undvielleicht sogar für die der Freundschaft! Dein Brief kam sehr erquicklich in denWinter meines Nizzaer Mißvergnügens hinein, von dem ich Dir, zu meinemBedauern, eine nicht unverächtliche Probe gegeben habe. Mit dem VerlassenNizza’s haben mich dies Mal auch die schwarzen Geister verlassen — und,Wunder über Wunder, ich habe einen merkwürdig h e i t e r e n Frühling bishergehabt. Den ersten seit zehn, fünfzehn Jahren — vielleicht noch länger!Nämlich: ich habe T u r i n entdeckt… Turin keine bekannte Stadt! — nichtwahr? Der gebildete Deutsche reist daran vorbei. Ich, in meiner willkürlichenVerhärtung gegen Alles, was die Bildung heischt, habe mir aus Turin meined r i t t e Residenz zurechtgemacht, will sagen Sils-Maria als erste und Nizza alszweite. An jedem Ort vier Monate; für Turin zwei Monate Frühjahr und zweiMonate Herbst. Seltsam! Was mich dazu überredet, ist die Luft, die trockneLuft, die an allen drei Orten gleich ist, und aus denselben meteorologischenGründen. Schneegebirge im Norden und Westen — auf diese Rechnung kam ichhierher — und bin entzückt! Selbst an sehr warmen Tagen — wir hatten schonsolche — giebt es jenen berühmten Zephyr, von dem ich bisher nur durch dieDichter wußte (ohne ihnen zu glauben! Lügenvolk!) Die Nächte frisch. Mansieht mitten aus der Stadt hinein in den Schnee. Außerdem vorzügliche Theater,ital<ienisch> oder französisch; Carmen, wie billig, zur Feier meiner Gegenwart(piramidale successo — Verzeihung für die aegyptische Anspielung!) Eineernste, fast großgesinnte Welt stiller Straßen mit Palästen des vorigenJahrhunderts, sehr aristokratisch. (Ich selbst wohne dem palazzo Carignanogegenüber, im alten palazzo des Justizministeriums) Höhe der Caféhaus-Cultur,der gelati, des cioccolato Torinese. Dreisprachige Buchhandlungen. Universität,gute Bibliothek, Sitz des Generalstabs. Die Stadt mit herrlichen Alleen;unvergleichliche Uferlandschaften am Po. Bei weitem die angenehmste,r e i n l i c h s t e , großräumigste Stadt Italiens, mit dem Luxus der portici ineiner Länge von 10 020 Meter. — Die Nordwinde, scheint es, bringen mir

Heiterkeit; und stelle Dir vor, es kommen Nordwinde sogar aus D ä n e m a r kzu mir. Das nämlich ist das Neueste: an der Kopenhagener Universität liest jetztder Dr. Georg Brandes einen größeren Cyklus Vorlesungen über „den deutschenPhilosophen Friedrich Nietzsche“. Dieselben haben, nach den Zeitungen, einenglänzenden Verlauf, der Saal jedes Mal zum Brechen voll; mehr als 300Zuhörer.

Wie lange wird es dauern, ehe meine p e r i p h e r i s c h e n Wirkungen (—denn ich habe Anhänger in Nordamerika und sogar in Italien) zurückwirken aufdas geliebte Vaterland? — wo man mit einem tückischen Ernste mich seitJahren gewähren läßt, ohne auch nur zu mucksen… Das ist sehr philosophisch—u n d klug!

Anbei eine Frage. Ist Dir durch meinen Verleger meine letzte Schrift, die„S t r e i t schrift“ hübsch, wie sichs geziemt, „zu geehrten Händen“ übersandtworden?

Gestern dachte ich mir ein Bild aus von einer moralité larmoyante, mitDiderot zu reden. Winterlandschaft. Ein alter Fuhrmann, der mit dem Ausdruckdes brutalsten Cynismus, härter noch als der Winter ringsherum, sein Wasser anseinem eignen Pferde abschlägt. Das Pferd, die arme geschundne Creatur, blicktsich um, dankbar, s e h r dankbar —

Du hast jetzt in Madame Judith Gautier (ehemals Mendès) —T r i b s c h e n e r Angedenkens — eine eifrige Cameradin in der propagandafür Japon. Hast Du von ihrem großen Theater-Erfolge mit „la marchande dessourires“ gelesen?

Adieu, lieber Freund, empfiehl mich Deiner lieben Frau zu Gnaden (— esgiebt s e h r g u t e Nachrichten von meiner Schwester, die jetzt nun endgültigübergesiedelt in die Colonie nueva Germania ist) und, wenn es möglich, auchDeiner verehrten Frau Mutter.

Mit einem herzlichen Glückwunsch

Dein Freund Nietzsche.(n a c h Turin Sils-Maria, Oberengadin Schweiz)

1035. An Heinrich Köselitz in Venedig

Turin, Donnerstag d. 17. Mai 1888.

Lieber Freund,

ich höre mit Betrübniß, daß Ihre Gesundheit Schwierigkeiten macht. Alles, wasSie sonst schreiben, ist so gesund, selbst h e i t e r . Vor Allem, daß auch Siekeinen „würdigeren“ Gebrauch von einem Honorare zu machen wissen alsd r u c k e n zu lassen… Das hat Rasse; aber man gehört damit in die „verkehrte

Welt“. Mit welchem Erfolge ich selbst in den letzten Jahren gegen dieSchmeitznern aus dem Rachen gezogenen Honorarfonds g e w ü t h e t habe,errathen Sie wohl! Alles verpulvert! — Aber das erinnert mich an einenscherzhaften Vers aus der Basler Zeit, wo ich Abends gern meine Schwesterdamit unterhielt,s e h r gewagte Reime zu schmieden. Der Vers ist anS c h m e i t z n e r gerichtet, als er gemeldet hatte, er mache nunmehr Ernst mitdem Verlage und habe sein Haus verkauft, die nöthigen Gelder dazu zuschaffen.

Der du dein Haus versilberstUnd in Papier verpülverst,Oh Schmeitzner, folge mir!Trink lieber ein Paar SchnäpseUnd lass die tausend Krebse,Kreuch selber hinter dir!

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Ein Vers zu Ehren des Pastor B r o c k h a u s , der an der Trichinitis starb(Sohn des alten Prof. B<rockhaus>)

Der altgewordne PastorErgab sich einem LastorUnd aß der Wurst zu viel.Da kam heran Trichine,Kroch in das Bein der SchieneUnd trieb ein tödtlich Spiel.

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Auf einen Besuch von Frau Marie B a u m g a r t n e r , welche uns Byron’sKain vorlas.

Mit Kain, Pepsin, ÄpfelnSah man nach Basel stäpfelnMariam von Lörrach,Um dort mit Thee und Kachen*Abélen todtzuschlagenUnd auch den langen Nachmittag.

**

Als ich im Frühjahr 1883 mit meiner Schwester von Rom nach Genuazurückreiste, haben wir unterwegs nichts als solche Verse gemacht. Wirbestachen die Schaffner an jeder Station, um allein zu sein, w e i l w i rf o r t w ä h r e n d l a c h t e n — —

Es giebt sehr gute Nachrichten von meinen Südamerikanern: sie sind jetztendgültig in die neue Colonie Nueva Germania übergesiedelt und daselbstempfangen worden „wie ein Fürst nicht festlicher empfangen werden könnte“.Der Zufluß von Colonisten ist bedeutend. —

Auch aus Kopenhagen sind gute Nachrichten da. Die Vorlesungen nehmeneinen glänzenden Verlauf. Der Saal ist jedes Mal „zum Bersten“ voll. Mehr als300 Zuhörer. Die Zeitungen geben Berichte.

H i e r ist mir der erste Geschäftsführer der Firma Löscher sehrentgegengekommen, in allerlei Praxis und Noth des Lebens, wo ich mir selbstschlecht zu rathen weiß. Das ist ein stiller bescheidener Mann, B u d d h i s t ,etwas Anhänger Mainländer’s, begeisterter Vegetarianer (— er hat hier dasGrahambrod eingeführt und den Preis fixirt: das Kilo = 30 ct.) Gestern sagte ermir, unaufgefordert, daß er J u d e sei… Nicht einmal getauft! — Er hat mirbewiesen, daß Mainländer k e i n Jude war. —

Aus New-York kam seitens eines Bewunderers meines Zarathustra dasVersprechen eines größeren englischen Essai über meine Schriften, in einer derersten amerikanischen Revuen. —

Ich wünschte Ihnen sagen zu können, wie mich alle Ihre Musik-Urtheileerbauen: es scheint, daß ich im Instinkte jetzt nicht mehr sehr fern von IhremGeschmack bin, — aber u n e n d l i c h in der Ausdrucksfähigkeit. Mir fehlt einJahr exakten Musikstudiums, um nur wieder die S p r a c h e dafür in die Gewaltzu bekommen. —

Eine glänzende Aufführung von Carmen, Ehren-Serata des vielbewundertenFrl. Borghi. Doch war Nizza im S p i e l Allem über, was ich bis jetzt anAufführungen dieser Oper erlebt habe (De Reims als Don José, la Frandin alsCarmen)

Der große Erfolg von L a l o , mit seinem „roi d’Ys“ in Paris, macht mirFreude. Ein bescheidner Künstler, dem das Leben schlimm schon mitgespielthat. Der „große Erfolg“ ging mit dem dritten Akte los — d a s h e i ß t mit dens c h ö n e n M e l o d i e n : der kluge Mann hatte sie alle bis dahina u f g e s p a r t !!

Lieber Freund, vergeben Sie mir diesen vielleicht zu heiteren Brief: aber

nachdem ich, Tag für Tag, „W e r t h e u m g e w e r t h e t “ habe und s e h re r n s t zu sein Grund hatte, giebt es eine gewisse F a t a l i t ä t undUnvermeidlichkeit zur H e i t e r k e i t . Ungefähr wie bei einem Begräbniß…Mit herzlichem Gruß und Dank

Ihr Freund Nietzsche* freie Form für Kuchen.1 essay(s) in Contexta1036. An Georg Brandes in Kopenhagen

T u r i n , den 23. Mai 1888.Verehrter Herr,

ich möchte Turin nicht verlassen, ohne Ihnen nochmals auszudrücken, wievielen Antheil Sie an meinem ersten w o h l g e r a t h e n e n Frühling haben.Die Geschichte meiner Frühlinge, seit 15 Jahren zum Mindesten, war nämlicheine Schauergeschichte, eine Fatalität von décadence und Schwäche. Die Ortemachten darin keinen Unterschied; es war als ob kein Recept, keine Diät, keinClima den wesentlich d e p r e s s i v e n Charakter dieser Zeit verändernkönnten. Aber siehe da! Turin! Und die ersten guten Nachrichten, I h r eNachrichten, verehrter Herr, aus denen mir bewiesen ward, daß ich lebe… Ichpflege nämlich mitunter zu vergessen, daß ich lebe. Ein Zufall, eine Frageerinnerte mich dieser Tage daran, daß in mir ein Hauptbegriff des Lebensgeradezu ausgelöscht ist, der Begriff „Zukunft“. Kein Wunsch, kein WölkchenWunsch vor mir! Eine glatte Fläche! Warum sollte ein Tag aus meinemsiebzigsten Lebensjahr nicht genau meinem Tage von heute gleichen? — Ist es,daß ich zu lange in der Nähe des Todes gelebt habe, um die Augen nicht mehrfür dies c h ö n e n M ö g l i c h k e i t e n aufzumachen? — Aber gewiß ist, daßich jetzt mich darauf beschränke, von heute bis morgen zu denken, — daß ichheute festsetze, was morgen geschehn soll — und für keinen Tag weiter! Dasmag unrationell, unpraktisch, auch vielleicht u n c h r i s t l i c h sein — jenerBergprediger verbot gerade d i e s e Sorge „um den andern Tag“ — aber esscheint mir im höchsten Grade philosophisch. Ich bekam vor mir etwas Respektmehr, als ich ihn sonst schon habe: ich begriff, daß ich v e r l e r n t hatte, zuwünschen, ohne es auch nur gewollt zu haben. —

Diese Wochen habe ich dazu benutzt, „W e r t h e u m z u w e r t h e n “. —Sie verstehen diesen Tropus? — Im Grunde ist der Goldmacher dieverdienstlichste Art Mensch, die es giebt: ich meine der, welcher aus Geringem,Verachtetem etwas Werthvolles und sogar Gold macht. Dieseralleinb e r e i c h e r t ; die andern wechseln nur um. Meine Aufgabe ist ganz

kurios dies Mal: ich habe mich gefragt, was bisher von der Menschheit ambesten gehaßt, gefürchtet, verachtet worden ist: — und daraus gerade habe ichmein „Gold“ gemacht…

Daß man mir nur nicht Falschmünzerei vorwirft! Oder vielmehr; man w i r des thun. —

— Ist meine P h o t o g r a p h i e in Ihre Hände gelangt? meine Mutter hatmir den großen Dienst erwiesen, in einem so außerordentlichen Falle nichtundankbar erscheinen zu müssen. Hoffentlich hat auch der Leipziger Verleger E.W. Fritzsch seine Schuldigkeit gethan und den H y m n u s expediert.

Ich bekenne zuletzt eine Neugierde. Da es mir versagt war, an der Thürspaltezu horchen, um etwas ü b e r m i c h zu erfahren, würde ich gern auf eineandere Weise etwas horchen mögen. Drei Worte zur Charakteristik der ThemataIhrer einzelnen Vorlesungen — wie viel wollte ich aus drei Worten lernen!

Es grüßt Sie, verehrter Herr, herzlich und ergeben

IhrNietzsche

1037. An Heinrich Köselitz in Venedig (Postkarte)

<Turin, 25. Mai 1888>

Lieber Freund,

die P a r i s e r sind eben toll vor Begeisterung für — die Matthäus-Passion!!Der Figaro, wirklich der F i g a r o ! hatte eine ganze Seite einer Notenbeilagegewidmet: der schwermüthigen Arie „Erbarme dich, mein Gott“… Hier hatTeatro Carignano geschlossen, natürlich mit Carmen: es hat davon 2 Monategelebt. Dem Publikum wurden 3 andre Opern angeboten: es wies sie der Reihenach ab. Die Zahl der Vorstellungen war für mich erstaunlich: man hatmehrmals d r e i Abende hintereinander das Werk vorgeführt. Am Schluß sehrrespektable Geschenke an den maestro Mugnone, goldne Remontoir-Uhr unddergl.

Die O p e r e t t e n -Componisten scheinen in Italien die Orchester in derHand zu haben: ich habe 2 Fälle hier vor Augen. Der Canti z. B. der Componistvon „la nuova befana“ benutzt seine Stelle als maëstro, um auch sonst s i c haufzuführen; in Zwischenakten ein Lied oder eine sinfonia „eigens für diesenAbend componirt“. —

Es grüßt Sie der verunglückte Musikus

N1038. An Georg Brandes in Kopenhagen (Postkarte)

Turin d. 27. Mai 1888.

Was Sie für Augen haben! Der Nietzsche auf der Photographie ist in der Thatnoch nicht der Verfasser des Zarathustra, — er ist ein Paar Jahre zu jung dazu.

Für die Etymologie von gote bin ich sehr dankbar: dieselbe ist einfachgöttlich! — Ich nehme an, daß Sie heute auch einen Brief von mir lesen?

Ihnen dankbar zugethanN.

1039. An Franziska Nietzsche in Naumburg

Turin, den 27. Mai 1888.

Meine liebe Mutter,

Du hast mir wirklich eine außerordentliche Freude mit der Abschrift des Lama-Briefs gemacht: ich habe ihn mindestens sechs Mal gelesen und mich jedes Malvon Neuem daran erbaut. Nachdem es so weit ist, darf man eigentlich Vertrauenhaben: selbst ich fange an, der Sache zu vertrauen…

Ich war ein Paar Tage nicht wohl, sonst hättest Du schon eher ein Wort desDankes bekommen. Meine Zeit hierselbst geht nun auch zu Ende. Ich habe nocheine Woche vor mir: am 5ten Juni will ich abreisen, am 6ten, wenn meineGesundheit mir keinen Streich spielt, in Sils-Maria eintreffen. Man bekommtjetzt direkte Billets von Turin bis Chiavenna: das ist eine große Erleichterungfür Dein altes Geschöpf.

Nun möchte ich dies Jahr gleich von Anfang an da oben v e r n ü n f t i g seinund nicht erst wieder alle möglichen thörichten Versuche machen. Damit willich sagen, daß ich Dich bitte, meine liebe Mutter, mir von jenem delikatenS c h i n k e n , der das letzte Jahr so sehr den Beifall Deines Sohneshatte,u m g e h e n d ein gutes Quantum zuzusenden (Wie nennt ihr ihn?L a c h s schinken? Weißt Du, ganz zart und ohne Fett)

Ich will allernächstens ein Paar Worte an Herrn K ü r b i t z richten, damit erDir in meinem Namen etwas Geld zu Gebote stellt, für d i e s e und andreBedürfnisse. Zum Beispiel auch zur Bezahlung der Photographie. —

Mit den Kleidern scheine ich wirklich wohlgefahren zu sein. Es ist eine l e g a n t e r Anzug, der vorzüglich sitzt. Ich habe mir vorgenommen, etwaswieder auf mich zu halten und der Nachlässigkeit im Aeußern ein Ziel zu setzen.D a s scheint mir auch ein Zeichen eines gewissen F o r t s c h r i t t e s in derBesserung meiner Gesundheit? So lange man c a p u t ist, macht man sich nichtsdraus, ob man auch so aussieht…

Die Vorträge meines Kopenhagener Verehrers sind glänzend zu Ende

gekommen, mit einer großen O v a t i o n , die er in meinem Namenangenommen. Er schreibt mir, daß „mein Name jetzt in allen intelligentenKreisen Kopenhagens p o p u l ä r und in ganz Skandinavien b e k a n n t sei“.(So weit habe ich’s imVa t e r l a n d e freilich noch nicht gebracht!)

Gestern machte mir der hiesige Philosoph, Professor Pasquale D’Ercoleeinen sehr artigen Besuch. Derselbe, jetzt Dekan der philosophischen Fakultätder hiesigen Universität, hatte in der Buchhandlung Löscher von meinemHiersein gehört.

Eine amerikanische Zeitschrift in New-York hat mir einen Essai über meineSchriften in Aussicht gestellt.

Eben traf ein drei Bogen langer äußerst interessanter Brief des Dr. F u c h sein. —

Herr K ö s e l i t z wird im nächsten Monate ebenfalls Italien verlassen undzunächst zu seinen Eltern gehn.

Daß Du die Briefe des Herrn B u s s e abschreiben willst, ist vielleicht zuviel Ehre. Wollen wir’s nicht machen, wie bisher und einfach still sein? — Odersind sie hübsch? — Mich q u ä l e n sonst solche Naturen, denen ich absolutnicht zu helfen weiß —

Es grüßt und umarmt DichDein alter Philosoph

Adresse: Sils-Maria, Oberengadin, S c h w e i z .1040. An Franz Overbeck in Basel

T u r i n , den 27. Mai 1888.Lieber Freund,

ich mache mir das Vergnügen, Dir einen letztens eingetroffenen Brief ausKopenhagen mitzutheilen, mit der Bitte, denselben irgendwann einmal,vielleicht nach Sils-Maria, an mich zurückzuaddressiren.

Übrigens steht Sils-Maria vor der Thür. Ich will am 5. Juni von hier abreisenund denke, wenn die Gesundheit mir nicht den g e w o h n t e n Streich spielt,am 6ten dort einzutreffen. Was mich einigermaßen muthig für die Reise stimmt,ist die neue Eisenbahn-Verfügung: man kann d i r e k t e Billets T o r i n o -C h i a v e n n a haben, — damit hat die schauderhafte kleine Misère dessechsmaligen Gepäckumschreibens ein Ende. —

Meine Gesundheit hat im Ganzen Stand gehalten. Ich bin während dieser 2Monate in Turin 4 mal krank gewesen: ein mezzo termino, mit dem ich michzufrieden geben will.

Heute morgen traf ein herrlicher drei Bogen langer Brief von Dr. Fuchs ein,

der wieder von einer erstaunlichen Energie Zeugniß ablegt. Ihn begleitet eingroßer Complex von Recensionen und Concert-Berichten aus der Feder diesesgeistreichsten der jetzigen Musiker. Ich will mich in aller Ruhe daran erlaben.

Gestern hat mir der hiesige filosofo, der Prof. Pasquale d’Ercole einen sehrartigen Besuch gemacht; er hatte in der Buchhandlung Löscher von meinemHiersein gehört. Derselbe ist jetzt Decan der philosophischen Fakultät. —

Das archivio storico in Florenz gedenkt in seiner letzten Publikation (einGesammtbericht über deutsche Geschichtslitteratur) mit Auszeichnung meinerallgemeinen Gedanken über H i s t o r i e (2. Unz<eitgemäße> Betrachtung); dieAbhandlung läuft darauf aus. Ich erzähle das Dir gerade, lieber Freund, weil Duder einzige bist, der mir bisjetzt ein Interesse an jenen Gedanken ausgedrückthat. — Dir und Deiner lieben Frau mich herzlich empfehlend

Dein Nietzsche.Der Brief aus New York, den Du so gütig warst, mir zu übersenden, enthielt

das Versprechen eines englischen Essai über meine Schriften seitens einer dergrößten amerikan. Reviews.1041. An Heinrich Köselitz in Venedig

Turin, D o n n e r s t a g<31. Mai 1888>

Wenn ich Ihnen sofort wieder antworte, so wird es Ihnen nicht zweifelhaft sein,woran es mir fehlt, — daß S i e mir fehlen, lieber Freund! Wie sehr auch derFrühling mir gerathen ist, er bringt mir gerade das Beste nicht, das, was auch dieschlimmsten Frühlinge mir bisher brachten — Ihre Musik! Dieselbe ist mitmeinem Begriff „Frühling“ zusammengewachsen — seit Recoaro! — ungefährso, wie das sanfte Glockenläuten über der Lagunenstadt mit dem Begriff„Ostern“. So oft mir eine Ihrer Melodien einfällt, bleibe ich mit einer langenDankbarkeit an diesen Erinnerungen hängen: ich habe durch Nichts so vielWiedergeburt, Erhebung und Erleichterung erfahren wie durch Ihre Musik. Sieist meine g u t e Musik par excellence, für die ich innewendig mir immer einreinlicheres Kleid anziehe als zu aller anderen.

Ich erlaubte mir, vorgestern Theaterberichte des Dr. Fuchs an Sieabzusenden. Es ist viel Feines und Erlebtes darin.

Die Vorlesungen des Dr. Brandes sind auf eine schöne Weise zu Endegegangen, — mit einer großen Ovation, von der aber B<randes> behauptet, daßsie nicht ihm gegolten habe. Er versichert mich, daß mein Name jetzt in allenintelligenten Kreisen Kopenhagens populär und in ganz Skandinavien bekanntsei. Es scheint, daß meine Probleme diesen Nordländer sehr interessirt haben;

im Einzelnen waren sie besser vorbereitet, z. B. für meine Theorie einer„Herren-Moral“ durch die allgemeine g e n a u e Kenntniß der isländischenSage, die das reichste Material dafür abgiebt. Es freut mich, zu hören, daß diedänischen Philologen meine Ableitung von bonus gutheißen und acceptiren: ansich ist es ein starkes Stück, den Begriff „gut“ auf den Begriff „Krieger“zurückzuführen. Ohne meine Voraussetzungen würde nie ein Philologe aufeinen solchen Einfall gerathen können. —

Es ist wirklich schade, daß Sie nicht eine Ausschweifung in’s Cadoregemacht statt in’s Papierschwärzerische. Mein schlechtes Beispiel verdirbtersichtlich Ihre an sich sehr viel besseren Sitten. Das Wetter war sehr geeignetzu einer solchen Gebirgs-Entdeckung: ich selbst zwar habe auch keinenGebrauch davon gemacht und bin in ähnlicher Weise darüber mit mirunzufrieden.

Eine wesentliche B e l e h r u n g verdanke ich diesen letzten Wochen: ichfand das Gesetzbuch des M a n u in einer französischen Übersetzung, die inIndien, unter genauer Controle der hochgestelltesten Priester und Gelehrtendaselbst, gemacht worden ist. Dies absolut a r i s c h e Erzeugniß, einPriestercodex der Moral auf Grundlage der Veden, der Kasten-Vorstellung unduralten Herkommens — n i c h t pessimistisch, wie sehr auch immer priesterhaft— ergänzt meine Vorstellungen über Religion in der merkwürdigsten Weise. Ichbekenne den Eindruck, daß mir alles Andere, was wir von großen Moral-Gesetzgebungen haben, als Nachahmung und selbst Carikatur davon erscheint:voran der Aegypticismus; aber selbst Plato scheint mir in allen Hauptpunkteneinfach bloß g u t b e l e h r t durch einen Brahmanen. Die Juden erscheinendabei wie eine Tschandala-Rasse, welche von ihren H e r r e n die Principienlernt, auf die hin eine P r i e s t e r s c h a f t Herr wird und ein Volk organisirt…Auch die Chinesen scheinen unter dem Eindruck diesesk l a s s i s c h e nu r a l t e n G e s e t z b u c h s ihren Confucius und Laotse hervorgebracht zuhaben. Die mittelalterliche Organisation sieht wie ein wunderliches Tasten aus,alle die Vorstellungen wieder zu gewinnen, auf denen die uralte indisch-arischeGesellschaft ruhte — doch mitp e s s i m i s t i s c h e n Werthen, die ihreHerkunft aus dem Boden der Rassen-décadence haben. — Die J u d e nscheinen auch hier bloß „Vermittler“ — sie erfinden nichts.

Soviel, mein lieber Freund, zum Zeichen, wie g e r n ich mich mit Ihnenunterhielte —. Dienstag Abreise. —

Von HerzenIhr Nietzsche.

1042. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig (Zettel)

<Turin, Mai 1888>

Es wird den Freunden der Philosophie F r i e d r i c h N i e t z s c h e ‘ s vonWerth sein, zu hören, daß letzten Winter der geistreiche Däne Dr. GeorgBrandes einen längeren Cyklus von Vorlesungen an der KopenhagenerUniversität dieser Philosophie gewidmet hat. Der Redner, dessen Meisterschaftim Darlegen schwieriger Gedankencomplexe nicht erst sich zu beweisen hatte,wußte eine Zuhörerschaft von mehr als 300 Personen für die neue undverwegene Denkungsart des deutschen Philosophen lebhaft zu interessiren: sodaß seine Vorlesungen in eine glänzende Ovation zu Ehren des Redners undseines Thema’s ausliefen.1043. An Pasquale d’Ercole in Turin

Sils-Maria, den 9. Juni 1888(Oberengadin)

Verehrtester Herr Professor,

ich benutze den ersten Augenblick, wo ich wieder den Kopf frei und heiter habe,um Ihnen auszudrücken, daß ich t r o t z a l l e d e m weder der undankbarstenoch der unhöflichste Mensch von der Welt bin. Es ist mir hart angekommen,Turin zu verlassen, ohne Ihnen Lebewohl gesagt zu haben; aber es gieng nichtanders. Ich war fast immer krank und die letzten Tage durch die Hitze wiebetäubt. Rechnen Sie es ein wenig meinem Stolze zu, daß ich nicht ganz und garals „Leidender“ in Ihrem Gedächtnisse zurückbleiben wollte. Rechnen Sie esauch meiner Philosophie zu, welche dem Kranken anräth, es den Thierennachzumachen und sich in seine H ö h l e zu verkriechen. Ich zweifle nicht, daßich über kurz oder lang, an einem schönen, frischen klaren Herbsttage, die Ehrehaben werde, eine so werthvolle und liebenswürdige menschliche Beziehungwieder anzuknüpfen, deren ich dies Mal kaum würdig war.

Inzwischen hat mir Ihre Güte ein Mittel in die Hand gegeben, auch hier inIhrer Gesellschaft zu sein. Ihr Philosoph von Intra interessirt mich alspsychologisches Problem: ein Dichter, noch dazu ein Italiäner, der sich geradein das Grau und Grau unsrer deutschen Scholastik verliebt! Ich erinnere michdabei der Begeisterung, die Monsieur H. Taine über die erste Wirkung vonHegel’s Logik ausdrückte: Taine, der auch einen verborgenen Dichter in sichträgt. Er meinte ungefähr, es sei der höchste Zustand seines Lebens gewesen.

Empfangen Sie, verehrter Herr Professor, den ergebensten Gruß

Ihres dankbar verpflichtetenNietzsche

1044. An Franziska Nietzsche in Naumburg

S i l s - M a r i a , den 10. Juni 1888Meine liebe Mutter,

Dein Brief und die schöne Sendung folgten sich in sehr kurzer Zeitdifferenz: alsder erste kam, lag ich noch krank zu Bett, bei der Kiste aber war ich schon aufdem Wege zur Besserung. Es gieng nämlich wieder schlecht mit der Reise. Amersten Abend schon kam ich krank an und hatte in Chiavenna eine miserableNacht. Dort am nächsten Tage zu bleiben widerrieth die Schwüle undunerträgliche Luft dieses Sticklochs. Aber die lange Postfahrt nach Sils that mirnicht gut; und so mußte ich denn die ersten 24 Stunden wieder, wie leider fastjedes Mal, mit heftigem Erbrechen zubringen. Es kommt dazu, daß hier obenn i c h t die Luft weht, die ich hier suche. Der viele Schnee, der thaut, macht dieLuft zu feucht; und dabei ist die Wärme auch auf 23 Grad. Seltsam! Ich bin vielleichter mit dem Turiner Wetter fertig geworden, obwohl wir Tag für Tag 31Grad hatten. Aber die Luft war durch und durch dünn und rein, auch wehteimmer ein lieblicher Zephyr. Hier in Sils lag noch bis tief in den Mai hinein 6Fuß fester Schnee. In den nächsten Ortschaften sind ungeheure Lawinenniedergegangen, 26 der Zahl nach. Das thaut nun Alles auf. Wohin man spaziert,findet man den Schnee als Hinderniß; die Berge sind bis auf die Thalsohle herabnoch weiß. Es hat nie so vielen Schnee gegeben; auch soll die Kälte bis auf 33Grad u n t e r Null herabgegangen sein. Ganze große Wälder sind durch dieLawinen fortgerissen, der Schaden ist groß.

Nun fehlen, wie Du Dir denken kannst, die F r e m d e n noch ganz und gar;und die Eine Schwalbe macht keinen Sommer. Ich esse allein. Bis jetzt ist Allesnicht recht im Stande, weder Magen, noch Schlaf, noch Lust zum Arbeiten,noch Lust am Spazierengehn. Man ist auch noch gar nicht vorgesehn undeingerichtet für die Bedürfnisse der Fremden — so daß es bei mir überall hapertund ich ein wenig melancholisch bin. —

Da kam denn der schöne S c h i n k e n sehr zur rechten Zeit, meine liebeMutter; ich danke herzlich für all die guten Dinge, die Du geschickt hast. DieHemden scheinen P r a c h t s - H e m d e n zu sein: ich habe eben 2, die dünnund löcherig waren, bei Seite gelegt, so daß die neuen gerade in die Lückeeintreten.

Dasselbe gilt von den warmen schönen Strümpfen. Wenn ich dies Alles, wiees Dein ausdrücklicher Wunsch ist, als Geschenk annehmen soll, so mußt Dumir wenigstens erlauben, Dir eine kleine Gegengabe präsentiren zu dürfen. Duhättest gern, schriebst Du mir nach Turin, die m i l d e r aussehendePhotographie von mir: bitte, laß sie machen und berichtige dann die b e i d e n

Bilder aus den 30 Mark, die ich Dir inzwischen durch H<errn> Kürbitz habezustellen lassen. Das nächste Mal hätte ich gerne so etwas wie eineS e r v i e t t e , damit ich mir selbst mein Tischchen decken kann, wenn ichessen will. —

Mit den Kleidern bin ich jetzt im Ganzen in Ordnung. Ich habe einen sehrleichten Hut auf dem Kopfe, der aus Roßhaaren geflochten ist: sehr hübsch, abertheuer. Der kleinen Adrienne habe ich einen Ring aus Nizza mitgebracht, derallerliebst aussah und den mir Frau Köchlin bei einem dortigen Goldschmiedausgesucht hat. Außerdem schöne Pariser Seife. Ich habe einen neuen Koffer,für den ich 1 5 frs. bezahlt habe = 4 Thaler.

In T u r i n erlebte ich zuletzt noch ein großes Musikfest, bei dem 34Stadtorchester aus drei Provinzen Italiens thätig waren, dazu noch die 8Orchester von Turin. Die Concurrenz der Orchester fand gleichzeitig in den 3größten Theatern von Turin statt (jedes zu 3000—4000 Plätzen) von früh bisAbend. —

Ich hätte Dir gern auch so einen heiteren Brief geschrieben, wie Du ihngeschrieben hast, meine liebe Mutter. Aber Dein altes Geschöpf ist immerfortetwas traurig. In Liebe und sehr dankbar

Dein F.1045. An Heinrich Köselitz in Venedig

D o n n e r s t a gS i l s , d. 14. Juni 1888.

Lieber Freund,

Ihr Brief langte zu gleicher Zeit mit der Rückkehr meiner Gesundheit (— undmeines Barbiers) bei mir an: Sie können denken, wie festlich er begrüßt wurde.Ihre Mittheilung, daß das provençalische Quartett einmal mir zugehören soll,schmeichelt mir im höchsten Grade. Ich habe darauf hin ungefähr schon meineLebenspläne verändert. Doch darüber später einmal: heute nur den ersten undvorläufigsten Ausdruck tiefer Erkenntlichkeit. Daß man die g u t e n Dinge miteinander gemein hat, das verbindet am innerlichsten: und ich weiß noch sehrgut, welche kleinen Schauer von Vollkommenheit mir über die Seele liefen, alsich, in Venedig, die Ehre hatte, das damals w e r d e n d e Quartett zu hören. —

Die cartolina ist n i c h t eingetroffen; falls das herrliche Duett ankommt,werde ich es an „geneigter Belustigung“ nicht fehlen lassen. — Ein sehrliebenswürdiger Gedanke ist es von Ihnen, dem Dr. Fuchs ein Paar Wortezukommen zu lassen: ich bitte Sie darum, ich weiß gut genug, wie dies auf densehr vereinsiedelten und viel zu wenig geschätzten Danziger wirken wird.

Zuletzt habe ich in meinem letzten Brief von Ihnen erzählt. Es ist übrigenserstaunlich, was er alles durchsetzt und unternimmt: seine letzten Brief-Berichtegaben mir von der feurigen Energie seiner Natur wieder den allerhöchstenBegriff. (Die Recensionen wünscht er wieder zurück: er hat noch viel mehr undwill sie, auf Wunsch, herausrücken…)

Es gieng schlecht bis jetzt, lieber Freund. Die Reise mißrieth wieder, wiegewöhnlich: ich hatte sechs Tage nöthig, um ungefähr wieder von denschlechten Nachwirkungen loszukommen. Nichts ist so labil im Gleichgewichtals meine Gesundheit… Das Wetter, das ich hier oben fand, war n i c h t das,welches ich suchte. Feucht, schwül, Thauluft, — 23 Grad C. Denken Sie sich:ich dachte mit Reue an das verlassene Turin, ob ich schon dasselbe in derallergrößten Hitze kennen gelernt hatte. Die letzte Zeit stieg der ThermometerTag für Tag auf 31 C., das Minimum war 22 C. Und seltsam! ich, derempfindlichste Mensch für Hitze, litt ganz und gar nicht dabei — schlief gut, aßgut, hatte Einfälle und arbeitete… Die subtile trockne Luft, der Zephyr auf denGassen — im Grunde war es eine Art mir unbekannten Epikureismus’. WelcheHöhe die Café-haus-cultur erklommen, davon wage ich nicht zu schreiben. —

Seit gestern ist es auch hier wieder gute Luft und gesund. Sils ist wirklichwunderschön; in gewagter Latinität das, was ich P e r l a P e r l i s s i m anenne. Ein Reichthum an F a r b e n , hundert Mal südlicher darin als Turin.Ringsherum liegen noch die Reste von 26, zum Theil ungeheuren Lawinen.Ganze Wälder sind von ihnen heruntergebrochen. Es giebt hier ein interessantesLawinen-R e c h t : das Holz gehört dem, auf dessen Grundstück die Lawine eswirft. Ein Bewohner von Bevers hat auf diesen Weise ca. 5000 frs. Holz zumGeschenk bekommen. Der Schnee lag hier noch bis in den Mai hinein 6 Fußhoch: dann schmolz er mit einer kaum begreiflichen Schnelle weg.

In Turin hörte ich zuletzt noch ein M u s i k f e s t : 34 Stadtorchesterconcurrirten. Ich wohnte der Concurrenz der fünf besten Capellen bei, im teatroVitt<orio> Em<anuele>, das c. 5000 Personen faßt. Der Klang war bezauberndschön: was ich nie geglaubt hätte. Diese fortissimi! Ich zeichnete bei mir als diebei weitem erste Leistung die der Capelle von Asti aus, mit ihrem maestroFoschini; der den Muth hatte, eine eigne Sinfonia drammatica alsConcurrenzstück aufzuführen. Nach meiner Abreise von Turin erfuhr ich mitVergnügen, daß Asti die g r o ß e g o l d n e Medaille bekommen hat, mit allenmöglichen Ehren seitens 2 Ministerien auch für den maestro. —

Overbeck bezieht ein eignes Haus in Basel. Von meiner Schwester ist eingeradezu bezaubernder langer Bericht über die Ankunft und feierlicheEinholung in Nueva Germania da. Die Sache gewinnt wirklich einen

großartigen Aspekt.In München sehn Sie, wenn es möglich, S e y d l i t z e n s . Die sind so gut

gegen mich. — Von Levi höre ich, daß er krank ist und diesen Sommern i c h t in Bayreuth dirigirt.

Ich hatte Fritzsch freigestellt, von meinem Kopenhagener Erfolg etwas in derPresse verlauten zu lassen. Er schrieb mir kürzlich, im Drang der Geschäftehabe er’s v e r g e s s e n , und nun sei es wohl zu spät. —U n v e r b e s s e r l i c h !

Mit herzlichem Glückwunsch für die Reise

Ihr N.1046. An Heinrich Köselitz in Venedig

<Sils-Maria, 15. Juni 1888>

Lieber Freund,

soeben las ich, im Bund abgedruckt, die feine und schöne Sache S p i t t e l e r süber Sch<ubert>. Dabei beschloß ich, diesem Manne, der mir doch s e h r werthist, wieder ein Zeichen meiner Theilnahme zu geben (und, womöglich, „dasWölkchen“ zwischen uns zu verscheuchen —) Haben Sie noch ein Exemplardes H y m n u s zu versenden? Ich habe leider 2 Ex. in Nizza gelassen. — Bitte,schreiben Sie darauf:

Herrn Carl Spittelerzum Zeichen besondrer Hochschätzung

N.Adresse: B a s e l , Gartenstr. 74.Es ist möglich, daß ich im Herbst über Basel komme. Da würde ich ihn

besuchen; vielleicht ist Sp<itteler> für Ihre Musik vorbereitet? Er scheint mireinstweilen unentbehrlich für uns.

— Und r e c t i f i z i e r e n Sie die Clarinette, Freund! Ich habe sonst imGrabe keine Ruhe!…

Wir hatten heute Schnee und eisigen Wind. Gesundheit etwas besser. Briefgestern an Sie abgegangen.

Treulich Ihr Freund N.1047. An Franziska Nietzsche in Naumburg

<Sils-Maria> S o n n a b e n d . <16. Juni 1888>Meine liebe Mutter,

es geht nicht zum Besten. Verzeih, wenn ich etwas kurz schreibe. Das Geld von

Kürbitz mußt Du u n t e r a l l e n U m s t ä n d e n acceptiren, sonst kann ich janicht meine B e s t e l l u n g e n machen, wie ich’s nöthig habe! Du hastvielleicht nicht mehr im Gedächtniß, was ich von T u r i n aus schrieb. Ich willdies Mal meinen g a n z e n B e d a r f von Schinken aus Naumburg haben. Imvorigen Sommer habe ich ihn aus Basel, aus Zürich, aus St. Gallen undanderswoher bezogen, mit allerhand Verdruß und Enttäuschung: so daß ich’snicht wiederholen will. Ich mußte es, wie Du Dir denken kannst, immer mitmeiner G e s u n d h e i t abbüßen, wenn eine Bestellung schlecht oder halb-genügend ausfiel. Was mir eigentlich a l l e i n gut bekommen ist, das war dieallerletzte Naumburger Sendung vom September: die runde dickeLachsschinken-wurst. Deshalb schrieb ich von Turin, daß ich dies Mal vonvornherein vernünftig sein wolle und nicht erst alle möglichen schlechtenExperimente machen. Da mein Sommer die Länge von 4 Monaten ungefähr hat,so brauche ich mindestens noch 12 Pfund = 6 K i l o L a c h s s c h i n k e n . Eshandelt sich um meine g a n z e Abendmahlzeit für 4 Monate. Wenn Du einenBegriff von der Schwierigkeit meiner Ernährung gerade h i e r unter dene n o r m k o s t s p i e l i g e n Fremdenverkehr-Verhältnissen hättest, sowürdest Du auch sofort verstehn, daß d i e s e sehr einförmige und langweiligeDiät relativ bei weitem die b i l l i g s t e und auch g e s ü n d e s t e für mich ist.Ich darf absolut nichts mehr riskiren; je regelmäßiger, desto besser. In einergroßen Stadt, wie Turin, steht mir natürlich jede Abwechslung zu Gebote: hieraber n i c h t (— es wird sofort schrecklich theuer, da ich schon für ein s e h reinfaches Mittagessen 2 frs. 25 ct. = 19 Groschen (ohne Trinkgeld) gebe. —Wenn es Dir Mühe macht, meine gute Mutter, so gieb mir eine gute Adresse fürein Geschäft in Gotha oder in Braunschweig. Am Liebsten wäre es mir freilich,so, wie ich’s mir ausgedacht hatte: daß D u s e l b s t den Schinken aussuchtestund zusendetest (— die Kosten des Transport fallen natürlich ebenfalls m i r zu—)

Ich bin mit der kleinen Wurst fertig: sie war zu trocken, wegen ihrerKleinheit. Die größere ist b e s s e r , doch lange nicht so gut, wie die dickerunde vom letzten Herbst. Ich glaube, man thut gut, recht große zu schicken.Die übersandten 3 Pfund reichen etwa im Ganzen 14 Tage: das heißt, ich habenoch für 6 Tage zu essen.

Sei nicht böse, daß ich Dir solche Mühe mache: aber ich bitte Dich, s o f o r tw i e d e r eine g r ö ß e r e Sendung als das letzte Mal abzuschicken: und vomA l l e r b e s t e n . Die Kosten dafür kommen bei mir gar nicht in Betracht,wenn es sehr gut und gesund ausfällt, gieb also gerne etwas m e h r ,vorausgesetzt, daß es prima Qualität ist. — Und geh, bitte, zu K ü r b i t z !!!!

Der Honig ist mir leider s e h r schlecht bekommen: ganz wie im vorigenSommer. Es trat Erbrechen ein. Das ist W a c h s -Honig: aber mein Magen weißauf keine Art mit Wachs fertig zu werden. —

Ich lege den Einen Brief vom Lama bei; der andre folgt das nächste Mal,damit der Brief nicht doppelt wird. Es wundert mich, daß Lisbeth nichts vonmeinen 8 Briefen sagt, die ich ihr von N i z z a diesen Winter geschrieben habe.

In LiebeDein altes Geschöpf

Ich habe Dir noch gar nicht für Deinen herzlichen Brief gedankt. NachNaumburg kommen, unter meinen Gesundheits-Verhältnissen, ist freilich nichtmöglich: es ist n i c h t Liebhaberei, was mich zum Engadin und zu Nizzav e r u r t h e i l t — —

Als Adresse genügt eigentlich Sils-Engadin, Schweiz: es giebt nämlich noch2 andre Sils, nicht im Engadin.1048. An Meta, von Salis auf Marschlins

Sils, Engadin, den 17. Juni 1888.

Verehrtes Fräulein

es schneit eben aus Leibeskräften: ich sitze in meiner Höhle und überlege miteiniger Schwermuth, ob nicht das Wetter (oder der Wettermann) den Verstandverloren hat. Als ich hier ankam, war es schwül, lästig, eine Hitze von 24 Grad;es kam mich fast eine Reue an, Turin verlassen zu haben, wo wir zwar täglich31 C. hatten, aber aria limpida elastica und jenen berühmten Zephyr, von demich früher nur durch die Dichter wußte. Hier oben schmolzen 26 Lawinen;wohin man spazieren ging, fand man Haufen weichen Schnees: — ich war 6Tage krank, ehe ich mich wieder mit Sils und dem Leben vertrug. —

Dies schreibe ich im Grunde, um Sie einzuladen, hier herauf zu kommen. Ichzweifle nicht, daß Sie besseres Wetter mitbringen — und jene Vernunft, die dasWetter verloren hat.

In der „Alpenrose“ sind vierzehn Personen — fast lauter Hamburger undHamburgerinnen. D a s flieht Alles vor dem tropischen Gluth-Sommer, der unsversprochen ist — u n d sitzt nun im Schnee.

Ich habe eben, mit Hülfe meteorologischer Tabellen, folgende g a n zu n w a h r s c h e i n l i c h k l i n g e n d e Wahrheit festgestellt.

„Der Januar in Italien“Heitere Tage Regentage Grad der Bewölkung

T u r i n 10,3 2 4,9

F l o r e n z 9,1 9,7 5,7R o m 8,2 10 5,8N e a p e l 7,7 10,8 5,2P a l e r m o 3,2 13,5 6,5

Das bedeutet, daß im Winter, je tiefer man nach Süden steigt, das Wetterschlechter ist (— weniger helle Tage, mehr Regentage und ein immer trübererHimmel —) Und wir glauben alle instinktiv das Gegentheil!! Das schreibe ichim Grunde, um zu fragen, was Sie in Rom und m i t Rom erlebt haben. Ich habeoft meine Zweifel gehabt, ob gerade dieser Winter, wo Rom außerdem noch imP i l g r i m - D u n s t lag, Ihnen Freude gemacht hat. Aber zuletzt waren Sie garnicht dort: ich habe so lange nichts mehr von Ihnen gehört.

Von meiner Schwester sind die allerbesten Nachrichten da: zuletzt eineBeschreibung des festlichen Einzugs in die neue Residenz Nueva-Germania, diemich ganz bezaubert hat. Die Unternehmung gedeiht; sie hat bereits jetzt einengroßartigen Aspekt.

Haben Sie davon gehört, daß ich inzwischen b e r ü h m t geworden bin?Nämlich in Dänemark, woselbst, zu meinem größten Erstaunen, der Dr. GeorgBrandes für meine Philosophie Propaganda macht. Er hat einen längeren CyklusVorlesungen „über den deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche“ an derKopenhagener Universität gelesen — und ich habe Gründe zu glauben, daß erdamit einen g r o ß e n E r f o l g gehabt hat. Man spricht im ganzen Nordenjetzt von mir („Herren-Moral“ scheint das Schlagwort)

Mit der Bitte, mir ein freundliches Wort hier herauf zu sagen

bin ich Ihr ergebenster DienerNietzsche

Was macht Fräulein Resa? Ist sie bereits promota? — Und Ihre dichterischeFreundin?1049. An Heinrich Köselitz in Venedig

Sils-Maria d. 20. Juni 1888.

Lieber Freund,

Ihr „Liebesduett“ kam wie ein Blitz hinein in meine Trübsal. Ich war mit einemSchlage genesen, ich bekenne, selbst geweint zu haben vor Vergnügen. WelcheErinnerungen giebt mir diese himmlische Musik! Und doch schien ich sie jetzterst, wo ich sie sechs Mal hintereinander gelesen habe, völlig zu verstehen —sie scheint mir auch im höchsten Grade „singebar“. Es ist ein hohesschwärmerisches Gefühl darin, das Stendhal entzückt haben würde: ich las

gerade gestern noch in seinem r e i c h s t e n Buche Rome, Naples et Florenceund dachte fortwährend dabei an Sie!* — Er erzählt unter Anderm, wie erRossini fragt „was lieben Sie mehr, die Italiana in Algeri oder den Tancred?“ Erantwortet: „il matrimonio segreto“…

Lieber Freund, das bringt mich darauf, Ihnen zu g r a t u l i r e n , daß Sie beidem Titel „der Löwe von Venedig“ verblieben sind. Es ist doch ein sehranregender und zur Phantasie redender Titel. Es wäre schade, wenn der kleineWink „Venedig“ f e h l t e … Insgleichen gefällt mir die Bezeichnung„italienische komische Oper“: sie wirkt vielfachen Verwechslungen undMißverständnissen entgegen. Endlich: Sie haben Recht, bei Ihrem „Peter Gast“zu bleiben: ich begriff es, als ich’s l a s . — Es ist derb, naiv und, mit Erlaubnißgesagt, d e u t s c h … Sie wissen, daß ich, seit letztem Herbst, Ihre Opern-Musiksehr deutsch finde — a l t deutsch, gutes sechszehntes Jahrhundert?

Nochmals meinen schönsten Dank — es war wirklich eine K u r , dasplötzliche Erscheinen dieses herrlichen Duetts.

Inzwischen nämlich war ich sehr behängt und verdeckt, wie der Himmel,und zu allem Guten untüchtig. Die absurde Unordnung des Climas war mitdabei betheiligt. Nachdem wir eine Woche das h e i ß e s t e Wetter gehabthaben, das überhaupt im Engadin möglich ist (24 Grad), stecken wir seit 6Tagen wieder im Winter. Erst s c h n e i t e es einen halben Tag, später 2 ganzeTage: und seitdem zieht es immer mit schweren Wolken über uns herum.

In der Bibliothek des Hôtels fand ich ein Leben Wagners von N o h l : das ineinem kostbaren Stil abgefaßt ist. Ich selbst komme darin vor, als „der geistvolleFreund u n d P a t r o n “ wörtlich! — Der König von Baiern, der ein bekannterPäderast war, sagt zu Wagner: „Also Sie mögen die Weiber auch nicht? sie sindso langweilig!“ — Diese „Meinung“ findet Nohl „j u g e n d l i c hu m f a n g e n “…

Overbeck schrieb gestern von seinen schlechten Gesundheitsverhältnissenund daß er nächste Woche ins neue Haus zieht. Er freut sich außerordentlich,von Ihrer Reise nach Deutschland und dem Quartett zu hören.

Der Tod des Kaisers hat mich bewegt: zuletzt war er ein kleinesSchimmerlicht von f r e i e m Gedanken, die letzte Hoffnung für Deutschland.Jetzt beginnt das Regiment S t ö c k e r : — ich ziehe die Consequenz und w e i ßbereits, daß nunmehr mein „Wille zur Macht“ zuerst in D e u t s c h l a n dconfiscirt werden wird…

Es grüßt Sie auf das Wärmste und Dankbarste

Ihr FreundNietzsche

— Ist meine Karte, Spitteler betreffend, bei Ihnen angelangt?* Man hat e b e n etwas ganz Unerwartetes edirt: das „Journal“ Stendhals, seineprivatissima aus c. 16 Heften, die in Grenoble, unter dem Wust seiner Papiere,entdeckt wurden. —1 essay(s) in Contexta1050. An Karl Knortz in Evansville (Indiana)

Sils-Maria, Oberengadin, den 21. Juni 1888.(Schweiz)

Hochgeehrter Herr!

Das Eintreffen von zwei Werken Ihrer Feder, das mich Ihnen zu Dankverpflichtet, scheint mir zu verbürgen, daß inzwischen meine Litteratur in IhrenBesitz übergegangen ist. Die Aufgabe, ein Bild von mir, sei es vom Denker, seies vom Schriftsteller und Dichter zu geben, scheint mir außerordentlich schwer.Der erste größere Versuch der Art ist letzten Winter von dem ausgezeichnetenDänen Dr. Georg Brandes gemacht worden, der Ihnen als Litterarhistorikerbekannt sein wird. Derselbe hat unter dem Titel „Der deutsche PhilosophFriedrich Nietzsche“ einen längeren Cyklus von Vorlesungen an derKopenhagener Universität über mich veranstaltet, deren Erfolg, nach allem, wasmir von dort gemeldet worden ist, ein glänzender gewesen sein muß. Er hat eineZuhörerschaft von 300 Personen für die Kühnheit meiner Problem-Stellungenlebhaft interessirt und, wie er selbst sagt, meinen Namen im ganzen Nordenpopulär gemacht. Sonst habe ich eine mehr verborgene Hörer- undVerehrerschaft, zu der auch einige Franzosen, wie Mr. Taine gehören. Meineinnerste Überzeugung ist, daß diese meine Probleme, diese ganze Position eines„Immoralisten“ für heute noch viel zu früh, noch viel zu unvorbereitet ist. Mirselbst liegt der Gedanke an Propaganda vollkommen fern; ich habe noch nichteinen Finger dafür gerührt.

Von meinem Zarathustra glaube ich ungefähr, daß es das tiefste Werk ist, dasin deutscher Sprache existirt, auch das sprachlich vollkommenste. Aberdasn a c h z u f ü h l e n , dazu bedarf es ganzer Geschlechter, die erst die innerenErlebnisse n a c h h o l e n , auf Grund deren jenes Werk entstehen konnte. Fastmöchte ich rathen, mit den letzten Werken anzufangen, die die weitgreifendstenund wichtigsten sind („Jenseits von Gut und Böse“ und „Genealogie derMoral“). Mir selbst sind am sympathischsten meine mittleren Bücher,„Morgenröthe“ und „Die fröhliche Wissenschaft“ (es sind die persönlichsten).

Die „Unzeitgemäßen Betrachtungen“, Jugendschriften in gewissem Sinne,verdienen die höchste Beachtung für meine Entwicklung. In „Völker, Zeitenund Menschen“ von Karl Hillebrand stehen ein paar sehr gute Aufsätze über die

ersten „Unzeitgemäßen“. Die Schrift gegen Strauß erregte einen großen Sturm;die Schrift über Schopenhauer, deren Lektüre ich besonders empfehle, zeigt, wieein energischer und instinktiv jasagender Geist auch von einem Pessimisten diewohlthätigsten Impulse zu nehmen versteht. Mit Richard Wagner und FrauCosima Wagner war ich einige Jahre, die zu den werthvollsten meines Lebensgehören, in tiefem Vertrauen und innerstem Einvernehmen verbunden. Wenn ichjetzt zu den G e g n e r n der Wagner’schen Bewegung gehöre, so liegen, wie essich von selbst versteht, dahinter keine mesquinen Motive. In den gesammeltenWerken Wagner’s Band IX (wenn ich mich recht erinnere) steht ein Brief anmich, der von unserm Verhältniß Zeugniß ablegt.

Ich bilde mir ein, daß meine Bücher durch Reichthum psychologischerErfahrungen, durch Unerschrockenheit vor dem Gefährlichsten, durch eineerhabene Freimüthigkeit ersten Ranges sind. Ich scheue auch, hinsichtlich derKunst der Darstellung und der artistischen Ansprüche, keine Vergleichung. Mitder deutschen Sprache verbindet mich eine lange Liebe, eine heimlicheVertrautheit, eine tiefe Ehrfurcht! Grund genug, um fast keine Bücher mehr zulesen, die in dieser Sprache geschrieben werden.

Empfangen Sie, hochgeehrter Herr, die ergebensten Grüße Ihres

Professor Dr. Nietzsche.1051. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Fragment)

<Sils-Maria> M o n t a g Nachmittag25. Juni 1888

Meine liebe gute Mutter,

ich schreibe Dir auf der Stelle, denn Du hast mir eben eine ganz unbändigeFreude gemacht. Nein, was ist das für eine schöne Sendung! Der LuxusderC r a v a t t e sticht Alles aus, was ich in Turin gesehn habe; und da ich jetztsehr hübsche moderne Kragen habe, wird sich das zusammen sehr festlichausnehmen. Die Z w i e b ä c k e entsprachen einem „tiefgefühlten“ Bedürfniß.Ich habe überall, in Nizza, in Turin, zum Thee frühmorgens Zwiebäcke; aber imEngadin w ä c h s t das nicht. Der S c h i n k e n sieht äußerst delikat undstattlich aus: ich blicke mit neuem Vertrauen in die Zukunft — und das i s tE t w a s !! Denn ich habe eine böse und schwere Zeit bisher durchgemacht.Noch gestern wußte ich mich nicht gegen die traurigsten Gedanken zu wehren.Weißt Du, mir scheint es, daß es nicht nur an der Gesundheit bei mir fehlt,sondern an der Voraussetzung, um gesund zu werden — die L e b e n s k r a f tist so schwach, ich kann die Einbuße von mehr als zehn Jahren nicht wiederausgleichen, während welchen ich immer nur vom „Capital“ gelebt habe und

nichts, nichts, nichts dazu erworben habe — —Ich halte mich mit großer Kunst und Vorsicht leidlich aufrecht, aber wie

viele Zeit geht hin, wo ich s o s c h w a c h bin, wie man es in meinem Alternicht sein sollte! Und auch dieser ü b e r reizbare Zustand im Verhältniß zumWetter ist ein schlechtes Zeichen. Ich war fast die ganze Zeit in einerunbeschreiblich schlechten Verfassung. Ein tiefliegender Kopfschmerz, dereinen Brechreiz im Magen zur Folge hatte; keine Lust und Kraft zumSpazierengehn; Widerwille gegen mein [+ + +]1052. An Constantin Georg Naumann in Leipzig

Sils-Maria Oberengadin S c h w e i z26. Juni 1888.

Geehrtester Herr Verleger,

es giebt Etwas zu drucken. Wenn es Ihnen convenirt, wollen wir diese kleineSache ungesäumt in Angriff nehmen. Es ist bloß eine Broschüre, aber sie soll s oä s t h e t i s c h w i e m ö g l i c h aussehn. Sie betrifft Fragen der Kunst:folglich dürfen wir uns mit unserm Geschmack nicht bloßstellen.

Es ist schade, daß ich nicht persönlich hierüber mit Ihnen reden kann. Ichhörte gerne auch Ihrerseits Vorschläge. Was die meinigen betrifft, so möchte ichvor Allem den Versuch mit deutschen Lettern einmal empfehlen. G r o ß e , fette,schöne Lettern und nicht mehr als 27 Zeilen auf der Seite (das bisherige Formatvorausgesetzt —) Vielleicht machen wir auch wieder eine Rand-Linie um dieSeite, wie beim Zarathustra. — Ich glaube bemerkt zu haben, daß für Fragenund Schönheiten des Stils der Deutsche vollkommen stumpf ist, sobald erlateinische Schrift liest. Erst mit den d e u t s c h e n Lettern entsteht seineEmpfänglichkeit für das Aesthetische eines Stils. (Vielleicht, weil er gewohntist, seine Classiker in diesen Lettern zu lesen? — —)

In summa: mein l a t e i n i s c h e r Druck hat mir bis jetzt viel Schadengethan. Insbesondre beim Zarathustra.

Ich hebe noch ein paar Wünsche hervor:s c h w ä r z e r e r Druck als in der letzten Schrift.das Papier stärker und womöglich gelb (—es soll sehr delikat aussehen)eine l i b e r a l e Raumverwendung, zum Beispiel größere Zwischenräume

zwischen den einzelnen Abschnitten.Für den ä u ß e r e n Umschlag empfehle ich wieder das blasse Grün und den

Titel in roth wie beim 4ten Zarathustra.Zunächst ersuche ich um ein Paar P r o b e versuche, hinsichtlich Lettern,

Raumvertheilung, auch Papier.Mit der Bitte, dieser Sache einige Theilnahme zu schenken

bin ichIhr ergebenster

Prof. Dr. NietzscheNB. Ich habe bis jetzt in deutschen Lettern nichts gesehn, was mir gefallenhätte. Ich rathe n i c h t zu Schwabacher Lettern (— das ist eine Schwierigkeitmehr für die Herren Leser —)

Senden Sie, bitte, auch an Herrn Köselitz (M ü n c h e n , poste restante)diese Proben. Das ist ein Mann von Geschmack.1053. An Constantin Georg Naumann in Leipzig (Postkarte)

<Sils-Maria, 28. Juni 1888>

Werthester Herr Verleger,

Alles wohl erwogen, ist es doch Nichts mit den d e u t s c h e n Lettern. Ich kannmeine ganze bisherige Litteratur nicht desavouiren. Auf die Dauer zwingt mandie Menschen zu seinem e i g n e n Geschmack. Und mir wenigstens sind dielateinischen Lettern unvergleichlich sympathischer! — Mein Vorschlag ist also:die Lettern von „Jenseits“, auch das Format, aber bloß 27 Zeilen auf der Seite.Ich erwarte also k e i n e „Proben“. Der definitive Druck kann sofort beginnen.Die Adresse des Herrn Köselitz sende ich, sobald ich sie habe. — Ein PaarM a n u s c r i p t - z u s ä t z e folgen heute per Brief.

Auch über den Umschlag denke ich anders. Das Grün und Roth eignet sichn i c h t für eine Broschüre.

Mit der Bitte, mir bald Nachricht zu geben

Hochachtungsvoll IhrProf. Dr. Nietzsche

1053a. An Reinhart von Seydlitz in München

Sils-Maria, den 28. Juni 1888.

Lieber Freund,

nichts ist dümmer als die Dummheit - nämlich m e i n e . Der Gedanke, daß einBrief Dich noch südöstlich zu suchen habe, ist nicht einen Augenblick mir amHorizonte aufgestiegen. Und was hätte es Gutes gegeben, wenn wir allezusammen ein paar Tage Torinesi gewesen wären! Denn ich hatte dort eineLaune wie seit 20 Jahren nicht und funkelte, einem Drachen vergleichbar, anGeist und Bosheit. Selbst die Hitze that mir nichts an: wobei ich nicht umhinkann, einzuschalten, daß die C a f é - h a u s - C u l t u r Turin‘s in wahrhaftschwindelnde Höhen stieg! Ich glaubte mich Kenner in gelati, spumoni, pezzi

duri, aber siehe da…Daß Du in Nizza gewesen bist, thut mit geradezu wehe. Und in Rapallo, an

der heiligen Stelle, wo das „Buch der Bücher", Zarathustra, geboren ist! —— Hier muß ich irgend Etwas wieder gut machen. Schon gestern kam mir

der Gedanke, einmal hübsch wieder „unter Menschen" zu wandeln: inAnbetracht, daß ich als „Unmensch", als „Unbehauster" einem Thiere immerähnlicher werde. Rückzug über M ü n c h e n in der zweiten Hälfte desSeptember??? Aber da bist Du sicher nicht dort. —

Ich lege, für Deine liebe Frau, zu geneigter Belustigung, den Brief meinerSchwester bei, in dem sie den E i n z u g in die neue Residenz schildert.Derselbe ist eigentlich an meine Mutter gerichtet und von ihr für michabgeschrieben worden. Er scheint mir ein angenehmes document humain, mitden Parisern zu reden. —

Dieser Tage ist mein ausgezeichneter Freund und maëstro di Venezia HerrHeinrich Köselitz in München eingetroffen: das Menschenkind, welches dieeinzige Musik macht, welche vor meinem allerverwöhntesten Ohre noch Gnadefindet. Die erste moderne Oper (heiter, gemüthsreich, meisterhaft, nichtdilettantisch à la Wagner…) ist sein Werk: sie heißt „Der Löwe von Venedig“.Eben hat er ein tiefsinnig-schönes Q u a r t e t t fertig gemacht — eine„Provencalische Hochzeit" darstellend. Wenn besagtes Wunderthier sich bei Dirpräsentiren sollte, so nimm ihn mit Herzlichkeit auf — [+ + +]

Ich bitte, Deiner verehrten Frau Mutter meinen ergebensten Dank für IhrenGruß auszudrücken.

DeinFreund Nietzsche.

1054. An Carl Fuchs in Danzig

Sils-Maria, Oberengadin, Schweizd. 30. Juni 1888

Lieber, verehrter Freund,

seltsam! seltsam! mein Wunsch war, Ihnen sofort nach meinerZurückversetzung ins K ü h l e — denn wir hatten Tag für Tag 31 Grad in Turin— einen schönen Dankesbrief zu schreiben: ein frommer Wunsch, nicht wahr??— Aber wer konnte ahnen, daß ich mich nicht bloß „in’s Kühle“zurückversetzen würde, sondern ins H u n d e w e t t e r , an dem meineGesundheit Schiffbruch leiden würde! Winter, Sommer in unsinnigem Wechsel:sechs und zwanzig Lawinen im Schmelzen; jetzt noch dazu Regen, der Himmelfast immer verhängt — genug Gründe, um eine tiefe nervöse Erschöpfung, mit

Recrudescenz meiner früheren Leiden, zu entschuldigen. — Ich erinnere michnicht, schlechteres Wetter erlebt zu haben: und dies in meinem Sils-Maria,wohin ich flüchte, u m schlechtem Wetter zu entgehn! Ist es ein Wunder, wennselbst der Pfarrer hier sich das Fluchen angewöhnt? Er stockt jetzt mitunter inder Unterhaltung; dann würgt er immer einen Fluch hinunter. Neulich, beimHerauskommen aus der eingeschneiten Kirche, hat er seinen Hunddurchgeprügelt, mit den Worten „der verfluchte Köter hat mir die ganze Predigtverteufelt!“ —

Sie errathen, wozu ich Lust hätte? Aber das s c h i c k t s i c h n i c h t , miteinem Musiker…

Ich hatte solches Vergnügen an Ihren Lehr- und Wehr-Meinungen, daß ich esnicht für mich allein behalten wollte: ich hoffe, nichts Unziemliches gethan zuhaben, als ich s i e an meinen maëstro nach Venedig schickte?.. Und vonwelcher Energie legte Ihr Brief Zeugniß ab! Wie macht man das, dort oben inIhrem Norden, so jung zu bleiben? Ihr Brief war wirklich n o c h jünger als IhrBild —

Immer kommt mir dabei die Vorstellung wieder, daß Sie an eine viel freiere,g r ö ß e r e Stelle hingehören, wo Ihrer Lehr-Begabung andere Kräfteuntergeordnet sind und wo Sie nicht Alles allein machen müssen — Sieschlagen F u n k e n noch aus Ihrem Danzig: das wird jeder Schmied zubewundern haben!

Die a n d r e n Musiker werden nervös: wie es Ihnen zu Muthe ist, schließeich aus Ihrem Stil, der biegsam und behend läuft. So schreibt man n i c h t ,wenn man dyspeptisch ist.. Und so e r l e b t ist alle Ihre Kritik!

Wenn es, werther Freund, noch Etwas mitzutheilen giebt, gönnen Sie mirnoch eine zweite Sendung Recensionen! Adresse: S i l s , Oberengadin, Schweiz.Vielleicht kommt das Wetter inzwischen zur Vernunft! — und i c h mit ihm! —

Ihnendankbar verpflichtet

IhrNietzsche.

Dank für die allerschmeichelhafteste Etymologie! Die P o l e n sagen, esbedeute „Nihilist“…1055. An Constantin Georg Naumann in Leipzig (Visitenkarte)

S o n n t a g Abend d. 1 Juli 1888.Geehrtester Herr Verleger, hier folgen die l e t z t e n Manuscript-Zusätze,welche ich an den bezeichneten Stellen zu plaçiren bitte. — Es bleibt bei der

zweiten Entschließung: l a t e i n i s c h e Lettern, 27 Zeilen, keine Randlinie —Hochachtungsvoll Ihr

Dr Nietzsche

bis jetzt immer krank!!!1056. An Franz Overbeck in Basel

Sils, Engadin, am 4. Juli 1888.Lieber Freund,

inzwischen wirst Du, wie ich hoffe, zusammen mit Deiner vermuthlich argübermüdeten armen Frau ein wenig zur Ruhe gekommen sein. Ich nehme an,daß das Gröbste im Probleme des déménagement überwunden ist. MeinHauptwunsch dabei kann nur der sein, es möge der böse Gesundheitszustand,den Du zuletzt mir geschildert hast, n i c h t mit demenagirt sein. Gegen solcheGäste bleibt, hoffe ich, Deine neue B u r g unerbittlich verriegelt. Sonst kannich nicht umhin, auch in diesem Falle wieder die große Z ä h i g k e i t DeinerNatur zu bewundern. Darin bist Du mir weit über. —

Es fehlt mir nicht an Anlaß zu diesem Seufzer. Seit dem ich Turin verlassenhabe, bin ich in einem miserablen Zustande. Ewiger Kopfschmerz, ewigesErbrechen; eine Recrudescenz meiner alten Leiden; tiefe nervöse Erschöpfungverhüllend, bei der die ganze Maschine nichts taugt. Ich habe Mühe, mich gegendie traurigsten Gedanken zu vertheidigen. Oder vielmehr: ich denke sehr klar,aber nicht günstig über meine Gesammtlage. Es fehlt nicht nur an derGesundheit, sondern an der Voraussetzung zum gesund-werden — Die Lebens-Kraft ist nicht mehr intakt. Die Einbuße von 10 Jahren zum Mindesten ist nichtmehr gut zu machen: während dem habe ich immer vom „Capital“ gelebt undnichts, gar nichts zuerworben. Aber das macht a r m … Man holt nicht nach inphysiologicis, jeder schlechte Tag z ä h l t : das habe ich von dem EngländerGalton gelernt. Ich kann, unter begünstigenden Verhältnissen, mit äußersterVorsicht und Klugheit ein labiles Gleichgewicht erreichen; f e h l e n diesebegünstigenden Verhältnisse, so hilft mir alle Vorsicht und Klugheit nichts. Dererste Fall war Turin; der zweite ist, leider dies Mal, S i l s . Ich bin in einverdrießliches und unruhiges Winter-wetter hineingerathen, welches mir zusetzt,wie mir etwa ein Februar in Basel zusetzt. — Diese extreme Irritabilität untermeteorologischen Eindrücken ist k e i n gutes Zeichen: sie charakterisirt einegewisse Gesammt-Erschöpfung, die in der That mein eigentliches Leiden ist.Alles, wie Kopfschmerz usw. ist nur F o l g e zustand und relativsymptomatisch. — Es stand in der s c h l i m m s t e n Zeit in Basel und nachBasel genau nicht anders: nur daß ich damals im höchsten Grade u n w i s s e n d

war und den Ärzten ein Herumtasten nach lokalen Übeln gestattet habe, das einVerhängniß mehr war. Ich bin durchaus n i c h t kopfleidend, n i c h tmagenleidend: aber unter dem Druck einer nervösen Erschöpfung (die zumTheil h e r e d i t ä r , — von meinem Vater, der auch nur anF o l g e erscheinungen des Gesammt-Mangels an Lebenskraft gestorben ist —zum Theil erworben ist) erscheinen die Consequenzen in allen Formen. Daseinzige régime, welches damals am Platz gewesen wäre, wäre die amerikanischeWeir-Mitchells Kur gewesen: eine extreme Zufuhr von dem werthvollstenNahrungsmaterial (mit absoluter Veränderung von Ort, Gesellschaft, Interessen).Thatsächlich habe ich, aus Unwissenheit, das entgegengesetzte régime gewählt:und noch jetzt begreife ich nicht, daß ich nicht in Genua an t o t a l e rS c h w ä c h e gestorben bin. —

Ich bin über diesen Materie jetzt so gut unterrichtet, wie irgend ein Arzt:wäre ich’s 20 Jahre früher gewesen, so hätte ich den Zustand v e r h ü t e t …

Verzeihung! lieber Freund, für diesen gar zu medizinisch gerathenen Brief.Herr Köselitz ist in München; die erste Aufführung von Wagners „Feen“ hatschon stattgefunden, einem Berichte nach, den er schickte. Für die Übersendungdes G e l d e s sage ich Dir meinen ergebensten Dank.

Dein FreundNietzsche.

1057. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)

<Sils-Maria,> S o n n a b e n d Nachmittag <7. Juli 1888>Meine liebe Mutter, es geht immer noch nicht besser. Ich habe noch niemals hieroben eine so lange schlechte Zeit durchgemacht. — Das Wetter fährt fort, mirungünstig zu sein. Das Schnee-Wetter ist abgelöst von einem wochenlangenR e g e n wetter: so daß ich in meinen 5 Wochen 1 hellen Tag erlebt habe (nochdazu war es gerade der Tag eines bösen Anfalls.)

Der S c h i n k e n , der mir g u t gethan hat, geht nun seinem Ende langsamentgegen: so daß Deine Güte wieder in Anspruch genommen werden muß. Ichhoffe, daß mein Dankbrief für die letzte Sendung, den ich gleich nach demEmpfang schrieb, in Deine Hände gelangt ist.

Von Herzen Dein SohnF.

Das neue Nachthemd ist sehr angenehm auf der Haut. Schönsten Dank!1058. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)

<Sils-Maria,> 11. Juli M i t t w o c h 1888.

Lieber Freund,

es hat sich Nichts verbessert, weder mit mir, noch mit dem Wetter. Eiskalte Luftheute: der Himmel dick behängt. In fünf Wochen habe ich Einen hellen, freilichsehr kalten Tag erlebt (— leider hatte ich Gründe, ihn zu Bett zu verbringen)Dagegen 24 Tage mit strömendem Regen, Tag und Nacht; und drei Schneetage.Die Temperatur, Dank dem vielen Schnee, der noch liegt, durchschnittlich tief.Der Anfang meines Aufenthaltes hier oben hatte eine widrige schwüle Luft, mitdem h ö c h s t e n Thermometerstande, der überhaupt im Engadin erreichtwerden kann; man gieng nicht 20 Schritte, ohne zu schwitzen.D i e s schlugdirekt in Schneewetter um. Die ältesten Leute (85 Jahre) haben keinen Begriffvon solchen Zuständen.

Treulich Dein FreundN.

Ein leidender Herr aus Rom reist ab. Insgleichen eine größere HamburgerFamilie. Schlimm für die Hôtels.1059. An Constantin Georg Naumann in Leipzig

Sils-Maria, d. 12. Juli 1888

Werthester Herr Verleger

dem Wunsche des Dr. Carl Fuchs in Danzig (diese Adresse genügt) wollen wirmit Vergnügen nachkommen.

Es war mir erwünscht, daß Sie mir das Manuscript wieder zurücksandten.Ich hatte es in einem solchen Zustand von Schwäche abgeschrieben, daßi c h selbst es unleserlich finde. Seit mehr als fünf Wochen bin ich krank; sehrunwillkommne Rückkehr meiner alten Zustände; tiefe nervöse Erschöpfung mitandauerndem Kopfschmerz und Erbrechen. Ich sage nichts von dema b o m i n a b l e n Wetter, in das mich dies Mal mein Unstern verschlagen hat.

Sobald meine Kräfte es erlauben, will ich mich daran machen, das ganzeManuscript noch einmal mit möglichster Deutlichkeit der Schrift abzuschreiben.Irgend eine genauere Zeitangabe kann ich unmöglich machen. Andres Wetter,andre Gesundheit. Diese Nacht hat es stark gefroren. Die nächsten Berge tief imSchnee. 25 Tage ununterbrochnes Regenwetter. 3 Tage eingeschneit. In 5Wochen e i n e n hellen Tag, den ich leider zu Bett zubringen mußte. Immersehr niedrige Temperatur.

Die P r o b e n habe ich mit Interesse angesehn. Die eine, mit den gewohntenLettern meiner früheren Bücher und mit Einem Strich darum hat meinen ganzenBeifall.

Hochachtungsvoll der IhrigeProf. Dr. Nietzsche

1060. An Constantin Georg Naumann in Leipzig

Sils, Oberengadind. 16. Juli 1888.

Sehr geehrter Herr Verleger,

es geht besser: Sie bekommen hier den B e w e i s dafür! —Das Manuscript, wie es hier vorliegt, ist vollständig f e r t i g : ich bitte sofort

es in Arbeit zu nehmen. —Auch Herr Köselitz ist vorbereitet. Adresse: Herrn Heinrich Köselitz,

A n n a b e r g sächs. ErzgebirgeMit dem Wunsche, daß es jetzt schnell vorwärts geht Ihr

ergebensterProf. Dr. Nietzsche.

NB. Die Seiten sind von dem Vorworte an numerirt.1061. An Carl Spitteler in Basel

Sils, Oberengadin,am 16. Juli 1888

Sehr geehrter Herr,

als ich hier oben eintraf, fand ich, in einer Sonntags-Beilage des „Bund“abgedruckt, Ihre Worte über Schubert. Meine Freude war groß dabei: soliebevoll und so sachlich zugleich schreibt Niemand heute de rebus musicis etmusicantibus. Ich gab sofort einen Auftrag, um Ihnen irgend wodurch einZeichen meiner Sympathie zu geben — hoffentlich nicht ohne Erfolg. Ich sagedas letzte aus Mißtrauen gegen die Post.

Es fehlte mir so lange jede Nachricht über Sie. Der mir für Nizza zugedachteBrief ist, ich weiß nicht aus was für Gründen, erst g e s t e r n , den 15. Juli, inmeine Hände gelangt. Es scheint, daß er die Reise um die Welt gemacht hat.Aber die Nachrichten darin sind herrlich, vor allem die Aussicht auf ein Werk,dessen Thema mich nicht weniger interessirt als sein Verfasser. Dieser Crednerkann sich gratulieren! — Vielleicht ist es am Platze, daß ich über den genanntenHerrn noch etwas deutlicher bin als ich es in meinem letzten Briefe war. AlleWelt achtet ihn, aber alle Welt weiß auch „Geschichten“ von ihm, vor allemseine Autoren. Er ist, unter uns, launenhaft und willkürlich bis zur Dummheit.Vor zwei Jahren verlor er einen Prozeß gegen einen Professor in Tübingen, weil

er in dessen Geschichtswerk seine e i g n e völlig differente politischeGesinnung durch n a c h t r ä g l i c h e Correkturen eingeschwärzt hatte. Ichselbst war mit ihm über die Herausgabe meines „Jenseits“ in Ordnung: aber,gewarnt wie ich war, habe ich beim ersten Anzeichen von Verleger-Selbstherrlichkeit mein M<anu>s<cript> telegraphisch zurückverlangt. DiesenWinter klagte mir der geistreiche Däne Dr. Brandes brieflich sein Leid: ein beiCredner erschienenes Werk sei in einem Deutsch abgefaßt, für das e r , derAutor, keine Verantwortung übernehme — das Deutsch sei Credner-Deutsch. —Seien Sie ein wenig auf der Hut, lieber Herr!

Der eben genannte Dr. Brandes hat mich diesen Winter in Dänemarkberühmt gemacht. Er hat einen längeren Cyklus von Vorlesungen an derKopenhagener Universität gehalten: „über den deutschen Philosophen FriedrichNietzsche“. Nach den Zeitungen muß der Erfolg außergewöhnlich gewesensein; mehr als 300 Zuhörer regelmäßig, eine große Ovation am Schluß. Eben istmir etwas Ähnliches für New York in Aussicht gestellt worden. Bis jetzt habeich das Glück des allergewähltesten und zugleich zeitungsscheustenLeserkreises gehabt, den es geben kann; sagen wir dreißig gescheidte Köpfezwischen Paris und Petersburg. Der Rest geht mich nichts an.

Ich schreibe Ihnen noch ein Paar Worte aus dem Briefe einesverehrungswürdigen Musikers ab (beiläufig desselben, der diesen Winter einigeWortez u v i e l über eine gewisse Kritik geschrieben hatte) „der gesterneingetroffne Kunstwart enthielt ein verteufelt gescheidtes Artikelchen vonSpitteler über Schuberts Sonaten. Der Mann hat Herz, Geschmack undRichtertalent in musikalischen Dingen; er weiß, wie selten sogar Musiker,w o r u m es sich handelt. Merkwürdiger Weise nennt er die Esdur-Sonate nicht,die nach meinem Dafürhalten die vollkommenste Leistung Sch<ubert>s aufdiesem Gebiet ist; ebenso wenig die Wanderer-Phantasie, eines der kraft- undschwungvollsten Klavierwerke, die es giebt; selbst Beethoven, mit aller seinerGewalt, hat nichts so Hinreißendes zu Stande gebracht. Wahrhaftig, Schubert istein Riese; aber er hatte keine Idee von seinen Dimensionen und seiner Kraft; einRiese, der im Grase liegt, mit Kindern spielt und sich selbst für ein Kind hält —ein Phänomen, das nicht gut anderswo möglich ist als unter Deutschen, odersagen wir „möglich w a r “, denn die Kinder in Deutschland spielen heute RieseGoliath, und es ist schwer geworden, sich noch als Kind vorzukommen.“ —

Der „Hymnus an das Leben!“ Werther und lieber Herr Spitteler, im Grundebin ich ein alter Musikant. — Er soll einmal „zu meinem Gedächtniß“ gesungen<werden> — mit andern Worten, er soll von mir ü b r i g b l e i b e n ,vorausgesetzt, daß sonst genug „übrig bleibt“… M o t t l in Karlsruhe hat mir

eine Aufführung in Aussicht gestellt. —Es grüßt Sie mit dem Ausdruck herzlicher Antheilnahme Ihr

Dr. Nietzsche1062. An Heinrich Köselitz in Annaberg

Sils, Oberengadin, d. 17. Juli 1888.

Lieber Freund,

großes Vergnügen! nämlich darüber, daß Sie wieder für mich erreichbar sind.Mir fehlte Ihre Münchner Adresse — oh! und wie sehr sie mir fehlte! — Dochdavon nachher!

Ich empfehle durchaus, H. v. Bülow ein Exemplar des D u e t t s zu senden:mein Vorschlag ist, in Anbetracht, daß wir unter einander nicht ohneRücksichten sind (Bülow und ich —) darauf zu setzen:

Im Namen eines Freundesmit verehrungsvollem Gruße

überreicht von Prof. Dr. Nietzsche.(NB. Er ist auch für n ä c h s t e n W i n t e r der Hamburger Theater

Capellmeister. Avis au lecteur.) Übrigens hat man mir hier, wo geradeHamburger Gesellschaft prädominirt, nicht genug Bülow’s Theater-Direktionrühmen können. Unvergleichlich delikate Mozart-Aufführungen: insgleichenCarmen, geradezu nicht wiederzuerkennen im Vergleich zu älterenAufführungen (— Bülow habe sich eine Ehrensache daraus gemacht, das Werknicht in üblich-deutscher Manier zu compromittiren) — Sie können denken, inw e l c h e Menagerie ich Ihren Löwen sperren möchte? Pollini!!!

Gestern kam ein sehr erfreulicher Brief des Herrn Spitteler, geschrieben undnach Nizza geschickt v o r mehr als 2 Monaten: einen Dank für meine Verleger-Vermittlung ausdrückend. Es handelt sich um ein Hauptwerk Sp<itteler>s, dieAesthetik des ganzen f r a n z ö s i s c h e n D r a m a ’ s darstellend. Diecompetentesten Sachkenner scheinen außer sich vor Bewunderung desselben(— er hat, mit großer Bescheidenheit, überall erst angefragt)

Mit mir gieng und geht es schlecht. Der alte miserable Zustand vonKopfschmerz und Erbrechen fast permanent; viel zu Bett; wenig Kraft selbstzum Spazierengehn. Im Übrigen ein Hundewetter, so lange ich hier oben bin.Unerschöpflicher Regen, dazwischen Schneetage, durchweg sehr niedrigeTemperatur, in 5 Wochen Einen, noch dazu eiskalten h e l l e n Tag (— an demich zu Bett lag)

Die allerletzten Tage schien mir die Gesundheit ein paar Schritte vorwärts zumachen: allerdings gieng unmittelbar ihnen der härteste Anfall meines Leidens

voraus, den ich hier oben gehabt habe. —Dr. Fuchs hat so viel geschrieben, daß es eine Litteratur ist. Ein kleines Paket

Recensionen geht, auf seinen besonderen Wunsch, dieser Tage an Sie ab. —Lieber Freund! Erinnern Sie sich, daß ich in Turin ein kleines Pamphlet

geschrieben habe? Wir drucken es jetzt; und Sie sind auf das Inständigsteersucht, dabei mitzuhelfen. Naumann hat bereits Ihre Adresse. Der Titel ist:

D e r F a l l W a g n e r.Ein Musikanten-Problem.

VonFriedrich Nietzsche.

Es ist etwas L u s t i g e s , mit einem fond von fast zu viel Ernst. — KönnenSie sich die g e s < a m m e l t e n > S c h r i f t e n W < a g n e r > s zu Gebotestellen? Ich hätte gern ein Paar Stellen, um sie genau, mit Band- und Seitenzahlcitiren zu können, 1) es giebt im Texte des „Rings“ eine Variante vonBrünnhildens letztem Liede, die ganz buddhistisch ist: ich will nur die Seiten-und Bandzahl haben, n i c h t die Worte 2) wie heißt w ö r t l i c h die Stelle desTristan:

„den furchtbar tief geheimnißvollen Grundwer macht der Welt ihn kund?“

ist es so richtig? —3) in einer seiner letzten Schriften hat W<agner> einmal ausgesprochen, sogarf e t t g e d r u c k t , wenn ich mich recht erinnere, daß „die Keuschheit Wunderthut“ Hier hätte ich gern den Wortlaut. —

Im Übrigen ersuche ich <Sie> mir jede Art von Ausstellung, von Wort- undGeschmackskritik zu machen. Es steht viel Verwegenes in diesem kleinenMachwerk. — Correktur-Gang wie herkömmlich. Über Ausstattung, Papieru.s.w. bin ich mit Naumann bereits in Ordnung. Das Manuscript ist den 19. Juliin seinen Händen.

Mit den herzlichsten GrüßenIhres Freundes

Nietzsche.Mich Ihren verehrten Eltern angelegentlich empfehlend.

1063. An Franziska Nietzsche in Naumburg

Sils, OberengadinDienstag 17. Juli <1888>

Meine liebe Mutter,

gestern Abend, als ich gerade das letzte Stück Schinken verzehrte, kam Deine

s c h ö n e Sendung, recht gut erhalten, wie mir schien: nur daß von denZwiebäcken Etwas abgebröckelt war und sich dem Paket mitgetheilt hatte. DerZoll betrug 80 Pf. Machst Du eine genaue Aufzählung des Inhalts o d e r öffnetdie Zollverwaltung das Paket? Ich bin darüber nicht im Klaren. VielleichtBeides? Ich habe die Würste, die delikat sich anfühlen, aufhängen lassen, willaber den Anfang mit der d i c k s t e n machen. Ich bilde mir ein, daß die kleinensich leichter conserviren als die dicken — was sagst Du dazu? — DenZwieback kostete ich heute morgen zum Thee: er schmeckt vortrefflich und hatmeinen ganzen Beifall. Für die Eröffnung der „Süßigkeit“ will ich einen rechtguten Tag abwarten; das Portemonnaie entsprach w u n d e r b a r einem„tiefgefühlten Bedürfniß“. Und was für eine schöne, feine, starke Serviette! —Das erinnert mich an die vorzüglichen Nachthemden; ebenfalls an dasW u n d e r t h i e r von Cravatte, deren v e r b o r g e n e R e i z e ich in der Thatnoch nicht entdeckt hatte (— ich nenne sie d a s C h a m ä l e o n ) Was dieSchinken betrifft, so fiel mir die Anzeige eines Z ü r i c h e r Geschäfts in dieHand, das als „Gothaische Wursthandlung“ sich bezeichnet. Es empfiehlt seine„T h ü r i n g e r M i l c h s c h i n k l i “ (ohne Fett, Knochen und Schwarte):sollte das nicht eben u n s e r e Art Schinken sein? — Seit zwei Tagen spüre ichetwas wie Verbesserung: allerdings war unmittelbar vorher der s c h l i m m s t eAnfall der ganzen Zeit: so daß ich vielleicht nur den Gegensatz wohlthätigerspüre. Das Wetter bleibt w i n t e r l i c h , regnerisch, bedeckt; gesternfurchtbarer Sturm. Aber es scheintü b e r a l l schlimm zu stehn. Wie heiter undhübsch läuft doch Dein Leben in Naumburg! Wie viel passirt immer! und esscheint mir nach jedem Deiner Briefe, daß ihr miteinander sehr heiter gewesenseid und viel gelacht habt. (Nur war das Volckmannsche Kostgeld zu gering.)Der Brief des guten Lama liegt bei. Die Neuigkeit von dem Ankauf von 6000Morgen verstehe ich absolut nicht: wie mir überhaupt die F i n a n z l a g e derUnternehmung ein Räthsel ist. Frl. von Salis ist n i c h t eingetroffen. Das Hôtel,in dem ich esse hat zwischen 40 und 50 Personen. Meine Lebensweise ist so.Um 5 Uhr nehme ich eine TasseC a c a o (im Bett); um 1/2 7 ungefähr trinkeich meinen T h e e . Um 12 esse ich, allein, eine halbe Stunde v o r dem dînerdes Hôtels: regelmäßig ein Beefsteak und eine Omelette. Abends um 7 nehmeich nur auf meinem Zimmer ein Stückchen Schinken, 2 rohe Eidotter und 2weiße Wecken. Für meine Mittagsmahlzeit zahle ich einen s e h re r m ä ß i g t e n Preis, nämlich im Verhältniß dazu, was sonst die Fremden hieroben zahlen: nämlich 2 frs. 25 ct. (= 18 groschen) Die Fremden würden 3—4 fr.zahlen müssen. Die Zubereitung ist gut; das Fleisch ausgezeichnet. — Für denFall, daß es noch eine Zusendung geben sollte — der Sommer-Aufenthalt dauert

für mich hier noch über 2 Monate — bitte ich S t a h l f e d e r n ins Auge zufassen. Inzwischen habe ich eine so schlechte Schrift bekommen, daß eineb e s o n d e r e A r t S t a h l f e d e r n versucht werden mußte, die vonSönnecken: dieser Brief ist damit geschrieben. Diese Art ist jetzt sehr verbreitet,sie findet sich sicherlich auch in Naumburg. Die g e n a u e Bezeichnung ist:

S ö n n e c k e n ’ s R u n d s c h r i f t f e d e r nN r . 5

Bitte, hebe Dir d i e s e A d r e s s e auf. Das Hauptgeschäft ist in Leipzig.Findest Du, daß ich wieder l e s e r l i c h schreibe? Ich war auf dem Punkte,

meine eignen Manuscripte nicht mehr entziffern zu können. —Schreibe mir doch genau, u n t e r w e l c h e r A d r e s s e jetzt ein Brief an

das Lama zu richten ist. Überhaupt, was Du auf jedem Brief schreibst.Nochmals meinen herzlichsten Dank, meine alte gute Mutter, ich mache Dir

diesen Sommer rechte Mühe!! —

Dein Fritz.1064. An Carl Fuchs in Danzig

<Sils-Maria> Mittwoch, den 18. Juli 1888

Lieber Herr Doctor,

seien Sie nicht böse, aber ich setze mich, nothgedrungen, gegen Ihre Briefe zurWehre. Es ist mir vollkommen v e r b o t e n , dergleichen privatissima,personalissima anzuhören: das wirkt auf mich, ich wage nicht zu sagen wie —es klänge zu medizinisch. Versetzen Sie sich einen Augenblick in die Umständedessen, der einen Zarathustra auf der Seele hat. Wenn Sie begriffen haben,welche Mühe es mir gekostet, zur ganzen Thatsache Mensch ein ungefähresGleichgewicht zu erlangen, so werden Sie auch die extreme Vorsicht begreifen,mit der ich jetzt jeden menschlichen Verkehr behandle. Ich will, ein für alle Mal,sehr Vieles nicht mehr wissen, sehr Vieles nie mehr hören — um diesen Preishalte ich es ungefähr aus.

Ich habe den Menschen das tiefste Buch gegeben, das sie besitzen, meinenZarathustra: ein Buch, das dermaßen auszeichnet, daß wer sagen kann „ich habesechs Sätze davon verstanden, das heißt erlebt“ damit zu einer höheren Ordnungder Sterblichen gehört. — Aber wie man das büßen muß! abzahlen muß! esverdirbt beinahe den Charakter! Die Kluft ist zu groß geworden. Ich treibeseitdem eigentlich nur Possenreißerei, um über eine unerträgliche Spannung undVerletzbarkeit Herr zu bleiben.

Dies unter uns. Der Rest ist Schweigen.

Ihr FreundNietzsche.

1 essay(s) in Contexta1065. An Ferdinand Avenarius in Dresden (Entwurf)

<Sils-Maria, kurz vor dem 20. Juli 1888>

Seien Sie nicht böse! Das Eine ist, daß ich mich absolut nicht dazu überredenkann, Zeitschriften regelmäßig zu lesen. Meine ganze Aufgabe verlangt, meinGeschmack begehrt von mir Entfremdung, Gleichgültig-werden, Vergessen desG e g e n w ä r t i g e n … Das Andere ist, daß ich wirklich verstimmt war —durch das P r e i s g e b e n H. Heine’s; gerade jetzt, wo ein verfluchter Windvon Deutschthümelei bläst, bin ich ohne Milde für solche Condescen<den>zen.Ich habe in Turin eigens das Buch des verfluchten Hehn darauf hin gelesen:diesem Herrn, der zuletzt mit einem sehr kleinen Apparat von Proben seinenBegriff deutsch resumirt (zB. die Deutschen als Musiker einfach vergessen hat)mag es wohl nicht in den Kopf gekommen sein, daß der Cultur-W e r t h einesKünstlers oder Denkers in Hinsicht auf sein Vo l k noch ganz und gar nicht mitseinem Werth an sich zusammenfällt — und daß z. B. die DeutschenLessingu n d Heine mehr verdanken dürfen, als sie z. B. Goethe verdanken —sie haben sie nöthiger gehabt. Das sagt nichts gegen Goethe (im Gegentheil) —aber sagt Etwas g e g e n die Miserabilität und Undankbarkeit die jetzt gegenLessing und Heine eifert. Ich bin an die andere Art gewöhnt, mit der HeinesAndenken in Frankreich behandelt wird: wo ihm z. B. die Goncourts die Ehreerweisen, zusammen mit dem Abbé Galiani und dem Prince de Ligne diesublimste Form des esprit Parisien darzustellen (— drei Ausländer!merkwürdig!)1 essay(s) in Contexta1066. An Franz Overbeck in Basel

Sils, den 20. Juli 1888.

Lieber Freund,

nichts hat sich verbessert, weder das Wetter, noch die Gesundheit, — beidesbleibt a b s u r d . Aber heute erzähle ich Dir Etwas, das noch absurder ist: das istder Dr. Fuchs. Derselbe hat mir inzwischen eine ganze Litteratur geschrieben(darunter einen Brief von 12 großen engen Bogen!) Ich bin allmählich dabeizum Igel geworden, und mein altes Mißtrauen hat sich völlig wieder hergestellt.Sein Egoismus ist so schlau und andrerseits so ängstlich und unfrei, daß ihmAlles nichts hilft — sein großes Talent nicht und vieles ä c h t Artistische seiner

Natur. Er beklagt sich, daß er in Danzig 7 Jahre alle Welt gegen sich gehabthabe; und aus hundert Zeichen geht hervor, daß er auch jetzt dort kein Vertrauengenießt. Er möchte fort; er verhandelt mit Dresden, nachdem es mit der BerlinerMusikschule mißlungen ist. Und er hat es an keiner Form des Bewerbs und derAdulation fehlen lassen! Ein neues Paket Recensionen ist nur zu belehrenddarüber. Vieles Feine und Gute, so lange es sich um Sachen handelt; kommenP e r s o n e n in Betracht, so regiert das „Unendlich-Kleine“. Er hat, für mich,Randbemerkungen gemacht. „Dies ist stark übertrieben; aber ich verdanke i h mdas und das.“ Oder: „s i e haßt mich wegen dieses Worts: es war dumm vonmir.“ Nachdem es mit der Bewerbung um eine Professur an der BerlinerHochschule schief gegangen war, kamen 3 Professoren derselben nach Danzigund gaben ein Concert. F<uchs> hebt sie in der impudentesten Weise in denHimmel. Zur Entschuldigung dafür schreibt er an mich, er habe sich seinenVerdruß über seinen Mißerfolg nicht anmerken lassen wollen. In Wahrheitb e w a r b er sich um drei der einflußreichsten Stimmen. — Er hat mir einenEssai über meine Schriften in Aussicht gestellt: dabei drückt er eine wahreHöllenangst aus, daß das Eintreten für mich Atheisten ihm in seiner StellungalsO r g a n i s t von St. Peter schadet. Natürlich pseudonym!! er hat bereitsmeine beiden Verleger b e s c h w o r e n , seine Pseudonymität geheim zu halten.Derselbe F<uchs> hatte jahrelang eine Höllenangst, daß seine Beziehung zu mirihm bei Wagner schade; ein paar Jahre vorher, wo mein Einfluß in derWagnerschen Welt unbestreitbar war, hatte er sich nur zu eifrig um michbemüht. Ich habe es vorausgesagt, daß, mit dem Tode Wagners, ihm der Muthzurückkommen würde, an mich zu schreiben. Es traf ein, in fast komischerWeise. — Er ist auch Organist an der Synagoge in Danzig; Du kannst Dirdenken, daß er sich in der s c h m u t z i g s t e n Weise über den jüdischenGottesdienst lustig macht (— aber er läßt sich’s b e z a h l e n !!)

Schließlich hat er mir einen Brief über seine H e r k u n f t geschrieben, mitso viel ekelhaften und unanständigen Indiskretionen über seine Mutter undseinen Vater, daß ich die Geduld verlor und mir in der gröbsten Weise solcheBriefe verbeten habe. Ich habe durchaus keine Lust, mir meine Einsamkeitdurch den Zufall von Briefen stören zu lassen. — So weit sind wir. Leider kenneich diese Art Menschen zu gut, um hoffen zu dürfen, daß wir damit zu Endesind. —

Herr S p i t t e l e r hat an mich mit viel Dankbarkeit geschrieben. Es ist mirgelungen, etwas durchzusetzen, woran er verzweifelte: nämlich einen Verlegerzu finden. Es handelt sich um eine Aesthetik des f r a n z ö s i s c h e n Dramas:und siehe da, Herr C r e d n e r in Leipzig (Firma Veit, Verlagshandlung des

Reichsgerichts) hat mir in der artigsten Weise seine Bereitwilligkeit zugesagt.Diese kleine Humanität meinerseits hat noch einen H u m o r hinter sich: es warmeine Art Rache für einen extrem taktlosen und unverschämten ArtikelSpittelers über meine gesammte Litteratur, der letzten Winter im „Bund“erschienen ist. — Ich habe eine viel zu gute Meinung vom Talente diesesSchweizers, als mich durch eine R ü p e l e i beirren zu lassen (— ich habeRespekt vor seinemC h a r a k t e r — was leider in Bezug auf den Dr. F<uchs>nicht der Fall ist) Sp<itteler> ist durch meine Fürsprache auch Mitarbeiter des„Kunstwarts“ und, nach meinem Geschmack, dessen e i n z i g e interessanteFeder. Im Übrigen habe ich das Blatt abgeschafft: auf einen jüngsteingetroffenen Brief des Hr. Avenarius, der sich schmerzlich über dieAbmeldung beklagte, habe ich ihm kräftig die Wahrheit gesagt (— das Blattbläst in das deutschthümelnde Horn und hat z. B. in der schnödesten WeiseHeinrich H e i n e preisgegeben — Herr Avenarius, dieser Jude!!!)

Jetzt eben wird von mir ein kleines m u s i k a l i s c h e s P a m p h l e tgedruckt, etwas sehr Lustiges (— in Turin geschrieben) — Mit herzlichem Grußund Glückwunsch für Dich und Deine liebe Frau

Dein Nietzsche2 essay(s) in Contexta1067. An Franz Overbeck in Basel (Entwurf)

<Sils-Maria, kurz nach dem 20. Juli 1888>

Lieber Freund

ich schreibe Dir noch ein paar Worte, doch ganz für uns, ganz u n t e r uns. DieSchwierigkeit, in der ich lebe, ist außerordentich; doch liegt sie n i c h t dort, woDu und andere Freunde sie suchen. Ich weiß kaum, sie begreiflich zu machen.Aber seit der Zeit, wo ich meinen Z<arathustra> auf dem Gewissen habe, binich wie ein Thier, das auf eine unbeschreibliche Weise fortwährendv e r w u n d e t wird. Diese Wunde besteht darin, keine Antwort, keinen Hauchvon Antwort gehört zu haben… Dies Buch steht so abseits, ich möchte sagenj e n s e i t s aller Bücher, daß es eine vollkommene Qual ist, es geschaffen zuhaben — es stellt seinen Schöpfer ebenso abseits, ebenso jenseits. Ich wehremich gegen eine Art Schlinge, die mich erwürgen will — das ist dieVereinsamung — ich verstehe es andererseits aus aller Tiefe, warum mirNiemand ein Wort sagen kann, das mich noch e r r e i c h t … Die Moral ist: mankann daran zu Grunde gehen etwas Unsterbliches gemacht zu haben: man b ü ß tes hinterdrein in jedem Augenblick ab. Es verdirbt den Charakter, es verdirbtden Geschmack, es verdirbt die Gesundheit. Sechs Sätze jenes Buches zu

verstehen und erlebt zu haben — das scheint mir Jeden bereits in eine höhere,fremdere Ordnung des Sterblichen zu heben. Aber die ganze Welt jenes Buches,die unausmeßlich s c h w e r e Welt von Tiefe, von Ferne, von Noch-niemals-bisher Gesehenem und Geschehenem auf sich haben und nach einem Versuch,sie mitzutheilen d. h. ihre Last sich g e r i n g e r zu machen, der todten stupidenEinsamkeit sich gegenüber zu finden, ist ein Gefühl über alle Gefühle.

Ich wehre mich, wie Du denken kannst, mit viel Erfindsamkeit gegen diesenExcess des Gefühls. Meine letzten Bücher gehören dahin: sie sindleidenschaftlicher als Alles, was ich sonst gemacht habe. Die Leidenschaftb e t ä u b t . Sie thut mir wohl, sie macht ein wenig vergessen… Ich binaußerdem Artist genug, um einen Zustand festhalten zu können, bis er Form, biser Gestalt wird. Ich habe, mit Willkür, mir jene Typen erfunden, die in ihrerVerwegenheit mir Vergnügen machen, z. B. den „Immoralisten“ — einen bisherunerhörten Typus. Jetzt eben wird ein kleines Pamphlet musik<alischer> Naturgedruckt, das von der heitersten Laune eingegeben scheint: auch die Heiterkeitbetäubt. Sie thut mir wohl, sie macht vergessen… Ich lache wirklich sehr vielbei solchen Erzeugnissen —

Die Schwierigkeit, eine Distraktion zu finden, die stark genug <sei>, wirdimmer größer. Ich bin mitunter auf eine unbeschreibliche <Weise>melancholisch.1 essay(s) in Contexta1068. An Paul Deussen in Berlin (Entwurf)

<Sils-Maria, 22. Juli 1888>

Lieber F<reund>

ich habe ein Paar Tage verlaufen lassen, um mich von einer kleinen Erstarrungzu erholen. Das Faktum, das Deine Güte mir meldet, steht so abseits in meinemLeben da; ich verstehe es nicht einmal. Es scheint mir, daß ich zu viel vomGegentheil erlebt habe — daß ich auch bisher nur Geschenke g e m a c h t habe,wie als ob es die natürlichste Sache in der Welt sei. Dank, Anerkennung,Verständniß — sehr schöne Dinge, aber, wenn man grundsätzlich und nichtohne Erfolg sich von seiner Zeit entfernt, wie ich es thue, so läßt man dieseschönen Dinge aus dem Wege. Ich finde bisher das Verhalten gegen mich nichtunbillig. Zu Menschen habe ich mich noch nicht darüber beklagt. Die andereFrage, die b l o ß e Lebensfrage ist einstweilen, durch eine ganz unverdienteDankbarkeit der Basler, mir nicht eigentlich drückend geworden: in Wahrheitdenke ich nicht an sie und haben meine Basler immer erst an sie gedacht. Dieabsurde Unmöglichkeit, S c h r i f t e n herausgeben zu können, wenn ich sie

nicht selbst drucke, complicirt in der That etwas meine Lage: — und in diesemSinne bin ich u n b e s c h r e i b l i c h d a n k b a r für das, was Deine alteFreundschaft mir dies Mal zu melden hatte… Hätte ich einen besseren Glaubenan meine Gesundheit, so dürfte ich meine Lage auch in genannter Hinsicht nurfür ein „Interim“ nehmen… Der Übelstand ist, daß ich in diesem Sommerschlimmer als die letzten Jahre wieder an eine gewisse Incurabi<li>tät erinnertwurde… — Ich habe hundert Vorsichten und Klugheiten nöthig, und außerdemnoch ein paar günstige Umstände z. B. helles, trocknes Wetter. Dann erreicheich einen gewis<sen> Grad der Gleichheit. Fehlt mir diese Gunst der Umstände(wie es leider seit Anfang Juni der Fall), so hilft mir alle Vorsicht und Klugheitnichts. — Recrudeszenz der alten Leiden und Zustände und eine großeSchwierigkeit, den Muth aufrecht zu erhalten. — Lieber Freund, ich weiß nicht,wem Alles ich zu danken habe. Aber sicherlich Niemandem mehr als Dir.Behalte mich lieb und glaube an die Liebe eines alten „Unmenschen“ und„Unbehausten“, mit G<oethe> zu reden. Mich Dir und Deiner l<ieben> Fr<au>— — — mich Deiner Freundschaft empfehlend1 essay(s) in Contexta1069. An Franziska Nietzsche in Naumburg

Sils, den 24. Juli <1888>M o n t a g . <23. Juli>

Meine liebe Mutter,

gleich nach dem Eintreffen der letzten Sendung ist ein Brief an Dichabgegangen: demselben war die andre Hälfte vom Brief des Lama beigelegt.Damals hatte ich den S c h i n k e n noch nicht versucht; jetzt kann, aus eineretwas zu reichlichen Erfahrung, darüber geurtheilt werden. Es thut mir sehr leid,aber er ist gar nicht so ausgefallen, wie Du gewünscht hast. Der Lachsschinkenist etwas unvergleichlich B e s s e r e s und G e s ü n d e r e s . Der Mann hat,trotz aller Deiner Aufforderungen, das Salz zu schonen, ihn abscheulichversalzen. Das Fleisch sieht braunroth aus, n i c h t blaß, wie das Fleisch desLachsschinkens. Ich muß sechsmal des Nachts Wasser trinken, seit ich Abendsdiesen Schinken esse; und dabei ist mein Magen entschieden durch das vieleSalz überwürzt, so daß mir alles Essen jetzt weniger gut bekommt. Auch hatsich eine gewöhnliche Folge von zu salzigem Fleische eingestellt, eineZahnfleisch-Entzündung, die mich beim Kauen arg belästigt. Dabei fällt mir dasWort „M i l c h schinkli“ ein: es ist die reine Ironie auf diese versalzene Sache!Selbst das Fleisch ist lange nicht so gut wie das des Lachsschinkens: letzterenkonnte ich schön klein bekommen mit den Zähnen, hier bleibt immer ein Restvon Faser, mit dem man nicht fertig wird. Der Mann hat keinen Begriff davon,

was ein Schinken zum Gebrauche von Kranken ist: ich, der ich in der Schuledes alten W i e l gewesen bin, habe hierüber ziemliche Erfahrung. —

Dagegen fand ich die Z w i e b ä c k e schmackhafter als irgend welche, dieich bisher gegessen habe. Allerschönsten Dank! Auch der K ü r b i s s hatteeinen sehr angenehmen und interessanten Geschmack: er hat mir g u t gethan —man soll Frl. Alwinchen loben.

Bleibt die curiose G e l d s a c h e zu besprechen. Gestern Abend kam DeinBrief über dieselbe an; gestern Morgen hatte ich bereits einen Brief an Prof.Deussen abgeschickt. Denn er hatte die Sache auch mir direkt gemeldet: ähnlichwie an Dich, nur mit einer Wendung mehr, die ich zu Deiner Erbauungmittheile: „ich hoffe, Du wirst es mit freundlichem Verständnisse Dir gefallenlassen, wenn Einzelne an ihrem Theile wieder gut zu machen suchen, w a sdieM e n s c h h e i t a n D i r s ü n d i g t “. Ich habe mich in meiner Antwortdagegen verwahrt, daß „die Menschheit an mir sündige“, habe die Liberalitätundu n v e r d i e n t e Dankbarkeit der Basler zu Ehren gebracht, habeausdrücklich in Abrede gestellt, daß meine Lage d r ü c k e n d sei und,schließlich, ganz exakt, wie Du es Dir auch ausgedacht hast, nur in Hinsicht aufdie U n m ö g l i c h k e i t , Verleger zu finden und den Zwang, der auf mir liegt,meine Schriftena u f e i g n e K o s t e n drucken zu lassen, das Gelda c c e p t i r t . (In den letzten 4 Jahren sind für Druckkosten mehr als 4000 frs.ausgegeben worden) Das Geld wird zum größten Theil D e u s s e n s Geld sein(— er hat mir im vorigen Herbst die allerdringendsten Offerten dieser Artgemacht.) An die „unbekannten“ Berliner Verehrer glaube ich nicht recht: derEinzige, der betheiligt sein könnte und zu dessen Charakter eine solcheHandlung stimmen könnte, wäre der Dr. Rée (der mit Deussen in gutemEinvernehmen ist) Dies Alles unter uns. Die Hauptsache ist, daß N i e m a n dEtwas davon erfährt. Es würde mir sehr nachtheilig zum Beispiel in Basel sein,wenn das geringste Wort davon verlautete — sie thun dort wirklich einÜ b r i g e s (der Termin meiner Pension ist ja mit 1886 a b g e l a u f e n !!) Ichwill diesen Winter n i c h t nach Nizza, weil man das letzte Mal im Hôtel unterden Gästen sich in einer Weise für meine etwas ärmliche Finanzlage interessirthat, die meinen Stolz verletzte. — Schreibe nichts über diesen Sache nachParaguay: Lisbeth würde es durchaus nicht als eine „Ehrengabe“, sondern, ganzwie ich selbst, als ein A l m o s e n empfinden. Ich zöge bei weitem vor, meine„Verehrer“ zu beschenken — — Ich werde noch diesen Herbst c. 200 Mark zuDruckkosten nöthig haben. Auch könnte es sein, daß meine W i n t e r - R e i s eund -Aufenthalt einen kleinen Zuschuß nöthig machten, da ich etwas N e u e sversuchen will. Ich bedarf, aus vielen Gründen, einer abziehenden und

zerstreuenden Reise: ich war bisher außerordentlich bedrückt undmelancholisch. Sonst weißt Du, daß ich s p a r s a m bin. Gieb also das Geld anKürbitz, doch mit der Bemerkung, daß bald ein Theil disponibel sein muß.

Dein altes Geschöpf F.1070. An Carl Fuchs in Danzig

Sils, den 24. Juli 1888Lieber Freund,

lassen wir die Windhose laufen! Das Meer ist wieder glatt. —Heute melde ich Ihnen etwas H e i t e r e s . Es kommt nächstens von mir ein

kleines Pamphlet in die Wochen, das vollgestopft von musikalischenGlaubensbekenntnissen ist, — freilich in der riskirtesten Form!! — Dasselbe istnoch in den guten Tagen von Turin geschrieben und n i c h t in Sils,n i c h t zwischen Krankheit und Schneegewölk. Es findet sich, anbei gesagt, einsehr ehrendes Wort für Riemann darin: obwohl sonst nicht gerade Ehrenausgetheilt werden…

Das Manuscript ist bereits in der Druckerei. Es war schon einmal dort,wurde mir wegen Unleserlichkeit zurückgeschickt. Ich hatte die Abschrift ineinem solchen Zustand von Schwäche gemacht, daß die lateinischen Buchstabenebenso gut als griechische verstanden wurden (— eine kleineDruckprobeb e w i e s mir das) Die neue Abschrift ist viel deutlicher, Dank einerbesondren Art von Federn, „Sönneckens Rundschriftfedern“, welche der hiesigeLehrer für meine zitternden Hände anempfahl.

Diese letzten Tage war der Himmel öfter hell, und Sils breitete seinen altenPfauenschweif verführerisch südlicher Farben aus. Und siehe da! ein alterMusikant stellt sich mir vor, ein Kapellmeister vom Dresdener Hoftheater, derihm seit 1847 zugehört. Ich wickelte den alten schneeweißen Mann auf — undein ganzes Stück Musikgeschichte mit den wunderlichsten détails kam zumVorschein. Würden Sie es glauben, daß Wagner, als Hofkapellmeister, allesErnstes im „Dresdener Anzeiger“ dem Könige proponirte, den Titel „König“abzulegen und sich „erblichen Präsidenten des Hauses Wettin“ zu nennen?Insgleichen, daß er ihn aufgefordert hat, das Geld abzuschaffen und denT a u s c h h a n d e l wieder herzustellen? — Die Strafe für solcheExcentricitäten war milde und sogar f e i n : man nahm Wagnern die klassischeOper und ließ ihn S c h u n d dirigieren. Leider machte Bülow, damals ein ganzjunger Bursch, der von der Hofintendantur ein Freibillet hatte, einen Strichdurch die Rechnung. Mit einem sehr freimüthigen Gebrauch von seinem Billetpfiff er auf eigne Person eine Oper, die Wagner n i c h t dirigirte, bei erster

Gelegenheit aus — und brachte sie zum Fall. —Genug für heute! Ich schrieb nur, u m Ihnen zu schreiben.

Ihr FreundNietzsche.

1071. An Carl Spitteler in Neuveville

Sils, Engadin d. 25 Juli1888.

Sehr geehrter Herr,

was Sie mir melden, betrübt mich. Die Motivierung, die Herr Credner seinemNein giebt, wäre einfach eine Dummheit, wenn sie wahr wäre. Aber sie istnatürlich nur ein Vorwand. Ich kam gestern mit einem Herrn, dem die intimereGeschichte des Dresdener Hoftheaters seit 40 Jahren bekannt war, zu demSchluß, daß a l l e Ablehnungen, von Opern, von Büchern, von Diensten falschmotiviert werden, — daß der e i g e n t l i c h e Grund nie zu Worte kommt. Wasmag der in Ihrem Falle sein? — Ein Capitel oder die Einleitung eines Werksv o r h e r der Presse anzuvertrauen gehört in Frankreich zu den regelmäßigstenKlugheiten der buchhändlerischen réclame: — es wirkt „appetitmachend“.Zudem müßte der Charakter, der W e r t h jener Einleitung Herrn Crednerdarüber aufgeklärt haben, weß Geistes Kind ihr Autor ist: der s e i n Autorwerden möchte…

Meine eignen Erfahrungen mit Verlegern sind, anbei gesagt, hundert Malbösartiger als die Ihrigen. Es giebt Sachen darunter, die man nicht aufs Papierbringt — Aber ich bin im Kriege; und ich begreife es, wenn man gegen mich imKriege ist. In den letzten Jahren habe ich c. 4000 frs Druckkosten ausgegeben:es ist l ä n g s t die Unmöglichkeit bewiesen, daß ein Buch Nietzsches vonjemandem anders gedruckt wird als von ihm selbst. Dies u n t e r u n s . —

Was meine Stellung zur deutschen Presse betrifft, nach der Sie fragen, so istsie seltsam genug: sie gründet sich auf die F u r c h t , die man vor mir hat. Ichbin einer der Wenigen, die kein Bedenken tragen, sich zu compromittiren: einesehr bedenkliche Art Mensch! Thatsächlich erfreue ich mich eines ganzbeträchtlichen Ansehens — und werde, heimlich, v i e l gelesen. Es ist etwas,der unabhängigste Geist Europas zu sein. Ich habe in jeder größeren Stadt einenVerehrer-Kreis, selbst noch in Baltimore. Mein w e r t h v o l l s t e r Schrittdazu, um mir ein-für-alle Mal Respekt zu garantiren, war mein Attentat auf diedeutsche „Bildung“ zur Zeit der höchsten nationalen Selbst-Anbetung, beiGelegenheit eines miserablen aber allseits bewunderten Buchs desaltersschwachen Strauß. Es gab gegen 200 zum Theil sehr leidenschaftliche

Antworten darauf — u n d die Sympathie aller tieferen Naturen. Der alteHegelianer Bruno Bauer war seitdem Nietzschianer. Im Übrigen war ich damalsdurchaus kein „Neuling“, wie Sie zu glauben scheinen. Ich hatte die Autoritäteines jungen Genies in allen Universitäts-Kreisen Deutschlands, war seitmeinem 22.ten Jahr Mitarbeiter der ersten gelehrten Zeitschriften und erhieltvon Leipzig den Doktortitel ehrenhalber „ob scriptorum praestantiam“ (—lauter philologica —) Ich hatte insgleichen die ganze Wagnerische Partei hintermir.

Jene F u r c h t ist — ich möchte es nicht verkennen — von derschätzenswertesten Art: nämlich jeden Augenblick bereit, in Ehrfurchtumzuschlagen. Es ist mir noch nie gelungen, einen persönlichen Feind zu haben.

Die erste Klugheit, um „in der Gesellschaft“ in Betracht zu kommen, ist,gleich beim Eintritt, ein D u e l l “ sagt Stendhal. Das wußte ich nicht, aber dashabe ich gemacht. —

Zum Schluß erlaube ich mir eine Frage. Haben Sie bereits mit R o b e r tO p p e n h e i m (Berlin) in Betreff Ihres Werks verhandelt? Derselbe hat eineverwandte Litteratur in Verlag, zum Beispiel das beste deutsche Buch, das esüber Frankreich giebt „Frankreich und die Franzosen von Karl Hillebrandt.“ —Oder soll i c h schreiben? —

Mit dem Ausdruck derfreundlichsten Gesinnung

Ihrergebenster

NietzscheA d r e s s e : Robert Oppenheim

VerlagshandlungBerlin W

Matthäi-Kirchstraße 7.1 essay(s) in Contexta1072. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)

<Sils-Maria, 16. Juli 1888>

Lieber Freund, ein Wort noch in der Sache des Dr. F<uchs>. Derselbe hatinzwischen auf meinen Brief geantwortet, a u s g e z e i c h n e t — und nichtbloß klug. Er giebt übrigens zu, den Brief verdient und sogar erwartet zu haben.In summa: ich habe mir wieder Muth gemacht und lerne Geduld. —Gleichzeitig traf ein Brief des Hr. Spitteler (von den „Basler Nachrichten“) ein,der sich bitter über Credner beklagt. Dieser Unberechenbare hat im letzten

Augenblick, nachdem Alles abgemacht war, auf h a n d g r e i f l i c h eVorwände hin das Manusc. Sp<itteler>’s zurückgeschickt. A c h t Jahre langkeinen Verleger für ein Meisterstück aesthetischer und historischer Kritikfinden! Ich habe einen neuen Versuch gemacht, zu helfen. — Ein alter Musikantkam inzwischen von Dresden und marschirte in Sils. Sehr erbaut, ein Musik-Krokodil, wie mich, zu finden, hat er mir fast ein halbes JahrhundertMusikgeschichte erzählt, mit den curiosesten Einzelheiten: KapellmeisterRiccius, seit 1847 am Dresdener Hoftheater. — Das Wetter, obwohl es noch vielzu wünschen übrig läßt, hat sich aufgehellt; ich auch. Der letzte Anfall warallerdings der härteste; ich wandte mich an den Arzt. Das Hôtel Alpenrose istvöllig besetzt, sogar die vielen Privatzimmer, in der Ortschaft, über die esdisponirt. Mit herzlichstem Gruß Dein

N.1073. An Meta von Salis auf Marschlins (Postkarte)

Sils, d. 27 Juli <1888>Verehrtestes Fräulein,

Sie würden mich sehr verpflichten, wenn Sie mir die augenblickliche Adressevon Frl. von Meysenbug mittheilen wollten. Ist es wieder Versailles, VillaAmiel? Oder hat das außergewöhnliche Wetter auch in ihreSommergewohnheiten störend eingegriffen? —

Das Wetter, obwohl immer noch sehr unruhig und unberechenbar, läßt dochwenigstens die Sonne wieder durch. Ich habe noch keine schlechtere Zeit hieroben erlebt, selbst nicht hinsichtlich meiner Gesundheit. —

Mich bestens für Brief und Gruß bedankend

Ihr ergebensterProf. Dr. Nietzsche.

1074. An Heinrich Köselitz in Annaberg (Postkarte)

<Sils-Maria, 27. Juli 1888.>

Schönsten Dank! Heute nur ein Paar Worte zu Händen des allerfreundlichstenC o r r e c t o r s . — Erwägen Sie, bitte, in welchen Fällen die drei Punkte…e r s e t z t oder w e g g e l a s s e n werden können (— sie kommen vielleicht zuoft vor) Wir wollen bei dem Namen Wagner den Accusativ mit n (Wagnern)festhalten, den Dativ aber o h n e n. — Ich kann die drei Notizen, um die ich imletzten Briefe bat, nötigenfalls entbehren. Doch würde ich gern die Seitenzahl inHinsicht auf N i c h t -Wagnerianer citiren. —

Herrn Dr. Fuchs möchte ich ein Exemplar des 4ten Zarathustra zugestellt

wissen: nichts darauf geschrieben als ineditum (stark unterstrichen!). Wirhaben’s ihm doch noch nicht geschickt? — Ihr Duett an Bülow: bravissimo!vivat s e q u e n s !

Eben traf wieder ein Hamburger Musiker hier als Gast ein: Hr. von Holten(Pianist) Auch gab es einen alten Dresdner Kapellmeister, der seit 1847 amDresdner Hoftheater thätig ist und mir die kuriosesten Dinge erzählen konnte(Riccius) W i r haben uns beide etwas aufgehellt — nämlich das Wetter und ich.

Treulich Ihr FreundNietzsche.

1075. An Carl Fuchs in Danzig

Sils, Sonntag d. 29. Juli <1888>

Lieber Freund,

inzwischen habe ich den Auftrag gegeben, daß Ihnen eines der wenigenExemplare meines i n e d i t u m zugestellt wird: zum Zeichen, daß Alles wiederzwischen uns in Ordnung ist und daß der farouche Augenblick einerallzuverwundbaren und allzuvereinsamten Seele ü b e r w u n d e n ist. Dervierte Theil Zarathustra, von mir mit jener Scham vor dem „Publico“ behandelt,welche in Hinsicht auf die drei ersten Theile n i c h t gewahrt zu haben mirbittere Reue macht… Genauer ist es ein Zwischenakt zwischen dem Zarathustraund dem, w a s f o l g t („Namen nennen dich nicht… “) Der genauere Titel,der bezeichnender wäre:

„D i e Ve r s u c h u n g Z a r a t h u s t r a ’ s .“Ein Zwischenspiel.

Herr C. G. Naumann hat sicherlich Ihnen inzwischen zu Gebote gestellt, waser von mir in Verlag hat; ich gab den Wink dazu. Was Herr Fritzsch gethan hat,weiß ich nicht; ich kann im Augenblick nichts von ihm verlangen und erlangen— aus Gründen! —

Es hat sich mir ein wirklich intelligenter Musiker präsentirt, der Prof. vonHolten aus Hamburg, der mit großem Interesse Ihrer gedachte und mich zu einerDiskussion über die Riemann’schen Prinzipien führte (— auch über a n d e r ePrinzipien: wir sind beide sehr antidécadence-Musiker, will sagen antimoderneMusiker) Er wünscht Ihnen übrigens dasselbe, was ich wünsche — einenf r e i e r e n Wirkungskreis und n i c h t mehr Danzig.

Das Wetter ist äußerst ungleich und wechselt alle drei Stunden; meineGesundheit wechselt mit ihm. Gestern kam ein Brief aus Bayreuth an mich an,aus vollem Parsifal heraus geschrieben. Ein mir unbekannter Wiener Verehrer,der mich seinen „Meister“ nennt (oh!!!) und mich zu einer Art Großmuths-Akt

gegen den Parsifal auffordert: — ich sollte großmüthiger sein als Siegfriedgegen den a l t e n W a n d e r e r . Sprach übrigens im Namen von einem ganzenKreise meiner „Jünger“, wie er sich ausdrückte, lauter für „Jenseits von Gut undBöse“ sehr dankbaren „freien Geistern“… (— ich hätte ihnen so viele große,tiefe, auch f u r c h t b a r e Worte gesagt..)

Von dem glänzenden Erfolge des Dr. Brandes in Kopenhagen habe ich Ihnenwohl erzählt. Mehr als 300 Zuhörer für seinen längeren Cyklus über mich; amSchluß eine große Ovation. Er schreibt mir, daß mein Name jetzt in allenintelligenten Kreisen Kopenhagens populär und in ganz Skandinavien bekanntsei. Von New-York aus wurde mir ein englischer Essay über meine Schriften inAussicht gestellt.

Wenn Sie je daran kommen sollten (— es fehlt Ihnen ja an Z e i t dazu,werther Freund!!) über mich etwas zu schreiben, so haben Sie die Klugheit, dieleider noch Niemand gehabt hat, mich zu c h a r a k t e r i s i r e n , zu„beschreiben“, — n i c h t aber „abzuwerthen“. Es giebt dies eine angenehmeNeutralität,es scheint mir, daß man sein Pathos dabei bei Seite lassen darf unddie f e i n e r e Geistigkeit um so mehr in die Hände bekommt. Ich bin noch niecharakterisirt — weder als P s y c h o l o g e , noch als S c h r i f t s t e l l e r(„Dichter“ eingerechnet), noch als Erfinder einer n e u e n Art Pessimismus(eines dionysischen, aus der S t ä r k e geborenen, der sich das Ve r g n ü g e nmacht, das Problem des Daseins an seinen Hörnern zu packen), nochalsI m m o r a l i s t (— die bisher höchsterreichte Form der „intellektuellenRechtschaffenheit“, welche die Moral als Illusion behandeln d a r f , nachdemsie selbstI n s t i n k t und U n v e r m e i d l i c h k e i t geworden ist —) Es istdurchaus n i c h t nöthig, nicht einmal e r w ü n s c h t , Partei dabei für mich zunehmen: im Gegentheil, eine Dosis Neugierde, wie vor einem fremdenGewächs, mit einem ironischen Widerstände, schiene mir eine unvergleichlichi n t e l l i g e n t e r e Stellung zu mir. — Verzeihung! Ich schrieb eben einigeNaivetäten — ein kleines Recept, sich glücklich aus etwas U n m ö g l i c h e mherauszuziehn…

Mit freundlichstem GrußeIhr N.

Die fröhliche Wissenschaft „la gaya scienza“ müssen Sie jedenfalls lesen: esist mein m i t t e l s t e s Buch, — sehr viel feines Glück, sehr vielHalkyonismus…1076. An Constantin Georg Naumann in Leipzig (Telegramm)

Sils Engadin 30. Juli 1888

bitte manuscript der schlussanmerkung zurueck — nitzsche1077. An Heinrich Hengster in Bayreuth (Entwurf)

<Sils-Maria, Ende Juli 1888>

Werther Herr

Sie haben mir einen guten Brief geschrieben. Ich habe Verständniß dafür, wennJemand mir eine Neuigkeit mit Klugheit und Wohlwollen zum Ausdruck bringt.—

Der Zufall will, daß es eine Antwort auf Ihren Brief schon gab, bevorderselbe gelesen war. Man druckt eben einen B r i e f von mir, der im Maidieses Jahres, in Turin, abgefaßt wurde. Sein Titel ist: Der Fall Wagner. EinMusikantenproblem.

Vielleicht hat noch Niemand in diesem Fall mehr erlebt als ich…Machen Sie Ihre Freunde auf diese bevorstehende Veröffentlichung (C. G.

Naumann, Leipzig) aufmerksam. Sie werden bereits wissen, daß man aufkeinem andern Wege etwas über mich erfährt. Die „Presse“ bleibt stumm übermich: ich will’s auch gar nicht anders…

Mit dem Wunsche, immer nur Gutesvon Ihnen zu hören

Ihr ergebensterNietzsche

1078. An Malwida von Meysenbug in Rom

S i l s , Engadin SchweizEnde Juli 1888

Hochverehrte Freundin,

e n d l i c h ! nicht wahr? — Aber ich verstumme unwillkürlich gegenJedermann, weil ich immer weniger Lust habe, Jemand in die Schwierigkeitenmeiner Existenz blicken zu lassen. Es ist wirklich sehr l e e r um michgeworden. Wörtlich gesagt, es giebt Niemanden, der einen Begriff von meinerLage hätte. Das Schlimmste an ihr ist ohne Zweifel, seit 10 Jahren nicht einWort mehr gehört zu haben, das mich noch e r r e i c h t e — und dies zubegreifen, dies als nothwendig zu begreifen! Ich habe der Menschheit das tiefsteBuch gegeben, das sie besitzt, ein Buch, gegen das gerechnet die Bücherüberhaupt bloß Litteratur sind. Wie man das b ü ß e n muß! — Es stellt ausjedem menschlichen Verkehr heraus, es macht eine unerträgliche Spannung undVerletzbarkeit, man ist wie ein Thier, das beständig verwundet wird. Die Wundeist, keine Antwort, keinen Laut Antwort zu hören und die L a s t , die man zu

theilen, die man abzugeben wünschte (— wozu schriebe man sonst?) in einerentsetzlichen Weise allein auf seinen Schultern zu haben. Man kann daran zuGrunde gehn, „u n s t e r b l i c h “ zu sein! — Zufällig habe ich noch dasMißgeschick, mit einer Verarmung und Verödung des d e u t s c h e n Geistesgleichzeitig zu sein, die Erbarmen macht. Man behandelt mich im liebenVaterlande wie Einen, der ins Irrenhaus gehört: dies ist die Form des„Verständnisses“ für mich! Außerdem steht mir auch der BayreutherCretinismus im Wege. Der alte Verführer Wagner nimmt mir auch nach seinemTode noch den Rest von Menschen weg, auf die ich wirken könnte. — Aber inD ä n e m a r k — es ist absurd, zu sagen! — hat man mich diesen Wintergefeiert!! Der geistreiche Dr. Georg Brandes hat es gewagt, einen längerenCyklus von Vorlesungen an der Kopenhagener Universität über mich zu halten!Und mit glänzendem Erfolge! Mehr als 300 Zuhörer regelmäßig! Und einegroße Ovation am Schluß! — Eben stellt man mir etwas Ähnliches für NewYork in Aussicht. Ich bin der u n a b h ä n g i g s t e Geist Europa’s und dere i n z i g e deutsche Schriftsteller — das ist Etwas! —

Das erinnert mich an eine Frage Ihres letzten verehrten Briefes. Daß ich fürBücher, wie i c h sie schreibe, kein Honorar erhalte, werden Sie voraussetzen.Aber was Sie vielleicht nicht voraussetzen, ich habe auch die g a n z e nHerstellungs- und Vertriebs-Kosten zu bestreiten (— in den letzten Jahren c.4000 frs.) In Anbetracht, daß ich bei Presse und Buchhandel verfehmt undausgeschlossen bin, verkauft sich nicht ein Hundert der gedruckten Exemplare.Ich bin ohne Vermögen, meine Pension in Basel ist bescheiden (3000 frs.jährlich) Doch habe ich von letzterer immer etwas zurückgelegt: so daß ich bisjetzt keinen Pfennig Schulden habe. Mein Kunststück ist, das Leben immermehr zu vereinfachen, die langen Reisen zu vermeiden, eingerechnet das Lebenin Hôtels. Es gieng bisher; ich will es auch nicht anders haben. Nur giebt es fürden S t o l z diese und jene Schwierigkeit. —

Unter diesem mannichfachen Druck von Innen und Außen her hat leidermeine Gesundheit sich nicht zum Besten befunden. In den letzten Jahren giengesn i c h t mehr vorwärts. Die letzten M o n a t e , wo die Ungunst des Wettersdazu kam, sahen sogar meinen schlechtesten Zeiten zum Verwechseln ähnlich.—

Um so besser ist es inzwischen meiner Schwester gegangen. DieUnternehmung scheint glänzend gelungen, der festliche, beinahe f ü r s t l i c h eEinzug in der Colonie vor ungefähr 4 Monaten hat einen großen Eindruck aufmich gemacht. Es sind jetzt c. 120 Deutsche, nebst einem reichlichen Zubehöreinheimischer Peons; es sind gute Familien darunter, z. B. die Mecklenburger

Baron Malzahns. —Ich wurde kürzlich sehr lebhaft an Sie, verehrteste Freundin, erinnert, Dank

einem Buche, in dem eine Vordergrunds-Figur des ersten Bandes der„Memoiren einer Idealistin“ in hellstes Licht trat. Insgleichen hat mir Frl. vonSalis s e h r d a n k b a r über ihr Zusammensein mit Ihnen geschrieben.

Mit den herzlichsten Wünschen für Ihr Wohlbefinden und der Bitte umfortdauernde, wenn auch s t i l l e Antheilnahme

Ihr treu ergebenerNietzsche.

— Es bedarf G r ö ß e der Seele, um meine Schriften überhaupt auszuhalten.Ich habe das Glück, Alles, was schwach und tugendhaft ist, gegen mich zuerbittern.1079. An Constantin Georg Naumann in Leipzig

Sils, 2. August 1888

Sehr geehrter Herr Verleger,

Hiermit übersende ich Ihnen den Schluß des Manuscriptes. Wir wollen dieseletzte Partie g a n z g e n a u s o drucken, wie den eigentlichen Schluß: siewird damit ungefähr einen Bogen länger. Diese Zusätze, die den NamenN a c h s c h r i f t führen, sollen auf der Seite beginnen, die auf die Schlußseitedes eigentlichen „Briefs“ f o l g t .

Adresse des Herrn Köselitz nach wie vor:„Herrn H e i n r i c h K ö s e l i t z

Annaberg“Anbei ein Vorschlag für das B u c h h ä n d l e r - A n z e i g e b l a t t . Mir

liegt daran, daß bei Zeiten von dieser Publikation die Rede ist.1080. An Franziska Nietzsche in Naumburg

<Sils-Maria, 2. August 1888>

Meine liebe Mutter

der zweite August! Aber wir sind nach wie vor in einem beständigenRegenwetter drin. Kalt, der Schnee recht nah, der Sommer beinahe zu Ende. Esscheint mir aber, daß meine Widerstandskraft dennoch zugenommen hat. Ichhabe der Reihe nach Vielerlei abmachen können, sogar ein kleines Manuscript(die erste Abschrift war, bei meiner großen Schwäche, so unleserlich geworden,daß Naumann sie zurückschickte; die zweite, aus den letzten 8 Tagen, sieht ganzanders aus. Daran sind nicht nur die guten Federn schuld)

Dies Mal sind die Schinken v o l l k o m m e n nach Wunsch und Geschmack— allerschönsten Dank! Es ist viel leichtere Arbeit für mich, da das Kauen mirimmer noch Schwierigkeiten macht. Von den vorletzten Schinken habe ich zweivertilgt; die Gewohnheit thut in allem viel, so daß der zweite Schinken mirerträglicher war als der erste. Doch sind mir die neuen unvergleichlich lieber. Eswar sonderbar, daß die Zwiebäcke ankamen, als ich gerade mir welche beieinem Bäcker in Silvaplana hatte backen lassen. Die Vergleichung fällt natürlichsehr zu Gunsten der Deinigen aus. Daß es noch ein C h a m ä l e o n geben soll,ist ganz zum Verwundern; ich habe es gestern alle seine Künste mir vormachenlassen.

Die Gesellschaft des Hôtels ist nicht übel; und was es von distinguirterenPersonen giebt, das sucht sich mir vorstellen zu lassen. So ein sehr angenehmerStaatsanwalt Dr. Schön aus Lübeck; ein alter Präsident aus Norddeutschland;jetzt eben wieder ein Prof. von Holten aus Hamburg; ein Kapellmeister vomDresdener Hoftheater; und selbst die hübschen Mädchen machen mir ganzersichtlich den Hof. Man hat den ungefähren Begriff, daß ich „ein Thier“ bin.Der Koch kocht dies Jahr für mich mit besondrer finesse. Briefe trafen ein, diezum Theil verrückt vor Enthusiasmus für meine Bücher waren: darunter einermitten aus dem Bayreuther Parsifal heraus, im Namen eines ganzen Kreises von„Jüngern“ aus Wien. Doch verhalte ich mich sehr kühl allen solchenjugendlichen Anstürmen gegenüber. Ich schreibe ganz und gar nicht für diegährende und unreife Altersklasse. —

Auch Frl. von Salis ist eingetroffen, ein wenig dürrer und blässer noch alsvorher. — Sils hat diese Woche seine neuen 3 Glocken aufgehängt, ich lobteheute noch den ausgezeichneten Gießer und Fabrikanten derselben, den erstender Schweiz. Der Klang ist sehr schön.

Eben erfahre ich das schreckliche Elephanten-Ereigniß von München.Es donnert; es gießt in Strömen; ich bin heute morgen ganz naß geworden.

Nachts fehlt es mir etwas an Schlaf. Das liegt wohl daran, daß das abscheulicheWetter das Spazierengehn fast unmöglich macht. Mitunter laufe ich trotzdem imRegen hinaus.

Es grüßt und umarmt Dich Deinaltes Geschöpf

1081. An Adolf Ruthardt in Leipzig (Postkarte).

Sils-Maria, Oberengadind. 7 August 1888

Werther und lieber Herr Professor,

können Sie mir u m g e h e n d eine sehr gebildete Auskunft geben? Wie heißenim Originaltexte der „schönen Helena“ die Worte des Chors, die deutsch „aufnach Kreta! auf nach Kreta“ lauten? allons pour Crète vielleicht? Ich habesonderbarer Weise einen dringenden Grund, dies zu wissen. Sie, als alter Genfer,sind der Einzige, der vielleicht mir hilft.

Mit allerfreundlichstem GrußProf Dr. Nietzsche

1082. An Heinrich Köselitz in Annaberg (Postkarte)

<Sils-Maria,> D o n n e r s t a g .<9. August 1888>

Lieber Freund,

es giebt noch N a c h s c h r i f t e n zu meinem „Brief“ zu corrigieren, — ichbedaure Sie! Sehr gepfeffert und gesalzen; in der z w e i t e n Nachschrift fasseich das Problem in erweiterter Form an den Hörnern (— ich werde nicht leichtGelegenheit haben, von diesen Dingen w i e d e r zu reden; die einmal gewählteForm erlaubt mir viele „Freiheiten“ —) Unter anderem ein Todtengericht auchüber Brahms. Einmal habe ich mir sogar erlaubt, auf S i e anzuspielen: in einerForm, die hoffentlich Ihren Beifall hat! —

Eben gab ich Naumann den Auftrag, die letztcorrigirten Bogen, an denen ichManches verändert habe, Ihnen zu einer letzten R e v i s i o n zu unterbreiten.

In dankbarstem Gefühle

Ihr FreundN.

1083. An Heinrich Köselitz in Annaberg

Sils d. 9. August <1888>

Lieber Freund,

in den ersten Zeilen der Vo r r e d e hatte ich die Worte „vielen Späßen“umgeändert in „hundert Späßen“. Nachträglich scheint mir das Wort „hundert“hier zu stark; ich würde vorschlagen, daß Sie bei der Revision das ursprüngliche„vielen“ wiederherstellen.

Heute unglaublich schöner Tag, Farben des Südens!

Ihr Freund Nietzsche.1084. An Constantin Georg Naumann in Leipzig

S i l s - M a r i a , D o n n e r s t a g<9. August 1888>

Geehrtester Herr Verleger,

Heute morgen giengen die Correkturen an Sie ab. Ich habe darauf geschrieben„druckfertig“; aber in Anbetracht, daß es viel zu verändern giebt und daß ich einsehr geringes Zutrauen zu meiner S c h r i f t habe, scheint es mir räthlicher, dieBogen, wenn sie corrigirt sind, zu einer l e t z t e n R e v i s i o n an HerrnKöselitz zu senden — Derselbe liest meine Schrift besser als ich selber. — Einwesentlicher Zeitverlust kann nicht dadurch entstehn. — Ich erwarte nur nochdie N a c h s c h r i f t e n . Es ist mir nicht klar, wie lange eine Sendung von Silsbis zu Ihnen braucht. Was Sie Sonnabend abschicken, ist Montag Nachmittagum 4 in meinen Händen. Ich argwöhne, daß es u m g e k e h r t viel langsamergeht. —

Mit ergebenstem GrußIhrN.

1085. An Hans von Bülow in Hamburg

Sils-Maria, Engadin d. 10. August 1888Verehrter Herr,

inzwischen nahm ich mir die Freiheit, einem Freunde zur Übersendung derA n f a n g s - N u m m e r einer Oper Muth zu machen. Vielleicht, dachte ichmir, wirkt sie „appetitmachend“. Die Oper heißt „d e r L ö w e v o nVe n e d i g “: ich sähe diesen Löwen mit größtem Vergnügen in der MenageriePollini…

Diese Oper ist ein Vogel der seltensten Art. Man m a c h t jetzt so Etwasnicht mehr. Alle Eigenschaften im Vordergrunde, die heute, skandalös, aberthatsächlich, der Musik abhanden kommen. Schönheit, Süden, Heiterkeit, dievollkommen gute, selbst muthwillige Laune des allerbesten Geschmacks — dieFähigkeit, aus dem Ganzen zu gestalten, fertig zu werden und nicht zuf r a g m e n t a r i s i r e n (vorsichtiger Euphemismus für „wagnerisiren“)

Mein Freund, Herr Peter Gast, ist eine der tiefsten und reichsten Naturen, dieder Zufall in diesen v e r a r m e n d e Zeit hineingeworfen hat. Mein „Schüler“,ich bekenne es, im engsten Sinne, aus meiner Philosophie gewachsen, wieNiemand sonst. 32 Jahr, bis jetzt in vollkommener Unabhängigkeit, gebürtig ausdem sächsischen Erzgebirge (einer erstaunlich tüchtigen Familie zugehörig, dieseit Jahrhunderten die Cultur der ersten Stadt des Erzgebirgs in der Hand gehabthat) Strengste musikalische Erziehung, bevorzugter Schüler des alten Richter inLeipzig, eine Periode ü b e r w u n d e n e r Wagnerei hinterdrein. SeitdemIsolation in Venedig, in wunderbarer Einfalt der Verhältnisse, ohne

„Öffentlichkeit“, ohne „Cant“, „Würden“ und andre Eitelkeiten. — SeineMutter Wienerin.

Der Text der Oper ist einfach das matrimonio segreto, von meinem Freundeübersetzt. Dasselbe galt im vorigen Jahrhundert als Muster-libretto; der ersteEntwurf ist von Garrik. Einer Andeutung Stendhals folgend haben wir das Werkins Ve n e t i a n i s c h e übersetzt, das heißt, es nicht nur dort spielen lassen,vielmehr v e r s u c h t , Venedig in dies Werk zu übersetzen… Mein Freund, derseit 6 Jahren daselbst in einer geheimnißvollen und glücklichen Verborgenheitdaselbst lebt, hat, wie m i r wenigstens scheint, einen Zauber von VenedigerFarbe der morbidezza für die Musik e r f u n d e n , hinzuzurechnen vielereizend-derbe Realitäten des südlichen Lazzaronismus. Wirkungsvollsterv i e r t e r Akt mit einem Gondoliere-chor am Schluß, couleur locale erstenRanges. — Es existirt ein ausgezeichnet l e s b a r und s c h ö n geschriebenerClavier-Auszug, das kalligraphische Meisterstück meines Freundes, gleich derPartitur selbst. — Die Ouvertüre ist in Zürich zum ersten Male (in der Tonhalle)aufgeführt worden. Kein Mensch schreibt eine solche Ouvertüre mehr — a u sg a n z e m H o l z e …

Jetzt, wo Wagner von St. Petersburg bis Montevideo die Theater beherrscht,gehört ein Bülow’scher Muth dazu, g u t e Musik zu riskiren…

Mit dem Ausdruck alter Verehrung

Prof. Dr. Nietzsche1086. An Carl Fuchs in Danzig (Postkarte)

<Sils, 10. August 1888>

Seien Sie unbesorgt, werther Freund! Ich rede in dieser Schrift von einer Sache,worin ich nicht nur Autorität, sondern die einzige Autorität bin, die es heutegiebt. — Sie selber werden der Erste sein, mir dies zuzugestehn, — und Siewerden es eines Tags ü b e r a l l e M a ß e n k o m i s c h finden, daß Sie sichmir, in diesem Falle, „zur Vermittlung“ angeboten haben…

Mit freundlichstem, aber g a n z ironischem Gesichte

IhrN.

1087. An Emily Fynn in Genf

Sils den 11. August 1888.

Verehrteste Frau

das war ein Tag, der zehnte August! Das Wetter warm, rein, tiefblau; alles was

ich unternahm gerieth; alle zwei Stunden gab es eine angenehme Überraschung(— darunter ein Privatconcert für mich, von einem ausgezeichneten Musikeraus Hamburg, Herrn von Holten veranstaltet: er hatte sich ein Stück meinesVenediger Maëstro eingeübt und spielte es sechs Mal hintereinander —auswendig!)

Morgens lief ich um den See von Silvaplana herum, Nachmittag war ichhinten im Fexthal — dort gab es mindestens 70 Fremde, alle wie im Zustandeder Genesung, denn bis vorgestern war das Wetter in der Tat wie eines c h w e r e K r a n k h e i t . Und als ich Abends nach Hause komme,überrechnend, was der Tag Gutes gebracht hat, so war er noch nicht einmal amEnde mit seinen Geschenken — ich fand Ihren so gütigen, so liebenswürdigenBrief! Einen sou n v e r d i e n t e n Brief!

— Aber der Winter war böse auf mich, es war eine düstere und kranke Zeit,ohne Sonnenschein weder oben, noch d r i n n e n . Der ganze Aufenthalt inNizza mißrathen. Die Philosophen machen es, wenn sie krank sind, wie dieThiere, sie verstummen, sie verkriechen sich in ihre Höhle. Auch meine alteFreundin Meysenbug mag schön erstaunt sein, seit letztem Herbst nichts vonmir gehört zu haben. — Die Hitze in Italien trieb mich schon Anfangs Juni insEngadin — ich Unglücksmensch! — Ein solches Wetter ist nicht zubeschreiben; mein Zustand verschlechterte sich dergestalt, daß er mich an meinetraurigsten Zeiten erinnerte. Tiefe Schwäche, alle Wochen ein Paar Mal zu Bett,der fatale Kopfschmerz mit seinen fatalen Consequenzen. Da man nichtausgehen konnte und den Tag im kalten Zimmer durchfröstelte, fand manNachts nicht einmal Schlaf. Dazu völligen Mangel an Gesellschaft; die Augenzu schwach zum Lesen; Krankheit und Langweile in Permanenz. — Seit 3Wochen ungefähr ist das Wetter a n d e r s : nicht gerade besser, aber wenigstensmit guten wenn auch kurzen Zwischenakten. Wintertage gab es von größterStrenge, mit ruhigen Winden; auch jetzt ist der Gesammt-Charakter derLandschaft durch die große Masse Schnee sehr winterlich. Aber gestern undvorgestern h ö c h s t e , i r d i s c h e u n d e n g a d i n i s c h eVo l l k o m m e n h e i t !

In Nizza las ich Abends den Journal de Genève… Wie oft habe ich bei demtraurigen Wetter-Berichte Ihrer und Ihrer leidenden Freundin gedacht! Für einenersten Winter in Genf war es hart. Paraguay ist, unter s o l c h e n Wetter-Verhältnissen, in der That ein verlockender Aspekt.

Die letzten größeren Berichte, vom wahrhaft fürstlichen Einzug undEmpfang meiner Angehörigen in der neuen Colonie, haben einen starkenEindruck auf mich gemacht. Zuletzt habe ich Europa als Cultur-Museum

absolut n ö t h i g . Die Wildniß (— und das Glück…) ist für einen der keinePhilosophie auf dem Gewissen hat!. —

Zu den Curiositäten dieses Winters gehörte es, daß ich anfing b e r ü h m t zuwerden! Wo? In Dänemark. Der geistreiche Gelehrte Dänemarks, Dr. GeorgBrandes hat einen längeren Cyclus von Universitäts-Vorlesungen über denPhilosophen Nietzsche gehalten, mit einem außerordentlichen Erfolge, wennman den Zeitungen trauen darf. Mehr als 300 Personen regelmäßige Zuhörer;am Schluß eine große Ovation. — Man stellt mir eben etwas Ähnliches für NewYork in Aussicht. — Ich wünschte ich hätte mehr Vergnügen an so etwas. ImGrunde stimmt mich’s i r o n i s c h .

Für den nächsten Winter will der Eremit nach Corsika, nicht gerade nachAjaccio, sondern in eine unentdeckte Welt. Ich habe eine so tiefeSelbstbesinnung nöthig, daß mir es nirgends still, nirgends a n t i m o d e r ngenug ist. Sagen Sie, wenn ich bitten darf, ein herzliches Wort von mir Ihrerverehrten Freundin; dasgleiche Ihrer Fräulein Tochter. Es freut mich sehr, daßsie im Verkehr mit einem guten Maler ist. Auch von Fräulein Zimmern höre ichmit großem Interesse: ich möchte, daß sie sich meiner noch erinnert. Es soll janicht ein Gruß an die ausgezeichnete Mad. Bichler vergessen werden. Ihrverehrungsvoll ergebener

Nietzsche.P.S. Eben beginnen die Glocken von Sils zu läuten, — neue Glocken! Ein

schöner weicher melodischer Klang. —1088. An Heinrich Köselitz in Annaberg

Sils den 11. August <1888>

Lieber Freund,

es ist mir keine kleine Herzstärkung gewesen, zu hören, s e l b s t z u s e h e n ,daß Ihnen diese sehr risquirte Schrift Vergnügen gemacht hat. Es giebt Stunden,besonders Abends, wo mir der Muth zu so viel Tollheit und H ä r t e fehlt. Insumma: es erzieht mich zu einer noch größeren Einsamkeit — und bereitet michvor, noch g a n z a n d r e Dinge zu verlautbaren als meine Bosheiten übereinen solchen „Privat-Fall“. Das Stärkste steht eigentlich in den„Nachschriften“; in Einem Punkte bin ich sogar zweifelhaft, ob ich nicht zu weitgegangen (— n i c h t in den Sachen, sondern in dem Aussprechen von Sachen)Vielleicht lassen wir die A n m e r k u n g (in der über W<agner>s HerkunftEtwas angedeutet wird) w e g und machen dafür zwischendenH a u p t a b s c h n i t t e n der „Nachschrift“ kleine Zwischenräume…

Auf S. 27, Zeile 1 müßte es allerdings g e n a u e r heißen „sein Instinkt

d a f ü r , die höhere Gesetzlichkeit nicht nöthig zu haben“; aber da vorausgeht„sein Bewußtsein d a v o n “, schien es mir zu viel. Machen S i e nachGutdünken! —

Im Schluß des Ganzen bin ich auf den Gesichtspunkt des „Vorworts“zurückgekommen: zugleich um der Schrift den Charakter des Zufälligen zunehmen, — um ihren Zusammenhang mit meiner ganzen Aufgabe und Absichth e r a u s z u h e b e n .

Auf dem Umschlag sind die Schriften angezeigt; auch habe ich den„Hymnus“ nicht vergessen. — Mir gefallen dies Mal die S e i t e n , — geradevoll genug und nicht so gedrückt und unübersichtlich voll, wie im „Jenseits“ (—das mir schwer lesbar scheint)

Gestern gab es ein Fest für mich. Vielleicht haben Ihnen die Ohrengeklungen. Herr von Holten, der Pianist des Hamburger Conservatoriums, hattesich das „Liebesduett“ eingeübt und führte es mir in einem Privat-concert vor.Er mußte es s e c h s Mal wiederholen: er hat wunderbar die Singstimme zumVorschein gebracht — er war selbst ganz erbaut von der „liebenswürdigen undfeinen Musik“, wie er sich ausdrückte (— er spielte es auswendig —) er nahmAnstoß an der Logik des ges im Baß Seite 5, unterste Zeile „dein W i l lgescheh“

Gleich darauf setzte ich mich hin und schrieb nach Hamburg an H a n s …quod deus bene vertat! —

— Und haben Sie Ihr Quartett schon zu hören bekommen? —Seit drei Tagen ist das Wetter a u ß e r o r d e n t l i c h s c h ö n : vorher

h a r t e r Winter, man gieng bei Schneegestöber und eisigem Winde hinaus. —Was denken Sie über den Winter, der jetzt zu erwarten steht? —Und bleibt es bei Ihrem Besuche der Familie v o n K r a u s e ? -Es ist nicht unwahrscheinlich, daß ich von hier wieder nach T u r i n gehe.

Es sei denn daß… Wenn Bülow nur bald antwortete! — Aber wer weiß, wo ersteckt!

Leben Sie wohl, lieber Freund!Immer viel im Geiste bei Ihnen

N.Das „Leitmotiv“ meiner schlechten Scherze „Wagner als Erlöser“ bezieht

sich natürlich auf die Inschrift im Kranze des Münchner Wagner-Vereins„Erlösung dem Erlöser“…

1089. An Constantin Georg Naumann in Leipzig

<Sils-Maria,> S o n n t a g , <12. August 1888>Geehrtester Herr Verleger,

eben traf wieder der Correkturbogen ein — die zwei „Nachschriften“enthaltend. Inzwischen sandte ich noch ein Stück Manuscript: wir wollen dasStück unter dem Titel E p i l o g auf der neuen Seite (53) anfangen lassen. Zuihm habe ich heute morgen noch ein paar sehr substantielle Schlußwortegeschrieben, die der Schrift eine bedeutende Rückbeziehung auf meineletztveröffentlichte Schrift geben. Ich bitte um Entschuldigung, daß dasManuscript sob r u c h s t ü c k w e i s e in Ihre Hände gelangt: wüßten Sie, unterwas für unglaublichen Verhältnissen ich diesen Sommer hier oben zubringe, sowürden Sie mir gewiß Genugthuung wiederfahren lassen. Die Sache, um die essich in dieser Schrift handelt, ist verantwortlich und schwer genug: ich willabsolut mit mir selbst dabei zufrieden sein — und daraus erklärt sich, daß ichimmer noch einen Zusatz mache. Ich will nicht nöthig haben, auf dieses ganzeProblem zurückzukommen: deshalb habe ich Tag und Nacht jetzt über dasselbenachgedacht, um alle w e s e n t l i c h e n Punkte desselben zu finden. — Erstseit 3 Tagen ist das Wetter gut; vorher war es winterlich im schlimmsten Sinne.Immer krank!…

Für die Correktur des Vo r w o r t s gilt absolut der von mir und HerrnKöselitz festgestellte Text auf dem übersandten Correktur-Bogen: doch bat ichdarum, daß eine letzte R e v i s i o n noch von Herrn K<öselitz> vorgenommenwird.

Auf dem U m s c h l a g wollen wir die Worte ridendo dicere severumw e g l a s s e n , nachdem dieselben auf dem Blatt, wo die Worte T u r i n e rB r i e f stehen, eine schicklichere Stelle gefunden haben. —

Der Umschlag, wo Alles g r ü n ist, Worte und Papier, gefällt mir sehr. Esbleibt dabei. — Das Papier ist auch schön stark. —

Auch Ihre Vorschläge in Betreff der Zahl der Exemplare und derBezeichnung der letzten 500 als z w e i t e A u f l a g e haben meinen vollenBeifall. —P r e i s ebenfalls.

Nach Ihren Worten schließe ich, daß der e r s t e Bogen noch nicht gedrucktist? In diesem Falle wird also die kleine Veränderung auf S. 7 noch gemachtworden sein? nämlich an Stelle der drei Verszeilen diese anderen:

„das kann ich dir nicht sagen,und was du frägst,das kannst du nie erfahren.“Der kleine Entwurf für das Buchhändler-Börsenblatt darf natürlich in jedem

Sinn und i n j e d e m W o r t e verändert werden: Vielleicht gefällt Ihnen derAusdruck „geniales Pamphlet“ nicht; oder die Sache mit den „Hörnern“;m a c h e n S i e , b i t t e , n a c h G u t d ü n k e n ! Hier fehlt mir alleErfahrung in Bezug auf das, was erlaubt und was n ü t z l i c h ist. —

Mit den besten Wünschen für das gute Gelingen unsrer Unternehmung

Ihr ergebenster Dr. Nietzsche1 essay(s) in Contexta1090. An Franziska Nietzsche in Naumburg

<Sils-Maria,> M o n t a g , <13. August 1888>Meine liebe Mutter,

wir haben seit 4 Tagen ein unvergleichlich schönes Wetter und athmen alle auf.Vorher noch war es tief winterlich; so daß meine Wirthin mir doppelte Deckenaufs Bett legte und ich alle Wintersachen, die ich hatte, in Gebrauch nahm. Abermit Einem Male ist eine wunderbare Sommer-Stimmung da; die allerschönstenFarben, die ich hier oben gesehen habe, und der Himmel vollkommen rein wiein Nizza. Heute morgen bin ich mit Fräulein v. Salis auf dem Seeherumgegondelt; gestern hat mir ein ausgezeichneter Musiker ein kleinesPrivatconcert gegeben, in dem er Sachen von Herrn Köselitz spielte, die er fürmich eingeübt hatte. Ebenfalls langte ein sehr liebenswürdiger Brief von MissisFynn aus Genf an (trotzdem daß ich seit vorigem Herbste vollkommenverstummt war und mehrere Briefe unbeantwortet gelassen hatte). In meinemHôtel sind jetzt 60 Gäste. Es gab sehr viel zu thun für mich, wir sind wieder involler Druck-Arbeit. —

Nunmehr habe ich die etwas zu salzigen und derben Schinken aufgegessen;insgleichen e i n e n von den feinen und kleinen. Der z w e i t e ist auch bereitsangeschnitten: so daß es nun nicht mehr sehr lange dauert, daß der Vorratherschöpft ist. Meine Absicht ist immer noch, bis zum 15. Sept. auszuhalten:obwohl bei dem Wetter von diesem Jahre nichts zu versprechen ist. Im Grundewar der ganze bisherige Aufenthalt eine Geduldsprobe allerersten Ranges: mankann sich etwas Schauderhafteres gar nicht denken. Ich wußte sehr oft nicht,wie über eine unglaubliche Melancholie und Schwäche hinwegkommen.

Sils hat sich neue Glocken angeschafft, deren Klang sehr weich und voll ist.Von den Federn bitte ich mir doch eine ganze Schachtel aus, von wegen der

Reise nach dem Süden, wo ich nichts mehr beziehn kann.Vor ein paar Tagen habe ich auch an Herrn v o n B ü l o w nach Hamburg

geschrieben, der jetzt 2 Winter daselbst die Oper dirigirt hat, um ihm das Werkdes ausgezeichneten Herrn Köselitz ans Herz zu legen. Er wäre der Einzige, der

so etwas Neues wagte: aber da er ein unberechenbarer Mensch ist, so rechne ichauf nichts. —

In herzlicher Liebe Dich umarmend

Dein altes Geschöpf.1091. An Heinrich Köselitz in Annaberg (Postkarte)

<Sils-Maria, 18. August 1888>

Lieber Freund, sehr erbaut von Ihrem eben anlangenden Brief! — Was dieA n m e r k u n g betrifft, so habe ich mich (außer einer vorsichtigerenNuancirung der Herkunftsfrage) dazu entschlossen, sie g a n z festzuhalten. Ichkomme nämlich in einer Art Epilog mit aller Wucht auf die FalschheitW<agner>s zurück: so daß jeder Wink nach dieser Seite hin werthvoll wird.(Genannten Epilog habe ich noch mehrere Mal u m g e a r b e i t e t : das wasIhnen zugeht, ist n o c h n i c h t das Rechte. Aber Sie senden mir’s, corrigirt!)— Ich meine in der That die v e n e t <ianischen> E p i g r a m m e (und n i c h tdie römischen Elegien) Es ist h i s t o r i s c h (wie ich aus dem Buch von Hehngelernt habe), daß s i e den größten Anstoß gaben. — Die Familie v. Krausewird, wie alle Welt, jetzt auf Reisen sein. Das Duett ist noch gar nicht angelangt.— Beer n i c h t , Betz! —

In Freundschaft Ihr N.S o n n a b e n d . — Seit 10 Tagen wunderbares Wetter, gestern abgerechnet.

1092. An Carl Fuchs in Danzig (Postkarte)

Sils, am 22. August 1888.Werther Freund, es fehlt mir immer noch in kaum beschreiblicher Weise an Zeit,vor allem an A u g e n , um Ihnen für Ihre reichen Mittheilungen zu danken. Esist gerade Hochfluth bei mir von allerlei Notwendigkeiten, die mein bischenSehkraft nur zu vollständig absorbiren. Sie kennen glücklicher Weise diesenphysiologischen Mißstand nicht. Ich habe zum Lesen und Schreiben Brille Nr. 3nöthig — wenn meine drei Augenärzte Recht behalten hätten, so wäre ich seitJahren blind. Thatsächlich bleibt mir von jedem Tage nur eine g a n z k l e i n eZahl Stunden zum Schreiben und Lesen; und wenn das Wetter finster wird, garnichts. Dies in Ökonomie zu einer Großes fordernden gelehrten Cultur zubringen ist ein Problem…

Mit der n e u e n Schrift hat es vielleicht noch 1 1/2 Monate Zeit. Für dieCorrektur habe ich den Freund, der seit 10 Jahren jedes Blatt aus meiner Handcorrigirt, Herrn Peter Gast.

Treulich Ihr N.1093. An Franziska Nietzsche in Naumburg

S i l s , Mittwoch, d. 22. August <1888>Meine liebe Mutter,

wir haben gerade wieder recht verdrießliches Wetter, naß und kalt: um so mehrhabe ich mich über die Ankunft Deiner Sendung gefreut, die (gestern) DienstagNachmittag in meine Hände kam. Abends habe ich sogleich den Schinkenangeschnitten, denn ich war vollständig fertig geworden mit den kleinen. Esschien mir, daß er noch delikater schmeckt, was vielleicht mit der Größezusammenhängt. Ende gut Alles gut — dachte ich dabei. Wir wollen sehen, wielange es reicht. Ich rechnete eben, daß mein Aufenthalt hier oben noch 24 Tagebeträgt — am 15. Sept. A b r e i s e —. Die Zwiebäcke kamen mir um so mehrzurecht, als die, welche ich beim Bäcker in Silvaplana letzten Samstag geholthatte, nicht gut gerathen waren. Den T h e e habe ich sofort in Blechbüchsengefüllt: es ist mir eine sehr angenehme Abwechselung. Die Serviette kommtinsofern zur rechten Zeit, als ich die andre in die Wäsche geben muß.Allerschönsten Dank, meine gute liebe Mutter! Es ist doch angenehm, vonHause aus solche Kistchen zu bekommen — viel besser als von einemSchweizer Wurst-Fabrikanten…

Frl. v. Salis ist seit einigen Tagen abgereist. Überhaupt leert es sich schnell.Eine sehr angenehme Gesellschaft ist mir der Berliner Professor K a f t a n undFrau, die mich noch von Basel her gut kennen und zum ersten Mal hier obensind. (K<aftan> brachte mir Nachrichten und Grüße von Deussen, auch vonRomundt: ich kann den Gedanken nicht völlig ausschließen, er möchtevielleicht selbst einer der „unbekannt bleibenden wollenden“ Freunde sein. Esist übrigens einer der sympathischsten Theologen, die ich kenne) — Was jenesGeld betrifft, so kam mir immer mehr die Einsicht, daß es sehr zur rechten Zeiteingetroffen ist. Wenn Alles so fort geht, wie es gut begonnen hat, so werde ichin den nächsten Jahren fertig mit einer H a u p t s a c h e meines Lebens — undbrauche hübsch viel Geld zum Druck. — Die Rücksicht auf diese Hauptsache,und um so wenig wie möglich mir alles Experimentiren unter jetzigenUmständen zu ersparen, wird mich doch wieder nach Nizza führen. Von hiergehe ich direkt wieder nach Turin. Auf diese Weise bleibe ich auf dem Wege. —Vor einigen Tagen machte ich folgendes Verzeichniß meiner Habseligkeiten: 4Hemden. 4 Nachthemden. 3 wollne Hemden. 8 Paar Strümpfe. Ein guter Rock.Ein stärkerer Überrock. Der Winterüberzieher aus Naumburg (noch recht gut,aber ich trage ihn zu selten!) 2 schwarze Hosen, eine sehr dicke Hose. 2h o h e schwarze Westen, die 2 letzten Naumburger Westen (die ganz gut wären,

nur um eine Hand zu kurz) Die dicken Morgenschuh. — Das scheint mir geradegenug. Ich darf, um meinen Koffer nicht zu überfüllen, nur sehr vorsichtig seinund lasse dies Mal den Schlafrock hier oben (— er ist arg zerrissen und esscheint mir für einen Gelehrten, wie ich bin, schicklicher, wenn er k e i n eSchlafröcke trägt. Der Naumburger Winterüberzieher wird wohl an seine Stellerücken)

Jetzt eben kommt die Sonne wieder zum Vorschein. Den 2. Sept. habe ichnicht vergessen. — Es giebt s e h r V i e l zu thun; und ich wünschte mehrschlafen zu können.

In LiebeDein altes Geschöpf

1094. An Meta von Salis auf Marschlins

M i t t w o c h , Sils. <22. August 1888>Verehrtes Fräulein,

ein Wetter, wie am Morgen Ihrer Abreise — zum e r s t e n Mal seitdem: lautesGeplätscher. Ich mache mir die kluge Erholung, die ich mir so oft im Kampf mitden „Naturgeistern“ diesen Sommer gemacht habe — und unterhalte mich einwenig mit Ihnen. Zu alledem liegt ein gewisses Buch vor mir: es kam gesternAbend an. Noch niemals habe ich mich so würdig angeputzt gesehn — beinaheals „Classiker“. Der erste Blick hinein gab mir eine Überraschung: ich entdeckteeine lange Vo r r e d e zu der „Genealogie“, deren Existenz ich v e r g e s s e nhatte… Im Grunde hatte ich bloß den Titel der drei Abhandl. im Gedächtniß: derRest, dh. der I n h a l t war mir flöten gegangen. Dies die Folge einer extremengeistigen Thätigkeit, die diesen Winter und dies Frühjahr ausfüllte und diegleichsam eine M a u e r dazwischen gelegt hatte. Jetzt lebt das Buch wiedervor mir auf — und, zugleich, der Zustand vom vorjährigen Sommer, aus dem esentstand. Extrem schwierige Probleme, für die eine Sprache, eine Terminologienicht vorhanden war: aber ich muß damals in einem Zustande von fastununterbrochener Inspiration gewesen sein, daß diese Schrift wie dienatürlichste Sache von der Welt dahinläuft. Man merkt ihr keine Mühsal an —Der Stil ist vehement und aufregend, dabei voller finesses; und biegsam undfarbenreich, wie ich eigentlich bis dahin keine Prosa geschrieben. Freilich sagtder große Kritiker Spitteler: daß er, seitdem er d i e s e Schrift von mir gelesenhabe, alle Hoffnungen auf mich als Schriftsteller a u f g e g e b e n habe…

Im Vergleich mit letztem Sommer, der mir eine solche I m p r o v i s a t i o nüber horrible Themata erlaubte, erscheint d i e s e r Sommer freilich geradezu„ins Wasser gefallen“. Dies thut mir außerordentlich leid: denn aus dem zum

ersten Male wohlgerathenen Frühlings-Aufenthalte brachte ich sogarm e h r Kraft mit herauf als voriges Jahr. Auch war alles zu einer g r o ß e n undg a n z b e s t i m m t e n Aufgabe vorbereitet. Das „Pamphlet“ gegen Wagner(— auf das ich, unter uns, stolz bin) gehört in allem Wesentlichen nach Turinund war eigentlich die rechte, allerbeste E r h o l u n g , die Jemand sich mittenin schweren Dingen machen konnte.

Zu den Spezialitäten dieses Sommers gehört die absurde Insomnie. Auchheute, wie gestern, wie vorgestern seit zwei Uhr n a c h g e d a c h t … um 4 UhrCacao…

Gestern Nachmittag war ich mit Prof. Kaftan im Fexthal. In der „Alpenrose“sind noch c. 30 Personen. Im Grunde geht es jetzt schnell zu Ende. Der Herbst— wir haben ein unzweifelhaftes S e p t e m b e r -Wetter: wenn dies nicht garnoch ein Euphemismus ist. Ich will dennoch bis Mitte Sept. auszuhalten suchen.

Mit den herzlichsten Wünschen für Ihr Wohlergehen und mit einemvielfachen Anlaß, Ihnen zu d a n k e n

Ihr ergebensterDr. Nietzsche.

— Sie dürfen sich darauf verlassen, daß das B u c h wie ein Ei geschont undin einer vollkommen festen (gebundenen) enveloppe zu Ihnen zurückkehrt.1095. An Heinrich Köselitz in Buchwald (Postkarte)

<Sils-Maria,> 24 Aug. 1888

Lieber Freund, ich sende eben den Epilog an Naumann ab, mit der Bestimmung,daß er zu einer l e t z t e n R e v i s i o n Ihnen noch einmal vorgelegt wird. Esschien mir nützlich, ein paar Sachen deutlicher zu sagen (— es schien mir einefinesse, das C h r i s t e n t h u m gegen W<agner> in Schutz zu nehmen —)Auch ist der allerletzte Satz jetzt stärker, — auch heiterer…

„Auf nach Creta!“ — ist ein berühmter Chor der schönen Helena. Ich sageIhnen das aus Bosheit, nachdem Sie mich über die Schlußworte des Parsifal„unterrichtet“ haben. Diese „letzten Worte“ Wagner’s waren ja meinLeitmotiv…

Noch nichts Neues. Alle Welt reist ab. Alle Welt ist noch unterwegs. VonMitte September an in T u r i n große Feste zur Hochzeit des Prinzen Amedeo:als Festoper „Tannhäuser“, d e u t s c h , von Angelo Neumann (teatro regio,sonst nur Carneval-Theater)… Was läge mir daran, Sie in der Nähe, d. h.inVe n e d i g zu haben!

D a n k b a rIhr Freund N.

1096. An Carl Fuchs in Danzig

Sils, S o n n t a g <26. August 1888>Lieber Freund,

e i n p a a r T a g e R u h e . Es gab auch ein Paar Tage Krankheit. Doch s o l les gehn — und es geht. Dies Mal bin ich an der Reihe zu erzählen. — Zuerstvon Dr. B r a n d e s . Derselbe hat für mich nur gethan, was er seit 30 Jahren füralle unabhängigen Geister Europa’s thut — er hat mich seinenLandsleutenv o r g e s t e l l t . Was ich in meinem Falle hoch zu ehren habe, dasist, daß er d a seinen leidenschaftlichen Widerwillen gegen alle jetzigenDeutschen überwunden hat. Eben hat er wieder, n a c h dem Besuch desKaisers, in „einer wahren Teufels-Laune“, wie die Kölnische Zeitung sagt, seineVerachtung gegen alles Deutsche ausgedrückt. Nun, man giebt es ihm reichlichzurück. In den gelehrten Kreisen genießt er des allerschlechtesten Rufs: mit ihmin Beziehung zu stehn gilt als entehrend (Grund genug, für m i c h , s o w i ei c h b i n , der Geschichte von den Winter-Vorlesungen die allerweitestePublizität zu geben). Er gehört zu jenen internationalen J u d e n , die einenwahren T e u f e l s - M u t h im Leibe haben, — er hat auch im Norden Feindeüber Feinde. Er ist mehrsprachig, hat sein bestes Auditorium in Rußland, kenntdie gute geistige Welt Englands und Frankreichs auf’s Persönlichste — u n d istein Psycholog (was ihm die deutschen Gelehrten nicht verzeihen…) Seingrößtes Werk, mehrmals erschienen, „die Hauptströmungen der Litteratur desneunzehnten Jahrhunderts“ ist immer noch das beste deutsch geschriebeneC u l t u r -Buch über dieses große Objekt. — Zur M u s i k steht er, wie er mirim Winter schrieb, zu seinem Bedauern in k e i n e m Verhältniß. —

Vor 4 Tagen hat uns Herr v o n H o l t e n verlassen. Wir sind alle betrübt.Eine solche Vereinigung von Liebenswürdigkeit und Bosheit ist ein ganz seltenDing. Ein alter Abbé, mit den Launen eines großen Schauspielers. Dabei eineganz merkwürdige Erfindsamkeit im Wohlthun, im Freude-machen —Jedermann hat eine Geschichte davon zu erzählen. Er muß in der That in denglücklichsten Verhältnissen sein, ich meine n i c h t des Beutels sondern desHerzens, denn es vergieng kein Tag, wo er nicht Etwas derart „verbrochen“hätte. — Für mich hatte er sich folgende Artigkeit ausgedacht: er hatte sich eineComposition des einzigen Musikers, den ich heute gelten lasse, meinesFreundes Peter Gast eingeübt und spielte sie mir privatissime sechs Mala u s w e n d i g vor, entzückt über „das liebenswürdige und geistreiche Werk“.— In rebus musicis et musicantibus vertrugen wir uns zum besten d. h. wirwaren ohne j e d e Toleranz und secirten den „Einäugigen“ unter den Blinden…Was R i e m a n n betrifft, so haben wir ernst genug darüber gesprochen, doch

auch im gleichen Sinn, nämlich daß eine „phrasirte“ Ausgabe schlimmer ist alsjede andere — nämlich als eine bösartige Schulmeisterei. Was „unrichtig“ ist,läßt sich in der That in zahllosen Fällen bestimmen, was richtig ist, f a s t n i e .Die Illusion der „phraseurs“ in d i e s e m Punkte schien uns außerordentlich.Die Grundvoraussetzung, auf die sie bauen, d a ß e s überhaupt eine richtige d.h. E i n e richtige Auslegung giebt, scheint mir psychologisch underfahrungsmäßig f a l s c h . Der Componist, im Zustande des Schaffens wie desReproduzirens, sieht diesen f e i n e n S c h a t t e n in einem bloßlabilenGleichgewicht — jeder Zufall, jede Erhöhung oder Ermattung dessubjektiven Kraftgefühls faßt bald größere, bald nothwendig e n g e r e Kreiseals Einheiten zusammen. Kurz, der a l t e P h i l o l o g e sagt, aus der ganzenphilologischen Erfahrung heraus: e s g i e b t k e i n ea l l e i n s e l i g m a c h e n d e I n t e r p r e t a t i o n , weder für Dichter, nochfür Musiker (Ein Dichter ist absolut k e i n e Autorität für den Sinn seiner Verse:man hat die wunderlichsten Beweise, wie flüssig und vag für sie der „Sinn“ ist—).

— Ein a n d r e r Gesichtspunkt, über den wir sprachen (— es könnte sein,daß ich ihn auch schon einmal gegen Sie, lieber Freund, berührte, vor ein paarJahren). Dieses Beseelen, Beleben der kleinsten R e d e t h e i l e der Musik (—ich möchte, Sie und Riemann wendeten die Worte an, die Jeder aus der Rhetorikkennt: P e r i o d e (Satz), K o l o n , K o m m a , je nach der Größe, insgleichenF r a g e s a t z , C o n d i t i o n a l s a t z , I m p e r a t i v — denn diePhrasirungslehre ist schlechterdings das, was für Prosa und Poesie dieI n t e r p u n k t i o n s l e h r e ist), — also: wir betrachteten diese Beseelung undBelebung der kleinsten Theile, wie sie in der Musik zur P r a x i s Wagner’sgehört und von da aus zu einem fast herrschenden Vortrags-System (selbst fürSchauspieler und Sänger) geworden, mit verwandten Erscheinungen ina n d e r e n Künsten: es ist ein t y p i s c h e s Ve r f a l l s - S y m p t o m , einBeweis dafür, daß sich das Leben aus dem Ganzen z u r ü c k g e z o g e n hatund im Kleinsten l u x u r i i r t . Die „Phrasirung“ wäre demnach dieSymptomatik eines Niedergangs der organisirenden Kraft: anders ausgedrückt:der Unfähigkeit, g r o ß e Verhältnisse noch rhythmisch zu überspannen — eineEntartungsformd e s R h y t h m i s c h e n … Dies klingt beinahe paradox. Dieersten und leidenschaftlichsten Förderer der rhythmischen Präzision undEindeutigkeit wären nicht nur Folgeerscheinungen der rhythmischen décadence,sondern auch deren s t ä r k s t e und e r f o l g r e i c h s t e W e r k z e u g e ! Indem Maße, in dem sich das Auge für die r h y t h m i s c h e Einzelform(„Phrase“) einstellt, wird es m y o p s für die weiten, langen, großen Formen:

genau wie in der Architektur des Berninismus. Eine Veränderung der O p t i kdes Musikers — die ist überall im Werke: n i c h t n u r in der rhythmischenÜberlebendigkeit des Kleinsten,u n s e r e G e n u ß f ä h i g k e i t b e g r e n z ts i c h i m m e r m e h r a u f d i e d e l i k a t e n k l e i n e n sublimenDinge… f o l g l i c h m a c h t man nur auch noch solche — —

Moral: Sie sind mit Riemann ganz und gar auf dem „rechten Wege“ — demeinzigen nämlich d e n e s n o c h g i e b t …

Wir besprachen auch einen Punkt, der Sie b e s o n d e r s angeht. Von Holtenmeinte, mit solchen Phrasirungs-Concerten, wie Sie sie veranstalten, werdeabsolut nichts erreicht. Es sei da die Illusion des Vortragenden vollkommen.M a n h ö r e eben gar nicht, inwiefern der Vortrag von jedem früher gehörtenabweiche: selbst dem professionellen Klavierspieler sei durchaus n i c h t mitder wünschenswerthen Deutlichkeit (einzelne Fälle, wie billig, ausgenommen)die von ihm gewohnte und festgehaltene Interpretation dergestaltB e w u ß t s e i n s - S a c h e , um in jedem Augenblick eine Verschiedenheit zuspüren. Solche Concerte überzeugten absolut von n i c h t s , weil sie gar keinenUnterschied zum Bewußtsein brächten. Ein Anderes sei es, natürlich auch nur inHinsicht auf ganz raffinirte Musiker, v e r s c h i e d e n e Vortrags-Arten dichthinter einander zu stellen; was er leugne, sei, daß die Evidenz desR i c h t i g e n sich damit beweisen lasse. Sie möchten nur abstimmen lassen…

Alles, was Sie mir schreiben, bestärkt mich in dem Wunsche, daß Danzigd e l e n d a e s t , — Bonn: das klingt viel heiterer… Ich nehme im Stillen an,daß daselbst noch als Kapellmeister der gutartige Schumannianer B r a m b a c hfungirt (— ich habe unter ihm mit in Köln in dem großen Gürzenich-Musikfestegesungen — z. B. Schumann’s Faust —). Es lebt viel gute Welt daselbst, auchAusländerinnen. Die klimatische Differenz ist unbeschreiblich g ü n s t i g …Die gesamte Welt-Färbung verändert sich am Rhein im „lieben Gemüth“ —crede experto —. Zuletzt giebt es wirklich ein rheinisches M u s i k - L e b e n .— Sie haben einmal in Naumburg meinen Freund K r u g gesehn: derselbe, jetztein großes Thier, das 80 Angestellte unter sich hat, Justizrath und Direktor derlinksrheinischen Eisenbahn, Sitz Köln, hat ganz vor Kurzem in Köln einenW a g n e r - Ve r e i n großen Stils in’s Leben gerufen: er ist dessen Präsident.—

Mit vielen herzlichen Wünschen und für alles Nicht-Willkommne diesesBriefs um Verzeihung bittend

Ihr ergebensterNietzsche

NB. bis 14. Sept. Sils. Am 15. Abreise — —

— Sie haben hoffentlich mein „litterarisches Recept“ nicht ernstgenommen?? — Ich mache in puncto „Publizität“ und „Ruhm“ nichts alsBosheiten. — Einige werden p o s t h u m geboren. —1097. An Carl Fuchs in Danzig

<Sils-Maria, vermutlich Ende August 1888>

Z u r A u s e i n a n d e r h a l t u n g d e r a n t i k e n R h y t h m i k („Zeit-Rhythmik“) v o n d e r b a r b a r i s c h e n (“Affekt-Rhythmik“).1. Daß es außer dem Wortaccent noch einen andern Accent gegeben habe, dafürfehlt bei den Rhythmikern (zb. Aristoxenos) jedes Zeugniß, jede Definition,selbst ein dazu gehöriges W o r t . — Arsis und Thesis wird erst seit Bentley indem f ä l s c h l i c h e n Sinne der modernen Rhythmik verstanden — dieDefinitionen, die die Alten von diesen Worten geben, sind völlig unzweideutig.

2. Man warf, in Athen sowohl, wie in Rom, den R e d n e r n , selbst denberühmtesten vor, Verse unversehens gesprochen zu haben. Es werdenzahlreiche Beispiele solcher entschlüpften Verse citirt. Der Vorwurf ist, nachu n s r e r üblichen Art, griechische und lateinische Verse zu sprechen, einfachunbegreiflich (— erst der r h y t h m i s c h e Ictus macht bei uns aus einerAbfolge von Silben einen Vers: aber gerade das ganz gewöhnliche Sprechenenthielt, nacha n t i k e m Unheil, sehr leicht v o l l k o m m e n e Ve r s e —)

3. Nach ausdrücklichen Zeugnissen war es nicht möglich, den Rhythmus vongesprochenen lyrischen Versen zu hören, w e n n nicht mit Taktschlägendieg r ö ß e r e n Z e i t - E i n h e i t e n dem Gefühle zum Bewußtsein gebrachtwurden. So lange der Tanz begleitete (— und die antike Rhythmik ist n i c h taus der Musik, sondern aus dem Tanz her gewachsen), s a h man dierhythmischen Einheiten mit A u g e n .

4. Es giebt Fälle bei Homer, wo eine kurze Silbe ungewöhnlicher Weise denA n f a n g eines Daktylus macht. Man nimmt philologischer Seits an, daß insolchen Fällen der r h y t h m i s c h e I c t u s die Kraft habe, den Zeit-Mangelauszugleichen. Bei den antiken Philologen, den großen Alexandrinern, die icheigens auf diesen Punkt hin befragt habe, findet sich nicht die leiseste Spur einersolchen Rechtfertigung der k u r z e n Silbe (dagegen fünf andere).

5. Es tritt sowohl auf griechischem als auf lateinischem Boden ein Zeitpunktein, wo die nordischen Lied-Rhythmen Herr werden über die antikenrhythmischen Instinkte. Unschätzbares Material dafür in dem Hauptwerk überc h r i s t l i c h - g r i e c h i s c h e H y m n o l o g i e (aus einemsüdfranzösischen gelehrten Kloster hervorgegangen). Von dem Augenblick an,wo u n s r e Art rhythmischer Accent in den antiken Vers eindringt, ist jedes Mal

die S p r a c h e verloren: sofort geht der Wortaccent und die Unterscheidung vonlangen und kurzen Silben flöten. Es ist ein Schritt in die Bildung barbarisirenderIdiome.

6. Endlich die Hauptsache. Die beiden Arten der Rhythmik sind c o n t r ä rin der ursprünglichsten Absicht und Herkunft. U n s e r e barbarische (odergermanische) Rhythmik versteht unter Rhythmus die Aufeinanderfolge vongleich starken A f f e k t - S t e i g e r u n g e n , getrennt durch Senkungen. Dasgiebt unsere älteste Form der Poesie: drei Silben, j e d e einenH a u p t b e g r i f f ausdrückend, drei bedeutungsvolle S c h l ä g e gleichsaman das Sensorium des Affekts — das bildet unser ältestes Versmaß. (In unsrerSprache hat im Durchschnitt die bedeutungsschwerste Silbe, die A f f e k t -d o m i n i r e n d e Silbe den Accent, grundverschieden von den antikenSprachen.) U n s e r Rhythmus ist ein A u s d r u c k s m i t t e l d e sA f f e k t s : der antike Rhythmus, der Zeit-Rhythmus, hat umgekehrt dieAufgabe, den Affekt zu beherrschen und bis zu einem gewissen Grade zueliminiren. Der Vortrag des antiken Rhapsoden war extrem leidenschaftlich (—man findet im Jon Platon’s eine starke Schilderung der Gebärden, der Thränenu.s.w.): das Z e i t - G l e i c h m a ß wurde wie eine Art O e l auf den Wogenempfunden. R h y t h m u s im antiken Verstande ist, m o r a l i s c h u n dä s t h e t i s c h , der Z ü g e l , der der Leidenschaft angelegt wird.

In summa: unsre Art Rhythmik gehört in die Pathologie, die antike zum„E t h o s “…

Herrn Dr. Carl Fuchs zu freundlicher Erwägung anheimgegeben.

F. N.1098. An Franziska Nietzsche in Naumburg

S i l s den 30. August 1888Meine liebe Mutter,

mein Wunsch ist, daß dieser Brief spätestens am 2. September in Deine Händekommt, nicht gerade zur Sedanfeier, sondern weil an diesem Tage es zehn Jahrewird, daß Deine vortreffliche Alwine bei Dir ist. In unsrer Zeit, wo Alleszusammen und wieder auseinander läuft, ist ein solcher Zeitraum ein halbesWunder; und es giebt wenig Dinge, um die Du mehr beneidet werden kannst (esmüßte denn Dein S o h n sein —) Gerade bei Deiner Einsamkeit, wo Deinezwei Kinder über die ganze Erde zerstreut sind, brauchst Du, um wirklich beiDir zu Hause zu sein, ein solches gutes und treues Wesen. Der Übelstand ist,daß Du nicht leicht einen Ersatz finden wirst, falls er einmal nöthig sein sollte.Bitte, sage Alwinen auch in meinem Namen meinen Dank und meine

Anerkennung: ich denke, daß alles Gute auf dieser Erde seinen Lohn findet. —Wir sind gerade hier mit einem herrlichen Wetter beschenkt und genießen

reichlich, was wir durch lange Geduld verdient haben. Augenblicklich hat meinHôtel die Auszeichnung, den über die Maaßen e i n f l u ß r e i c h e n HerrnBädecker aus Leipzig zu Gaste zu haben; seine Frau mit Töchterchen, sehr artigimmer gegen mich, war den ganzen Sommer da. Ich bin wieder vollkommen inThätigkeit, — hoffentlich geht es noch eine Weile, da eine gut und langevorbereitete Arbeit, die diesen Sommer abgethan werden sollte, wörtlich „insWasser“ gefallen ist. D i e s war die unersetzbare Einbuße von Seitendiesese n t s e t z l i c h e n Sommers. —

Bis zum 15. September gedenke ich Stand zu halten. An diesem TageAbreise, wieder nach T u r i n , das mir vom Frühling her bestens im Gedächtnißgeblieben ist. Dort findet in der zweiten Hälfte des September eine ganz großeF ü r s t e n - H o c h z e i t statt, vom Prinzen Amedeo. Als Fest-Oper istTannhäuser gewählt (d e u t s c h wohlverstanden, die Gesellschaft des AngeloNeumann —) Herr K ö s e l i t z ist bei seinen Freunden, Baron von Krause’s,auf deren Gütern in Hinterpommern, einer sehr liebenswürdigen Einladungfolgend. Freund S e y d l i t z schrieb gestern, daß ihm der Kaiser von Japaneinen artigen Dankesbrief für seine Verdienste um A u s b r e i t u n g d e sj a p a n e s i s c h e n G e s c h m a c k s durch seinen Botschafter überreichthabe. — Eine kleine Sendung wird noch n ö t h i g sein: k e i n Zwieback, aberein Schinken von gleicher Größe und Qualität, wie die letzten (die ich d e l i k a tfinde) Dann bitte ich nochmals um ein Gros Sönneckens Rundschriftfeder Nr. 5,von wegen der A b r e i s e nach dem Süden. Insgleichen suche mir docheinenu n z e r b r e c h b a r e n Kamm aus (etwas recht Feines!); es fehlt mirübrigens auch ein S t a u b k a m m (eng, aber s e h r s c h a r f muß er sein —)— Mit dem Thee hatte ich meinen Spaaß. Diesen Sommer verfolgt mich derS o u c h o n g . Ich habe 4 Male Thee kommen lassen und immer a n d e r e nbestellt (weil Souchong zu schwach und im Geschmack nicht streng genug fürmich ist) aber man hat mir 4 Mal Souchong geschickt! Zuletzt gar noch dieMutter! Was Deinem Sohn gut thut, ist ein feiner C o n g o (aber bestellt aneinem Hauptgeschäft: die kleinen Händler unterscheiden selbst nicht die Sorten)

Mit dem herzlichsten GrußeDein altes Geschöpf

1099. Vermutlich an Carl Spitteler in Basel (Entwurf)

<Sils-Maria, verm. Anfang September 1888>

S p i t t e l e r .

Werther Herr.

Sie unterschätzen mich ganz und gar. Ich habe es bisher durchaus nicht anHumanität gegen meine Zeitgenossen (— die Zeit: sonst habe ich nichts mitihnen gemein) fehlen lassen. — Ich könnte Ihnen 2 Fälle erzählen, die Sieverstehen würden. — Ihr Freund W<idmann> hat einmal über ein Buch von mirdie unanständigsten Dummheiten, die es nur geben kann, drucken lassen: ichmachte mir den Scherz, ihm zu sagen „e r h a b e m i c h v e r s t a n d e n “ …er hats geglaubt.

Was Hr. Sp<itteler> betrifft, so hat er einmal eine wahre Wuth darüberausgedrückt, Schriften von mir l e s e n z u m ü s s e n ; er hat eine Schrift, dieihm mein Verleger anbot, sogar abgewiesen („Jenseits von Gut und Böse“)Bisher habe ich geglaubt, daß eine Creatur dieser Zeit sich eineu n v e r d i e n t e Ehre anthut, wenn sie ein Buch von mir in die Hand nimmt.

Bisher war ich ebenfalls gewohnt, daß, wer in meine Bücher kam, dieSchuhe auszog… Die Herren Widmann und Spitteler haben nicht einmal dieStiefeln ausgezogen — und was für Stiefeln!…

Ich habe mich über die Deutschen in puncto Verständniß lustig gemacht:zweifeln Sie nicht daran, daß ich auch über schweizerisches H o r n v i e hmeine Erfahrungen habe.

N.1099a. An Cosima Wagner in Bayreuth (Entwurf)

<Sils-Maria, verm. Anfang September 1888>

A n t w o r t a u f e i n e n d u r c h A r t i g k e i t s i c ha u s z e i c h n e n d e n B r i e f d e r W i t t w e W a g n e r ‘ sSie erweisen mir die Ehre, mich auf Grund meiner Schrift, die die e r s t eA u f k l ä r u n g ü b e r W < a g n e r > gab, öffentlich anzugreifen, — Siemachen selbst den Versuch, auch über mich aufzuklären. Ich bekenne, warumich im Nachtheil bin: ich habe zuviel Recht, zu viel Vernunft, zu viel S o n n eauf meiner Seite, als daß mir ein Kampf unter solchen Umständen e r l a u b twäre. Wer kennt mich? — Frau Cosima am allerletzten. Wer kennt Wagner?Niemand außer mir, hinzugenommen noch Frau C<osima> welche w e i ß daßich R e c h t h a b e … sie w e i ß , daß der Gegner <Recht> hat — ich gebeIhnen auf diese Position hin Alles zu. Unter solchen Umständen verliert dasWeib seine Anmuth, beinahe seine Ve r n u n f t … Man hat damit nichtUnrecht, daß man schweigt: namentlich wenn man Unrecht hat…Si tacuisses, Cosima mansisses…

Mit dem Ausdruckeiner den Umständen angemessenen

TheilnahmeSie wissen sehr gut, wie sehr ich den Einfluß kenne den Sie auf W<agner>

ausgeübt haben — Sie wissen noch besser, wie sehr ich diesenEinflußv e r a c h t e … Ich habe in dem Augenblick Ihnen und Wagner denRücken gekehrt, als der S c h w i n d e l los ging…

Wenn die T o c h t e r Liszt in Dingen der deutschen Cultur, oder gar derReligion mitreden will, so habe ich kein Erbarmen…1100. An Carl Fuchs in Danzig (Entwurf)

<Sils-Maria, September 1888>

Werther Freund, Sie sollten, endlich! erwägen, daß Phrasirung nichts ist, wasmich anginge: und daß ich es, aus Theilnahme gegen Sie und aus einer gewissenangewöhnten Objektivität gegen unangenehme Dinge, unterlassen habe, wasjeder andere an meiner Stelle längst gethan hätte: nämlich zu sagen „Hole Sieder Teufel!“ Jetzt aber bin ich einfach in der Nothwehr. Ich wehre mich <mit>Händen und Füßen dagegen, daß mich Jemand mit Briefen überfällt. Was hatmeine etwas e r n s t h a f t e r ausgefüllte Existenz mit solchen absurden Fragenwie „Phrasirung“ zu thun!

Jeder, der den geringsten Begriff von der tiefen Sammlung undConcentration hat, die die Entscheidung über die höchsten Fragen von mirverlangt,s c h e u t sich mir zu schreiben. Ich habe längst keinen Briefwechselmehr, außer mit meiner Mutter und mit meinem Freunde Gast — mit letzteremgenau aus dem Grunde, aus dem ich mit Ihnen meinen Verkehr abzubrechenwünsche. Ihr dicker Brief wird, wie so ein dicker Riese mich noch eine Zeitlangdurchs Leben begleiten — u n a u f g e b r o c h e n : des dürfen Sie versichertsein; — — —1101. An Carl Fuchs in Danzig

Sils, den 6. Sept. 1888Lieber Freund,

in den nächsten Tagen verlasse ich Sils; da ich noch für lange tiefe Sammlungnöthig habe, so verschwinde ich wieder einmal, meiner Mönchs-praxis gemäß,für B e s u c h e jeder Art — eingerechnet Briefe. Vor mir liegt bereits ein Packungelesener Briefe: ich fürchte, es sind zwei von Ihnen darunter. — Zuletztverberge ich Ihnen meinen Verdacht nicht: sollten dieselben nicht von derheiligen „Phrasierung“ handeln? In diesem Falle wäre alles Ernstes einmal zuerwägen, ob sie nicht falsch a d r e s s i r t sind? Briefe über „Phrasierung“ an

den Philosophen der U m w e r t h u n g a l l e r W e r t h e !… In Nizza willman mich durchaus für Mars-Bewohner interessiren; man hat dort die stärkstenTeleskope Europa’s für dies Gestirn. Frage: wer steht mir eigentlich näher, dieMars-Bewohner oder die Phrasierung? — Ich möchte gerne fortfahren, mich fürDr. Fuchs zu interessiren, doch mit A u s s c h l u ß seiner Marsbewohner…

Eine kleine Schrift, mit dem TitelD e r F a l l W a g n e rEin Musikanten-Problem.

wird im Oktober Ihnen zugehen. —

Mit einem herzlichen Grußder Philosoph von

Sils-Maria.NB. man sucht mich hier in Sils für die größte Forelle zu interessiren, die je

gefangen worden ist, 30 Pfund schwer; wer weiß, in d i e s e m Falle, eine gutesauce Mayonaise vorausgesetzt…1 essay(s) in Contexta1102. An Meta von Salis auf Marschlins

Sils den 7. Sept. 1888

Verehrtes Fräulein,

Hiermit sende ich, zugleich mit meinem verbindlichsten Danke, das Buchwieder an Sie zurück. Ich habe es in einen festen Carton gesteckt: mein Wunschist, daß die Post keine Brutalitäten begeht.

Inzwischen war ich sehr fleißig, — bis zu dem Grade, daß ich Grund habe,den Seufzer meines letzten Briefs über den „ins Wasser gefallenen Sommer“ zuwiderrufen. Es ist mir sogar etwas m e h r gelungen, Etwas, das ich mir nichtzugetraut hatte… Die Folge war allerdings, daß mein Leben in den letztenWochen in einige Unordnung gerieth. Ich stand mehrere Male nachts um 2 auf,„vom Geist getrieben“ und schrieb nieder, was mir vorher durch den Kopfgegangen war. Dann hörte ich wohl, wie mein Hauswirth, Herr Durisch,vorsichtig die Hausthür öffnete und zur Gemsen-Jagd davon schlich. Wer weiß!vielleicht war ich auch auf der Gemsenjagd…

Der d r i t t e September war ein sehr merkwürdiger Tag. Früh schrieb ich dieVorrede zu meiner U m w e r t h u n g a l l e r W e r t h e , die stolzeste Vorrede,die vielleicht bisher geschrieben worden ist. Nachher gieng ich hinaus — undsiehe da! der schönste Tag, den ich im Engadin gesehn habe, — eineLeuchtkraft aller Farben, ein Blau auf See und Himmel, eine Klarheit der Luft,vollkommen unerhört… Es war n i c h t n u r mein Urtheil… Die Berge, bis

tief hinunter in Weiß — denn wir hatten ernsthafte Wintertage — erhöhtenjedenfalls die Intensität des Lichtes. —

Dann gieng ich zu Tisch und fand, neben meinem Couvert, B r i e f e ,darunter auch einen kurios dick gerathenen Brief von Ihnen…

Nachmittags lief ich um den ganzen See von Silvaplana herum: der Tag wirdmir wahrscheinlich im Gedächtniß bleiben. —

Am 15. September gehe ich fort, nach T u r i n ; was den Winter betrifft, sowäre doch, aus Gründen tiefer Sammlung, wie ich sie nöthig habe, der Versuchmit Corsica ein wenig risquirt… Doch wer weiß —

Im nächsten Jahre werde ich mich dazu entschließen, meineU m w e r t h u n g a l l e r W e r t h e , das unabhängigste Buch, das es giebt, inDruck zu geben… N i c h t ohne große Bedenken! Das erste Buch heißt zumBeispiel der A n t i c h r i s t .

Mit dem herzlichsten Gruße und einer vollkommenen Zustimmung zu IhremUrtheile über Zürich, gar nicht zu reden von den Wasser-Strolchen,

bleibe ich dankbarst ergebenIhr

Friedrich Nietzsche1 essay(s) in Contexta1103. An Constantin Georg Naumann in Leipzig

<Sils, den 7. Sept. 1888>

Sehr geehrter Herr Verleger,

dies Mal werde ich Ihnen eine Überraschung machen. Sie denken gewiß, daßwir mit Drucken fertig sind: aber siehe da! Soeben geht das allersauberste Ms.an Sie ab, das ich je Ihnen gesandt habe. Es handelt sich um eine Schrift, welchein Hinsicht auf Ausstattung vollkommen der Zwilling zu dem „Fall Wagner“bilden soll. Ihr Titel ist: M ü s s i g g a n g e i n e s P s y c h o l o g e n . Ich habees nöthig, sie jetzt noch herauszugeben, weil wir Ende nächsten Jahreswahrscheinlich daran gehen müssen, mein Hauptwerk die U m w e r t h u n ga l l e r W e r t h e zu drucken. Da dasselbe einen sehr strengen und ernstenCharakter hat, so kann ich ihm nichts Heiteres und Anmuthiges hinten nachschicken. Andrerseits muß ein Zeitraum z w i s c h e n meiner letztenPublikation und jenem e r n s t e n Werke liegen. Auch <mö>chte ich nicht, daßes unmittelbar auf die übermüthige farce gegen Wagner folgte. —

Diese Schrift, deren Umfang nicht beträchtlich ist, kann vielleicht auch indem Sinne wirken, die Ohren etwas für mich aufzumachen: so daß jenesHauptwerk nicht wieder solchem absurden Stillschweigen begegnet wie mein

Zarathustra. — Also in Allem gleich wie die Schrift über Wagner: auch gleicheZahl der Exemplare.

Ich verlasse am 15. Sept. Sils und gehe wieder nach T u r i n . Von dort ausmelde ich Ihnen meine Adresse. Es steht nichts entgegen, daß wir sofort wiedermit dem Druck beginnen: und in Anbetracht, daß ich für diesen Winter einet i e f e S a m m l u n g nöthig habe, wäre es mir sogar sehr wünschenswerth,wenn diesen wenigen Bogen s o b a l d w i e m ö g l i c h erledigt würden. —N a c h s e n d u n g e n von Ms. haben Sie nicht zu fürchten. Ich war die letztenWochen in einem wesentlich besseren Zustand als den ganzen Sommer. —

Ich ersuche Sie, F r e i e x e m p l a r e vom „Fall Wagner“ an folgendeAdressen zu senden (mit der Bemerkung von Ihrer Hand: Im Auftrag des HerrnVerfassers

C. G. Naumann

Herrn Baron Carl von Gersdorff, Ritter usw.auf Ostrichen bei Seidenberg,

SchlesienHerrn Baron R. von Seydlitz, München, Heßstr. 3Herrn Dr. Brandes, Kopenhagen, St. Anne-Platz 24

(d r e i Exemplare)Herrn Professor Dr. Jakob Burckhardt, BaselHerrn Professor Dr. Overbeck, Basel

Seevogelstr.Herrn Dr. Fuchs, DanzigFrau Dr. Elisabeth F ö r s t e r

Colonie Neu-GermanienNueva-Germania

Paraguay (Südamerika)(dieser Brief ist zu r e c o m m a n d i r e n )

Herrn Professor Dr Deussen, Berlin W.(2 Exempl.) Kurfürstendamm 142

Fräulein Meta v o n S a l i s , Doktorin der PhilosophieMarschlins bei Landquart (Schweiz)

Herrn Heinrich Köselitz 2 Exempl.Herrn von Holten, Professor der Musik

HamburgIch erwarte jeden Tag die Ankunft, sei es von Exemplaren, sei es wenigstens

von Aushängebogen. Lassen Sie sich doch von E. W. Fritzsch

dieM u s i k z e i t u n g e n ausschreiben, denen wir Exemplare schickenmüssen. K e i n Exemplar, bitte, an den „Bund“. — Dagegen eins an dieAdresse:Herrn Ferdinand Avenarius

Redaktion des„Kunstwart“

Dresden,Stephanienstr. 1

Hochachtungsvoll Ihr ergebenster

Prof. Dr Nietzsche.1104. An Carl Fuchs in Danzig

Sils den 9. Sept. 1888.

Lieber Freund,

ich komme noch nicht so bald fort als ich vor zwei Tagen noch glauben durfte;einige Verlags- und Druck-Fragen wollen durchaus noch hier abgewickelt resp.abgewartet sein. Der nächste, ziemlich wahrscheinliche Termin ist der 16.September. — Heute bin ich in einer unvorhergesehenen f r e i e n Verfassungder „lieben Seele“ — und Sie sollen’s sofort zu spüren bekommen. Die letztenWochen war ich auf die seltsamste Art i n s p i r i r t : so daß Einiges, was ich mirnicht zugetraut hatte, wie unbewußt eines Morgens fertig war. Dies gab mancheUnordnung und Ausnahme in meiner Lebensweise: ich stand (oder sprang) öfterNachts um 2 auf, um „vom Geist getrieben“ Etwas hinzuwerfen. Dann hörte ichwohl die Hausthür gehn: mein Wirth schlich auf die Gemsen-Jagd. W e r vonuns Beiden war mehr auf der Gemsen-Jagd? — Unglaublich, aber wahr: ichhabe heute morgen das sorgfältigste, sauberste und ausgearbeitetste Manuscript,das ich je verfaßt habe, an die Druckerei geschickt — ich mag gar nichtnachzählen, in wie wenig Tagen es zu Stande gekommen. Der T i t e l istliebenswürdig genug „Müssiggang eines Psychologen“ — der I n h a l t vomAllerschlimmsten und Radikalsten, obwohl unter viele finesses undMilderungen versteckt. Es ist eine vollkommene Gesammt-Einführung in meinePhilosophie: — das Nächste, was d a n n kommt, ist die „U m w e r t h u n ga l l e r W e r t h e “ (deren erstes Buch beinahe fertig ist) Sehen wir zu, bis zuwelchem Grade eigentlich „Denkfreiheit“ heute möglich ist: ich habe einendunklen Begriff, darauf hin in schönster Form v e r f o l g t zu werden.

M o r a l : ich habe Zeit bekommen, zwei Briefe zu lesen — und aufrichtig!mit Entzücken. Der Humor der Sache ist, daß ich eben Riemann

öffentlichg e l o b t habe: und damit Sie meine i n t i m e r e Gesinnungverstehen, schreibe ich Ihnen ein paar Worte des Herrn Gast ab, die er, beimCorrectur-lesen der betreffenden Worte, mir geschrieben hat.

„Riemann’s metrische Studien, angeregt und hervorgegangen aus Wagner’sVortrags-Propaganda, sind vielleicht noch als Wagnern g e f ä h r l i c h werdendeW a f f e zu bezeichnen: wie Sie einmal (Morgenröthe S. 184) die historischeWissenschaft als Tochter und schließliche Besiegerin der Romantik darstellten.Ich möchte wenigstens glauben, daß wenn sie die Schärfung derEmpfänglichkeit für die musikalische Periode einige Jahrzehnte fortsetzen, siedann auch den Sinn für den großen Parallelismus der Perioden und endlich fürden Bauplan einer Composition wieder erwecken werden, wie er um die Wendedieses Jahrhunderts wach war; und ein Gesetz d a z u !“ — Sie werden mirgewiß erlauben, daß ich Ihre ganz ausgezeichnete oratio pro domo (u n d arte)meinem Freunde zu lesen gebe? Er ist im Augenblick gar nicht zu weit vonIhnen: von einer vornehmen Familie zu Gast auf deren Güter in Hinterpommerngeladen (— Venediger Freundschaft; sehr schönes Mädchen usw) Vielleichtgeben Ihnen die abgeschriebenen Worte selbst einen Begriff von unsremsehrp u r i f i c i r t e n gustus. Ich bin eben mit Bülow in Beziehung getreten,zum Zweck, eine komische italiänische Oper des Herrn Gast („der Löwe vonVenedig“) der Menagerie Pollini zu überantworten. Der Öffentlichkeit ist fastNichts bisher übergeben; es liegt nicht gerade in den Wünschen meinesFreundes, gerade jetzt schon, mitten in einer Geschmacks-Verwirrung, auf s i c haufmerksam zu machen. Eine tiefe Stille, ein Für-sich-sein im B e s s e r e n isthundert Mal wichtiger als „bekannt“ d. h. m i ß v e r s t a n d e n werden. — ImÜbrigen genau mein Fall — und meine Praxis…

Aus meinem „Pamphlet“ werden Sie von meinem M u s i k -P e s s i m i s m u s einen gehörigen Begriff bekommen; und auch, in d i e s e mbesondren Falle, bin ich noch durch gewisse sehr deutliche und unangenehmeErinnerungen an meine Intimitäts-Zeit mit Wagner bestimmt. Eine Aufführungder Zauberflöten-Ouvertüre in Mannheim (— wo ich die Ehre hatte, FrauCosima bei ihrem e r s t e n Auftreten vor der „Welt“ als cavaliere zu führen)war durch die „Überlebendigkeit“ um jeden Preis, durch wahre Excesse vonContrasten eine Art Typus von „Berninismus“ im Vortrag. —

Ich bekenne zum Schluß, daß es mir außerordentliches Vergnügen macht,einmal gegen Sie, lieber Freund, ganz entschieden Unrecht gehabt undselbstg e t h a n zu haben. Dies verbessert unsre Beziehungen unvergleichlich:glauben Sie dies dem „müßiggängerischen Psychologen“…

Der Himmel weiß — Sie sind ein Künstler und k e i n Schulmeister! — ich

weiß es auch…

Treulich Ihr N.Nochmals gesagt: für die nächste Woche und vielleicht noch länger bin ich

wieder m e n s c h e n f r e u n d l i c h …1105. An Heinrich Köselitz in Buchwald

Sils, den 12. Sept. 1888M i t t w o c h

Lieber Freund,

noch weiß ich Ihre Adresse nicht, aber in Anbetracht, daß ich Ihnen noch vormeiner Abreise schreiben möchte, will ich annehmen, daß auch ein nachAnnaberg gesandter Brief in Ihre Hände kommt. S o n n t a g soll es fortgehen,nach Turin, versuchsweise: daß der Schluß meines Silser Aufenthaltes mir nochdie schwerste Geduldsprobe auferlegen würde, habe ich mir nicht träumen<lassen>. Ein unerhörtes H o c h w a s s e r - W e t t e r seit einer Woche; Allesüberschwemmt; Tag und Nacht strömt es, mit Schnee untermischt. In 4 Tagenallein sind 220 millimeter Niederschlag gefallen (während der Monats-Durchschnitt hier 80 mm zu sein pflegt) Meine Gesundheit ist dabei nicht zumBesten weggekommen: ich schreibe auch augenblicklich etwas mitKopfschmerz.

Ich sende dieser Tage noch ein Paket an Sie ab, lauter Drucksachen,darunter, mit bestem Dank, das Heft Bayreuther Blätter. Das AnderesindF u c h s i a n a : eine Anzahl Recensionen und etwas von seinen s e h rmerkwürdigen Briefen (— darunter einer, der einen ausgezeichnet guten BegriffvonR i e m a n n ’ s ganzer Unternehmung giebt: Sie werden finden, daßF<uchs> von ihm Dasselbe erhofft, was Sie erhoffen — eine Stärkung undWiedergewinnung des großen rhythmischen Sinns)

Eben höre ich, daß von Hans von Bülow eine Schrift erscheinen wird „A l t -u n d N e u - W a g n e r i a n e r “ betitelt. Das Zusammentreffen mit meinemPamphlet ist curios. Sonst warte ich immer noch auf eine Antwort von ihm. —

Es giebt n o c h e t w a s C u r i o s e s zu melden. Ich habe vor wenigTagen Herrn C. G. Naumann wieder ein Manuscript zugesandt, das den Titelführt „M ü s s i g g a n g e i n e s P s y c h o l o g e n “. Unter diesem harmlosenTitel verbirgt sich eine sehr kühn und präcis hingeworfne Zusammenfassungmeiner wesentlichsten philosophischen H e t e r o d o x i e n : so daß die Schriftals e i n w e i h e n d und a p p e t i t m a c h e n d für meine U m w e r t h u n gd e r W e r t h e (deren erstes Buch beinahe in der Ausarbeitung fertig ist)dienen kann. Es ist viel darin von Urtheilen über Gegenwärtiges, über Denker,

Schriftsteller usw. Der letzte Abschnitt heißt S t r e i f z ü g e e i n e sU n z e i t g e m ä ß e n ; der erste S p r ü c h e u n d P f e i l e . Im Ganzen sehrheiter, trotz sehr strengem Urtheile (— es scheint mir, unter uns, daß ich erst indiesem Jahre deutsch — will sagen f r a n z ö s i s c h — schreiben gelernthabe). Capitel, außer den genannten: das Problem des Sokrates; die „Vernunft“in der Philosophie. Wie die „wahre“ Welt endlich zur Fabel wurde. Moral alsWidernatur. Die vier großen Irrthümer. Die „Verbesserer“ der Menschheit. Essind wirkliche psychologica und vom Unbekanntesten und Feinsten. (— DenDeutschen werden manche Wahrheiten gesagt, insbesondere wird meine geringeMeinung über die reichsdeutsche Geistigkeit begründet)

Diese Schrift, in Allem als Zwilling zum „Fall Wagner“ auftretend (wennauch etwa doppelt so stark) muß möglichst bald heraus: weil ich eineZwischenzeit brauche bis zur Veröffentlichung der Umwerthung (— diesen miteinem rigorosen Ernst und hundert Meilen weit abseits von allen Toleranzen undLiebenswürdigkeiten)

Meine Hoffnung ist, daß dieser Brief Sie in einer angenehmenU n g e w o h n t h e i t von Existenz vorfindet. Ein paar Worte von Ihnenwerden mir in Torino (ferma in posta) sehr willkommen sein.

Treulich und dankbarIhr FreundNietzsche.

— Was macht inzwischen das Q u a r t e t t ?1106. An Meta von Salis auf Marschlins (Postkarte)

<Sils-Maria,> M i t t w o c h 12. Sept. 1888Verehrtes Fräulein

ein letzter Gruß aus Sils, zugleich um Ihnen von unsrer Wassernoth zu erzählen.Die letzte Woche war die g r ö ß t e Geduldsprobe dieses Sommers (— was vielsagen will!) es goß Tag und Nacht in Strömen, zeitweilig mit Schneeuntermischt. Die Seen sind übervoll, hier und da bis auf die Straße hinauf. DieHalbinsel ist eine g a n z e Insel; das Thal von Samaden stellt einen großen Seedar. Eben versuchte ich den Waldweg an der Säge vorbei: er hatte einen Reizmehr — man gieng längere Zeit direkt am Wasser (— der See erschien v i e lg r ö ß e r ). Die Eisenbahn Colico-Chiavenna soll zum Theil durch dasWassere n t f r e m d e t sein. — Hr. Caviezel berechnete uns das QuantumNiederschlag der l e t z t e n 4 Tage auf 220 Millimet. (während das normaleQuantum eines g a n z e n M o n a t s 80 ist) Sonntag Abreise nach Torino. —Meine ergebensten Empfehlungen und Wünsche

Dr. N.1107. An Georg Brandes in Kopenhagen

Sils-Maria d. 13. Sept. 1888.

Verehrter Herr,

Hiermit mache ich mir ein wahres Vergnügen — nämlich mich Ihnen wiederin’s Gedächtniß zurück zu rufen: und zwar durch Übersendung einerkleinenb o s h a f t e n , aber trotzdem sehr ernst gemeinten Schrift, die noch inden g u t e n Tagen von Turin entstanden ist. Inzwischen nämlich gab es b ö s eTage in Überfluß: und einen solchen Niedergang von Gesundheit, Muth und„Willen zum Leben“, Schopenhauerisch geredet, daß mir jene kleine Frühlings-Idylle kaum mehr glaublich erschien. Zum Glück besaß ich noch einD o k u m e n t daraus den „Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem.“ BöseZungen wollen lesen „der Fall Wagner’s“…

So sehr und mit so guten Gründen Sie sich auch gegen Musik vertheidigenmögen (— die zudringlichste aller Musen), so sehen Sie sich doch einmal diesStück M u s i k e r - P s y c h o l o g i e an. Sie sind, verehrter HerrCosmopoliticus, viel zu europäisch gesinnt, um nicht dabei hundert Mal mehrzu h ö r e n , als meine sogenannten Landsleute, die „musikalischen“Deutschen…

Zuletzt bin ich, in d i e s e m Falle, Kenner in rebus e t personis — und,glücklicher Weise, bis zu dem Grade Musiker von Instinkt, daß mir über die hiervorliegende l e t z t e Werthfrage von der Musik aus das Problem zugänglich,l ö s l i c h erscheint.

Im Grunde ist diesen Schrift beinahe französisch geschrieben, — es möchteleichter sein, sie ins Französische zu übersetzen als ins Deutsche…

Würden Sie mir noch ein Paar russische oder französische Adressen gebenkönnen, in deren Fall es Ve r n u n f t hätte, die Schrift mitzutheilen?

Ein paar Monate später giebt es etwas P h i l o s o p h i s c h e s zu erwarten:unter dem sehr wohlwollenden Titel M ü s s i g g a n g e i n e sP s y c h o l o g e n sage ich aller Welt Artigkeiten und Unartigkeiten —eingerechnet dieser geistreichen Nation, den Deutschen —

Dies Alles sind in der Hauptsache nur Erholungen v o n d e rH a u p t s a c h e : letztere heißt U m w e r t h u n g a l l e r W e r t h e — Europawird nöthig haben, noch ein Sibirien zu erfinden, um den Urheber dieser Werth-Tentative dorthin zu senden.

Hoffentlich begrüßt Sie dieser heitere Brief in einer bei Ihnen gewohntenr e s o l u t e n Verfassung —

Sich g e r n Ihrer erinnerndDr. Nietzsche

Adresse bis Mitte November: T o r i n o (Italia)ferma in posta.

1108. An Jacob Burckhardt in Basel

Sils-Maria, Herbst <13. September> 1888.Hochverehrter Herr Professor,

Hiermit nehme ich mir die Freiheit, Ihnen eine kleine ästhetische Schriftvorzulegen, die, wie sehr auch immer mitten im Ernst meiner AufgabenalsE r h o l u n g gemeint, doch ihren Ernst für sich hat. Sie werden sichhierüber nicht einen Augenblick durch den leichten und ironischen Tonirreführen lassen. Vielleicht habe ich ein Recht, von diesem „Fall Wagner“einmal d e u t l i c h zu reden, — vielleicht selbst eine Pflicht. Die Bewegung istjetzt in höchster Glorie. Drei Viertel aller Musiker ist ganz oder halb überzeugt,von St. Petersburg bis Paris, Bologna und Montevideo leben die Theater vondieser Kunst, jüngst hat noch der junge deutsche Kaiser die ganzeAngelegenheit als nationale Sache e r s t e n R a n g e s bezeichnet und sich anderen Spitze gestellt: Gründe genug, daß es e r l a u b t ist, auf den Kampfplatzzu treten. — Ich bekenne, daß die Schrift, bei dem durchaus europäisch-internationalen Charakter desProblem’s, nicht deutsch, sondern französischhätte geschrieben werden müssen. B i s z u e i n e m g e w i s s e n G r a d eist sie französisch geschrieben: und jedenfalls möchte es leichter sein, sie insFranzösische zu übersetzen als ins Deutsche…

— Es ist mir nicht verborgen geblieben, daß es vor nicht lange einen Taggab, wo die Pietät einer ganzen Stadt sich mit tiefer Dankbarkeit ihres erstenErziehers und Wohlthäters erinnerte. Ich habe mir, in aller Bescheidenheit,erlaubt, mein eignes Gefühl zu dem einer ganzen Stadt hinzu<zu>legen.

Mit dem Ausdruck großer Liebe und VerehrungIhr

Dr. Friedrich Nietzsche(Meine Adresse ist bis M i t t e November T o r i n o poste restante: ein

einziges Wort von Ihnen würde mich glücklich machen.)1109. An Constantin Georg Naumann in Leipzig

Sils-Maria d. 13 Sept. 1888

Geehrtester Herr Verleger,

in diesem Augenblick traf Ihr werthes Schreiben ein, aus dem ich mit Vergnügen

sehe, wie weit Sie schon sind. Was die Zeitungen angeht, denen es S i n n hat,ein Exemplar zu senden, so bin ich zu meinem Bedauern gerade für diesen Fallgar nicht competent. Das Thema ist von einem s e h r allgemeinen Interesse: imGrunde wird über nichts so viel geredet und „geschwätzt“ als über W<agner>.Ich meine, wir sollten die W i e n e r Hauptzeitungen nicht vergessen (— diefreie Presse z. B.). Zeitungen, deren unartiges resp. völlig schweigendesVerhalten Sie constatirt haben, lassen Sie bitte bei Seite. Vielleicht ist dies Malauch Frankreich nicht außer Acht zu lass<en>: die Bewegung, das Für undWider ist dort in der Frage Wagner mindestens so groß wie in Deutschland. Ichwürde proponiren, der

revue des deux mondesdem Figarodem Journal des débatsund dem (Schweizerischen)

Journal de Genèveje ein Exemplar zu senden. Die Adressen werden Sie in Leipzig leicht sich

schaffen können (— jedes Zeitungs-Büreau hat sie)auf diesen Exempl. muß mein Name bezeichnet sein als:Monsieur le professeur Dr. Nietzsche

de Bâle.Von Privatpersonen bitte ich noch in meinem Namen zu bedenken:1) dem Freiherrn Dr. Hans von Bülow

Hamburg2) Herrn Carl Spitteler, Basel

Gartenstr. 743) Herrn Lothar Volkmar, Rechtsanwalt

Berlin W. Leipziger Straße 135— Ein Blatt Manuscr. zum Vo r w o r t des „Müssiggangs eines

Psychologen“ ist vorgestern noch abgegangen. —Nächsten Montag oder Dienstag treffe ich in Torino ein. Einstweilen wollen

wir noch etwas Ferien machen und den neuen Druck lassen. Herr Köselitz istnämlich gerade auf Reisen (in Hinterpommern): so daß die Raumdistanzzwischen Turin, Leipzig und Herrn Köselitz einen Correktur-gang unpraktikabelmacht.

Vielleicht versehen Sie die Freiexempl. an Einzelne wieder mit einemsolchen r o t h e n Z e t t e l , gleichen Inhalts, nur zuletzt

Adresse: Prof. Dr. NietzscheTorino (Italia)

ferma in postaIch bleibe dort bis M i t t e N o v e m b e r . —

Mit ergebenstem Gruße IhrProfessor Nietzsche

1110. An Reinhart von Seydlitz in München

Sils-Maria, d. 13. September 1888.

Lieber Freund,

es scheint Manches, das bereits für München unterwegs war, dies Jahra u s g e b l i e b e n zu sein: rechne auch mich — ich sage es mit viel Bedauern— unter das Münchener Defizit. Der Sommer war, wie alle Welt weiß, einSkandal: ich bewundere meine Geduld, ich hätte Gründe gehabt, aus so vielHäuten zu fahren, um mein Zimmer damit zu tapeziren. Zuletzt überschwemmtesich noch das Engadin in einem Anfall von W a s s e r s u c h t , daß weniggefehlt hat und wir wären Fische geworden. Lauter ungewöhnliche Dinge inSils: ein Sommer, gluthheiß, von 1 1/2 Wochen im Ganzen und v o r denFrühling arrangirt; an Stelle des Frühlings u n d Sommers ein zweideutiger undnicht immer zweideutiger Winter; achtzehn Unthiere von Lawinen, dieHinterlassenschaft des sogenannten e i g e n t l i c h e n Winters; neue Glocken;eine Forelle von 30 Pfund; Herr Bädeker und Frau, welche mein Hôtel(Alpenrose) den ganzen Sommer über aus zeichneten, „a n s t e r n t e n “…Zuletzt berechnete mir unser Meteorolog, daß eben in vier T a g e n 220Millimeter Niederschlag gefallen sind, während ein M o n a t mit gesundenDurchschnitts-Bedürfnissen nur 80 Millimeter Wasser nöthig hat. —

Übermorgen geht es w e s t wärts —: es ist nicht nur die geographische Lage,welche es verbietet, Turin zum „Süden“ zu rechnen. — Ich komme gerade dortan, wenn die große Hochzeit Savoyen-Bonaparte zu Ende geht. Später — werweiß! — aber ich glaube Nizza. — Mein i n n e r e r Haushalt steht ganz und garim Dienste einer e x t r e m e n U n t e r n e h m u n g , die, als Büchertitel, indrei Worte zu bringen ist „U m w e r t h u n g a l l e r W e r t h e “. Ich sinneöfter über die Maßregeln nach, die die T o l e r a n z Europa’s gegen micherfinden wird: eigens ein kleines Sibirien mit künstlicher Eis- (u n d gelato-)Bildung construiren, um mich nach Sibirien v e r b a n n e n zu können…

Dies schließt nicht aus, daß ich ein paar H e i t e r k e i t e n verbrochen habe.Die eine, welche sich alsbald die Freiheit nehmen wird, mit einigem Muthwillenüber Deine Schwelle zu springen, heißt „D e r F a l l W a g n e r . EinMusikanten-Problem.“ (— böse Zungen lesen: Der Fall Wagner’s). Auch Hansvon Bülow giebt sich über ein verwandtes Thema zum Besten: und in

Anbetracht, daß wir B e i d e e t w a s h i n t e r d e n C o u l i s s e ng e l e b t h a b e n … Ende des Jahres wird eine andre Sache von mirveröffentlicht, welche meine P h i l o s o p h i e in ihrer dreifachen Eigenschaft,als lux, als nux und als c r u x , zur Erscheinung bringt. Sie heißt, mit allerAnmuth und Tugend: „Müßiggang eines Psychologen“ — und ist entstanden,während ich hier „an den Wänden“ hinaufstieg. Unter anderem wird denDeutschen darin dergestalt die Wahrheit gesagt, daß auch für mich Ehren undHandschreiben nur noch etwa von Japanischen Majestäten zu gewärtigen sind.Ich deute in aller Bescheidenheit an, daß der „G e i s t “, der sogenannte„deutsche Geist“ spazieren gegangen und irgendwo in der Sommerfrischewohnt — jedenfalls nicht im „Reich“ — eher schon in Sils-Maria….

Womit ich Dir und Deiner lieben Frau mich mit h e r z l i c h e mB e d a u e r n empfehle.

Treulich Dein Nietzsche.(Bis M i t t e November muthmaßliche Adresse: Torino, ferma in posta.)

1 essay(s) in Contexta1111. An Paul Deussen in Berlin

S i l s -Maria, d. 14. Sept. 1888Adresse bis 15. November: T o r i n o (Italia)

ferma in posta.Lieber Freund,

ich möchte Sils nicht verlassen, ohne Dir nochmals die Hand zu drücken, inErinnerung an die g r ö ß t e Überraschung, die mir dieser an Überraschungenreiche Sommer gebracht hat. Auch darf ich jetzt wieder muthiger reden alsdamals, wo ich Dir zu antworten hatte: die Gesundheit ist seitdemwiedergekommen, mit dem „besseren“ Wetter, denn der Begriff „gut“ ist fürMeteorologen und Philosophen impraktikabel. Zwar hatten wir die allerletzteWoche noch den eigentlichen E x c e ß des ganzen Jahrs — eine wahreSündfluth, die die ernstesten Überschwemmungs-Nothstände im Ober- undUnterengadin hervorrief. Es fiel in 4 Tagen 220 millim. Niederschlag, währenddas Normal-Quantum eines ganzen Monats hier 80 m<illimeter> ist. — Duwirst noch in diesem Monate eine Zusendung erhalten: eine kleine aesthetischeStreitschrift, in der ich, zum ersten Male und auf die unbedingteste Weisedasp s y c h o l o g i s c h e P r o b l e m W a g n e r an’s Licht stelle. Es ist eineKriegserklärung ohne pardon an diesen ganze Bewegung: zuletzt bin ich derEinzige, der Umfang und Tiefe genug hat, um hier nicht u n s i c h e r zu sein.— Daß eine Schrift von mir, ein Pamphlet, wenn man will, g e g e n Wagner,

eine gewisse Aufregung mit sich bringt, giebt mir schon der letzte Berichtmeines Verlegers zu verstehn. Bloß auf die vorläufige Ankündigung imBuchhändler-Börsenblatt hin sind so viel Bestellungen eingelaufen, daß dieAuflage von 1000 Ex. als erschöpft betrachtet werden kann (d. h. wenn dieExemplare, die v e r l a n g t sind, später nicht den Krebsgang gehn…). Lies dieSchrift einmal auch vom Standpunkt des Geschmacks und Stils: s os c h r e i b t h e u t e k e i n M e n s c h i n D e u t s c h l a n d . Es würdeebenso leicht sein die Schrift ins Französische zu übersetzen als schwer, fastunmöglich, sie ins D e u t s c h e zu übersetzen…

— Es ist bereits ein a n d r e s M<anu>s<kript> bei meinem Verleger, daseinen sehr strengen und feinen Ausdruck meiner ganzen p h i l o s o p h i s c h e nH e t e r o d o x i e giebt — unter vieler Anmuth und Bosheit versteckt. Es heißt:M ü s s i g g a n g e i n e s P s y c h o l o g e n . — Zuletzt sind d i e s eb e i d e n S c h r i f t e n nur wirkliche Erholungen inmitten einer unermeßlichschweren und entscheidenden Aufgabe, welche, w e n n s i e v e r s t a n d e nw i r d , die Geschichte der Menschheit in zwei Hälften spaltet. Der Sinnderselben heißt in drei Worten: U m w e r t h u n g a l l e r W e r t h e . Es stehtVieles hinterdrein n i c h t m e h r f r e i , was bis jetzt frei stand: das Reich derToleranz ist durch Werth-Entscheidungen ersten Rangs zu einer bloßen Feigheitund Charakter-Schwäche heruntergesetzt. C h r i s t sein — um nur EineConsequenz zu nennen — wird von da an u n a n s t ä n d i g . — Auch vondieser radikalsten Umwälzung, von der die Menschheit weiß, ist Vieles bei mirschon in Fluß und Gang. Nur, nochmals gesagt, habe ich jede Art Erholung undSeitensprung nöthig, um das Werk ohne jedwede Mühe, wie ein Spiel, wie eine„Freiheit des Willens“ hinzustellen. Das e r s t e Buch davon ist zur Hälftevollendet. — Mein alter Freund, Du e r r ä t h s t , daß es Etwas in diesem und inden nächsten Jahren zu d r u c k e n giebt — und daß wirklich jene seltsameGeld-Großmuth in einem e n t s c h e i d e n d g u t e n Augenblick an meineThür klopfte. Man muß zu Allem G l ü c k haben, selbst noch zum Gutes-Thun… Ein Paar Jahre früher — wer weiß, w a s ich Dir geantwortet hätte! —

Mit dem herzlichsten Gruße Dein Freund

Nietzsche.— Ich sende auch ein Exemplar an Hrn. Rechtsanwalt Volkmar. —

1112. An Elisabeth Förster in Paraguay

Sils d. 14 Sept. 1888

Mein liebes Lama,

sehr anders als es mein Wunsch war, komme ich erst am Schluß meines

Engadiner Sommers (—?—) dazu, Dir zu schreiben. Es gieng dies Jahr in allenStücken sehr außergewöhnlich zu: man konnte nichts versprechen, nichtsbeschließen. Dabei kam meine Gesundheit recht in die Brüche; und als eswieder besser gieng, habe ich den großen Zeitverlust für meine Aufgabe durcheine um so angespanntere Arbeit auszugleichen gesucht. Nun ist wirklich Etwaserreicht: und ich kann zu m e n s c h e n f r e u n d l i c h e r e n Arbeiten undselbst zu Briefen mir wieder Zeit nehmen. Wie lange schon lag mir es auf demHerzen, Dir meine g r o ß e Freude über das Definitivum der Übersiedelung unddie festliche Art und Weise, in der sie vollzogen wurde, auszudrücken! Auchdaß Deine Gesundheit der Menge neuer Pflichten u n d S o r g e n so tapferStand hält, ist keine kleine Beruhigung. Wir haben es Beide, auf eine etwasverschiedene Weise, s c h w e r — wir haben es Beide andrerseits auch wiedergut. Wir lassen u n s nicht so leicht fallen — uns nicht und auch die Sachennicht, die uns angehen. Das eigentliche malheur in der Welt ist Alles bloßS c h w ä c h e …

Von mir wäre zu erzählen, daß zu den b e w i e s e n e n Orten Nizza und Silsnoch ein dritter als Zwischenakt hinzugekommen ist: T u r i n . Klimatisch undmenschlich der mir sympathischste Ort, den ich bisher gefunden habe.Großstadt, aber ruhig, vornehm, aristokratisch, Universität, gute Bibliotheken,sehr viel Entgegenkommen für mich, ausgezeichnete Theater-Verhältnisse —u n d sehr billige Preise. Kost und Luft, Wasser und Spaziergänge — allesvollkommen nach meinem Geschmack. Die größeren Buchhandlungend r e i s p r a c h i g (französisch, deutsch, italiänisch, so daß ich für neuewissenschaftliche Litteratur dort bei weitem besser daran bin als in Leipzigselbst.) Der Ring von Hochgebirge, der auf 3 Seiten Turin einschließt, hältdieselbet r o c k n e und d ü n n e Luft aufrecht, wie sie, aus gleichen Gründen,Sils und Nizza haben. Da ich mitten in der entscheidenden Arbeit meinesLebens bin, so ist mir eine vollkommne Regel für eine Anzahl Jahre die ersteBedingung. W i n t e r Nizza, F r ü h l i n g Turin, S o m m e r Sils, z w e iH e r b s t m o n a t e Turin — dies ist der Plan. Entsprechend ist auch meineD i ä t normal gemacht d. h. a b s o l u t p e r s ö n l i c h , und den eigenstenBedürfnissen gemäß eingerichtet. Dazu gehört natürlich die Emancipation vonjedem Essen in Gesellschaft. Der E r f o l g des allmählich von mir ausprobirtenOptimum von Existenz zeigt sich in einer enormen Steigerung der Arbeitskraft.Die drei Abhandlungen vom vorigen Sommer, denen Ihr die Ehre EurerAntheilnahme geschenkt habt, sind in weniger als 25 Tagen beschlossen,ausgeführt und druckfertig fortgeschickt worden. Dasselbe habe ich diesenSommer bei dem ersten Umschwung zum Bessern, n o c h e i n m a l geleistet.

In Turin ist, mit spielender Leichtigkeit, ein entscheidendes Stück M u s i k e r -P s y c h o l o g i e zu Stande gekommen, das Euch diesen Herbst zugehen wird.Auch von der U m w e r t h u n g a l l e r W e r t h e giebt es, beinahewenigstens, das erste Buch. — Diese Nachrichten sind nicht schlecht, nichtwahr? mein liebes Lama? — Der Haken liegt darin, daß ich meine Schriftens e l b s t drucken muß — und daß die Zeit für immer vorbei ist, wo es zwischenm i r und der G e g e n w a r t irgend noch ein andres Verhältniß gäbe alsK r i e g a u f s M e s s e r ! — Mit diesem etwas indianerhaft gerathenenSchluß grüßt und umarmt Dich, mein liebes Lama, Dein Bruder Fritz. — DasHerzlichste an Deinen Bernhard. —1 essay(s) in Contexta1113. An E. Kürbitz in Naumburg

Sils-Maria, Oberengadind. 14. Sept. 1888

Sehr geehrter Herr,

Hiermit möchte ich Sie ersuchen, meiner Mutter Frau Pastor Nietzsche,nochmals in meinem Namen die Summe von 30 M (dreißig Mark) zuübermitteln. Eine wesentlich größere Summe wird ein Paar Monate später nachLeipzig zu zahlen sein. Darüber berichte ich Ihnen zur Zeit.

Hochachtungsvoll Ihr Professor Dr. Nietzsche1114. An Franziska Nietzsche in Naumburg

S i l s - M a r i a , an einem der letzten Tage.<14. September 1888>

Meine alte Mutter hat mir aber einen ganz traurigen Brief geschrieben undjedenfalls die Gedanken die ganze Zeit über wo anders gehabt: sonst würde ihreingefallen sein, daß der Sohn in jedem Briefe seine Abreise von Sils auf den1 5 . Sept. festgesetzt hat. Nun haben wir heute den 14. Sept., esistN a c h m i t t a g und nichts außer Deinem l i e b e n Briefe eingetroffen. Ummir einen kleinen Scherz zu machen, schrieb ich ein Paar Worte an HerrnKürbitz: derselbe wird der guten Mutter ein ganz kleines Geldchen überreichen,von dem als von einer „E h r e n g a b e “ kleinsten Stils gar nicht geredet werdensoll. Vielleicht stopft es etwas für den Monat September noch die Kasse derguten Mutter aus, die mich, in aller Noth des Augenblicks, durchausnochb e s c h e n k e n will. (Herrn Kürbitz habe ich genau denselben Auftraggegeben, wie das letzte Mal; er wird denken, daß Du wieder etwas für michbesorgen sollst) — Ich habe diesen Sommer recht ö k o n o m i s c h gelebt:

wozu mir Deine schönen Naumburger Sendungen wesentlich geholfen haben.Ein Brief meines Freundes O v e r b e c k , der seit Monaten geschwiegen

hatte, gab Nachricht von einem langen und schweren Erschöpfungs-Zustand,aus dem er nur sehr langsam auftaucht. Er hat jetzt ein eignes Haus in Basel,aber er hat vergessen, auch nur ein Wort davon zu schreiben. Frau Rothpletz soll3 Tage gar nicht weit von hier gewesen sein, aber im Schrecken über unsrenvollkommenen W i n t e r schnell die Flucht ergriffen haben. Das Letzte wareine höchst bedenkliche Überschwemmung, bei der aller Ort schwer zu Schadengekommen, mit Ausnahme von Sils, das bei Zeiten (vor 20 Jahren) großeDämme aufgeworfen hatte. Trotzdem war auch hier Alles ein See; und mankonnte längere Zeit nicht spazieren gehn. Der Regen, mit Schnee untermischt,floß Tag und Nacht; es ist in 4 Tagen 3 M a l s o v i e l gefallen als sonst ineinem M o n a t . —

Heute morgen habe ich noch einen wohlgemuthen Brief an’s Lamaabgeschickt. Es nützt gar nichts, sich über Dinge, i n d i e wir n i c h t k l a rs e h n , Sorgen zu machen. Nach dem, was Du von Claire Heinze erzählst,nehme ich an, daß man in Leipzig viel Bestimmteres weiß als in Naumburg. DieLeipziger Colonial-Gesellschaft m u ß ja vollkommen über die Vertrags-Bedingungen unterrichtet sein, unter denen die dortige Regierung sich mitFörster eingelassen. Sie selbst hat offenbar nicht das Gleiche versprechenkönnen. Wir sind in der That über die Hauptsachen n i c h t unterrichtet: ichmerke das jedes Mal, wenn meine guten Köchlin’s in Nizza darüber Auskunfthaben wollen. Dann fragen sie wohl der Reihe nach „ist Dr. Förster r e i c h , umein so ungeheures Besitzthum an sich zu bringen?“

Dann „steht wohl eine Colonial-Gesellschaft hinter ihm?“ — „Oder eingroßes deutsches Bankhaus?“ — „Aber er wird sich das Geld doch nichtg e b o r g t haben?“ — Colonien gründen ohne Einiges sogar z u v i e l zuhaben, soll kaum möglich sein. Es steht da wie mit den großen Hôtels. Die ersteGesellschaft risquirt sich dabei; die zweite, die es billig übernimmt, gedeiht.

Wie viele große Schweizer Vermögen sind mit Colonie-Gründung inSüdamerika drauf gegangen! — Das E r m u t h i g e n d e liegt hier genau indem Vertrauen der Paraguayer: man darf durchaus nicht annehmen, daß sie bloßauf persönliche Sympathie hin Förster eine so große Sache in die Händegegeben haben, sondern auf wirkliche Garantien hin. Zuletzt sind esSüdamerikaner — s e h r k l u g e Leute. Offen gesagt, wenn die vertrauen,dürfen w i r es hundert Mal. —

2ter Bogen— In diesem Augenblick trifft D e i n e S e n d u n g ein — großes

Vergnügen! Ich habe sofort den Kamm probirt und ihn bereits achten gelernt.Diese kleine Arbeit der Reinigung jeden Abend vor Schlafengehn wird mitdiesem gründlichen Instrument mir noch mehr zu Nutzen kommen. Insgleichenkam die sehr vermißte B r i l l e an, an der ein Arm zerbrochen war. DieT h e e m a s c h i n e mag hier bleiben; für unterwegs habe ich nicht dengeringsten Platz mehr. — Sehr erbaut bin ich nun doch noch d i e F e d e r nbekommen zu haben: denn es ist in meinem Leben, einem rechtenS c h r e i b t h i e r -leben, eine Sache ersten Ranges, für sich selber lesbar zuschreiben. Dies hatte im Frühling vollkommen aufgehört. Es thut mir nur leid,daß die Besorgung Dir so viel Noth gemacht hat. Eine Postkarte nach Leipzigmit der Adresse „Sönnecke Stahlfederfabrik“ hätte Dir alles erspart. —

Zuletzt: meine gute Mutter, wir wollen nicht den Muth verlieren. Eigentlichglaube ich, daß wir Beide jetzt etwas krank sind und d e s h a l b Alles zuschwer nehmen. Ich bin wirklich krank u n d d e n k e n i c h t d a r a n ,morgen abzureisen: ich werde einen verdorbenen Magen seit 8 Tagen nichtmehr los. Sobald ich den Brief an Dich expedirt habe, will ich mich zu Bettlegen, — der Kopf taugt nichts, Appetit fehlt auch. Meine Hauptsache istdiem i l i t ä r i s c h e G e n a u i g k e i t im Kleinsten der Lebensweise: ichmuß die Versuche und Abweichungen außer allem Verhältnisse büßen. —

Die Reise, meine Mutter, ist nichts Langes. Turin ist M i t t e W e g s nachNizza: so daß ich eigentlich keinen Umweg mache. Vormittags setze ich michhier in die Post; Mittags bin ich in Chiavenna; Abends in M a i l a n d . Dortbleibe ich die Nacht. Am andren Tage komme ich in 3 Stunden SchnellzugnachT u r i n . — Eine Reise, wie sonst, nach Venedig und von dort nach Nizzaist doppelt und d r e i f a c h so weit. — Es umarmt Dich das alte Geschöpf.

(Vom Schinken lebe ich die nächsten Tage und a u f d e r R e i s e .)Adresse: T o r i n o (Italia)

poste restante.1115. An Franz Overbeck in Basel

<Sils-Maria, 14. September 1888>

Lieber Freund,

mit einer wahren Erleichterung empfieng ich Deinen Brief; denn nach Allem,was ich aus Deinen l e t z t e n Berichten schließen durfte, stand es nicht zumBesten um Dich. Eine kleine Wendung zum Guten, mindestens zum Besseren,scheint doch festgestellt. Zuletzt glaube ich, daß die merkwürdige Ungunst dermeteorologischen Zustände jede Art Erschöpfung in diesem Jahre bedenklichmacht, — ich rede aus Erfahrung. Man ist durchaus nicht isolirt vom ganzen

Naturleben: wenn der Wein nicht aus Mangel an Sonne geräth, werden wir auchs a u e r … Seltsam, daß hier oben uns die stärkste Geduldsprobe bis zuletztaufgespart war: es gab gerade s c h a u d e r h a f t e Zustände die ganze letzteWoche: — ich lag wieder Tage lang wie betäubt. Die Wasser-Masse, die alleinin 4 Tagen gefallen ist, beträgt 220 millimeter: während das normale Quantumeines g a n z e n Monats in Sils 80 mill. ist. Trotzdem war Sils der einzige Ortim Engadin, der ohne Schaden durch diesen Katastrophe (— unerhört in derGeschichte des Engadin!) durchgekommen ist. — Mein Hôtel, dieA l p e n r o s e , in der ich immer verkehre, aber allein esse hatte diesen Sommerdie Auszeichnung, Herrn Bädecker und Frau aus Leipzig ein paar Monate zuGaste zu haben: eine wirkliche C e n s u r , auch für Sils! — Ein sehrangenehmer, witziger und raffinirter Musiker, in übrigens glänzendenVerhältnissen, war hier ein Umgang für mich: H e r r v o n H o l t e n , ausHamburg, vom Conservatorium. Er gab mir ein kleines Privatconcert, wo erlauter Köselitziana (die er sich für mich eingeübt hatte) auswendig spielte, —entzückt „über die feine und liebenswürdige Musik.“ — Bei der BerufungH a r n a c k ’ s habe ich sehr Deiner gedacht: dieser junge Kaiser präsentirt sichallmählich vortheilhafter als man erwarten durfte, — er ist neuerdings scharfa n t i -antisemitisch aufgetreten und hat den Beiden, die ihn in der rechten Zeitvon der compromittirenden Gesellschaft Stöcker und Co. taktvoll auslösten(B e n n i g s e n und dem Baron v. D o u g l a s ) jetzt vor aller Welt seine großeErkenntlichkeit dafür ausgedrückt. — Man sagt mir selbst, daß sein Benehmengegen seine Mutter hundert Mal rücksichtsvoller ist, als die Parteileidenschaft esin Deutschland und England w ü n s c h e n möchte. — Darf ich von mirerzählen? In der Hauptsache fühle ich mehr als je die große Ruhe undGewißheit, auf meinem Wege und sogar in der Nähe eines großen Ziels zu sein.Ich habe, zu meiner eignen Überraschung, bereits das e r s t e Buch meinerU m w e r t h u n g a l l e r W e r t h e bis zur Hälfte in seiner endgültigen Formfertig. Es hat eine Energie und Durchsichtigkeit, welche vielleicht von keinemPhilosophen je erreicht worden ist. Es scheint mir, als ob ich mit Einem Males c h r e i b e n gelernt hätte. Was den Inhalt, die Leidenschaft des Problemsbetrifft, so schneidet dieses Werk durch Jahrtausende hindurch — das e r s t eBuch, unter uns gesagt, heißt „der Antichrist“, und ich will schwören, daß Alles,was je zur Kritik des Christenthums gedacht und gesagt worden, eitel Kindereidagegen ist. — Ein solches Unternehmen macht tiefe Pausen und Distraktionenselbst hygienisch nöthig. Eine solche wird in etwa 10 Tagen bei Dir aufwarten:sie heißt „d e r F a l l W a g n e r . Ein Musikanten-Problem.“ Es ist eineKriegserklärung o h n e P a r d o n — mein Verleger meldet mir, daß schon seit

ein paar Wochen (auf diee r s t e Ankündigung im Buchhändler-Blatt) so vielBestellungen darauf eingelaufen sind, daß die Auflage von 1000 Ex. alserschöpft gelten kann.* — Auchein zweites Manuscript, vollkommendruckbereit, ist bereits in den Händen des Herrn C. G. Naumann. Doch wollenwir es einige Zeit noch liegen lassen. Es heißt „M ü s s i g g a n g e i n e sP s y c h o l o g e n “ und ist mir sehr werth, weil es in der allerkürzesten(vielleicht auch geistreichsten) Form meinew e s e n t l i c h ep h i l o s o p h i s c h e H e t e r o d o x i e zum Ausdruck bringt. Im Übrigen istes sehr „zeitgemäß“: ich sage über alle möglichen Denker und Künstler desheutigen Europa meine „Artigkeiten“ — eingerechnet, daß darin den Deutschenin puncto Geist, Geschmack und T i e f e die unerbittlichsten Wahrheiten insGesicht gesagt werden. —

In wenig Tagen will ich nach T u r i n abreisen: der Versuch, den Herbstdaselbst kennen zu lernen, nachdem mir der Frühling so ausnahmsweise gutgethan hat, ist nicht zu unterlassen. Es wäre mir eine große Wohlthat, meinLeben für eine Anzahl tief arbeitsamer und innerlich entscheidender Jahre in dieregelmäßige Ordnung S i l s , T u r i n , N i z z a , T u r i n , S i l s usw.gebracht zu haben. Für Nizza habe ich eine Neuerung nöthig: mich vollkommenso unabhängig in D i ä t und G e s e l l s c h a f t zu machen, als ich es in Silsbin. Ich habe entdeckt, daß die unnöthige Verdüsterung und selbst ein gewissesMißrathen fast aller meiner Nizzaer Winter an Concessionen liegt, die ich indiesen beiden Punkten gemacht. Genau so war’s in Sils: erst seit vorigemSommer stehe ich auf meinen Füßen — und seitdem erst weiß ich, wieu n s c h ä t z b a r gerade mir dies Sils ist. — Ich habe für meine Lebensweisekeine andere Kritik als das M a a ß meiner Arbeits-Kraft. Im vorigen Sommerschrieb ich die drei Abhandlungen der „Genealogie“ in weniger als einemMonate druckfertig; in diesem habe ich jenen „psychologischen Müßiggang“ in20 Tagen abgemacht. — Diese Leistungs-Fähigkeit drückt sich besonders auchin derS e h k r a f t aus: während jeder Diätfehler, jedes böse Wetter mich sofortdarin depotenzirt. — Es bleibt Etwas zu erzählen, aber, alterFreund,p r i v a t i s s i m e unter uns. Man hat mir, von Berlin aus, seitens„unbekannt bleiben wollender“ Freunde und Verehrer (unter denen aber Prof.D e u s s e n als Vermittler und wahrscheinlich Hauptbetheiligter sich zuerkennen gegeben hat) eine „Ehrengabe“ von 2000 Mark zugestellt. Ich habedieselbe, mita u s d r ü c k l i c h e r Ablehnung des Gedankens, als ob ich ineiner Nothlage wäre und mit einem Ausdruck der Dankbarkeit für die BaslerLiberalität, n u r i n H i n s i c h t der Nöthigung, meine Schriften selbstdrucken zu müssen, a c c e p t i r t . Thatsächlich kam das Geld sehr zur rechten

Zeit, — ich athme in dieser a b s u r d e n Druck-Necessität wieder freier. —Nach dieser Seite hin werde ich also die Basler Ersparnisse nicht in Anspruchnehmen. — Die 1000 frs., welche zunächst fällig werden, bitte ich mir erst f ü rN i z z a , das heißt ungefähr für den 16. November (ha! was für ein Tag!) aus.Du erräthst, daß ich eine kleine Ökonomie getrieben habe, sowohl in Turin, wiehier, so daß ich es ein paar Monate noch aushalte. —

Verzeihung, lieber Freund! Ich sehe eben, daß der Brief etwas zu lang fürDeine Gesundheit gerathen sein möchte. Mit dem allerbesten Wunsche und derBitte, Deiner lieben Frau angelegentlich empfohlen zu werden bin ich in alterLiebe und Anhänglichkeit

Dein Nietzsche.Adresse, etwa vom 18. Sept. an bis 14. Nov. T o r i n o (Italia) ferma in

posta.Die große Hochzeit daselbst, Savoyen-Bonaparte, soll erst vorüber sein. Jetzt

sind alle Hôtels dort überfüllt.* Vo r a u s g e s e t z t , daß die geforderten Exemplare nicht später denKrebsgang machen: sie sind bloß auf condition bestellt.1 essay(s) in Contexta1116. An Unbekannt (Entwurf)

<Sils-Maria, Mitte September 1888>

Werthester Herr

es ist eben eine Schrift von mir erschienen, die gegen W<agner> gerichtet ist.Ich bitte es mir nicht übel zu deuten, wenn ich dieselbe Ihnen nicht zuschicke.Ich sende sie an Niemanden (weder „Mensch“ noch „Zeitung“), dessena n t i wagnersche Gesinnung mir bekannt ist. Gründe dafür verlangen S i egewiß nicht…1117. An Constantin Georg Naumann in Leipzig (Visitenkarte)

<Sils-Maria, Mitte September 1888>

P r o f . D r . F r i e d r i c h N i e t z s c h e .Abreise von Sils am 16. Sept (n i c h t

am 15.)Ich ersuche bis dahin um Mittheilung. —

1118. An Constantin Georg Naumann in Leipzig

Sils-Maria d. 15 Sept. 1888

Geehrtester Herr Verleger,

heute morgen habe ich die neue Schrift von Anfang bis Ende durchgesehen —sie ist f e h l e r f r e i . Ein Paar feine Veränderungen, auch hinsichtlich derZeilen-Anordnung, gehn vermuthlich auf Herrn Köselitz zurück. In der Thatmacht die A u s s t a t t u n g der Schrift den Eindruck, den ich wünsche — ichdrücke Ihnen meine volle Anerkennung dafür aus, s o g u t mich in dieserHauptsache berathen zu haben. — Daß ich den Epilog hinzuschrieb, scheint mirjetzt der allerglücklichste Einfall: ich habe damit diesen Einzelheit „den FallWagner“ in Zusammenhang mit meiner Gesamt-Tendenz gebracht. Zuletztwerden die f ü n f l e t z t e n S e i t e n der Schrift über mich mehr Aufklärunggeben, als irgend welche Essay’s und Abhandlungen zu geben vermöchten,vorausgesetzt, was vielleicht vorausgesetzt werden d a r f , daß die Schrift inviele Hände und vor viele Augen kommt.

Inzwischen habe ich auch etwas Anderes begriffen: daß jetzt eine w e i t e r ePublikation unzulässig ist. Sie würde den Eindruck dieser Schrift stören,brechen, — sie würde die Nothwendigkeit, sich einmal nach meinenf r ü h e r e n Schriften umzusehn, eine sehr wünschbare Nothwendigkeit,beinahe aufheben. — Nehmen Sie also, werthester Herr Verleger, dasübersandte Ms. eine Zeitlang (— sagen wir vorläufig bis O s t e r n des nächstenJahrs) in Gewahrsam. Es ist mir lieb, wenn Sie es mir n i c h t zurückschicken,— man muß, als Denker, sich vor allem Fertigen, Abgemachten zu schützenwissen (— ich habe deshalb f a s t n i e meine eignen Schriften bei mir —)

— Ich schrieb an Dr. Brandes nach Kopenhagen, ob er mir noch ein paarfranzösische und russische Adressen, die in diesem Falle in Betracht kommenkönnten, zu geben wisse. Sehen Sie zu, daß er als Einer der Ersten die Schrifterhält. —

Eben höre ich, daß auch H a n s v o n B ü l o w eine Schrift dies Problembetreffend herausgiebt. S e h r e r w ü n s c h t : wir sind die beiden Einzigen,die Muth und K e n n t n i ß aller Intimitäten des „Falls Wagner“ besitzen…Auch er soll so schnell wie möglich die Schrift erhalten.

Mit dem besten Wunscheund angelegentlichsten

Danke IhrDr. F. Nietzsche.

— Es versteht sich von selbst, daß ich Ihrer Termin-setzung 22.Sept. in jedemBetracht Folge leiste.1119. An Heinrich Köselitz in Buchwald

S i l s - M a r i a , d. 16. Sept. 88

Lieber Freund,

unsre Briefe haben sich g e k r e u z t , — dies ist aber am wenigsten ein Grund,Ihnen nicht s o f o r t zu antworten. Denn Ihr Brief kam sehr willkommen,zumal gar keine Briefe mich mehr erreichen: alle Welt glaubt mich abgereist.Ich w ä r e es gern: aber was hilft es! Die „höhere“ Naturgewalt, nachdem siemich den ganzen sogenannten Sommer hindurch hier oben maltraitirt hat, hältmich zuletzt noch hier oben f e s t … Ich schrieb heute nach Turin, wo ich michangemeldet hatte, „Non si può partire. Grandi inondazioni. La ferroviaChiavenna-Colico molte volte interrotta“. — Der Postmeister will mir melden,wenn Alles in Ordnung ist: eine Woche sitze ich wohl noch fest. — Das Wetterist zum Glück mild und n i c h t September… Ich habe beim Schreiben eben alsUnterlage das e r s t e fertige Exemplar vom „Fall Wagners“… Naumannmeldet, daß die öffentliche Versendung am 22. September beginnt. — Beimsorgsamen Durchlesen der Schrift fand ich zwanzig Gründe m e h r , Ihnendankbar zu sein. Eine ganze Anzahl feiner technisch-buchdruckerischerArrangements geht sicher auf Sie zurück. Daß in dem Bücher-Verzeichniß aufder Rückseite die „Unzeitgemäßen Betrachtungen“ f e h l e n , ist geradezubewunderungswürdig. — In Einem Fall von Correktur haben S i e Recht, —aber ich auch: „seinen Geschmack an Jemanden verlieren“ (Accusativ) ist nureine andre Nuance als „an Jemandem“. — Ich war beim Durchlesen äußersterbaut, den „Epilog“ hinzugeschrieben zu haben: das Niveau der Schrift erhebtsich damit ungeheuer, — sie erscheint nicht mehr als Einzelnheit, als Curiosuminmitten meiner Aufgabe. — Daß ich unsern jungen deutschen Kaiser als einen„unästhetischen Begriff“ bezeichnet habe, w i r d m a n s c h o nh e r a u s h ö r e n … Übrigens gefällt er mir immer mehr: er thut fast jedeWoche einen Schritt, um zu zeigen, daß er weder mit „Kreuzzeitung“, noch mit„Antisemitismus“ verwechselt werden will. Gestern sandte ich ein dickes PacketFuchsiana an Sie ab, — die Briefe sind zum Theil h o c h b e l e h r e n d undimmer sehr geistreich. Er hat mich besonders noch drum gebeten, in einerletzten Karte, Ihnen seinen Brief über Riemann zu lesen zu geben. — DieGesundheit bei mir wackelt wieder: ich bin seit 10 Tagen meines Lebens nichtmehr froh geworden, — habe auch heute wieder das Mittagsessen weislichunterlassen. — Ihre prachtvolle vornehme Wald- und Schloß-Wildniß,eingerechnet die „Wilden und Zahmen“, die in ihr wandeln, macht mir vielVergnügen. Irgendwer erzählte mir, daß Ihre v. Krauses in Beziehungen zumGrafen H o c h b e r g stünden: leider ist letzterer nun auch ad acta gelegt,irgendein unzweideutiger Wagnerianer soll sein Nachfolger werden. — ImGrunde bin ich dieses Mal neugierig, was man mit meiner „Kriegserklärung“

gegen Wagner anfängt. Herrn Naumann habe ich bereits gemeldet, daß wir jetztu n t e r k e i n e n U m s t ä n d e n etwas Neues herausgeben dürfen: es würdedie Wirkung brechen und beinahe annulliren (— bis Ostern darf das übersandteManuscript in Leipzig warten) —

Meine Absicht bleibt immer noch, Turin für den Herbst zu versuchen: MitteNovember etwa Nizza, doch mit einigen wesentlichen Änderungen derLebensweise daselbst (— Freiheit in der Diät und g e g e n alle Gesellschaft: einZustand, wie er hier in Sils erreicht ist —) Sonst möchte ich diesenauchr ä u m l i c h kleinen Kreislauf festhalten: S i l s , T u r i n , N i z z a ,T u r i n , S i l s .

Es grüßt Sie lieber Freund, auf das Herzlichste

IhrNietzsche.

— Ich habe dem Avenarius den „Fall“ auch zugeschickt: sollten Sie wirklichnoch eine Absicht haben, sich drüber zu äußern, so geben Sie,bitte,u m g e h e n d dem Avenarius eine Mittheilung davon, — d a m i t e rn i e m a n d a n d e r s b e a u f t r a g t . N.B. Wollen Sie gefälligst dieR e c e n s i o n an Dr. Fuchs, Danzig zurücksenden? — Die Briefe selber n i c h tan mich zurück. —1120. An Constantin Georg Naumann in Leipzig (Telegramm).

<Sils-Maria, 18. September 1888>

druck einverstanden vorwaerts turin — nietzsche1121. An Constantin Georg Naumann in Leipzig

S i l s , d. 18 Sept. 1888Geehrtester Herr Verleger,

sehr überrascht, aber noch mehr erbaut davon, daß Sie sofort an den Druck des„Müßiggangs“ gegangen sind. Meine Bedenken im l e t z t e n Briefausgedrückt kommen gegen die Bedenken, die mein e r s t e r Brief über diesThema enthielt, nicht in Betracht. Um jenes außerordentlich e r n s t e Werk,dieU m w e r t h u n g a l l e r W e r t h e herausgeben zu können, bedarf eswirklich eines Jahrs zum Mindesten von Zwischenraum, Z w i s c h e n z e i t inHinsicht auf f r ü h e r e Publikationen. Vielleicht nehmen wir, um die beidenSchriften nicht zusammen zu werfen, einen Termin von 1—2 Monaten an, indem dann die zweite Schrift erscheint. Soviel bedingt zuletzt auch schon derD r u c k . —

Daß ich noch nicht in Turin bin, ist Folge der ungeheuren

Überschwemmungen, die Engadin und Oberitalien erfahren haben. DieEisenbahn Colico-Chiavenna ist noch nicht hergestellt: doch verspricht man’sfür die allernächsten Tage. — Ich bitte also von jetzt ab nach Torino ( I t a l i a )f e r m a i n p o s t a zu adressiren. —

Die Adresse des Herrn K ö s e l i t z wird noch für 2 Wochen ungefähr diesensein:

Buchwald b/Wurchow(Hinterpommern)

mit der N e b e n -AdresseS‘Hochwohlgeboren

Herrn von KrauseAnbei folgt das Vo r w o r t , das gilt. — Was ich Ihnen bisher als Vorwort

geschickt habe (das g e s t r i c h n e Stück natürlich abgerechnet), ist von mirnoch etwas fortgesetzt worden, so daß es jetzt in das Buch kommen soll — undzwar an v o r l e t z t e r Stelle. (— den S c h l u ß bilden die „Streifzüge einesUnzeitgemäßen“) Wir wollen dem Aufsatz den Titel geben:

W a s d e n D e u t s c h e n a b g e h t .Er hat jetzt, mit seiner Verlängerung, die ich Ihnen heute übersende, im Ganzen7 kleine Abschnitte. Entsprechend muß auch in der Inhalts-Angabe dieser Titeleingetragen werden. —

Das Vo r w o r t ist jetzt viel kürzer — u n d zweckentsprechender. —Ich telegraphirte heute morgen, n u r um Sie über den Druck nicht irre

werden zu lassen.

Hochachtungsvoll Ihrergebenster

Dr Nietzsche

— Es ist mir sehr lieb, auf diesen Weise den Winter frei zu bekommen. —1122. An Heinrich Köselitz in Buchwald

T u r i n , den 27. Sept 88Lieber Freund,

heute traf Ihre am 24ten von Wurchow abgegangene Correktur des Bogen 2 hierein, zugleich mit Naumann’s Sendung vom 25ten (der 4te Druckbogen) ImGrunde dürfte die Verbindung Berlin—Turin erheblich schneller sein, alsWurchow—Turin. Die Sache geht auch nicht mehr lange; es werdenwahrscheinlich 6 Bogen sein oder ein Weniges mehr. Eine letzte Revision thutn i c h t noth; das Manuscript war viel besser vorbereitet als das Wagner-Pamphlet.

Was den T i t e l angeht, so kam Ihrem s e h r h u m a n e n Einwände meineignes Bedenken zuvor: schließlich fand ich aus den Worten der Vo r r e d e dieFormel, die vielleicht auch Ihrem Bedürfnisse genugthut. Was Sie mir von der„großen Artillerie“ schreiben, muß ich, mitten im Fertig-machen dese r s t e nBuchs der „U m w e r t h u n g “, einfach annehmen. Es läuft wirklich aufhorrible Detonationen hinaus: ich glaube nicht, daß man aus der ganzenLitteratur ein Seitenstück zu diesem e r s t e n Buche in puncto Orchesterklang(eingerechnet Kanonendonner) findet. — Der neue T i t e l (der an 3 bis 4Stellen ganz bescheidne Veränderungen nach sich zieht) soll sein:

G ö t z e n - D ä m m e r u n g .Oder:

wie man mit dem Hammer philosophirt.VonF. N.

Der Sinn der Worte, zuletzt auch an sich errathbar, ist, wie gesagt, das Themader k u r z e n Vorrede. — Der e r s t e Brief über den „Fall“ warvonG e r s d o r f f . Er schreibt auch vom L ö w e n - D u e t t (ex ungue leonem—) „Das ist Musik, wie ich sie liebe. Wo sind die Ohren, sie zu hören, wo dieMusikanten, sie zu spielen?“ — Ein Curiosum, das Gersdorff mittheilt und d a sm i c h s e h r e r b a u t : G<ersdorff> ist Zeuge eines rasenden WuthausbruchsWagners gegen B i z e t gewesen, als Minnie Hauck in Neapel war und Carmensang. Auf dieser Grundlage, daß W<agner> auch hier Partei genommen hat,wird meine Bosheit an einer gewissen Hauptstelle viel schärfer empfundenwerden. Übrigens w a r n t mich Gersdorff ganz ernsthaft vor denWagnerianerinnen. — Auch in diesem Sinne wird der neue Titel G ö t z e n -D ä m m e r u n g gehört werden, — also n o c h e i n e B o s h e i t gegenWagner…

Alter Freund, Sie sind noch gar nicht auf meiner Höhe mit IhrerAuseinandersetzung über Dativ und Nominativ beim Gottesbegriff. DerNominativ ist ja derW i t z der Stelle, ihr zureichender Grund zum Dasein…

Meine Reise hatte Schwierigkeiten und Geduldsproben schlimmer Art: ichkam Mitternachts erst nach Mailand. Das Bedenklichste war eine lange PassageNachts in Como durch überschwemmtes Terrain auf einem ganz schmalenHolzbrett-Brückchen — bei Fackelbeleuchtung! Ganz wie gemacht für michBlindekuh! — Durch die schlaffe und widrige Luft der Lombardei erschöpftkam ich in Turin an: aber seltsam! wie im Ruck war Alles inOrdnung.W u n d e r b a r e Klarheit, Herbstfarben, ein exquisites Wohlgefühlauf allen Dingen. In zwei Hauptsachen, nämlich W o h n u n g und t r a t t o r i a ,

ist meinz w e i t m a l i g e s Erscheinen in der allerwillkommensten Weiseempfunden worden. Ordnung, Reinlichkeit, Aufmerksamkeit in ersterer um 50Procent gewachsen; die Güte in Qualität und Quantität in der tratt<oria> um100, o h n e daß hier oder dort die sehr mäßigen Preise verändert wären. Auchhabe ich hier meinen ersten Schneider, der mir recht arbeitet. — Fünf Schrittvon mir ist die größte piazza, mit dem alten mittelalterlichen Castell: auf ihm istein reizendes kleines Theater, vor dem man Nachts (von 8 1/4) im Freien sitzt,sein gelato ißt und jetzt gerade allerliebst die französische OperetteM a s c o t t e von Audran hören kann (— mir sehr gut bekannt von Nizza) Diesein keinem Punkte gemein werdende Musik, mit soviel hübschen, geistreichenkleinen Melodien, gehört ganz in die idyllische Art Sein, die ich jetzt Abendsnöthig habe. (Das G e g e n s t ü c k dazu: der Zigeunerbaron von Strauß: ich liefmit Ekel und b a l d davon — die zwei Arten der deutschen Gemeinheit, dieanimalische und die sentimentale, nebst ganz schauderbaren Versuchen, hierund da deng e b i l d e t e n Musiker zu zeigen: Himmel! Was sind imGeschmack uns die Franzosen über!) — Das Wetter läßt zu wünschen. Aber ichvertrage hier das schlechte Wetter besser und habe noch keinen Tag zur Arbeitverloren. Es grüßt Sie, lieber Freund, mit den allerherzlichsten Wünschen fürBerlin u n d w a s d a r a n h ä n g t , Ihr N.

— Zuletzt habe ich mich nicht einmal für Ihren guten Brief bedankt, aus demmir die “Worte „voll der merkwürdigsten, sonderbarsten, unbegreiflichstenEindrücke“ im Gedächtniß geblieben sind.1123. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)

<Turin,> 28. Sept. <1888>

Meine liebe Mutter, nur eine Karte, um Dich zu benachrichtigen, wie es demalten Geschöpf in Turin geht, wo es am 21. Sept. eingetroffen ist. Obwohl dasWetter auch hier unsicher ist, so thut mir doch die ganze Existenz hier wiederüber die Maaßen wohl, — ich habe noch keinen Tag Arbeit eingebüßt und binunvergleichlich besser dran als im Engadin. Turin ist auch der einzige Ort, womeine N a h r u n g vollkommen meinen sehr persönlichen Bedürfnissenentspricht. Ein wahrer Glücksfund für mich, dies Turin! — Zum zweiten Malangelangt, erfreue ich mich einer großen Zunahme an Aufmerksamkeit undEntgegenkommen. Ein neuer eleganter Herbst-Ü b e r z i e h e r ist auch da. —Der S c h i n k e n war für die Reise, die sehr angreifend war, u n s c h ä t z b a r :ich werde ander Mal Dich bitten, mich ebenso zu versorgen. Zum ersten Malseit Jahren nicht unterwegs krank geworden. — Sehr in A r b e i t . — Dein Dichumarmender

F.1124. An Constantin Georg Naumann in Leipzig

Turin, den 4. Okt. 1888

Geehrtester Herr Verleger,

anbei sende ich noch v i e r Seiten Ms., die in den l e t z t e n Abschnitt„Streifzüge eines Unzeitgemässen“ eingeschoben werden mögen. Nicht geradegegen das Ende hin: wir wollen die letzten 10 Nummern ungefähr die letztensein lassen. Aber v o r h e r , es liegt wenig daran, wo die Einschiebung gemachtwird. —

Den d r i t t e n Bogen mit der Correctur sandte ich Ihnen an dem Tage, andem von Ihnen der 4te einlief. Zu meiner Verwunderung hat Herr Köselitz(dessen Adresse seit einiger Zeit Berlin poste restante ist) ihn bis heute mir nichtzugeschickt.

Ein böser Fehler im „Fall Wagner“ Seite 20, dritte Zeile von unten Dasletztere s t a t t Der letztere. Ich glaubte, das noch corrigirt zu haben. — Mitergebenstem Gruß Ihr Dr. Nietzsche.

Befinden bedeutend verbessert. Mein Sommer war ganz unerträglich. —1125. An Constantin Georg Naumann in Leipzig

<Turin, Anfang Oktober 1888>

Bitte, u m g e h e n d drei E x e m p l a r e an d i e s e Adresse zu senden:Madame la Baronne M. de Meysenbug

Ve r s a i l l e sF r a n c e Villa Amiel

Ich projektire eine f r a n z ö s i s c h e Ausgabe des „Fall Wagner“1126. An Malwida von Meysenbug in Rom

T u r i n , den 4. Okt. 1888Verehrteste Freundin,

eben gab ich meinem Verleger Auftrag, umgehend drei Exenrplare meiner ebenerscheinenden Schrift D e r F a l l W a g n e r .

Ein Musikanten-Problem an Ihre Versailler Adresse abgehn zu lassen. DieseSchrift, eine Kriegserklärung in aestheticis, wie sie radikaler gar nicht gedachtwerden kann, scheint eine bedeutende Bewegung zu machen. Mein Verlegerschrieb, daß auf die allererste Meldung von einer bevorstehenden Schrift vonmir über d i e s Problem und in d i e s e m Sinne soviel Bestellungeneingelaufen sind, daß die Auflage als erschöpft gelten kann. — Sie werden sehn,

daß ich bei diesem Duell meine gute Laune n i c h t eingebüßt habe. Aufrichtiggesagt, einen Wagner abthun gehört, inmitten der über alle Maaßen schwerenAufgabe meines Lebens, zu den wirklichen Erholungen. Ich schrieb diesenkleine Schrift im Frühling, hier in Turin: inzwischen ist das erste BuchmeinerU m w e r t h u n g a l l e r W e r t h e fertig geworden — das größtephilosophische Ereigniß aller Zeiten, mit dem die Geschichte der Menschheit inzwei Hälften auseinander bricht…

Diese Schrift gegen Wagner sollte man auch f r a n z ö s i s c h lesen. Sie istsogar leichter in’s Französische zu übersetzen als ins Deutsche. Auch hat sie invielen Punkten Intimitäten mit dem französischen Geschmack, das Lob Bizet(s)am Anfang würde sehr gehört werden. — Freilich, es müßte ein feiner, ein sogarraffinirter Stilist sein, um den Ton der Schrift wiederzugeben —: zuletzt bin ichselber jetzt der einzige raffinirte d e u t s c h e Stilist. —

Ich wäre sehr erkenntlich, wenn Sie in diesem Punkte den unschätzbarenRath von Ms. Gabriel Monod einholen wollten (— ich hätte diesen ganzenSommer Anlaß gehabt, einen a n d r e n Rath einzuholen, den des Ms. PaulB o u r g e t , der in meiner nächsten Nähe wohnte: aber er versteht nichts inrebus musicis et musicantibus: d a v o n abgesehn wäre er der Uebersetzer, denich brauchte —)

Die Schrift, gut ins Französische übersetzt, würde auf der halben Erdegelesen werden: — ich bin in dieser Frage die e i n z i g e Autorität und überdiesPsychologe und Musiker genug, um auch in allem Technischen mir nichtsvormachen zu lassen.

— Ihren gütigen Brief, hochverehrte Freundin, habe ich mit wahrer Rührunggelesen. Sie haben einfach Recht — ich auch…

Ihnen das Allerherzlichste von Seiten eines alten Freundes wünschend —Meine Adresse bleibt bis M i t t e November, vielleicht noch länger

T o r i n o (Italia) ferma in postaMit der Bitte, mich dem verehrten Kreise, in dem Sie leben, angelegentlich

zu empfehlen.

N.Exemplare der Schrift sind vom Verleger gesandt an die Revue, an das

Journal des débats und den Figaro.Eben finde ich noch bei mir ein Exemplar der Schrift. Vielleicht wissen Sie

ein Paar für die Frage dieses Briefes noch in Betracht kommende Personen,denen dann ein Exemplar zugedacht sein mag. —1 essay(s) in Contexta1127. An Constantin Georg Naumann in Leipzig (Postkarte)

T u r i n , Sonnabend <6. Oktober 1888>Geehrter Herr,

bitte, senden Sie mir umgehend das mit S e i t e 4 bezeichnete Blatt noch einmalzurück. Gestern ist Bogen 4 mit der Köselitzschen Correktur angelangt undsofort an Sie expedirt worden.

ErgebenstDr Nietzsche

1128. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)

T o r i n o (Italia) ferma in posta am 9. Oct. 1888Lieber Freund, dies Mal ersuche ich Dich nur um ein Citat aus meinen eignenSchriften, die ich, meiner Gewohnheit nach, nicht bei mir habe. In MenschlichesAllzumenschliches E r s t e r Band habe ich in dem Abschnitt, der vom S t a a thandelt, die Demokratie a l s d i e Ve r f a l l s - F o r m d e sS t a a t e s bezeichnet. Ich hätte gern die S e i t e n zahl dieser Stelle. — Seit dem22. September hier, sobald die Folgen der schrecklichen Überschwemmungenmir die Abreise aus Sils erlaubten. Befinden wesentlich gegen das vom Sommerverbessert, der mir in der unheimlichsten Erinnerung geblieben ist. Hoffentlichdarfst Du von Dir dasselbe melden.

Von Herzen ergeben Dein Nietzsche1129. An Hans von Bülow in Hamburg

Turin, 9. Oktober 1888.

Verehrter Herr,Sie haben auf meinen Brief nicht geantwortet, — Sie sollen ein für alle Mal vormir Ruhe haben, das verspreche ich Ihnen. Ich denke, Sie haben einen Begriffdavon, daß der erste Geist des Zeitalters Ihnen einen Wunsch ausgedrückt hatte.

Friedrich Nietzsche.1130. An Heinrich Köselitz in Berlin

Turin, den 14. Okt. 1888

Lieber Freund,

ich werde mich hüten, Ihnen von m e i n e n Recepten zur „himmlischen undirdischen Reconvalescenz“ zu sprechen, da Sie, nicht nur dem Anscheine nach,sich hundert Mal besser auf dies Problem, die „Lösung“ eingerechnet, verstehn.Unter diesen Umständen ist selbst Berlin kein Umstand: es macht mir das größteVergnügen, Sie gerade d o r t zu wissen. Selbst Turin ist eigentlich kein

Gesichtspunkt mehr. — In Sachen des „Löwen“ hat Bülow n i c h t geantwortet:was ihm schlecht bekommen ist. Denn dies Mal war i c h ’ s , der ihm einengroben und vollkommen berechtigten Brief geschrieben hat, um ein für alle Malmit ihm zu Ende zu sein. Ich habe ihm zu verstehn gegeben, daß „ihm der ersteGeist des Zeitalters einen W u n s c h ausgedrückt habe“: ich erlaube mir jetztdergleichen. —

Heute kam Bogen 6 von Naumann an; es werden doch wohl noch 2 Bogenmehr. In der That hat man mich mit dieser Schrift i n n u c e : sehr Viel aufkleinem Raum. —

Eben trifft ein Brief des Professor D e u s s e n aus Madrid ein: er will nochganz Spanien durchreisen und doch zur rechten Zeit für die BerlinerVorlesungen wieder am Platz sein. „Die Luft von Madrid, einzig an Reinheit,Trockenheit, Dünne und Durchsichtigkeit, — Alles erscheint in einen farbigenAether getaucht, glänzend, wie ein überfirnißtes Gemälde.“ —

Wissen Sie, wer den „Fall“ zugeschickt bekommt? Die Wittwe B i z e t ’ s .Und zwar auf eifrigste Fürsprache des Dr. Brandes: er nennt sie „die lieblichstecharmanteste Frau mit einem kleinen nervösen tic, der ihr sonderbar gut steht,aber ganz echt, ganz wahr und feurig“. Er meint, daß sie etwas deutsch versteht.„Das Kind Bizet’s ist von idealer Schönheit und Lieblichkeit“. —

Er hat ein Exemplar meiner Schrift an den größten schwedischenSchriftsteller, der ganz für mich gewonnen sei, August S t r i n d b e r g gegeben,er nennt ihn ein „wahres Genie“, nur etwas verrückt. Insgleichen bittet er für einpaar Personnagen der höchsten Petersburger Gesellschaft um Exemplare, diebereits auf mich aufmerksam gemacht sind, so weit dies bei dem Ve r b o tmeiner Schriften in Rußland möglich ist: der Fürst U r u s s o w und diePrinzessin Anna Dmitrievna T é n i c h e f f . Das sind „höhereFeinschmecker“…

Die Franzosen haben den Hauptroman Dostoiewsky’s auf die Bühnegebracht. Insgleichen ist eine Oper „Bacchos“ mir im Gedächtniß hängengeblieben, Musik und Dichtung vom Gleichen, der Name ist mir entwischt.Nicht aufgeführt, nur in Aussicht.

Gegen Turin ist N i c h t s einzuwenden: es ist eine herrliche und seltsamwohlthuende Stadt. Das Problem, innerhalb der b e s t e n Quartiere einer Stadt,nahe, g a n z n a h e ihrem Centrum, eine Einsiedler-Ruhe, in ungeheuerschönen und weiten Straßen zu finden — dies für Großstädte anscheinendunlösbare Problem ist hier gelöst. Die Stille ist hier noch die R e g e l , dieBelebtheit, die „Großstadt“ gleichsam Ausnahme. Dabei annähernd 300 000Einwohner.

Das Wetter ist seit einigen Tagen von Nizzahafter Reinheit und Leuchtkraftder Farben, nur etwas zu f r i s c h für mich, der ich durch die Engadiner Winter-Einsperrung geradezu eine Angst vor dem neuen Winter im Leibe habe. SeitJuni habe ich g e f r o r e n und wie! Ohne jedwedes Gegenmittel! — Es kommtdazu, daß meine Gesundheit über einen choc nicht hinwegkommt, der durcheine etwas zu lange Dysenterie (Kolik auf deutsch) bedingt ist. Ich glaubtezuerst an Vergiftung: doch haben die normalen Mittel Bismuth und Dower’schesPulver ihre Schuldigkeit gethan. Immerhin resultirt eine Entkräftung daraus, dieauch gegen Kälte empfindlicher macht. —

Es grüßt und umarmt Sie auf das Herzlichste Ihr getreuer Freund

NietzscheSoeben, am 15. Morgens, finde ich einen liebenswürdigen

G r a t u l a t i o n s b r i e f vor: schönsten Dank! Um so mehr, als es der einzigeist! — Daß ein Orchester Ihnen wohlthut, erfreut mich über die Maaßen, — IhreReise bekommt immer mehr Sinn, — zuviel bereits…

B o g e n 6 eben ab an Naumann.1131. An Malwida von Meysenbug in Rom

Turin, den 18. Okt. 1888

Verehrte Freundin,

das sind keine Dinge, worüber ich Widerspruch zulasse. Ich bin, in Fragen derdécadence, die höchste Instanz, die es auf Erden giebt: diesen jetzigenMenschen, mit ihr<er> jammervollen Instinkt-Entartung, sollten sich glücklichschätzen, Jemanden zu haben, der ihnen in d u n k l e r e n Fällen reinen Weineinschenkt. Daß dieser Hanswurst es verstanden hat, von sich den Glauben zuerwecken (— wie Sie es mit verehrungswürdiger Unschuld ausdrücken), der„letzte Ausdruck der schöpferischen Natur“, gleichsam ihr „Schlußwort“ zusein, dazu bedarf es in der That des G e n i e ’ s , aber eines Genie’s derL ü g e … Ich selber habe die Ehre, etwas Umgekehrtes zu sein — ein Genied e r W a h r h e i t — —

Friedrich Nietzsche.1 essay(s) in Contexta1132. An Franz Overbeck in Basel

Turin, den 18. Okt. 1888

Lieber Freund,

ich machte gestern, mit Deinem Brief in der Hand, meinen gewohnten

Nachmittags-Spaziergang außerhalb Turins. Reinstes Oktoberlicht überall; derherrliche Baumweg, der mich ungefähr eine Stunde dicht am Po entlang führte,vom Herbste noch kaum berührt. Ich bin jetzt der dankbarste Mensch von derWelt —h e r b s t l i c h gesinnt in jedem guten Sinne des Wortes: es ist meinegroße E r n t e z e i t . Alles wird mir leicht, Alles geräth mir, obwohl schwerlichschon Jemand so große Dinge unter den Händen gehabt hat. Daß das e r s t eBuch der U m w e r t h u n g a l l e r W e r t h e fertig ist, d r u c k fertig, dasmelde ich Dir mit einem Gefühle, für das ich kein Wort habe. Es werden v i e rBücher; sie erscheinen einzeln. Dies Mal führe ich, als alter Artillerist, meingroßes Geschütz vor: ich fürchte, ich schieße die Geschichte der Menschheit inzwei Hälften aus einander. — Mit jener Schrift, über die ich im letzten Briefeine Andeutung machte, sind wir bald am Ende: es ist, um mir möglichst wenigZeit von meiner jetzt ganz unschätzbaren Zeit zu nehmen, mit ausgezeichneterPräcision gedruckt worden. Dein Citat aus „Menschl. Allzumenschl.“ kamvollkommen zur rechten Zeit, um eingetragen zu werden. — Diese Schrift istbereits eine hundertfache Kriegserklärung, mit einem fernen Donner imGebirge; im Vordergrund viel „Lustiges“, von der Art meiner bedingtenLustigkeit*… Man kann sich zum Erstaunen leicht mit dieser Schrift übermeinen G r a d von Heterodoxie unterrichten, die in der That keinen Stein aufdem andern läßt. Gegen die D e u t s c h e n gehe ich darin in ganzer Front vor:Du wirst Dich nicht über „Zweideutigkeit“ zu beklagen haben. Dieseunverantwortliche Rasse, die alle großen malheurs der Cultur auf dem Gewissenhat und in allen e n t s c h e i d e n d e n Momenten der Geschichte etwas„Andres“ im Kopfe hatte (— die Reformation zur Zeit der Renaissance;Kantische Philosophie, als eben eine w i s s e n s c h a f t l i c h e Denkweise inEngland und Frankreich mit Mühe erreicht war; „Freiheits-Kriege“ beimErscheinen Napoleon’s, des Einzigen, der bisher stark genug war, aus Europaeine politische und w i r t s c h a f t l i c h e Einheitzu bilden —) hat heute „dasReich“, diesen Recrudescenz der Kleinstaaterei und des Cultur-Atomismus, imKopfe, in einem Augenblicke, wo die großeW e r t h f r a g e zum ersten Malgestellt wird. Es gab nie einen wichtigeren Augenblick in der Geschichte: aberw e r w ü ß t e E t w a s d a v o n ? Das Mißverhältniß, das hier zu Tage tritt,ist vollkommen nothwendig: im Augenblick, wo eine noch nie geahnte Höheund Freiheit der geistigen Leidenschaft Besitz ergreift von dem h ö c h s t e nProblem der Menschheit und für deren Schicksal die E n t s c h e i d u n gheraufbeschwört, muß sich die allgemeine Kleinheit und Stumpfheit um soschärfer dagegen abheben. Gegen mich giebt es durchaus noch keine„Feindschaft“: man hat einfach keine Ohren für irgend Etwas von mir,

f o l g l i c h weder ein Für, noch ein W i d e r …Lieber Freund, lege, wenn ich bitten darf, auch noch die 500 frs. von denen

Du schreibst, bei der Handwerkerbank nieder. Ich muß jetzt mit aller KraftÖkonomie machen, um den außerordentlichen Druckkosten der nächsten dreiJahre gewachsen zu sein. (Ich nehme also an, daß die am 1. Oktober fälliggewordenen 1000 frs. jetzt ganz daselbst deponirt sind.) Ende Dezember werdeich dann freilich die 500 frs. sehr dringend nöthig haben. Mein Plan ist, bis zum20. November hier auszuhalten (— ein etwas f r o s t i g e s Vorhaben, da derWinter früh kommt!) Dann will ich nach N i z z a und daselbst, mitvollkommenem Bruch aller bisherigen usances, mir die Existenz herstellen, dieich jetzt brauche. Ich habe bisweilen auch an Bastia auf Corsica gedacht: dochfürchte ich mich, mitten in der tiefen Selbstbesinnung, die mir noth thut, vordem E x p e r i m e n t und seinen Gefahren.

Herr K ö s e l i t z ist nach Berlin übergesiedelt; seine Briefe athmen dieallerbeste Seelenverfassung, die man auf Erden wünschen kann.Auchg e s c h i e h t Etwas für ihn: darüber einmal später. Adresse: B e r l i nSW. Lindenstraße 116 IV 1. —

Es grüßt Dich und Deine liebe Frau auf das DankbarsteDein Nietzsche

* Inmitten der ungeheuren Spannung dieser Zeit war ein Duell mit Wagner fürmich eine vollkommene E r h o l u n g : auch that es Noth, jetzt, wo ich inoffnem Krieg auftrete, einmal ö f f e n t l i c h zu beweisen, daß ich „dasHandgelenk frei habe“…1 essay(s) in Contexta1133. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)

<Turin> d. 19. Okt. 1888

D i e s M a l hat die alte Mutter den Geburtstag des alten Geschöpfs vergessen,der, wenn ich mich nicht irre, auf den 15ten Oktober fällt. Eben traf Dein guterBrief ein, es freut mich, daß die häuslichen Sorgen ein wenig kleiner gewordensind. Hier geht es immer besser; Tag für Tag ein Wetter vonv o l l k o m m e nu n b e s c h r e i b l i c h e r Reinheit und Lichtfülle — ich habe nochnirgendswo einen solchen Herbst gesehn. Von den wunderbaren Trauben undandren Früchten darf ich gar nicht reden. Die Stadt großartig, aber still, mit allenihren 300 000 Einwohnern. — Der Ofen-Fabrikant in Dresden will mir denOfen f r a n c o Fracht und Emballage nach Turin für 24 Mark liefern, ebenfallsden Sack mit 1000 Cylindern Heizmaterial für 12 Mark f r a n c o und zollfreibis Turin. Sehr acceptabel! —Viel Arbeit, aber immer guter Muth!

Dein FritzG e n a u die Adresse: T o r i n o (Italia) poste restanteEngadin hatte mich tief herunter gebracht!!!

1134. An Georg Brandes in Kopenhagen

Turin, den 20 Okt. 1888

Werther und lieber Herr,

wiederum kam ein angenehmer Wind von Norden mit Ihrem Briefe: zuletzt wares bisher der einzige Brief, der ein „gutes Gesicht“, der überhaupt ein Gesichtzu meinem Attentat auf Wagner machte. D e n n man schreibt mir nicht. Ichhabe selbst bei Näheren und Nächsten einen heillosen Schreckenhervorgebracht. Da ist zum Beispiel mein alter Freund Baron Seydlitz inMünchen unglücklicher Weise gerade Präsident des Münchener Wagner-Vereins; mein noch älterer Freund der Justizrath Krug in Köln Präsident desdortigen Wagner-Vereins; mein Schwager Dr. Bernhard Förster in Südamerika,der nicht unbekannte Antisemit, einer der eifrigsten Mitarbeiter der BayreutherBlätter; und meine verehrenswürdige Freundin Malvida von Meysenbug, dieVerfasserin der „Memoiren einer Idealistin“ verwechselt nach wie vor Wagnermit M i c h e l A n g e l o …

A n d r e r s e i t s hat man mir zu verstehn gegeben, ich solle auf der Hutsein vor der „Wagnerianerin“: die hätte in gewissen Fällen keine Skrupel —Vielleicht wehrt man sich, von Bayreuth aus, auf reichsdeutsche und kaiserlicheManier, durch eine Interdiktion meiner Schrift — als „der öffentlichenSittlichkeit gefährlich“: der Kaiser ist ja in diesem Falle Partei. Man könnteselbst meinen Satz „wir kennen Alle den unaesthetischen Begriff deschristlichen Junkers“ als Majestäts-Beleidigung verstehn - - -

Ihre Intervention zu Ehren der Wittwe Bizet’s hat mir großes Vergnügengemacht. Bitte, geben Sie mir ihre Adresse; insgleichen die des FürstenUrussow. Ein Exemplar ist an Ihre Freundin die Fürstin Dmitrievna Ténicheffabgesandt. — Bei meiner nächsten Veröffentlichung, die nicht gar zu langemehr auf sich warten lassen wird (— der Titel ist jetzt: G ö t z e n -D ä m m e r u n g . Oder: Wie man mit dem H a m m e r philosophirt) möchte ichsehr gern auch an den von Ihnen mit so ehrenden Worten mir vorgestelltenSchweden ein Exemplar senden. Nur weiß ich seinen Wohnort nicht. — DieseSchrift ist meine Philosophie i n n u c e — radikal bis zum Verbrechen…

Über die Wirkung des T r i s t a n hätte auch ich Wunder zu berichten. Einetüchtige Dosis Seelen-Qual scheint mir ein ausgezeichnetes Tonicum vor einerWagnerischen Mahlzeit. Der Reichsgerichtsrath Dr. Wiener in Leipzig gab mir

zu verstehn, auch eine Karlsbader Kur diene dazu…Ach was Sie arbeitsam sind! Und ich Idiot, der ich nicht einmal dänisch

verstehe! — Daß man gerade „in Rußland wieder a u f l e b e n “ kann, glaubeich Ihnen vollkommen; ich rechne irgend ein russisches Buch, vor allemDostoiewsky (französisch übersetzt, um des Himmels Willen nicht deutsch!!) zumeinen größten Erleichterungen.

Von Herzen und mit einem Recht, d a n k b a r zu sein

Ihr Nietzsche1135. An Malwida von Meysenbug in Rom

Turin, den 20 Okt. 1888.

Verehrte Freundin,

vergeben Sie mir, wenn ich noch einmal das Wort nehme: es könnte das letzteMal sein. Ich habe allmählich fast alle meine menschlichen Beziehungenabgeschafft, aus E k e l darüber, daß man mich für etwas Andres nimmt als ichbin. Jetzt sind Sie an der Reihe. Ich sende Ihnen seit Jahren meine Schriften zu,damit Sie mir endlich einmal, rechtschaffen und naiv, erklären „ichperhorrescire jedes Wort“. Und Sie hätten ein Recht dazu. Denn Sie sind„Idealistin“ — und ich behandle den Idealismus als eine Instinkt gewordneUnwahrhaftigkeit, als ein Nichtsehn-w o l l e n der Realität um jeden Preis:j e d e r Satz meiner Schriften enthält die Ve r a c h t u n g des Idealismus. Esgiebt über der bisherigen Menschheit gar kein schlimmeres Verhängniß alsd i e s e n intellektuelle Unsauberkeit; man hat den Werth aller Realitätenentwerthet, damit, daß man eine „ideale Welt“ e r l o g … Verstehn Sie nichtsvon meiner Aufgabe? Was es heißen will „U m w e r t h u n g aller Werthe“?Warum Zarathustra die Tugendhaften als die verhängnißvollste Art Menschansieht? weshalb er der Vernichter der M o r a l sein muß? — haben Sievergessen, daß er sagt „z e r b r e c h t , z e r b r e c h t mir die Guten undGerechten?“ —

— Sie haben sich — Etwas, das ich nie verzeihe — aus meinem Begriff„Übermensch“ wieder einen „höheren Schwindel“ zurechtgemacht, Etwas ausder Nachbarschaft von Sybillen und Propheten: während jeder e r n s t h a f t eLeser meiner Schriften wissen muß, daß ein Typus Mensch, der m i r nicht Ekelmachen soll, gerade der Gegensatz-Typus zu den Ideal-Götzen von Ehedem ist,einem Typus Cesare Borgia hundert Mal ähnlicher als einem Christus. Undwenn Sie gar, in m e i n e r Gegenwart, den ehrwürdigen Namen Michel Angeloin Einem Athem mit einer durch und durch unsauberen und falschen Creatur wieWagner in den Mund nehmen, so erspare ich Ihnen und mir das Wort für mein

G e f ü h l dabei. — Sie haben sich, in Ihrem ganzen Leben, fast überJedermann getäuscht: nicht wenig Unheil, auch in meinem Leben, geht daraufzurück, daß man Ihnen Vertrauen schenkt und daß Ihr Unheil absolutunvertrauenswürdig ist. Zuletzt vergreifen Sie sich zwischen Wagner undNietzsche! — Und indem ich das schreibe, schäme ich mich, meinen Namen indiesen Nachbarschaft gebracht zu haben. — Also Sie haben nichts von demEkel begriffen, mit dem ich, mit allen anständigen Naturen, vor 10 JahrenWagnern den Rücken kehrte, als der S c h w i n d e l , mit den ersten BayreutherBlättern, handgreiflich wurde? Ihnen ist die tiefe Erbitterung unbekannt, mit derich, gleich allen rechtschaffnen Musikern, diese P e s t der WagnerischenMusik, diesen durch sie bedingte Corruption der Musiker, immer weiter um sichgreifen sehe? Sie haben nichts davon gemerkt, daß ich, seit zehn Jahren, eineArt Gewissensrath für deutsche Musiker bin, daß ich an allen möglichen Stellenwieder die artistische Rechtschaffenheit, den vornehmen Geschmack, dentiefsten Haß gegen die ekelhafte Sexualität der Wagnerischen Musik angepflanzthabe? daß der letzte k l a s s i s c h e Musiker, mein Freund Köselitz, ausm e i n e r Philosophie und Erziehung stammt? — Sie haben nie ein Wort vonmir verstanden, nie einen S c h r i t t von mir verstanden: es hilft nichts; darübermüssen wir unter uns K l a r h e i t schaffen, — auch in diesem Sinn ist der „FallWagner“ für mich noch ein G l ü c k s fall — —

Friedrich Nietzsche.1136. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)

<Turin, 26. Oktober 1888>

Nur ein K ä r t c h e n , meine gute Mutter, damit Du wieder ein Lebenszeichenvon mir in die Hände bekommst. Es war gar kein Grund, Dich so zuerschrecken: das macht nichts unter uns. Hoffentlich giebt es bei Dir jetzt aucheinen so h e r r l i c h e n sonnigen H e r b s t : ich wenigstens habe ein schöneresWetter überhaupt noch nirgends wo erlebt. Unter diesen Umständen gehtA l l e s glücklich vorwärts; nicht die geringste Ermüdung oder Beschwerde.Der Ofen ist bestellt, doch n i c h t der ganz kleine, die nächste Nummer. MeinWirth hat mir angeboten, für den Fall, daß ich Ende Winters ihn nicht behaltenwollte, mir die Hälfte dessen, was er mir koste, zu zahlen. Es grüßt und umarmtDich Dein altes Geschöpf.1137. An Heinrich Köselitz in Berlin

T u r i n , d. 30. Okt. 88.Lieber Freund,

ich sah mich eben im Spiegel an, — ich habe nie so ausgesehn. Exemplarischgut gelaunt, wohlgenährt und zehn Jahre jünger als es erlaubt wäre. Zualledembin ich, seitdem ich Turin zur Heimat gewählt habe, sehr verändert in denhonneurs, die ich mir selber erweise, — erfreue mich zum Beispiel einesausgezeichneten Schneiders und lege Werth darauf, überall als distinguirterFremder empfunden zu werden. Was mir auch zum Verwundern gelungen ist.Ich bekomme in meiner Trattoria unzweifelhaft die besten Bissen, die es giebt:man macht mich immer aufmerksam, was gerade besonders gelungen ist. Unteruns, ich habe bis heute nicht gewußt, was mit Appetit essen ist; ebensowenig,was ich nöthig habe, um bei Kräften zu sein. Meine Kritik der Winter in Nizzaist jetzt sehr herbe: unzureichende und gänzlich gerade mir unzuträgliche Diät.Dasselbe, vielleicht verstärkt, gilt, es hilft nichts, lieber Freund! von IhremVenedig. Ich esse hier mit der a l l e r h e i t e r s t e n Verfassung an Seele undEingeweide, gut vier Mal so viel wie in Panada. — Auch sonst ist Nizzadier e i n e T h o r h e i t gewesen. Landschaftlich ist Turin mir in einer Weisemehr sympathisch als dies kalkige baumarme und stupide Stück Riviera, daß ichmich gar nicht genug ärgern kann, so spät davon loszukommen. Ich sage keinWort von der verächtlichen und feilen Art Mensch daselbst, — die Fremdennicht ausgenommen. Hier kommt Tag für Tag mit gleicher unbändigerVollkommenheit und Sonnenhelle herauf: der herrliche Baumwuchs inglühendem Gelb, Himmel und der große Fluß zart blau, die Luft von höchsterReinheit — ein Claude Lorrain, wie ich ihn nie geträumt hatte, zu sehn. Früchte,Trauben in braunster Süße — und billiger als in Venedig! In allen Stücken findeich <es> hier lebenswerth. Der Café in den ersten Cafés, ein kleines Kännchen,von merkwürdiger Güte, sogar erster Güte, wie ich sie noch nicht fand, 20 ct. —und man zahlt in Turin n i c h t Trinkgelder. Mein Zimmer, e r s t e Lage imCentrum, Sonne von früh bis Nachmittag, Blick auf den palazzo Carignano, diepiazza Carlo Alberto und darüber weg auf die grünen Berge — monatlich 25 frs.m i t Bedienung, auch Stiefelputzen. In der Trattoria zahle ich für jede Mahlzeit1 fr. 15 und lege, was entschieden als Ausnahme empfunden wird, noch 10 ct.bei. Dafür habe ich g a n z g r o ß e Portion minestra sei es trocken, sei es inBouillon: allergrößte Auswahl und Abwechslung, und die italienischenMehlfabrikate alle von erster Güte (— ich l e r n e hier erst die großenUnterschiede) Dann ein ausgezeichnetes Stück zartes Fleisch, vor AllemKalbsbraten, den ich nirgends so gegessen habe, mit einem Gemüse dazu,Spinat usw. Drei Brödchen, hier sehr schmackhaft, für den Liebhaber diegrissini, die ganz dünnen B r o d r ö h r c h e n , die Turinischer Geschmack sind.— Ein O f e n ist bestellt, aus Dresden: wissen Sie, Carbon-Natron-Heizung —

ohne Rauch, folglich ohne Schornstein. Insgleichen lasse ich aus Nizza meineB ü c h e r kommen. Es ist übrigens wundervoll mild, auch die Nächte. MeinFrostgefühl, von dem ich schrieb, hat nur i n t e r n e Gründe. Es war übrigenssofort wieder in Ordnung. —

Mit Ihrem Brief haben Sie mir eine große Freude gemacht. Im Grunde habeich’s nicht annähernd von irgend Jemand erlebt, zu hören, wie s t a r k meineGedanken wirken. Die Neuheit, der M u t h der Neuerung ist wirklich erstenRangs: — was die Folgen betrifft, so sehe ich jetzt mitunter meine H a n d miteinigem Mißtrauen an, weil es mir scheint, daß ich das Schicksal derMenschheit „in der Hand“ habe. — Sind Sie zufrieden, daß ich den Schluß mitderD i o n y s o s - M o r a l gemacht habe? Es fiel mir ein, daß diesen ReiheBegriffe um keinen Preis in diesem Vademecum meiner Philosophie fehlendürfe. Mit den paar Sätzen über die Griechen darf ich Alles herausfordern, wasüber sie gesagt ist. — Zum Schluß jene Hammer-Rede aus dem Zarathustra —vielleicht,n a c h diesem Buche, h ö r b a r … Ich selbst höre sie nicht ohneeinen eiskalten Schauder durch den ganzen Leib.

Das Wetter ist so herrlich, daß es gar kein Kunststück ist, etwas g u t zumachen. An meinem Geburtstag habe ich wieder Etwas angefangen, das zugerathen scheint und bereits bedeutend avancirt ist. Es heißt Ecce homo. OderW i e m a n w i r d , w a s m a n i s t . Es handelt, mit einer großenVerwegenheit, von mir und meinen Schriften: ich habe nicht nur damit michvorstellen wollen v o r dem ganz unheimlich solitären Akt der Umwerthung, —ich möchte gern einmal eine P r o b e machen, was ich bei den deutschenBegriffen von P r e ß f r e i h e i t eigentlich risquiren kann. Mein Argwohn ist,daß man das e r s t e Buch der U m w e r t h u n g auf der Stelle confiscirt, —legal mit allerbestem Recht. Mit diesem „Ecce homo“ möchte ich die F r a g ezu einem derartigen Ernste, auch Neugierde steigern, daß die landläufigen undim Grunde vernünftigen Begriffe über das E r l a u b t e hier einmal einenAusnahmefall zuließen. Übrigens rede ich von mir selber mit aller möglichenpsychologischen „Schläue“ und Heiterkeit, — ich möchte durchaus nicht alsProphet, Unthier und Moral-Scheusal vor die Menschen hintreten. Auch indiesem Sinne könnte dies Buch gut thun: es verhütet vielleicht, daß ich mitmeinemG e g e n s a t z verwechselt werde. —

Auf Ihre Kunstwart-Humanität bin ich sehr neugierig. Wissen Sie eigentlich,daß ich Herrn Avenarius im Sommer einen extrem groben Brief geschriebenhabe, wegen der Art, mit der sein Blatt H e i n r i c h H e i n e fallen ließ? —Grobe Briefe — bei mir das Zeichen von Heiterkeit…

Es grüßt Sie auf das Herzlichste, mit lauter unaussprechbaren Neben-,

Hinter- und Vorder-Wünschen (— „E i n s ist nothwendiger, als das Andre“:also sprach Zarathustra)

N.1138. An Malwida von Meysenbug in Rom

<Turin,> 5. n. 88.

Warten Sie nur ein wenig, verehrteste Freundin! Ich liefere Ihnen noch denBeweis, daß „Nietzsche est toujours h a ï s s a b l e “. Ohne allen Zweifel, ichhabe Ihnen U n r e c h t g e t h a n : aber da ich diesen Herbst an einem Überflußvon Rechtschaffenheit leide, so ist es mir eine wahre Wohlthat, Unrecht zuthun…

Der „Immoralist“.1139. An Constantin Georg Naumann in Leipzig

Turin, den 6. November 1888

Geehrter Herr Verleger,

wundern Sie sich jetzt über Nichts mehr bei mir! Zum Beispiel, daß wir, sobalddie G ö t z e n - D ä m m e r u n g in jedem Sinne erledigt ist, sofort einen neuenDruck beginnen müssen. Ich habe mich vollkommen davon überzeugt, nocheine Schrift nöthig zu haben, eine im höchsten Gradev o r b e r e i t e n d e Schrift, um nach Jahresfrist ungefähr mit dem ersten Bucheder U m w e r t h u n g hervortreten zu können. Es muß eine wirklicheS p a n n u n g geschaffen sein — im andern Falle geht es wie beim Zarathustra.Nun war ich die letzten Wochen auf das Allerglücklichste inspirirt, Dank einemunvergleichlichen Wohlbefinden, das einzig in meinem Leben dasteht, Dankinsgleichen einem wunderbaren Herbst und dem delikatesten Entgegenkommen,das ich in Turin gefunden habe. So habe ich eine e x t r e m s c h w e r eAufgabe — nämlich mich selber, meine Bücher, meine Ansichten,bruchstücksweise, so weit es dazu erfordert war, m e i n L e b e n zu erzählen— zwischen dem 15. Okt. und 4. November g e l ö s t . Ich glaube, das wirdgehört werden, vielleicht zu sehr… Und dann wäre Alles in Ordnung. —

Nun die Frage der Herstellung. Meine Absicht ist, diesem Werke bereits dieForm und Ausstattung zu geben, die jenes Hauptwerk haben soll, zu dem es injedem Sinne eine lange Vorrede darstellt. Hören Sie nun, werthester HerrVerleger, was ich in Vorschlag bringe.

Das gleiche Format, wie das der letzten Schriften. Die Spatien zwischen denZeilen exakt wie in dem Vo r w o r t vom „Fall Wagner“ und der „Götzen-

Dämmerung“. Die Zahl der Zeilen 29. K e i n e Linie um den Text; dagegen dieZeile b r e i t e r . Das Papier nicht anders als das der letzten zwei Schriften. —Würde es Ihnen gefällig sein, mir einen P r o b e d r u c k einer derartigen Seiteeinmal zuzusenden, damit ich sie mit Augen sehe? Nehmen Sie irgend einManuscript-Stück der Götzen-Dämmerung, das eine g a n z e Seite füllt, dazu!— Die neue Schrift heißt:

E c c e h o m oWie man wird, was man ist.

Mit freundlichstem GrußIhr Nietzsche

1140. An Constantin Georg Naumann in Leipzig (Postkarte)

<Turin, 7. November 1888>

Geehrter Herr Verleger,

eben habe ich einen Brief an Sie abgeschickt, da kommt einer aus Basel an michan, von Herrn Carl Spitteler, der sehr erbaut und dankbar für den „Fall Wagner“ist. Er hat eine Arbeit darüber im „Bund“ drucken lassen oder läßt sie ebendrucken. Dabei schreibt er, Dr. V. Widmann, Redakteur des Bund, seib e t r ü b t ,daß ich ihm die Schrift nicht gesandt habe. Thun wir also ein Übriges, es gefälltmir sehr, wenn man gerade in der Schweiz mich nicht in Stich läßt. Auch bin ichdas Gegentheil einer nachträgerischen Natur. Bitte, ein Exemplar an dieRedaktion des Bund!

Ihr NietzscheDie N o u v e l l e R e v u e bringt einen Artikel, meldet man mir aus Paris.

1141. An Carl Spitteler in Basel

<Turin, um den 10. November 1888>

Werther und lieber Herr,

sehr erbaut, in diesem „Falle“ Ihr Ja auf meiner Seite zu haben, da es dies Malein paar Gründe zuviel für mich giebt, die Stimmen nicht zu zählen, sondern zuwägen.. Eben kündigt man mir auch von Paris aus eine bevorstehendeBesprechung der Schrift an: in der Nouvelle Revue. D a habe ich aufrichtigetwas Angst… Das J a aus der Nachbarschaft von Madame Adamcompromittirt. —

Daß ich die Schrift nicht an Herrn Dr. Widmann gesandt habe, hatte seinenGrund in der Befürchtung, dieselbe möchte ihn in seinen Sympathien für J.Brahms verletzen. Da ich aber Ihren Worten entnehmen zu können glaube, er

habe sie erwartet, so mache ich mir ein Vergnügen daraus, sie unverzüglich inseine Hände zu liefern.

Was der „Kunstwart“ darüber bringen wird, macht mich neugierig. — Nichtwahr, Sie erweisen mir den Dienst und senden sowohl „Basler Nachrichten“ als„Bund“ nach der g e l o b t e n Stadt Turin!

Ihraufrichtig ergebener

Nietzsche1142. An Heinrich Köselitz in Berlin

T o r i n o , via Carlo Alberto 6III.<13. November 1888.>

Lieber Freund,

Ihr letzter Brief gab mir, unter Anderem, einen Seufzer über meine Dummheitein; ich hätte, mit nur einiger Feinheit, wissen müssen, daß, um Ihres Besuchs inTurin nicht verlustig zu gehn, das Wort „Turin“ ein Paar Briefe langv e r b o t e n war. Sie unterschätzen, was mir, unter allen übrigen„Glücksgütern“, hier abgeht — und nicht — nur hier, sondern überall, — undnicht nur seit gestern, sondern seit mehr als einem Jahre: il mio maestro PietroGasti. Als Sie neulich eine gewisse Linie Noten mit Aurora-mäßigenRosenfingern in einen Brief hineinschrieben, war ich ganz einfach n e i d i s c h— ich werde mich hüten, zu sagen, auf wen oder w a s …

Der Herbst ist zu Ende, — er hat in einer für Turiner selbst überraschendenGleichmäßigkeit von Anfang Oktober bis weit in den November hinein seinegoldene Schönheit Tag für Tag da capo gespielt. Jetzt ist es ein wenig düster, dieLuft nicht zu kalt; seltsam, wie gut der Farbenton den alten palazzi steht. Fürmein Befinden wage ich zu behaupten, daß es so beinahe wohlthätiger als diebewußte Reihe von „schönen Tagen“ ist, mit denen sogar ein Goethe schlechtfertig zu werden wußte. — Nun, keine Lästerung! denn ich bin gut mit ihnenfertig geworden, — z u g u t selbst… Mein „Ecce homo. W i e m a n w i r d ,w a s m a n i s t “ sprang innerhalb des 15. Oktobers, meines allergnädigstenGeburtstags und -Herrn, und dem 4. November mit einer antikenSelbstherrlichkeit und guten Laune hervor, daß es mir zu wohlgerathen scheint,um einen Spaaß dazu machen zu dürfen. Die letzten Partien sind übrigensbereits in einer Tonweise gesetzt, die den Meistersingern abhanden gekommensein muß, „die Weise des W e l t r e g i e r e n d e n “… Das Schlußcapitel hat dieunerquickliche Überschrift: Warum ich ein S c h i c k s a l bin. D a ß diesnämlich der Fall ist, wird so stark bewiesen, daß man am Schluß vor mir als

„Larve“ und „fühlende Brust“ sitzen bleibt…Besagtes Manuscript hat bereits den Krebsgang nach der Druckerei

angetreten. Für die Ausstattung habe ich dies Mal dasselbe „beliebt“, wie für die„U m w e r t h u n g “: zu der es eine feuerspeiende Vorrede ist. —

Herr Carl S p i t t e l e r hat sein Entzücken über den „Fall“ im Bundausgesprudelt: er hat erstaunlich zutreffende Worte, — er gratulirte mir auchbrieflich dazu, daß ich b i s a n ’ s E n d e gegangen sei: er scheint dieGesammt-Bezeichnung unsrer modernen Musik als décadence-Musik für einekulturhistorische Feststellung ersten Rangs zu halten. Übrigens hatte er sichzuerst an den „Kunstwart“ gewendet. — Von Paris aus wird mir ein Aufsatz inder revue nouvelle in Aussicht gestellt. Auch eine St. Petersburger Beziehunghat sich daraufhin angeknüpft: Fürstin Anna Dmitrievna Ténicheff. — Dr.Brandes schreibt, daß der größte schwedische Schriftsteller, „ein wahres Genie“,August Strindberg, ganz für mich eingenommen ist. Dieser Tage trifft dieAdresse der c h a r m a n t e n Wittwe Bizet’s bei mir ein, der eine Freude mit derZusendung meiner Schrift zu machen ich sehr ersucht werde. —

Unsre wunderbaren Weiblein von der Turiner Aristokratie haben für Januareinen concorso d i b e l l e z z a ausgedacht: sie sind ganz übermüthiggeworden, als die Bilder der erstgekrönten Schönheiten in S p a a hieranlangten. Ich sah, im Frühling schon, einen derartigen concours in P o r t r ä t s ,bei der letzten Ausstellung: worin sie sich offenbar aller Welt überlegen fühlen,das ist der B u s e n t o , der mit vollkommner Naivetät dem Maler anvertrautwird. Unsre neue Mitbürgerin, die schöne Laetitia Bonaparte, jüngst mit demDuca d’Aosta vermählt und hier residirend, wird jedenfalls bei der Partie sein.

Es grüßt Sie mit der Bitte, die ersten Worte meines Briefs t r a g i s c h zunehmen, Ihr Freund

Nietzsche.1143. An Franz Overbeck in Basel

T o r i n o , via Carlo Alberto 6, III am 13. Nov. 1888.Lieber Freund,

der Ausnahmefall des 16. November mag es entschuldigen, wenn ich meinemletzten Briefe heute schon einen Brief nachschicke. Vielleicht seid Ihr schon imWinter: wir sind es beinahe, — die nächsten Berge haben schon eine leichtePerrücke. Hoffentlich wird der Winter entsprechend wie der Herbst gewesen ist:wenigstens hier war er ein wahres Wunder von Schönheit und Lichtfülle, — einClaude Lorrain in Permanenz. Ich habe über den ganzen Begriff „schönesWetter“ umgelernt und denke mit Erbarmen an meine stupide Anhänglichkeit an

Nizza. — Meine Bücher, die ich dort gelassen habe, sind bereits unterwegs nachTurin. Bei diesem Anlaß erfuhr ich, daß in der pension de Genève meine lustigeTischnachbarin von Ehedem, Frau von Brandeis, eingetroffen ist. — Auch derCarbon-Natron-Ofen ist unterwegs, zu sehr honnetten Preisen, wie ich es demDresdener Nieske zu Ehren sagen muß. Ein paar süperbe englische Winter-Handschuhe habe ich mir heute gekauft. — Beim besten Willen, alter FreundOverbeck, gelingt es mir nicht, Dir etwas Schlimmes von mir zu erzählen. Esgeht fort und fort in einem tempo fortissimo der Arbeit u n d der guten Laune.Auch behandelt man mich hier comme il faut, als irgend etwas extremDistinguirtes, es giebt eine Art, mir die Thüre aufzumachen, die ich nochnirgends wo erlebt habe. Zugegeben, daß ich nur sehr gute Orte besuche, auchmich eines klassischen Schneiders erfreue. — Wir hatten dieser Tage dendüstern Pomp eines g r o ß e n Begräbnisses, an dem ganz Italien betheiligt war:der Conte Robilant, der verehrteste Typus des Piemonteser Adels, übrigensleiblicher Sohn des König Carlo Alberto, wie man hier weiß. An ihm hat Italieneinen Premier verloren, der nicht zu ersetzen ist. — Etwas Heiteres dichtnebenbei: Die Schönheiten der Turiner Aristokratie sind ganz übermüthiggeworden, als die Bilder der erstgekrönten Schönheiten in S p a a hieranlangten. Sie haben sofort für den Januar auch einen c o n c o r s o d ib e l l e z z a in’s Auge gefaßt — ich glaube, sie haben alles Recht dazu! Ich sah,bei der Frühlings-Ausstellung, bereits einen solchen concours in P o r t r a i t svor mir. Auch unsre neue Turinerin, die princesse Laetitia Buonaparte,neuvermählt mit dem duc d’Aosta wird mit Vergnügen bei der Partie sein. —Ich habe inzwischen für meinen „Fall Wagner“ wahre Huldigungsschreibenbekommen. Man nennt die Schrift nicht nur ein psychologisches Meisterstückersten Ranges, auf einem Gebiete, wo Niemand überhaupt bisher Augen gehabthat — in der Psychologie der Musiker; man nennt die Aufklärung über dendécadence-Charakter unserer Musikü b e r h a u p t ein culturhistorischesEreigniß, Etwas, das Niemand außer mir gekonnt hätte: die Worte über Brahmsseien das Äußerste von psycholog.Sagacität. — Hr. Spitteler hat in derDonnerstag-Nummer des „Bund“ sein Entzücken ausgedrückt, Herr Köselitz im„Kunstwart“; aus Paris meldet man mir einen Artikel in der Nouvelle Revue alsbevorstehend. — Auch sonst gute Nachrichten. Der größte schwedischeSchriftsteller, „ein wahres Genie“, wie Dr. Brandes schreibt, August Strindberg,hat sich inzwischen ganz für mich erklärt; auch die Petersburger Gesellschaftsucht Beziehungen zu mir herzustellen, sehr erschwert durch das Ve r b o tmeiner Schriften (Fürst Urussow, Fürstin Anna Dimitrievna Ténicheff) Endlichdie c h a r m a n t e Wittwe Bizet’s!…

Der Druck der „Götzen-Dämmerung. Oder: w i e m a n m i t d e mH a m m e r p h i l o s o p h i r t “ ist beendet; das Manuscript des „Ecce homo.Wie man wird, was man ist“ ist bereits in der Druckerei. — Letzteres, vonabsoluter Wichtigkeit, giebt einiges Psychologische und selbst Biographischeüber mich und meine Litteratur: man wird mich mit Einem Male z u s e h nb e k o m m e n . Der Ton der Schrift heiter und verhängnißvoll, wie Alles, wasich schreibe. — Ende nächsten Jahres erscheint dann das e r s t e Buch derU m w e r t h u n g . Es liegt fertig da. —

Mit dem allerherzlichsten Glückwunsch für Dein Wohl an Leib und SeeleDein

Nietzsche1144. An Meta von Salis auf Marschlins

Turin, den 14. Nov. 88

Verehrtes Fräulein,

da ich fortdauernd an einem kleinen Überfluß von guter Laune und andernGlücksgütern leide, so dürfen Sie mir einen völlig sinnlosen Brief wohlnachsehen. Bis jetzt ist Alles besser als gut gegangen; ich habe meine Lastgewälzt, wie als ob ich von Natur ein „unsterblicher“ Lastträger wäre. Nicht nur,daß dase r s t e Buch der Umwerthung schon am 30. September zu Ende kam,inzwischen hat sich ein sehr unglaubliches Stück Litteratur, das den Titel führt„E c c e h o m o . Wie man wird, was man ist“ — auch schon wieder mitFlügeln begabt und flattert, wenn mich nicht Alles täuscht, in der Richtung vonLeipzig… Dieser homo bin ich nämlich selbst, eingerechnet das ecce; derVersuch, über mich ein wenig Licht u n d S c h r e c k e n zu verbreiten, scheintmir fast zu gut gelungen. Das letzte Capitel hat zum Beispiel die unerquicklicheÜberschrift: warum ich ein Schicksal bin. D a ß dies nämlich der Fall ist, wirddermaßen stark bewiesen, daß man, am Schluß, bloß noch als „Larve“, bloßnoch als „fühlende Brust“ vor mir sitzen bleibt. — Daß es einigerA u f k l ä r u n g über mich bedarf, bewies mir jüngst noch der Fall Malvida.Ich sandte ihr, mit einer kleinen Bosheit im Hintergrunde, vier Exemplare des„Falls Wagner“, mit dem Ersuchen, für eine gute französische Übersetzungeinige Schritte zu thun. „Kriegserklärung“ an mich: Malvida gebraucht diesenAusdruck. —

Ich habe, unter uns, mich noch einmal mehr davon überzeugt, daß derberühmte „Idealismus“ in diesem Falle im Grunde eine extreme Form derUnbescheidenheit ist, — „unschuldig“, wie es sich von selbst versteht. Man hatsie immer mitreden lassen und, wie mir scheint, hat ihr Niemand gesagt, daß sie

mit jedem Satze nicht nur irrt, sondern l ü g t … Das machen ja die „schönenSeelen“ so, die die Realität nicht sehen d ü r f e n . Verwöhnt, durch ihr ganzesLeben hindurch, sitzt sie zuletzt, wie eine kleine komische Pythia, auf ihremSopha und sagt „Sie irren sich über Wagner! Das weiß ich besser! Genaudasselbe, wie M i c h e l A n g e l o “ — Ich schrieb ihr darauf, daß Zarathustradie Guten und Gerechten abschaffen wolle, weil sie immer l ü g e n . Daraufantwortete sie, sie stimme mir darin völlig bei, d e n n es gäbe so wenigW i r k l i c h -Gute…

Und d a s hat mich zeitweilig vor Wagnern vertheidigt! — T u r i n ist keinOrt, den man verläßt. Ich habe Nizza ad acta gelegt, insgleichen den romantismeeines korsischen Winters (— es lohnt sich zuletzt nicht mehr, die HerrnBanditen sind wirklich a b g e s c h a f f t , sogar die Könige, die Bellacoscia) —Der Herbst war hier ein Claude Lorrain in Permanenz, — ich fragte mich oft, obso Etwas auf Erden möglich sei. Seltsam! gegen die Sommer-Misère da obengab es also wirklich eine A u s g l e i c h u n g . Da haben wir’s: der alte Gott lebtnoch…

— Auch ist man hier s e h r d e l i k a t gegen mich, meine Lage hat sichgegen die des Frühlings in einem unausrechenbaren Grade verbessert. — Vonmeiner Gesundheit wage ich gar nicht mehr zu reden: das ist ein überwundenerStandpunkt. — Die noch im Engadin fertig gewordene Schrift, die radikalstevielleicht, die es giebt, führt jetzt den Titel:

G ö t z e n - D ä m m e r u n gOder:

wie man mit dem H a m m e r philosophirt.Der Druck ist beendet. — Erwäge ich, was ich Alles zwischen dem 3 Sept.

und 4 November verbrochen habe, so fürchte ich, daß allernächst dieErdez i t t e r t . Dies Mal in Turin; vor zwei Jahren, als ich in Nizza war, wiebillig, in Nizza. In der That meldete der letzte Observatoriumsbericht vongestern bereits eine leichte Oscillation…

Wir hatten den düsteren Pomp eines g r o ß e n Begräbnisses. Einer derverehrenswürdigsten Piemontesen, der Conte di Robilant, wurde zu Grabegetragen; ganz Italien war in Trauer. Es hat einen Premier verloren, den man mitUngeduld erwartete — und den Niemand ersetzt.

Mit ausgezeichneter ErgebenheitIhr

Nietzsche.Herr Spitteler hat im „Bund“ einen Schrei des E n t z ü c k e n s über den

„Fall“ ausgestoßen. —

1145. An Elisabeth Förster (Entwurf)

<Turin, Mitte November 1888>

Meine Schwester!

Ich habe Deinen Brief empfangen und nachdem ich ihn mehrere Male gelesenhabe, sehe ich mich in die ernste Nothwendigkeit versetzt, von Dir Abschied zunehmen. Jetzt, wo sich mein Schicksal entschieden hat, empfinde ich jedesDeiner Worte an mich mit verzehnfachter Schärfe: Du hast nicht denentferntesten Begriff davon, nächstverwandt mit dem Menschen und Schicksalzu sein, in dem sich die Frage von Jahrtausenden entschieden hat, — ich habe,ganz wörtlich geredet, die Zukunft der Mh. in der Hand. Ich kenne diemenschliche Natur und bin unsäglich fern davon, in irgend einem einzelnenFalle zu verurtheilen, was das Verhängniß der Menschheit überhaupt ist; mehrnoch: ich verstehe, wie gerade Du, aus vollkommner Unmöglichkeit, die Dingezu sehn, in denen ich lebe, fast in den Gegensatz von mir hast flüchten müssen.Was mich dabei beruhigt, ist, zu denken, daß Du es auf Deine Weise gutgemacht hast, daß Du Jemanden hast, den Du liebst und der Dich liebt, daß vonDir eine bedeutende Aufgabe zu erfüllen bleibt, der Dein Vermögen sowohl wieDeine Kraft geweiht ist, — endlich, was ich nicht verschweigen will, daß ebendiesen Aufgabe Dich etwas fern weg von mir geführt hat, so daß die nächstenchocs dessen, was sich jetzt vielleicht mit mir begiebt, Dich nicht erreichen. —Das Letzte wünsche ich um Deinetwillen: ich bitte vor Allem inständig darum,Dich von keiner freundlichen und in diesem Falle gerade gefährlichenNeugierde verführen zu lassen, die Schriften, die jetzt von mir herauskommen,zu lesen. Dergleichen könnte Dich über alle Maßen verwunden — und mich, indieser Vorstellung, noch dazu… In diesem Sinne bedaure ich selbst die Schriftgegen Wagner an Dich abgeschickt zu haben, die, inmitten der ungeheurenSpannung, in der ich lebe, eine wahre Wohlthat für mich war — als einhonnettes Duell eines Psychologen mit einem frommen Verführer, den Niemandleicht als solchen erkennt.

Zu aller Beruhigung will ich von mir selber soviel sagen, daß mein Befindenausgezeichnet ist, von einer Festigkeit und Geduld, wie ich in meinem ganzenfrüheren Leben keine Stunde gehabt habe; daß das Schwerste mir leicht wird,daß Alles geräth, was ich unter die Hände nehme. Die Aufgabe, die a u f mirliegt, ist trotzdem meine Natur — so daß ich jetzt erst einen Begriff von demhabe, was m e i n mir vorbestimmtes Glück war. Ich spiele mit der Last, welchejeden Sterblichen zerdrücken würde… Denn das, was ich zu thun habe, istf u r c h t b a r , in jedem Sinne des Wortes: ich fordre nicht Einzelne, ich fordre

die Menschheit mit meiner entsetzlichen Anklage als Ganzes heraus; wie auchdie Entscheidung fällt, f ü r mich oder g e g e n mich, in jedem Fall haftetunsäglich viel Verhängniß an meinem Namen… Indem ich Dich von Herzenbitte, in diesem Brief keine Härte, sondern das Gegenstück dazu zu sehn, einewirkliche Humanität, die sich bemüht, ü b e r f l ü s s i g e m Unheilvorzubeugen, empfehle ich mich auch über die N o t w e n d i g k e i t hinweg,Deiner Liebe…

Dein Bruder.1146. An Franziska Nietzsche in Naumburg

Adresse: Torino (Italia), via Carlo Alberto 6III.<17. November 1888>

Meine alte Mutter,

— dies ist der merkwürdigste Zufall, den es geben kann. Mein Verstand standeinen Augenblick still. Stelle Dir vor, daß ich eben im Begriff bin, Dich um dieAbschrift einer Stelle aus den gesammelten Werken W a g n e r s zu bitten: Band7, in dem ein Brief W a g n e r s an mich steht. Davon wollte ich den letztenSatz haben, den ich einer bestimmten Arbeit wegen nöthig habe. D e r B r i e fe n t h ä l t d i e s e n S a t z : jene dritte Seite, die Dir solches Vergnügengemacht hat. Vollkommen mährchenhaft! —

Es macht mir g r o ß e Freude, von der wesentlichen Existenz-Verbesserungmeines Onkel Oskar zu hören; noch mehr, daß es mir erlaubt ist, ihm ein wennauch bescheidenes Zeichen meiner Anhänglichkeit zu geben. Ich bitte ihn sehrdarum, sich den Frak „anzuhängen“, — ich habe nie daran gedacht, daß ihmnoch eine so würdige Zukunft beschieden sein würde. —

(Daß ich meine Kleider v e r k a u f e wie ein alter Jude, darfst Du mir nichtzumuthen, meine gute Mutter. —)

Zu meinem Bedauern fehlt das C o u v e r t des curiosen Briefs: ich habenicht die entfernteste Ahnung, woher er kommt. Hättest DudenP o s t s t e m p e l mir lieber mitgetheilt, statt der Wanderung von Ort zu Ort,so wäre ich schon auf der Spur. Es muß ein genauer Bekannter sein, daraufweist der Scherz in der Adresse „Röcken bei Lützen“ hin. Kommt er nicht ausW i e n ? —

Der Ofen ist also, wie ich Deinem Briefe entnehme, von Herrn Kürbitzb e z a h l t ? Es war alles zusammen 68 Mark. Schreibe mir doch im nächstenBrief ausdrücklich, daß die Sache abgemacht ist. Die Sendung an mich konnteerst n a c h Zahlung abgehn. — Bis jetzt sind die zwei großen SäckeHeizmaterial angekommen, nebst 4 Kästchen Anzünder. An der Kälte habe ich

noch mäßig gelitten, ein paar regnerische Tage abgerechnet: da ist man immerempfindlicher. Jetzt ist es wieder schön mild, sogar die Nacht. Das Kälteste warein e i n z i g e r Oktobertag, wo wir zwar nicht den Gefrierpunkt, aber beinaheerreichten. Gleich darauf wieder wonnevolle Herbsttage. — Deine M u ß -Geschichte im großen Stile hat mir Vergnügen gemacht, ich stimme Dir bei, daßes etwas Gutes ist, — es hält den Kopf und vielleicht auch den Leib frei. Wirsind immer noch im Überfluß der schönsten Trauben: das Pfunda l l e r e r s t eQualität 24 Pfennige nach Eurem Geld. Die Ernährung ist über alle Maßen gutund zuträglich. Man lebt nicht umsonst im Lande der allerberühmtestenViehzucht und zwar in dessen königl. Residenz. Die Zartheit desK a l b fleisches ist einfach für mich etwas Neues, insgleichen das von mirhochgeschätzte delikate L a m m fleisch. Und welche Zubereitung! welchesolide, saubere, sogar raffinirte Küche! Ich habe bis jetzt nicht gewußt, w a sguter Appetit ist: aufrichtig, ich esse 4 mal so viel wie in Nizza, zahlew e n i g e r und habe noch nie eine Magenbeschwerde gehabt. Zugegeben, daßman mich, hierin und in andern Dingen, auszeichnet; ich bekomme entschiedendie besten Bissen. Aber das ist überall der Fall, wo ich hier verkehre: mannimmt mich für etwas sehr Distinguirtes, Du würdest Dich selber erstaunen, wiestolz und voll Haltung Dein altes Geschöpf hier einherwandelt. Gegen Nizza hatsich Alles gerade umgedreht. — Ein leichter Paletot, mit blauer Seide gefüttert,genügt einstweilen über meinem Gesellschafts-Anzug vollkommen. Der dicke,immer noch ganz ordentliche Überzieher von Hillebrand kommt erst d i e s e nWinter zu Ehren. Zwei Paar Schuhe mit Schnüren. Ungeheure englische Winter-Handschuh. Eine goldne Brille (n i c h t unterwegs). Jetzt kannst Du Dir das alteGeschöpf vorstellen.

In LiebeF.

Suche die Stelle und schreibe, von welchem Tag der Brief ist (— er erschien inder N o r d d e u t s c h e n Zeitung)

— Ich vergaß die C h a m ä l e o n s unter meinem Prunke: sie sind hier ganzfremd, — um so besser!1147. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig

Turin, den 18. November 1888

Werther Herr Verleger,

Sie haben die Auszeichnung, die Werke des ersten Menschen aller Jahrtausendein Verlag zu haben. Daß Sie einer alten Gans wie Pohl erlauben können, übermich zu reden, gehört zu den Dingen, die nur in Deutschland möglich sind.

Glauben Sie nicht, daß ich dergleichen lese: man schreibt mir eben wörtlich ausLeipzig „die Einbildung Pohls, mit seinem beschränkten Artikel Etwas gegenIhr Weltgericht gethan zu haben ist urkomisch.“ — Ich bekomme von allenSeiten wahre Huldigungs-Schreiben, wie über ein Meisterstück psychologischerSagacität, das nicht seines Gleichen hat, wie eine wahre Erlösung von einemgefährlichen Mißverständniß… Fragen Sie doch Herrn von Bülow, was erdarüber denkt. — Und der Verleger des „Zarathustra“ nimmt g e g e n michPartei? —

In aufrichtiger VerachtungNietzsche.

1148. An Heinrich Köselitz in Berlin

Turin, den 18. Nov. 1888

Lieber Freund,

Ihr Brief hat F o l g e n — ich fühle Etwas wie einen Blitz… Sofort lief einkleines Handschreiben an Fritzsch ab, mit der Unterschrift „in aufrichtigerVerachtung Nietzsche“. Zwei Tage später will ich ihm schreiben: Verhandelnwir mit einander, Herr Fritzsch! Unter diesen Umständen ist es nicht möglich,meine Werke in Ihren Händen zu lassen. Wieviel wollen Sie für Alleszusammen?“ — W e n n es so weit kommt, daß ich alle meine Litteratur in dieHände bekomme, Alles „Naumanniana“, so wäre das jetzt ein Meisterstreich, —zwei Jahre darauf würde Herr F<ritzsch> sich sehr besinnen… Mille grazie!Vielleicht waren Sie damit sogar der Urheber meiner f o r t u n a . — Ich rechne,daß er 3000 Thaler haben will; er hat an Schmeitzner, wenn mich nicht Allestäuscht, 2000 gezahlt. — Erwägen Sie, daß ich damit der Eigenthümer desZ a r a t h u s t r a werde. Schon „Ecce homo“ wird die Augen aufmachen. —Ich falle vor Vergnügen fast vom Stuhle. —

Aber das war nur die N e b e n s a c h e . Eine ganz andre Frage bewegt michtief — die Operetten-Frage, die Ihr Brief berührt. Wir haben uns nichtwiedergesehn, seit ich über diesen Frage aufgeklärt bin — oh soa u f g e k l ä r t ! So lange Sie mit dem Begriff „Operette“ irgend eineCondescendenz, irgend einen Vulgarismus des Geschmacks mitverstehen, sindSie — verzeihen Sie den s t a r k e n Ausdruck! — nur ein Deutscher… FragenSie doch, wie Monsieur Audran die Operette definirt: „das Paradis allerdelikaten und raffinirten Dinge“, die sublimen Süßigkeiten eingerechnet. Ichhörte neulich „Mascotte“ — drei Stunden und nicht e i n Takt Wienerei (=Schweinerei) Lesen Sie irgend ein Feuilleton über eine neue Pariser opérette: siesind jetzt in Frankreich darin wahre Genies von geistreicher Ausgelassenheit,

von boshafter Güte, von Archaismen, Exotismen, von ganz n a i v e n Sachen.Man verlangt 10 Stücke ersten Ranges, damit eine Operette, unter einemenormen Druck der Concurrenz, obenauf bleibt. Es giebt bereits eine wahreWissenschaft von finesses des Geschmacks und des Effekts. Ich beschwöre Sie,W i e n i s t e i n S c h w e i n e s t a l l … Wenn ich Ihnen E i n e veritablePariser Soubrette, welche crée —, in einer einzigen Rolle zeigen könnte, z. B.Mad. Judic oder die Milly Meyer, so würden Ihnen die Schuppen von denAugen, ich wollte sagen von der Operette fallen. Die Operette h a t keineSchuppen: die Schuppen sind bloß d e u t s c h …

— Und hier kommt eine Art R e c e p t . Für u n s r e Leiber und Seelen,lieber Freund, ist eine kleine Vergiftung mit Parisin einfach eine „Erlösung“ —wir werden w i r , wir hören auf, horndeutsch zu sein… Vergeben Sie mir, aberdeutsch s c h r e i b e n kann ich erst von dem Augenblick an, wo ich mir PariseralsL e s e r denken konnte. Der „Fall Wagner“ ist O p e r e t t e n - M u s i k …

Dieser Tage machte ich die g l e i c h e Reflexion bei einem wahrhaftgenialen Werk eines Schweden, des mir von Dr. Brandes als Hauptverehrervorgestellten Herrn August S t r i n d b e r g . Es ist die französische Cultur aufeinem unvergleichlich stärkeren und g e s ü n d e r e n fond: der Effekt istbezaubernd: „Les mariés“ heißt es, Paris 1885. — Sehr curios, wir stimmenüber das „W e i b “ absolut überein, — es war bereits Dr. Brandes aufgefallen.—

Moral: n i c h t Italien, alter Freund! Hier, wo ich die erste Operetten-Gesellschaft Italiens habe, sage <ich> mir bei jeder Bewegung der hübschen, oftallzuhübschen Weiberchen, daß sie eine leibhafte Carikatur aus jeder Operettemachen. Sie haben ja keinen esprit in den Beinchen, — geschweige imKöpfchen… Offenbach ist in Italien ebenso d u n k e l (will sagenhundsgemein) als in Leipzig. —

Sehen Sie, wie w e i s e ich jetzt werde! Wie ich selbst die Werthe meinesFreundes Köselitz u m w e r t h e ! — Warum nicht Bruxelles?… Am bestenfreilich Paris selbst. Die Luft thut’s. — D a s w u ß t e W a g n e r : sich inScene setzen hat er nur in Paris gelernt.

Ich bitte, auch diesen Brief t r a g i s c h zu nehmen. Mit aufrichtigerAchtung Ihr

N.1149. An Constantin Georg Naumann in Leipzig

Turin, den 19. Nov. 1888

Geehrter Herr Verleger,

Ihnen zu Dank für Ihren Brief verpflichtet, beeile ich mich, meineEntschließungen mitzutheilen.

Die P r o b e - S e i t e gefällt mir nicht. Ich finde die Seite der zwei letztenSchriften, mit dem Strich, nicht nur bei weitem eleganter, sondern auch leichterlesbar. Der S a t z wird durch die breiteren Spatien für das Auge schwerüberschaubar: und darin vor Allem liegt eine Gefahr für das Verstandenwerden.Bleiben wir also bei der Seite der G ö t z e n - D ä m m e r u n g , bleiben wirauch beim Strich. —

Ein zweiter Punkt, über den <ich> zu Ihnen reden will, wie ich vor mir rede,ist die Frage der Ausstattung resp. Papier. In der Voraussicht einer vielleichtsogar excessiven Berühmtheit meines Namens für eine nicht allzulange Zeit binich mir selber einige Respekts-Rücksichten schuldig, bei denen materielleErwägungen nicht in Betracht kommen dürfen. Mein Wille ist also, daß wirdasselbe Papier auch für „Ecce homo“ festhalten — daß wir aber, so wohlfürG ö t z e n - D ä m m e r u n g als für die neue Schrift die g l e i c h e n Preisefesthalten wie für den „Fall Wagner“. —

Später — wer weiß? werden wir einmal auch Geld verdienen: ich wage nichtanzudeuten, in welchem Maaße die U m w e r t h u n g gelesen werden wird.Einstweilen liegt Alles daran, daß man sich ein Jahr zum Mindesten überall mitmir beschäftigt.

Die n e u e Schrift enthält über j e d e meiner früheren Schriften ein eigenesC a p i t e l , das den Titel der einzelnen Schrift zur Überschrift hat. Damiterledigt sich, wie ich glaube, Ihr Vorschlag: dem auch das widerspricht, daß eskeine mittheilenswerthen Recensionen giebt. Es ist Alles jammervollesZeug,o h n e Ausnahme. —

Herrn Dr. Fuchs bitte ich „Jenseits“ und „Genealogie der Moral“ zu senden,mitsammt die Adresse des Herrn Köselitz. — Was man über den „Fall Wagner“schreibt, will ich n i c h t sehn. —

Wenn Sie im Stande sind, den Druck sofort und mit Eifer beginnen zulassen, so werde ich Grund haben, Ihnen dankbar zu sein

Ihr ergebensterProf. Dr. Nietzsche

T o r i n o , via Carlo Alberto 6, IIIVon der G ö t z e n - D ä m m e r u n g bitte ich mir die ersten 4 Exemplare

aus. Gesetzt, daß Sie noch sich Zeit nehmen bis zur Buchbinder-Arbeit, sokönnten Sie nur die Aushängebogen des Buchs schicken. —

Herr S p i t t e l e r ist mit Feuer für mich im „Bund“ eingetreten. — Die PaarWorte, die er bei dieser Gelegenheit über mich überhaupt sagt, sind bei weitem

das Beste, was bisher öffentlich gesagt worden ist.1150. An Carl Spitteler in Basel (Postkarte)

T u r i n , den 19. Nov. <1888>Werthester Herr,

Ihre Worte über Nietzsche en bloc sind das Achtbarste, was ich bis jetzt gelesenhabe. — Daß ich meine „Bekehrung“ an Carmen anknüpfe, ist natürlich — Siewerden keinen Augenblick daran zweifeln — eine Bosheit m e h r von mir. Ichkenne den Neid, die Wuthausbrüche Wagners gegen den E r f o l g von Carmen— den größten, anbei gesagt, den die Geschichte der Oper hat. —

Mit aufrichtiger NeigungNietzsche

1151. An Georg Brandes in Kopenhagen

Torino, via Carlo Alberto 6, IIIden 20. Nov. 1888.

Verehrter Herr,

Vergebung, daß ich auf der Stelle antworte. Es giebt jetzt in meinem Lebencuriosa von Sinn im Zufall, die nicht ihres Gleichen haben. Vorgestern erst; jetztwieder. — Ach, wenn Sie wüßten, was ich eben geschrieben hatte, als Ihr Briefmir seinen Besuch machte…

Ich habe jetzt mit einem Cynismus, der welthistorisch werden wird, michselbst erzählt: das Buch heißt „Ecce homo“ und ist ein A t t e n t a t ohne diegeringste Rücksicht a u f d e n G e k r e u z i g t e n : es endet in Donnern undWetterschlägen gegen Alles, was christlich oder christlich-i n f e k t ist, beidenen Einem Sehn und Hören vergeht. Ich bin zuletzt der erste Psychologe desChristenthums und kann, als alter Artillerist, der ich bin, schweres Geschützvorfahren, von dem kein Gegner des Christenthums auch nur die Existenzvermuthet hat. — Das Ganze ist das Vorspiel der U m w e r t h u n g a l l e rW e r t h e , das Werk, das fertig vor mir liegt: ich schwöre Ihnen zu, daß wir inzwei Jahren die ganze Erde in Convulsionen haben werden. Ich bin einVerhängniß. —

— Errathen Sie, wer in „Ecce homo“ am schlimmsten wegkommt? Als diezweideutigste Art Mensch, als die im Verhältniß zum Christenthumfluchwürdigste Rasse der Geschichte? Die Herrn Deutschen! — Ich habe ihnenfurchtbare Dinge gesagt… Die Deutschen haben es zum Beispiel auf demGewissen, die letzte g r o ß e Zeit der Geschichte, die Renaissance, um ihrenSinn gebracht zu haben — in einem Augenblick, wo die christlichen Werthe, die

décadence-Werthe, unterlagen, wo sie in den Instinkten der höchstenGeistlichkeit selbst ü b e r w u n d e n durch die Gegeninstinkte waren, dieLebens-Instinkte!… Die Kirche a n g r e i f e n — das hieß ja das Christenthumwiederherstellen. — C e s a r e B o r g i a als Papst — das wäre der S i n n derRenaissance, ihr eigentliches Symbol…

— Auch dürfen Sie darüber nicht böse sein, daß Sie selber an einerentscheidenden Stelle des Buchs auftreten — ich schrieb sie eben — in diesemZusammenhange, daß ich das Verhalten meiner d e u t s c h e n Freunde gegenmich stigmatisire, das absolute In-Stichgelassen-sein mit Ehre wie mitPhilosophie. — Sie kommen, eingehüllt in eine artige Wolke von Glorie, aufeinmal zum Vorschein…

Ihren Worten über Dostoiewsky glaube ich unbedingt; ich schätze ihnandererseits als das werthvollste psychologische Material, das ich kenne, — ichbin ihm auf eine merkwürdige Weise, dankbar, wie sehr er auch immer meinenuntersten Instinkten zuwidergeht. Ungefähr mein Verhältniß zu Pascal, den ichbeinahe liebe, weil er mich unendlich belehrt hat: der einzige l o g i s c h eChrist…

— Vorgestern las ich, entzückt und wie bei mir zu Hause, les mariés vonHerrn August Strindberg. Meine aufrichtige Bewunderung, der nichts Eintragthut, als das Gefühl, mich dabei ein wenig mitzubewundern… Turin b l e i b tmeine Residenz —

Ihr Nietzsche, jetzt U n t h i e r …Wohin darf ich Ihnen die „Götzen-Dämmerung Oder:wie man mit dem H a m m e r philosophirt“ senden? Im Fall, daß Sie noch

14 Tage in Kopenhagen sind, ist keine Antwort nöthig. —1152. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig (Postkarte)

<Turin, 20. November 1888>

Verhandeln Sie mit mir, Herr Fritzsch! Unter diesen Umständen ist es mir nichterlaubt, meine Schriften in Ihren Händen zu lassen. Wieviel verlangen Sie füralles zusammen? (Den Hymnus ausgenommen, der Ihr Eigenthum bleiben soll).Sie haben mir nie einen Begriff davon gegeben, was und wieviel sich davonverkauft. Ich will durchaus nicht, daß Sie durch mich Einbusse haben. Zuletztnehme ich Ihnen auch den Hymnus ab.1153. An E. Kürbitz in Naumburg

Turin d. 22 Nov 88

Geehrtester Herr,

verlangen Sie, bitte, unverzüglich die 68 Mark von der Firma Nieske wiederzurück, in Anbetracht der Warnung seitens der preuß<ischen> Regierung vordiesem Ofen.

Ihr ergebensterProf. Dr. Nietzsche

1154. An Ad. Fleischmann in München

Torino, via Carlo Alberto 6, III24 Nov. 1888

Sehr geehrter Herr Doktor,

zum Glück hat Ihr Brief mich doch noch in meiner Turiner Verborgenheit zuentdecken gewußt, — die Antwort darauf will ich heute noch auf die Postgeben. Diese Schrift verdient im höchsten Grade die Aufmerksamkeit allerfeineren und raffinirten Geister; ich bekomme überall her, aus St. Petersburgund Paris, wahre Huldigungs-Schreiben wie über einen Exceß psychologischerSagacität in einem extrem undurchsichtigen Falle. Zuletzt giebt es Niemanden,der Wagner so sehr aus der Nähe kennt, wie ich — die Zeit in Tribschen war inmeinem Leben eine merkwürdig eingreifende, wir waren fast alle Wochenbeisammen. — Frau Wagner wird am besten wissen, wie ich das Verborgenstevon dieser v e r s t e c k t e n Natur errathen habe, aber sie hat hundert Gründe,den mythischen Wagner aufrecht zu halten…

Das Wesentlichste der Schrift ist zuletzt nicht die Psychologie Wagners,sondern die Feststellung des d é c a d e n c e -Charakters unsrer Musiküberhaupt: dies ist eine entscheidende Einsicht, wie sie nur Jemand findenkonnte, der in seinen tiefsten Instinkten Musiker ist und der sich auch von demKlügsten der Klugen nichts vormachen läßt.

Meine Adresse ist für den ganzen Winter die gleiche.

HochachtungsvollDr. Nietzsche

1154a. An August Strindberg in Holte

<Turin, 24. November 1888>

Sollte man das nicht übersetzen? Es ist Dynamit.

Der Antichrist.1155. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig

Turin, am 25. November 1888.

Herrn E. W. Fritzsch

ich bekenne, daß ich in so kurzer Zeit das Geld nicht zu schaffen weiß, so daßSie zunächst an Nichts gebunden sind. Sie werden mir erlauben, daß ich dieUnterhandlungen in einem späteren Termin wieder aufnehme.

ErgebenstDr. Nietzsche

1156. An Constantin Georg Naumann in Leipzig

Turin, den 25. Nov. 1888

Geehrter Herr Verleger,

die „G ö t z e n - D ä m m e r u n g “ gefällt mir sehr, ich fühle mich noch einmalin dem bestärkt, was ich zuletzt schrieb, daß wir die gleiche Ausstattung für das„Ecce homo“ festhalten. — Zwei sehr dumme Fehler, die, wie ich fürchte, aufmeine Verantwortung resp. schlechte Augen zurückgehn p. 137 Z. 7 Agleophstatt Aglaop p. 52 Z. 5 Sympto m o logie statt Symp t o m a t o logie. —

Die Worte, mit denen die Schrift in dem Buchhändler-Börsenblattanzuzeigen wäre, habe ich Herrn Köselitz überlassen, der Ihnen darüberMittheilung machen wird. Es schadet Nichts, wenn dieselben etwas stark sind;es ist bei dieser Schrift nicht e r l a u b t , Recensions-Exemplare an Zeitungenzu senden.

Einige sehr klug gewählte Inserate müssen dies Mal versucht werden. — Einsehr urteilsfähiger älterer Herr, Mitarbeiter der Hauptrevuen („Gegenwart“„deutsche Revue“, „unsere Zeit“, auch „Bl<ätter> für litter. Unterhaltung“) Dr.F l e i s c h m a n n , Justizamtmann früher, hat auf die artigste Weise mir vonMünchen aus seine Bereitheit erklärt, über den „F a l l W a g n e r “ desLängeren zu berichten (— man hat ihn in München allgemein drum gebeten)Der Dichter Martin G r e i f in München hat mir zum Dank seine Werkeüberschickt. —

Was die Freiexemplare der Götz<en>-D<ämmerung> betrifft, so will ich 3(von den 4 übersandten) auf mich nehmen: Ihnen bleibe dann die Versendung anfolgende Adressen anheimgestellt:Nach B a s e l , Schweiz:1) Herrn Oberbibliothekar Dr. Sieber1) Dem Vorstande der Basler Lesegesellschaft zu geehrten Händen.1) der Redaktion der „Basler Nachrichten“1) Herrn Karl Spitteler Gartenstraße 741) Herrn Professor Dr. Overbeck

Nach B e r l i n :1) Herrn Prof. Dr. Deussen Berlin W. Kurfürstendamm 1422) Herrn Heinrich KöselitzNach D r e s d e n :1) Herrn Ferdinand Avenarius Stephanienstr. 1.Nach D a n z i g :1) Herrn Dr. Carl FuchsNach S t . P e t e r s b u r g :1) Monsieur le Prince Urussow Sergiewskaia 79.

Wenn es Ihnen möglich wäre, mir für den „Fall Wagner“ baldigst mein contoeinzuhändigen, so würde ich Ihnen verpflichtet sein.

Herr E. W. Fritzsch hat eine h a a r s t r ä u b e n d e Taktlosigkeit gegen michverübt und einer alten Gans erlaubt, mich in der armselig persönlichsten Weisein seinem eignen Blatt zu verhöhnen. Darauf habe ich Fritzsch angefragt,wieviel er für meine ganze Litteratur haben wolle, — es sei mir nicht erlaubt,dieselbe in solchen Händen zu lassen. Die Antwort liegt bei. Aufrichtig, ichverstehe sie nicht. Es scheint mir, er will 10 000 Thaler haben

Hochachtungsvoll IhrProf. Dr. Nietzsche

Sobald „Ecce homo“ g e w i r k t hat — es wird ein Erstaunen ohne Gleichenhervorrufen — thue ich die bereits erwogenen Schritte, um Übersetzungen der„U m w e r t h u n g “ in 7 Hauptsprachen durch lauter ausgezeichneteSchriftsteller Europas vorzubereiten. Das Werk soll zugleich in allen Sprachenerscheinen. —

NB. Ich sehe einer s c h w e d i s c h e n Übersetzung der „Götzen-Dämmerung“ entgegen

Aufrichtig, ich möchte meine Schr<ifte>n w e g von Fritzsch. In zwei Jahrenha<be>n sie einen vertausendfachten Werth. An meinem „Zarathustra“ alleinkann man Millionär werden: es ist das entscheidendste Werk, das es giebt.1157. An Heinrich Köselitz in Berlin

Torino, via Carlo Alberto 6, III M o n t a g<25. November 1888>

Lieber Freund,

vielleicht, daß auch bei Ihnen schon die G ö t z e n - D ä m m e r u n geingetroffen ist? Bei mir langten gestern die ersten Exemplare an. Zwei dummeFehler: „Symptomologie“ statt „Symptomatologie“ und „Agleophamus“ statt„Aglaophamus“: dergleichen macht einen Philologen wüthend. — Ich habe als

Preis für dies Buch 1 1/2 Mark festgesetzt: Sie verstehen? — DieselbeAusstattung, d e r s e l b e Preis auch „Ecce homo“, das jetzt in Arbeit kommt.— Erlösen Sie mich von einer Schwierigkeit und geben Sie Naumann Etwasüber die G ö t z e n - D ä m m e r u n g für das Buchhändler-Börsenblatt. Siedürfen die Ausdrücke so stark als möglich nehmen. — F r i t z s c h will circa 10000 Thaler von mir. — Die Frage der „Preßfreiheit“ ist, wie ich jetzt mit allerSchärfe empfinde, eine bei meinem „Ecce homo“ gar nicht aufzuwerfendeFrage. Ich habe mich dergestalt j e n s e i t s gestellt, nicht über das, was heutegilt und obenauf ist, sondern über die Menschheit, daß die Anwendung einescodex eine Komödie sein würde. Übrigens ist das Buch reich an Scherzen undBosheiten, weil ich mit aller Gewalt mich als G e g e n t y p u s zu der ArtMensch, die bisher verehrt worden ist, präsentire: — das Buch ist so „unheilig“wie möglich…

Ich bekenne, daß mir die G ö t z e n - D ä m m e r u n g als vollkommenerscheint; es ist nicht möglich, entscheidendere Dinge deutlicher u n d delikaterzu sagen… Man kann 10 Tage nicht nützlicher verwenden, denn mehr Zeit hatmich das Buch nicht gekostet. —

Jakob Burckhardt hat von mir das e r s t e Exemplar bekommen.Wir haben nach wie vor ein bezauberndes Frühjahr-Wetter; ich sitze eben mit

aller Heiterkeit und leicht bekleidet, vor offnem Fenster.Eine letzte Erwägung. Sehen Sie, lieber Freund, „Kreise s t ö r e n “ — das

ist wirklich in meiner jetzigen Existenz unmöglich. Es hat etwas auf sich mitdem „Kreise“… Aber etwas Anderes: ich bin mitunter vollkommen außer mir,kein aufrichtiges und unbedingtes Wort zu irgend Jemand sagen zu können —ichh a b e gar Niemanden dazu außer Herrn Peter Gast… Auch finden Sie inmeiner im Grunde heiteren und boshaften „Aktualität“ vielleicht mehrInspiration zur „Operette“ als sonstwo: ich mache so viele dumme Possen mitmir selber und habe solche Privat-Hanswurst-Einfälle, daß ich mitunter einehalbe Stunde auf offner Straße g r i n s e , ich weiß kein andres Wort.… Neulichfiel mir ein, Malvida an einer entscheidenden Stelle von „Ecce homo“ alsK u n d r y vorzuführen, welche l a c h t … Ich habe 4 Tage lang die Möglichkeitverloren, einen gesetzten Ernst in mein Gesicht zu bringen —

Ich denke, mit einem solchen Zustand ist man reif zum „Welt-Erlöser“?…Kommen Sie…

Ihr Freund N.— Die Art Ö f e n , die ich mir für schweres Geld aus Deutschland bestellt

habe (68 Mark) sind jetzt hochobrigkeitlich verboten,alsl e b e n s g e f ä h r l i c h . — Ein artiger Ofen mit G a s -Heizung tritt an

seine Stelle. Preis 65 frs. — man steckt das Streichholz hinein, da gehts los; hatman genug Wärme im Zimmer, löscht man es —

Eben ist eine W a g n e r i s i r e n d e Oper, Nerone, furchtbar hierdurchgefallen. Der Hauptsänger hat die F l u c h t ergriffen.

Das Neueste ist der Beschluß Turins, ein Opernhaus a l l e r e r s t e n Rangeszu baun. —3 essay(s) in Contexta1158. An Constantin Georg Naumann in Leipzig

Turin, den 26. Nov. 88

Geehrtester Herr Verleger,

ich schreibe Ihnen noch einmal; die Frage, um die es sich handelt, ist erstenRanges. Alles erwogen, ist die unqualificirbare Handlung des E. W. Fritzsch einGlücksfall, der nicht hoch genug zu schätzen ist. O h n e diesen Handlung,welche nicht nur eine Taktlosigkeit, sondern eine E h r e n - Ve r l e t z u n g ist(— er hat mir die armseligsten persönlichen Motive für meine Schrift gegenWagner untergeschoben, mir dem Unpersönlichsten Menschen, den es vielleichtgegeben hat) würde ich kein Mittel haben, meine Schriften aus seinen Händenzu ziehn. Jetzt aber kann ich es nicht nur, ich m u ß es: in einem Augenblick, womein Leben in einer ungeheuren Entscheidung ist und eine Verantwortlichkeitauf mir liegt, für die es keinen Ausdruck giebt, vertrage ich es nicht, daß manGemeinheiten an mir begeht. Der Verleger des „Zarathustra“! des e r s t e nBuches aller Jahrtausende! in dem das Schicksal der Menschheit einbegriffenist! das in wenig Jahren in Millionen von Exemplaren sich verbreiten wird!…Sobald „Ecce homo“ heraus ist, bin ich der erste Mensch, der jetzt lebt.

Verhandeln Sie, geeintester Herr Verleger, doch einmal persönlich mit E. W.Fritzsch, sagen Sie ihm, mein Entschluß sei unwiderruflich, er habe mich inmeiner Ehre beleidigt. Ich möchte, daß S i e meine ganze Litteratur zusammenhaben, — ich möchte andrerseits, daß jetzt, wo Alles sich bei mir entscheidet,auch wir unter uns über ein n o r m a l e r e s Verhältniß zwischen Autor undVerleger nachdächten. Ich werde niemals Honorare wollen, das gehört zumeinen Principien; aber ich möchte, daß Sie vollen Antheil an dem Erfolg, andem Sieg meiner Litteratur hätten. — Die „U m w e r t h u n g a l l e rW e r t h e “ wird ein Ereigniß ohne Gleichen, <nic>ht etwa ein litterarisches,sondern ein alles Bestehende Erschütternde<s>. Es ist möglich, daß es dieZeitrechnung verändert. —

Die in den Händen von Fr<itzsch> befindliche Litteratur müßte so schnellwie möglich in I h r e Hände übergehn, bevor F<ritzsch> einen Begriff davon

bekommt, w a s er an ihr hat. Schon die G ö t z e n - D ä m m e r u n g ist daringefährlich. Ich weiß im Augenblick nicht, wie ich die von ihm verlangte Summebeschaffe, — vielleicht gelingt es Ihnen, dieselbe etwas zu verringern.

Ihr ergebensterDr. Nietzsche

Anbei ein Nachtrag zum E. h., — es wird noch mehr kommenDies Papier, worauf ich schreibe, gefällt mir am besten.

1159. An Paul Deussen in Berlin

T o r i n o , via Carlo Alberto6,III

am 26. Nov. 88Lieber Freund,

ich habe nöthig, in einer Sache allerersten Rangs mit Dir zu reden. Mein Lebenkommt jetzt auf seine Höhe: noch ein paar Jahre, und die Erde zittert von einemungeheuren Blitzschlage. — Ich schwöre Dir zu, daß ich die Kraft habe, dieZ e i t r e c h n u n g zu verändern. — Es giebt Nichts, das heute steht, was nichtumfällt, ich bin mehr Dynamit als Mensch. — Meine U m w e r t h u n g a l l e rW e r t h e , mit dem Haupttitel „der Antichrist“ ist fertig. In den nächsten zweiJahren habe ich die Schritte zu thun, um das Werk in 7 Sprachen übersetzen zulassen; die e r s t e Auflage in jeder Sprache c. eine Million Exemplare. — Bisdahin erscheint noch von mir:

1) G ö t z e n - D ä m m e r u n g . Oder: w i e m a n m i t d e mH a m m e r p h i l o s o p h i r t . Das Werk ist fertig, ich habe gestern denAuftrag gegeben, daß Dir eins der ersten Exemplare zugeht. Lies es, ich bitteDich, mit dem tiefsten Ernste, wie sehr es auch immer im Verhältniß zu dem,was kommt, ein heiteres Buch ist.

2) E c c e h o m o . Wie man wird, was man ist. Dies Buch handelt nur vonmir, — ich trete zuletzt darin mit einer welthistorischen Mission auf. Es istbereits im Druck. — Darin wird zum ersten Mal Licht über meinenZ a r a t h u s t r a gemacht, das erste Buch aller Jahrtausende, die Bibel derZukunft, der höchste Ausbruch des menschlichen Genius, in dem das Schicksalder Menschheit einbegriffen ist. — Und hier kommt mein A n l i e g e n ,dessenthalben ich schreibe.

Ich will meinen Zarathustra z u r ü c k aus den Händen von E. W. Fritzsch,ich will meine ganze Litteratur selbst in den Händen haben, als derenAlleinbesitzer. Sie ist nicht nur ein ungeheures Vermögen, denn meinZarathustra wird wie die Bibel gelesen werden, — sie ist einfach in den Händen

von E. W. Fritzsch nicht mehr möglich. Dieser unsinnige Mensch hat mich ebenjetzt in meiner E h r e beleidigt: ich kann gar nicht anders, ich muß ihm dieBücher wegnehmen. Auch habe ich schon mit ihm verhandelt: er will für meineganze Litteratur c. 10,000 Thaler. Zum Glück hat er nicht den geringsten Begriffdavon, w a s er besitzt. — In summa: ich brauche 10,000 Thaler. Denke nach,alter Freund! Ich will nichts geschenkt, es handelt sich um ein Anleihen zu jedenZinsen, die gewünscht werden. Ich habe übrigens keinen Pfennig Schulden,besitze einige Tausende noch zum Verbrauchen und bin durch meine BaslerPension außer Sorge. (— Die „G ö t z e n - D ä m m e r u n g und der „E c c eh o m o “ werden mit einem gewissen Gelde gedruckt, das irgend ein Wundermir seiner Zeit aus Berlin zukommen ließ.) Nur müßte das Geld mir bald zuGebote stehn, bevor nämlich F<ritzsch> eine Witterung bekommt, w a s er hat.Dann würde ich Alles beieinander in den Händen des vertrauenswürdigenNaumann in Leipzig haben.

Dein Freund Nietzsche(— mit bestem Gruß an die „tapfere Kameradin“ —)

K a r t e aus Madrid erhalten. — Meine Gesundheit ist jetzt wundervoll, ichbin dem Stärksten gewachsen, — Du würdest Deinen Ohren nicht trauen, wennDu hörtest, daß die 3 genannten U n g e h e u e r v o n B ü c h e r n zwischendem 24 August und 4 Nov. entstanden sind!1160. An August Strindberg in Holte

T o r i n o , Via Carlo Alberto, 6, IIIden 27. November 1888.

Hochgeehrter Herr,

ich denke, unsre Sendungen haben sich gekreuzt? — Ich las zwei Mal mit tieferBewegung Ihre Tragödie; es hat mich über alle Maaßen überrascht, ein Werkkennen zu lernen, in dem mein eigner Begriff von der Liebe — in ihren Mittelnder Krieg, in ihrem Grunde der Todhaß der Geschlechter — auf eine grandioseWeise zum Ausdruck gebracht ist.

— Aber dies Werk ist ja prädestinirt, jetzt in Paris im théâtre libre des Ms.Antoine aufgeführt zu werden! F o r d e r n Sie das einfach von Zola! ImAugenblick legt er großen Werth darauf, daß man sich seiner erinnert. —

— Ich bedaure im Grunde die Vo r r e d e , obwohl ich sie nicht missenmöchte: sie enthält lauter unbezahlbare Naivetäten. Daß Z<ola> nicht „für dieAbstraktion“ ist, erinnert mich an einen deutschen Übersetzer eines Romans vonDostoiewsky, der auch nicht „für die Abstraktion“ war: er hatte „des raccourcisd’analyse“ einfach weggelassen, — sie „genirten“ ihn… Und daß Z<ola> Typen

nicht von „êtres de raison“ auseinander zu halten weiß! daß er den état civilcomplet für die Tragödie verlangt! Aber fast geschüttelt vor Lachen habe ichmich, als er zuletzt gar eine R a s s e n -Frage daraus macht! So lange esüberhaupt Geschmack in Frankreich gab, hat man immer aus Rassen-Instinktgerade das abgelehnt, was Zola will: gerade la race latine p r o t e s t i r t gegenZola. Zuletzt ist er ein moderner I t a l i ä n e r , — er huldigt dem verismo…

In aufrichtiger HochschätzungIhr

Nietzsche.1161. An Constantin Georg Naumann in Leipzig (Postkarte)

<Turin, 27. November 1888>

Geehrtester Herr Verleger, ich werde Sie bitten müssen, den zweiten Theil desMs. mir noch einmal zurückzuschicken, da ich Einiges noch hineinlegen will.Es könnte sonst Confusion geben. Also die ganze z w e i t e Hälfte des Ms. vondem Abschnitt an, der als Überschrift hat: A l s o s p r a c h Z a r a t h u s t r a .Ich nehme an, daß dies im Druck keinen Augenblick Verzögerung macht, da ichdas Ms. unmittelbar zurückschicke, und zunächst noch eine Menge Ms. inArbeit ist — Zur Beschaffung des G e l d e s für F<ritzsch> habe ich gesternnoch einen Schritt gethan: ich gebe Ihnen Auskunft, wenn er Erfolg hat.

Ergebenst Dr. Nietzsche1162. An Unbekannt (Entwurf)

Torino, via Carlo Alberto 6 IIIden 27. Nov.

1888

Hochge<e>h<rter> <Herr>

ich komme aus hundert Abgründen, in die noch kein Blick sich gewagt, ichkenne Höhen, wohin kein Vogel sich verflog, ich habe am Eis gelebt, — ich binverbrannt worden von hundert Schneen: es scheint mir, daß warm und kalt inmeinem Munde andere Begriffe sind1. R u h m und E w i g k e i t .2. L e t z t e r W i l l e .3. Z w i s c h e n R a u b v ö g e l n4. D a s F e u e r z e i c h e n5. D i e S o n n e s i n k t .6. Vo n d e r A r m u t d e s R e i c h s t e n .

1 essay(s) in Contexta1163. An Franz Overbeck in Basel (Postkarte)

<Turin,> 29. Nov. 88

Lieber Freund,

sehr gute Nachrichten aus Berlin. Die Aufführung des „provençalischenQuartetts“ (mir gewidmet) durch Joachim selbst wahrscheinlich geworden. InAnbetracht, daß J<oachim> bloß klassische Musik in seinen Quartetten aufführt,eine Auszeichnung ersten Ranges. Auch de Ahna ist entzückt. — Der RivalK<öselitz>’s in puncto puncti ist ein junger Graf S c h l i e b e n — leider einganz hoffnungsloser Rival…

Eine andere Neuigkeit. Das schwedische Genie Strindberg hält mich für dengrößten Psychologen des — Ewig-Weiblichen. Er hat mir seine Tragödie „Père“(mit begeisterter Vorrede Zola’s) geschickt, die in der That meine Definition derL i e b e (— sie steht z. b. im Fall Wagner) auf eine grandiose Art zumAusdruck bringt. Ich bemühe mich eben darum, das Werk im t h é a t r e l i b r ein Paris aufführen zu lassen.

N.1164. An Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig

Torino, via Carlo Alberto 6, III30. Nov. 1888

Geehrter Herr,

Alles wohl erwogen, kann ich auf diesen Preis nicht eingehn. Ich habeinzwischen den Versuch gemacht, Herrn C. G. Naumann für den Ankauf desVerlags zu interessiren. Aber er will jetzt nichts davon wissen, da er zu sehr inandre Unternehmungen engagirt ist. An sich wäre es mir angenehm, wennmeine gesammte Litteratur in Einer Hand wäre: es versteht sich von selbst, daßich darauf hin zu einem Opfer bereit wäre (— meine Bücher sind für michselber ein curios kostspieliger Luxus bis jetzt gewesen —): nur kann ichunmöglich so viel bewilligen, als Sie verlangen. —

Ergebenst Dr. Nietzsche1165. An Paul Deussen in Berlin (Telegramm)

<Turin, 30. November 1888>

deussen kurfuerstendamm 142 berlinmark nicht thaler brief abwarten = nietzsche

1166. An Paul Deussen in Berlin (Postkarte)

Torino, via Carlo Alberto 6, III<30. November 1888>

Lieber Freund,

schnell ein Paar Worte zur Erleichterung. Es wird möglich sein, meine Schriftenzu einem viel niedrigren Preis zu erwerben: ich bin jetzt schon bei 11,000Mark.Vielleicht handle ich noch mehr herunter. Erwarte also erst von mird e f i n i t i v e Nachricht.

Dein Nietzsche1167. An Constantin Georg Naumann in Leipzig (Postkarte)

<Turin,> 1. Dezember, bezauberndes Frühlingswetter <1888>

Geehrter Herr,

soeben kam das Ms. in meine Hände; da aber demselben die zugehörigenN a c h t r ä g e nicht beiliegen, so wäre meine Arbeit daran jetzt umsonst, eswürde eine große Confusion abgeben. Unter diesen Umständen bitte ich mir dasg a n z e Ms. noch einmal zurück, von Anfang an, selbst wenn schon Etwasgedruckt sein sollte; ebenfalls alles später Geschickte. Ich will Ihnen ein M.liefern so gut wie das letzte, auf die Gefahr hin, daß ich noch eine Woche denAbschreiber mache. Z e i t zu verlieren ist ja nicht dabei; aber ein Monat früheroder später ist einerlei. — An F r i t z s c h habe ich geschrieben, in IhremSinne; sehr dankbar für diesen gewiß nützlichen Wink!

Ergebenst N.1168. An Heinrich Köselitz in Berlin

<Turin> 2. Dez. 88.

Sonntag Nachmittag, nach 4 Uhr, unbändig schöner Herbsttag. Ebenzurückgekommen von einem großen Concert, das im Grunde der s t ä r k s t eConcert-Eindruck meines Lebens ist — mein Gesicht machte fortwährendeGrimassen, um über sein extremes Vergnügen hinwegzukommen, eingerechnet,für 10 Minuten, die Grimasse der Thränen. Ach, daß Sie nicht dabei waren! ImGrunde war’s die Lektion von der Operette auf die M u s i k übertragen. Unsre90 ersten Musiker der Stadt; ein ausgezeichneter Dirigent; das größte Theatervon hier mit herrlicher Akustik; 2500 Zuhörer, Alles, ohne Ausnahme, was hierin Musik mitlebt und mitredet. Pubblico s c e l t i s s i m o , aufrichtig: ich hattenirgendswo noch das Gefühl, daß dermaaßen nuances verstanden wurden. Es

waren lauter e x t r e m r a f f i n i r t e Sachen, und ich suche vergebens nacheinem intelligenteren Enthusiasmus. Nicht Eine Zuthat an einen Durchschnitts-Geschmack. — Anfang E g m o n t - O u v e r t ü r e — sehen Sie, dabei dachteich nur an Herrn Peter Gast… Darauf Schubert’s Ungarischer Marsch (aus demMoment musical), prachtvoll von Liszt auseinandergelegt und instrumentirt.Ungeheurer Erfolg, da capo. — Darauf Etwas für das ganze Streichorchesterallein: nach dem 4ten Takte war ich in Thränen. Eine vollkommen himmlischeund tiefe Inspiration, von wem? von einem Musiker, der 1870 in Turin starb,Rossaro — ich schwöre Ihnen zu, Musik allerersten Ranges, von einer Güte derForm u n d d e s H e r z e n s , die meinen ganzen Begriff vom Italiänerverändert. Kein sentimentaler Augenblick — ich weiß nicht mehr, was „große“Namen sind… Vielleicht bleibt das Beste unbekannt. — Folgte: S a k u n t a l a -Ouvertüre, achtmaliger Beifallssturm. Alle Teufel, dieser G o l d m a r k ! Dashatte ich ihm nicht zugetraut. Diese Ouvertüre ist hundert Mal besser gebaut alsirgend etwas von Wagner und psychologisch so verfänglich, so raffinirt, daß ichwieder die Luft von Paris zu athmen begann. Curios: es fehlt die musikalische„Gemeinheit“ so sehr, daß mir die Tannhäuser-Ouvertüre wie eine Zote vorkam.Instrumental durchdacht und ausgerechnet, lauter Filigran. — Jetzt wiederEtwas für Streichorchester allein „cyprisches Lied“ von Vilbac, wieder dasÄußerste von delicatesse der Erfindung und der Klangwirkung, wiederungeheurer Erfolg und da capo, obschon ein langer Satz. — Endlich: P a t r i e !Ouvertüre von Bizet. Was wir gebildet sind! Er war 35 Jahre, als er dies Werk,ein langes sehr dramatisches Werk, schrieb, Sie sollten hören, wie der kleineMann h e r o i s c h wird…

E c c o ! Kann man sich besser e r n ä h r e n lassen? Und ich habe 1 fr.Eintritt gezahlt…

Heute Abend F r a n c e s c a d a R i m i n i im Carignano: ich legte demletzten Brief einen Bericht darüber bei. Der Componist Cagnoni wird zugegensein. —

Es scheint mir nachgerade, daß Turin auch im Musik-Urtheil, wie sonst, dies o l i d e s t e Stadt ist, die ich kenne.

Ihr Freund N.Druckbogen werden jetzt wohl noch ausbleiben: ich habe gestern das ganze

Manuscript noch einmal zurückverlangt. — Fritzsch will 10 000 Mark, nichtThaler. — Die Auflagen sind s e h r c o m p l e t .1169. An Constantin Georg Naumann in Leipzig (Telegramm).

<Turin, 6. Dezember 1888>

C. G. Naumann Leipzig

Ms. zurück. Alles umgearbeitet1170. An Georg Brandes in Kopenhagen (Entwurf)

<Turin, Anfang Dezember 1888>

Werther Freund, ich halte für nöthig, Ihnen ein paar Dinge aller ersten Rangsmitzutheilen: geben Sie Ihr Ehrenwort drauf, daß die Geschichte unter unsbleibt. Wir sind eingetreten in die große Politik, sogar in die allergrößte… Ichbereite ein Ereigniß vor, welches höchst wahrscheinlich die Geschichte in zweiHälften spaltet, bis zu dem Punkte, daß wir eine neue Zeitrechnung habenwerden: von 1888 als Jahr Eins an. Alles, was heute oben auf ist, Triple-Allianz,sociale Frage geht vollständig über in eine Individuen-Gegensatz-Bildung: wirwerden Kriege haben, wie es keine giebt, aber n i c h t zwischenNationen,n i c h t zwischen Ständen: Alles ist auseinander gesprengt, — ich bindas furchtbarste Dynamit, das es giebt. — Ich will in 3 Monaten Aufträge zurHerstellung einer M a n u s c r i p t -Ausgabe geben von |„Der A n t i c h r i s t .Umwerthung aller Werthe“|, sie bleibt vollkommen geheim: sie dient mir alsAgitations-Ausgabe. Ich habe Übersetzungen in alle europäischenHauptsprachen nöthig: wenn das Werk erst heraus soll, so rechne ich eineMillion Exemplare in jeder Sprache als e r s t e Auflage. Ich habe an Sie für diedänische, an Herrn Strindberg für die schwedische Ausgabe gedacht. — Da essich um einen Ve r n i c h t u n g s s c h l a g gegen das C h r i s t e n t h u mhandelt, so liegt auf der Hand, daß die einzige internationale Macht, die einInstinkt-Interesse an der Vernichtung des Christenthums hat, die J u d e n sind— hier giebt es eine Instinkt-Feindschaft, nicht etwas „Eingebildetes“ wie beiirgend welchen „Freigeistern“ oder Socialisten — ich mache mir den Teufel wasaus Freigeistern. Folglich müssen wir aller entscheidenden Potenzen dieserRasse in Europa und Amerika sicher sein — zu alledem hat eine solcheBewegung das Großcapital nöthig. Hier ist der einzige natürlich vorbereiteteBoden für den größten Entscheidungs-Krieg der Geschichte: das Übrige vonAnhängerschaft kann erst nach dem Schlage in Betracht gezogen werden. Dieseneue Macht, die sich hier bilden wird, dürfte im Handumdrehn die ersteW e l t m a c h t sein: zugegeben daß zunächst die h e r r s c h e n d e n Ständedie Partei des Christenthums ergreifen, so ist die Axt ihnen insofern an dieWurzel <gelegt>, als gerade alle starken und lebendigen Individuen aus ihnenu n b e d i n g t a u s s c h e i d e n w e r d e n . Daß alle geistig ungesundenRassen im Christenthum den Glauben der Herrschenden bei dieser Gelegenheitempfinden,f o l g l i c h für die Lüge Partei nehmen werden, das zu errathen

braucht man nicht Psycholog zu sein. Das Resultat ist, daß hier das Dynamit alleHeeresorganisation alle Verfassung sprengt: daß die Gegnerschaft nicht Anderesconstituirt und auf Krieg ungeübt dasteht. Alles in Allem, werden wir dieOffiziere in ihren Instinkten für uns haben: daß es im aller höchsten Gradu n e h r e n h a f t , f e i g e , u n r e i n l i c h ist, Christ zu sein, dies Urtheilträgt man unfehlbar aus meinem „Antichrist“ mit sich fort. — (Zunächsterscheint das „Ecce homo“ von dem ich sprach, worin das letzte Capitel einenVorgeschmack giebt, w a s b e v o r s t e h t , und wo ich selbst als Mensch desVerhängnisses auftrete…) Was den deutschen Kaiser betrifft, so kenne ich dieArt, solche braunen Idioten zu behandeln: das giebt einem wohlgerathenenOffizier das Maß ab. Friedrich der Große war besser, der wäre sofort in seinemElemente. — Mein Buch ist wie ein Vulkan, man hat keinen Begriff aus derbisherigen Litteratur, was da gesagt wird, und wie die tiefsten Geheimnisse dermenschlichen Natur plötzlich mit entsetzlicher Klarheit herausspringen. Es giebteine Art darin, das Todesurtheil zu sprechen, die vollkommen übermenschlichist. Und dabei weht eine grandiose Ruhe und Höhe über das Ganze — es istwirklich ein W e l t g e r i c h t , obwohl Nichts zu klein und versteckt ist, washier nicht gesehen und ans Licht gezogen werde. Wenn Sie endlich das Gesetzg e g e n das Christenthum unterzeichnet, der „Antichrist“ lesen, das den Schlußmacht, wer weiß, so schlottern vielleicht selbst Ihnen, fürchte ich, dieGebeine…

Das Gesetz gegen das Christenthum hat als Überschrift: T o d k r i e g d e mL a s t e r : d a s L a s t e r i s t d a s C h r i s t e n t h u m

Der erste Satz: Lasterhaft ist jede Art Widernatur; die lasterhafteste ArtMensch ist der Priester: der l e h r t die Widernatur. Gegen den P<riester> hatman nicht Gründe, man hat das Zuchthaus nöthig.

Der vierte (Satz) Die Predigt der Keuschheit ist eine öffentliche Aufreizungzur Widernatur. Jede Verachtung des geschlechtlichen Lebens, jedeVerunreinigung desselben durch den Begriff „unrein“ ist die eigentliche Sündegegen den heiligen Geist des Lebens.

Der 6. Satz heißt Man soll die heilige Geschichte nennen mit dem Namenden sie verdient, als v e r f l u c h t e Geschichte; man soll die Worte „Gott“„Heiland“ „Erlöser“ „Heiliger“ zu Schimpfworten, zu Verbrecher-Abzeichenbenutzen.

Umwerthung aller Werthe? Da wird erst — — —S i e g e n w i r , so haben wir die Erdregierung in den Händen — den

Weltfrieden eingerechnet… Wir haben die absurden Grenzen der Rasse Nationund Stände überwunden: es giebt nur noch Rangordnung zwischen Mensch und

Mensch und zwar eine ungeheure lange Leiter von Rangordnung.Da haben Sie das erste welthistorische Papier: G r o ß e Politik par

excellence.NB. Suchen Sie mir einen Meister als ersten Übersetzer — ich kann nur

Meister der Sprache brauchen.1171. An Kaiser Wilhelm II (Entwurf)

<Turin, Anfang Dezember 1888>

Ich erweise hiermit dem Kaiser der Deutschen die höchste Ehre, die ihmwiderfahren kann, eine Ehre, die um so viel mehr wiegt, als ich dazu meinentiefen Widerwillen gegen Alles, was deutsch ist, zu überwinden habe: ich legeihm das e r s t e Exemplar eines Werks in die Hand, mit dem sich die Nähe vonetwas Ungeheurem ankündigt — von einer Crisis, wie es keine a<uf> Erdengab, von der tiefsten Gewissens-Collision innerhalb der Menschheit, von einerEntscheidung heraufbeschworen g e g e n Alles, was bisher geglaubt, gefordert,geheiligt worden war. — Und mit Alledem ist Nichts in mir von einemFanatiker: wer mich kennt, hält mich für einen schlichten, höchstens ein wenigboshaften Gelehrten, der mit Jedermann heiter zu sein weiß. Diese Schrift giebtwie ich hoffe ein ganz anderes Bild als von einem „Propheten“: und trotzdemoder vielmehr n i c h t trotzdem — denn alle Propheten waren bisher Lügner —redet aus mir die W a h r h e i t . — Aber meine Wahrheit ist f u r c h t b a r : dennman hieß bisher die L ü g e Wahrheit… U m w e r t h u n g a l l e r W e r t h e :das ist meine Formel für einen Akt höchster Selbstbesinnung der Menschheit, —mein Loos will es, daß ich tiefer, muthiger,r e c h t s c h a f f e n e r in die Fragenaller Zeiten hinunter<zu>blicken wußte als je ein Mensch bisher. Ich forderenicht das, was jetzt lebt heraus, ich fordere mehrere Jahrtausende gegen michheraus: ich widerspreche und bin trotzdem der Gegensatz einesn e i n s a g e n d e n Geistes… Es giebt neue Hoffnungen, es giebt Ziele,Aufgaben von einer Größe für die der Begriff bis jetzt fehlte: ich bin einf r o h e r B o t s c h a f t e r par excellence, wie sehr ich auch immer derMensch des Verhängnisses sein muß… Denn wenn dieser Vulkan in Thätigkeittritt, so haben wir Convulsionen auf Erden wie es noch keine gab: der BegriffPolitik ist gänzlich in einen Geisterkrieg aufgegangen, alle Macht-Geb<ilde>sind in die Luft gesprengt, — es wird Kriege geben, wie es noch nie Kriege gab.—1172. An Kaiser Wilhelm II (Entwurf)

<Turin, Anfang Dezember 1888>

Ich erweise hiermit dem Kaiser der Deutschen die höchste Ehre, die ihmwiderfahren kann, — ich überreiche ihm das erste Exemplar des Werks, in demdas Schicksal der Mh. sich entscheidet. Ein Augenblick tiefster Selbstbesinnunghebt hiermit an, — die Folgen werden ungeheuer, sie werden selbst furchtbarsein: und ein Weg im Gleichgewicht aller ist zunächst widerlegt. Zum Glückauch eine g r o s s e E n t s c h e i d u n g , ein neuer M<en>s<ch>, einW i s s e n um das Ziel…

Friedrich Nietzsche1173. An Otto von Bismarck (Entwurf)

<Turin, Anfang Dezember 1888>

Seiner Durchlaucht dem Fürsten Bismarck.Ich erweise dem ersten Staatsmann unsrer Zeit die Ehre, ihm durchÜberreichung des e r s t e n Exemplars von „Ecce homo“ meine Feindschaftanzukündigen. Ich lege ein zweites Exemplar bei: dasselbe in die Hände desjungen deutschen Kaisers zu legen, wäre die einzige Bitte, die ich jemals an denFürsten Bismarck zu stellen gesonnen bin. —

Der AntichristFriedrich Nietzsche.

FromentinT u r i n , via Carlo Alberto 6, III

Zuletzt, um nichts halb zu thun, muß es mir nachgesehen werden, wenn ichnoch zwei Exemplare meines letzterschienenen Werks beilege: in dem selbensind die wissenschaftlichen Voraussetzungen meiner Denkweise mit aller nurwünschbaren Deutlichkeit ausgesprochen.1174. An Constantin Georg Naumann in Leipzig

<Turin, 6. Dezember 1888>

H e r r n C . G . N a u m a n n . Hiermit kommt das Ms. zurück; es ist jetztAlles in vollkommner Ordnung; auch wird Nichts mehr meinerseits geändert.Ich verhandle eben wegen einer f r a n z ö s i s c h e n und e n g l i s c h e nÜbersetzung, die zu gle<iche>r Zeit erscheinen müßte. Zu diesem Zweckewürden wir von jedem fertigen Bogen Exemplare zu versenden haben. Über dieZahl der Exemplare überhaupt kann ich heute noch nichts bestimmen. Vielleichtmachen wir zwei Auflagen; eine kleine (c. 1000) auf dem guten Papier und eineweit größere mit andrem Papier. —

— Ich bekomme eben ein wahres Huldigungs-Schreiben von einer der ersten

Frauen der St. Petersburger Gesellschaft: ich möchte gern, zum Dank dafür, einExemplar der G ö t z e n - D ä m m e r u n g , möglichst bald in ihren Händenwissen. Adresse: Madame la Princesse Anna Dmitriewna Ténicheff

Quai Anglais 20 St. Petersbourg.<D>ruckgang wie gewöhnlich. Herr Köselitz ist noch in Berlin (— habe ich

unter den Freiexemplaren eins auch für Dr. Carl Fuchs in Danzig bestimmt? —)Was haben Sie über die buchhändlerische Versendung der G. D.

beschlossen? Noch w a r t e n ? —1175. An Emily Fynn in Genf

Torino, Via Carlo Alberto. 6. XII. 1888.

Verehrteste Frau,

wo werden Sie mich suchen? Gewiß nicht so nah, in meiner Residenz Turin, dieich ein für alle Mal, auch für die Winter, gewählt habe. Ich kann nichtausdrücken, wie sehr mir hier Alles wohl thut — ich habe keinen Ort gesehen,der meinen innersten Instinkten so entgegen käme. Großstadt, und dabei still,vornehm, mit einem ausgezeichneten Schlag von Menschen in jeder Classe derGesellschaft. Wir haben den düsteren Pomp eines großen Begräbnißes gehabt:es galt einem der verehrtesten Piemontesen, dem Conte di Robilant. Und wennmir Turin gefällt, ich weiß nicht wie es zugeht; man behandelt mich hier miteiner ausgesuchten Délicatesse.

Unter diesen Umständen hat sich mein Befinden geradezu wunderbarverbessert; ich gehe hier mit einem heiteren Stolze durch das Leben, daß Sieweder die Höhle, noch den Höhlenbär erkennen würden —

Ich freue mich unter andern Glücksgütern auch eines klassischen Schneiders.Ach wenn man mich nur nicht „verdirbt“! Was für Briefe kommen jetzt aus allerWelt zu mir! Vorgestern ein Brief aus St. Petersburg, von einer charmanten undsehr gescheuten Russin. Mad. la princesse Anna Dmitriewna Tenischeff. Mansagt mir, daß die Feinschmecker der russischen Gesellschaft meine Büchermögen, zum Beispiel Fürst Urussow. Leider sind einige v e r b o t e n …

Heute kam ein Brief von einem Schweden A. Strindberg, einem wirklichenGenie, dessen Tragödie „Père“, selbst die Nerven Zola’s erschüttert haben soll.Der schwört ganz einfach auf mich und endet alle Briefe an alle Welt: „LisezNietzsche! c’est mon Carthago est delenda!“

Ich denke, Sie haben dasselbe sublime Wetter, das wir seit September hierhaben? Es scheint mir, daß ich in einem unendliehen Claude Lorr<a>in vonFarben lebe. Auch habe ich in meinem ganzen Leben zusammengenommennicht so viel g e s c h a f f e n als hier in den letzten 20 Tagen — wer weiß!

lauter Dinge ersten Ranges… Und ohne einen Schatten von Ermüdung,vielmehr bei vollkommener Heiterkeit und g u t e r K ü c h e .

Auch sind wir hier musikalisch sehr raffinirt. Im letzten Concert lauter feineSachen, zum Beispiel: Patrie! von Bizet, dann Sakuntala, Ouvertüre vonGoldmark. „Cyprisches Lied“ für Orchester von R. de Vilbac und etwas vomAllerschönsten und Rührendsten, das ich überhaupt gehört, so daß ich zehnMinuten ohne jeden Erfolg gegen die Thränen kämpfte — von wem? von einemTuriner Musiker, der 1872 starb. Rossaro…

Sollten die allerbesten Dinge unbekannt bleiben? die allerbesten Menscheneingerechnet! Gehört es zum W e s e n des Vollkommenen nicht „berühmt“ zuwerden? — R u h m — ich fürchte man muß ein wenig canaille sein, umberühmt zu werden.

Sie würden mich, verehrteste Frau sehr verbinden, wenn Sie mir die genaueAdresse von Miß Helen Zimmern geben wollten.

Mich Ihnen Allen auf das Herzlichste empfehlend und Ihrer ausgezeichnetenFreundin, der ich meine besten Wünsche zu Füßen lege, einen Winterwünschend w i e w i r i h n h a b e n .

In freundschaftlicher VerehrungNietzsche, Unthier…

1176. An August Strindberg in Holte

Torino, via Carlo Alberto 6, III.den 8. Dezember 1888.

Sehr lieber und werther Herr,

ist ein Brief von mir verloren gegangen? Ich habe sofort nach der z w e i t e nLektüre Ihnen geschrieben, tief ergriffen von diesem Meisterstückh a r t e r Psychologie; ich habe insgleichen Ihnen die Überzeugung ausgedrückt,daß Ihr Werk prädestinirt ist, j e t z t in Paris aufgeführt zu werden, im théatrelibre des Ms. Antoine, — Sie sollten das von Zola einfach f o r d e r n ! —

— Der h e r e d i t ä r e Verbrecher decadent, selbst Idiot — kein Zweifel!Aber die Geschichte der Verbrecher-Familien, für die der Engländer Galton(„the hereditary genius“) das größte Material gesammelt hat, führt immer aufeinen z u s t a r k e n Menschen für ein gewisses sociales niveau zurück. Derletzte große Pariser Criminalfall Prado gab den klassischen Typus: Prado warseinen Richtern, seinen Advokaten selbst durch Selbstbeherrschung, esprit undÜbermuth überlegen; trotzdem hatte ihn der D r u c k der Anklagephysiologisch schon so heruntergebracht, daß einige Zeugen ihn erst nach altenPorträts wiedererkannten. —

Jetzt aber fünf Worte unter uns, s e h r unter uns! Als gestern mich Ihr Brieferreichte — der erste Brief in meinem Leben, der mich e r r e i c h t hat — warich gerade mit der letzten Manuscript-Revision von „E c c e h o m o “ fertiggeworden. Da es in meinem Leben keinen Zufall mehr giebt, so sind Siefolglich auch kein Zufall. Warum schreiben Sie Briefe, die in einem solchenAugenblick eintreffen!… E c c e h o m o soll in der That deutsch, französischund englisch zugleich erscheinen. Ich habe gestern das Manuscript noch anmeinen Drucker geschickt; sobald ein Bogen fertig wird, muß er in die Händeder Herrn Übersetzer. W e r s i n d d i e s e n Ü b e r s e t z e r ? Aufrichtig, ichwußte nicht, daß Sie selber für das ausgezeichnete Französisch Ihres Pèreverantwortlich sind; ich glaubte an eine meisterhafte Übersetzung. Für den Fall,daß Sie selbst die französische Übersetzung in die Hand nehmen wollten, wüßteich mich nicht glücklich genug zu schätzen über dies Wunder eines sinnreichenZufalls. Denn, unter uns, meinen „Ecce homo“ zu übersetzen, bedarf es einesDichters ersten Rangs; es ist im Ausdruck, im raffinement des Gefühls, tausendMeilen jenseits aller bloßen „Übersetzer“. Zuletzt ist es kein dickes Buch; ichnehme an, es wird in der franz. Ausgabe (vielleicht bei L e m e r r e , demVerleger Paul Bourgets? —) gerade einen solchen Band für 3 frs. 50 machen.Da es vollkommen unerhörte Dinge sagt und mitunter, in aller Unschuld, dieSprache eines W e l t r e g i e r e n d e n redet, so übertreffen wir durch Zahl derAuflagen selbst Nana… Andrerseits ist es a n t i d e u t s c h bis zur Vernichtung;die Partei der f r a n z ö s i s c h e n Cultur wird durch die ganze Geschichtehindurch festgehalten (— ich behandele die deutschen Philosophen allesammtals „unbewußte“ Falschmünzer, ich nenne den jungen Kaisereinens c h a r l a c h n e n M u k k e r …) Auch ist das Buch nicht langweilig, —ich habe es mitunter selbst im Stil „Prado“ geschrieben.. Um mich gegendeutsche Brutalitäten („Confiscation“ —) sicher zu stellen, werde ich diee r s t e n Exemplare, vor der Publikation, dem Fürsten Bismarck und demjungen Kaiser mit einer brieflichen K r i e g s e r k l ä r u n g übersenden: daraufd ü r f e n Militärs nicht mit Polizei-Maßregeln antworten. — Ich bin einP s y c h o l o g e …

Erwägen Sie, verehrter Herr! Es ist eine Sache allerersten Ranges. Denn ichbin stark genug dazu, die Geschichte der Menschheit in zwei Stücke zuzerbrechen. —

Bliebe die Frage der e n g l i s c h e n Übersetzung. Wüßten Sie einenVorschlag dafür? — Ein a n t i d e u t s c h e s Buch in England…

Sehr ergebenIhr

Nietzsche.1177. An Meta von Salis auf Marschlins (Entwurf)

<Turin, um den 8. Dezember 1888>

Verehrtes Fräulein

ich sende Ihnen hiermit etwas S t u p e n d e s , aus dem Sie ungefähr errathenwerden, daß der alte Gott abgeschafft ist, und daß ich selber alsbald die Weltregieren werde.

Es sind 2 Exemplare; Sie dürfen Eines von diesen an Malvida schicken, dochohne die geringste Spur davon, daß ich im Hintergrund der Sendung stehe —Sie dürfen insgleichen, Falls Sie ihr ein Paar Worte dazu schreiben wollen, michdarin „den ersten Menschen aller Jahrtausende“ nennen. Erstens ist es wahr,zweitens macht es einen wundervollen Contrast-Effekt, da Malvida in ihremletzten Brief an mich schrieb, „sie lächle über mich“…1 essay(s) in Contexta1177a. An Malwida von Meysenbug in Paris (Entwürfe)

<Turin, um den 8. Dezember 1888>

Es ist ja aus jedem Wort meiner Schr<ift> über Wagner Etwas zu lernen: undSie haben das Recht, als eine Wagner- [— — —], dagegen zu reden. Ich zieheeinen solchen Brief bei weitem Ihrer Güte vor. Es ist meiner unwürdig, einenzweideutigen Verkehr noch länger aufrecht zu erhalten — ich habe meineGeduld auch ganz geboten: Jemand der an mich u n d zugleich an Wagnerfesthalten will, darf billigerweise von mir abgelehnt werden. Sie haben sich jabisher nur für décadents interessiert. Sie gehören dazu: — erlauben Sie mir,Ihnen u n interessant zu sein…

Sie gehören zu den [—] Begegnungen meines Lebens, Sie haben Allesübertroffen, was ich Schlechtes von W<agner> erlebt habe. Und doch habe ichmit Niemandem länger Geduld gehabt! Sich an dem ersten M<enschen> allerJahrtausende vergreifen, in dessen entscheidendem Augenblick — und ich habeIhnen gesagt, daß es dieser Augenblick sei.1178. An Anna Dmitriewna Tenischeff in Petersburg (Entwurf)

<Turin, um den 8. Dezember 1888>

Verehrte Frau,

In diesem Augenblick, wo eine ungeheure Aufgabe mich gleichsam heraustreibtaus menschl<icher> Beziehung und meine Einsamkeit mit jeder Stimme anmich tritt, ist ein so bedeutendes Wort aus weiter Ferne eine große Linderung

ich danke Ihnen auf das Dankbarste dafür. Als Antwort habe ich mir da erlaubt,eine kleine, aber über die Maaßen s u b s t a n z reiche Schrift den Weg nach St.Petersburg machen zu lassen: sie heißt Götzend<ämmerung> oder wie man<mit> dem Hammer philosophirt. Hoffentlich erlebt sie kein Unglück — an derGrenze…1179. An Hippolyte Taine in Paris (Entwurf)

<Turin, 8. Dezember 1888>

Verehrter Herr

das Buch, das in Ihre Hände zu legen ich mir den Muth nehme, ist vielleicht dasradikalste Buch, das bisher geschrieben wurde — und in Hinsicht auf das, wases v o r b e r e i t e t , beinahe ein Stück Schicksal. Es wäre mir vonunschätzbarem Werthe, wenn dasselbe f r a n z ö s i s c h gelesen werden könnte:ich habe meine Leser jetzt in aller Welt, nebenbei auch in Rußland, ich binunglücklich, deutsch zu schreiben, obgleich <ich> es vielleicht besser schreibe,als je es ein Deutscher schrieb. Zuletzt werden die Franzosen aus dem Buche diet i e f e S y m p a t h i e heraushören, die sie verdienen: ich habe in allen meinenInstinkten Deutschland den Krieg erklärt (— p. 58 ein eigner Abschnitt „Wasden Deutschen abgeht“)…

Ein Wink darüber, an wen ich vielleicht Exemplare zu senden hätte?… Einevollkommene und sogar meisterhafte Kenntniß des Deutschen ist freilich dieVoraussetzung, um das Buch zu übersetzen.

Mit dem Ausdruck meiner alten VerehrungMenthon lac d’Annecy Haute Savoie

1180. An Helen Zimmern in Florenz (Entwurf)

<Turin, um den 8. Dezember 1888>

Verehrtes Fr<äulein>

eine Sache aller ersten Rangs! ich denke, ich habe nicht nöthig, Sie erst um jedeDiskretion zu bitten. Mein Leben kommt jetzt zu einem lang vorbereitetenungeheuren Eklat: das, was ich in den nächsten zwei Jahren thue, ist der Art,unsere ganze bestehende Ordnung, „Reich“ „Triple allianz“ und wie all diesenHerrlichkeiten heißen über den Haufen zu werfen. Es handelt sich um einAttentat auf das Christenthum, das vollkommen wie Dynamit auf Alles wirkt,das im Geringsten mit ihm verwachsen ist. Wir werden die Zeitrechnungverändern, ich schwöre es Ihnen zu. Es hat nie ein M<ensch> mehr Recht zurVernichtung gehabt als ich!

Es sind zwei Schläge, aber mit Zwischenraum von 2 Jahren, der erste heißt

E c c e h o m o und soll sobald als möglich erscheinen. Deutsch, englischfranzösisch. Der zweite heißt der A n t i c h r i s t . Umwerthung aller Werthe.Beide sind vollkommen druckfertig: ich gebe soeben das Ms von E c c eh o m o in die Druckerei. — Für die französische Übersetzung des Ecce homowerde ich einen Schweden, ein wahres Genie haben: ich lege seinen Brief bei,aus dem Sie zum Mindesten entnehmen werden, was er von mir denkt. Für diee n g l i s c h e Übersetzung — was denken Sie, verehrtes Fräulein? Sind Sie beiKräften und gutem Muth, um so etwas auf sich nehmen zu können? Es ist keindickes Buch, eine Sache von c<irca> 10 Bogen kleiner Seiten. Aber es muß eineausgezeichnete sorgfältige und delikate Arbeit sein: denn in sprachlichenDingen giebt es gar (kein) größeres Meisterstück als dieses Ecce homo. — EinAttentat auf <das> Chr<istenthum> wird in England ein ungeheures Aufsehenmachen: ich habe keine Zahlen im Kopfe für die Ziffer der Auflagen. Dazukommt, daß es auch ein vollkommen vernichtendes Attentat auf dieD e u t s c h e n ist — durch die Geschichte hindurch als die eigentlichschädliche, verlogene, unheilvolle Rasse… Ein wie mir scheint für Engländervielleicht nicht unpopulärer Gesichtspunkt… Ich hebe auf den deutschenCharakter, nicht nur auf den deutschen Geist <hin> hervor, daß kein fürEngländer verletzendes Wort darin vorkommt.

Das Buch schlägt das Christenthum todt, und außerdem auch nochBismarck…

Für den Fall, daß Sie mir Ihre eigene Hilfe nicht versprechen können,werden Sie vielleicht Schritte und Wege wissen, wie mir hier geholfen werdenkann.1181. An Heinrich Köselitz in Berlin

<Turin,> S o n n t a g , den 9. Dec. 1888via Carlo Alberto 6III

Lieber Freund,

ich war eben im Begriff, Ihnen zu schreiben, da tritt Ihr Brief festlich zur Thürhinein, leider n i c h t in Begleitung des „Kunstwart“. Doch wird es sich nur umStunden handeln. — Ihre herrlichen Neuigkeiten in puncto „Provence“erquicken mich wie wenige Dinge mich erquicken könnten; denn da es mir gutgeht, ist es eigentlich billig, daß es meinen „Nächsten“ noch besser geht. DerE r s t e Schritt, hier wie überall, ist der schwerste — und über den helfen nurdie Weiblein hinweg… Auch ich habe Gutes zu melden. Das „E c c e h o m o “ist vorgestern an C. G. N<aumann> abgegangen, nachdem ich es, zur letztenGewissens-Beruhigung, noch einmal vom ersten bis zum letzten Wort auf dieGoldwage gelegt habe. Es geht dermaßen über den Begriff „Litteratur“ hinaus,

daß eigentlich selbst in der Natur das Gleichniß fehlt: es sprengt, wörtlich, dieG e s c h i c h t e der Menschheit in zwei Stücke — höchster SuperlativvonD y n a m i t … Für die f r a n z ö s i s c h e Übersetzung werde ichwahrscheinlich das schwedische Genie A. Strindberg haben, der alle seineWerke französisch schreibt — und meisterhaft! — Er hat mir vorgestern seinenersten Brief geschrieben — es war der erste Brief mit einem welthistorischenAccent, der mich erreichte. Er hat den Begriff davon, daß Zarathustra ein nonplus ultra ist. Zugleich traf noch ein Brief aus St. Petersburg ein, von einer derallerersten Frauen Rußlands, beinahe eine Liebeserklärung, jedenfalls eincurioses Stück Brief: Madame la Princesse Anna Dmitriewna Ténicheff. Auchder intelligenteste Kopf der Petersburger Gesellschaft, der alte Fürst Urussowsoll sich stark für mich interessiren. Georg Brandes hält diesen Winter wiederVorlesungen in diesen Kreisen und wird ihnen Wunderdinge berichten. Ich sagtewohl, daß Strindberg und Brandes befreundet sind, daß Beide in Kopenhagenleben? — Strindberg hält mich übrigens für den größten Psychologen desW e i b e s … Ecco, Malvida!!! —

— Gestern habe ich die Götzen-Dämmerung an Ms. T a i n e geschickt miteinem Brief, worin ich ihn bitte, für eine f r a n z ö s i s c h e Übersetzung desWerks sich zu interessiren. Auch für die e n g l i s c h e Übersetzung habe icheinen Gedanken: Miss Helen Zimmern, die jetzt in Genf, im nächsten Verkehrmit meinen Freundinnen Fynn und Mansouroff lebt. Sie kennt auch GeorgBrandes — sie hat Schopenhauern den Engländern entdeckt, warum nicht erstrecht dessen A n t i p o d e n ?…

Mit E. W. Fritzsch bin ich noch nicht weiter; doch hoffe ich, mit einigerGeduld, daß der Preis noch ein Paar Tausend Mark heruntergeht. Wenn ichmeine ganze Litteratur für 8000 Mark zurückerwerbe: so habe ich das Geschäftgemacht. — Naumann beräth mich in dieser Sache. Machen Sie doch meinemalten und sehr komischen Freund Professor Paul D e u s s e n möglichst schnelleinen Besuch, Berlin W. Kurfürstendamm 142. Sie können ihm einmalg r ü n d l i c h sagen, was ich bin und was ich kann. Er ist mir übrigens sehrzugethan und auf jene Weise, die auf Erden die seltenste ist: er hat mir vorigenSommer, zum Zweck meiner Druckkosten, 2000 Mark zugestellt (— zugleichem Zweck, h ö r e n S i e ! Frl. Meta von Salis 1000 frcs. —) U n t e ru n s , ich beschwöre Sie!

Jetzt eine e r n s t e Sache. Lieber Freund, ich will a l l e Exemplare desv i e r t e n Zarathustra wieder zurückhaben, um dies ineditum gegen alleZufälle von Leben und Tod sicher zu stellen (— ich las es dieser Tage und binfast umgekommen vor Bewegung). Wenn ich es nach ein Paar Jahrzehnten

welthistorischer Krisen — K r i e g e ! — herausgeben werde, so wird es dier e c h t e Zeit sein. Strengen Sie, bitte, Ihr Gedächtniß an, w e r Exemplare hat.Meine Erinnerung giebt: Lanzky, Widemann, Fuchs, Brandes, wahrscheinlichOverbeck. Haben Sie die Adresse von Widemann? — Wie viel Exemplarewaren es? wie viel haben wir noch? — Ein paar mögen in Naumburg sein.

Wetter, nach wie vor, unvergleichlich. Drei Kasten Bücher aus Nizzaeingetroffen. — Ich blättere seit einigen Tagen in meiner Litteratur, d e r i c hj e t z t z u m e r s t e n M a l e m i c h g e w a c h s e n f ü h l e . VerstehenSie das? Ich habe Alles sehr gut gemacht, aber nie einen Begriff davon gehabt,— im Gegentheil!… Zum Beispiel die diversen Vo r r e d e n , das f ü n f t eBuch „gaya scienza“ — Teufel, was steckt da drin! — Über die d r i t t e undv i e r t e Unzeitgemäße werden Sie in E c c e h o m o eine Entdeckung lesen,daß Ihnen die Haare zu Berge stehn — mir standen sie auch zu Berge. Beidereden nur von mir, a n t i c i p a n d o … Weder Wagner, noch Schopenhauerkamen psychologisch drin vor … Ich habe beide Schriften erst seit 14 Tagenv e r s t a n d e n . —

Zeichen und Wunder!Es grüßt Sie der

P h ö n i x .— M e n s c h l i c h e s , A l l z u m e n s c h l i c h e s hat mir im höchsten

Grade imponirt: es hat etwas von der Ruhe eines grand seigneur.— Wissen Sie bereits, daß ich für m e i n e internationale Bewegung das

g a n z e j ü d i s c h e Großkapital nöthig habe?…1182. An Heinrich Köselitz in Berlin (Postkarte)

<Turin, 10. Dezember 1888>

Aber das ist ja herrlich, was Sie geschrieben haben, lieber Freund! Das ist ja derberühmte „Anfang“, von dem man sagt, daß er s c h w e r ist… Es ist nicht nurAlles richtig, es ist auch ausgezeichnet gesagt, — die Erinnerung an GrafGobineau und überhaupt der Accent auf das Französische ist ein Meistergriff.Der Redakteur hat, für einen Ve r w a n d t e n W<agner>s, seine Sache nichtschlecht gemacht. Wundervoll ist es, daß „mit großen Gedanken spielen“ ihmals E i n w a n d gilt, — „nur als Feuilletonist, aber überaus espritreich“, inFrankreich lachte man sich todt über eine solche A b l e h n u n g . — Ich bitteMiss Helen Zimmern darum, Sie ins Englische zu übersetzen, für irgendeine dergroßen reviews. Herr S p i t t e l e r soll Ihrer in den Basler Nachrichtengedenken, resp. den ganzen Abschnitt abdrucken lassen. Schönsten Dank fürPère! — Nietzsche

1183. An Ferdinand Avenarius in Dresden

<Turin, 10. Dezember 1888>

…Ich bin Ihnen aufrichtig dankbar für Ihre Kritik, mehr noch als für dieausgezeichneten Worte des Herrn Gast, — ich las sie mit Entzücken, Sie haben,ohne es zu wissen, mir das Angenehmste gesagt, was mir jetzt gesagt werdenkonnte. In diesem Jahre, wo eine ungeheure Aufgabe, die U m w e r t u n ga l l e r W e r t e , auf mir liegt und ich, wörtlich gesagt, das Schicksal derMenschen zu tragen habe, gehört es zu meinen Beweisen der Kraft, in demGrade Hanswurst, S a t y r oder, wenn Sie es vorziehen, „Feuilletonist“ zu sein,— sein zu k ö n n e n , wie ich es im „Fall Wagner“ gewesen bin. Daß der tiefsteGeist auch der frivolste sein muß, das ist beinahe die Formel für meinePhilosophie: es könnte sein, daß ich mich schon über ganz andere „Größen“ aufeine unwahrscheinliche Weise erheitert habe… Zuletzt thut das meinerpersönlichsten Pietät gegen Wagner am wenigsten Abbruch; noch im vorigenMonat habe ich jener unvergeßlichen Zeit der Intimität zwischen uns einDenkmal gesetzt, das dauern wird: in einem Werke, das jetzt im Druck ist unddas jeden Zweifel über mich wegnehmen wird. Auch I h r e n Zweifel, sehrwerter und lieber Herr! Der „jüngere“ Nietzsche ist niemals über den Punkt-Wagner- mit dem „älteren“ Nietzsche in Widerspruch gewesen: es bliebe wohlzu beweisen, daß jenes x von Wesen, dessen Psychologie in der v i e r t e nUnzeitgemäßen gegeben wird, wirklich etwas mit dem Gatten von Frau Cosimazu thun hat o d e r … — Wissen Sie eigentlich, daß Herr Peter Gast der ersteMusiker ist, der jetzt lebt, — Einer der Seltenen zu allen Zeiten, die dasVollkommene können? — Die Musiker, unter uns, finden, ich hätte allesb e w i e s e n , nur zu sehr… Man schreibt mir Briefe über Briefe…1184. An Ferdinand Avenarius in Dresden

<Turin, 10. Dezember 1888>

… Vergeben Sie mir, in aller Heiterkeit, eine Nachschrift: es scheint, es gehtbeim Fall Wagner nicht ohne Nachschrift ab. — Warum haben Sie eigentlichIhren Lesern die H a u p t s a c h e vorenthalten? Daß meine „Sinnesänderung“,wie Sie es nennen, nicht von gestern ist? Ich führe nunmehr seit 10 Jahren Krieggegen die Ve r d e r b n i s von Bayreuth, — Wagner hielt mich seit 1876 fürseinen eigentlichen und einzigen Gegner, die Spuren davon sind überreich inseinen späteren Schriften. Der Gegensatz eines décadent und einer aus derÜberfülle der Kraft herausschaffenden, das heißt d i o n y s i s c h e n Natur, derdas Schwerste Spiel ist, ist ja zwischen uns handgreiflich (ein Gegensatz, der

vielleicht in fünfzig Stellen meiner Bücher ausgedrückt ist, z. B. in der „fröhl.Wissenschaft“ S. 312 ff). Wir sind verschieden wie arm und reich. UnterM u s i k e r n ist ja über die Armut Wagners gar kein Zweifel; vor mir, vor demauch die Verstocktesten ehrlich werden, sind auch die extremen Parteigängerseiner Sache über diesen Punkt ehrlich geworden. Wagner war mir als Typusunschätzbar; ich habe an unzähligen Stellen den biologischen Gegensatz desverarmten und, folglich, r a f f i n i r t e n und b r u t a l e n Kunstinstinkts zumreichen, leichten, im Spiele sich echt bejahenden dargestellt — vergeben Siemir! sogar mit der von Ihnen gewünschten „ruhig sachlichen Entwickelung derGründe“. Eine kleine Hand voll Stellen: M e n s c h l . A l l z u m e n s c h l . (—vor mehr als 10 Jahren geschrieben)

2,62 ff. décadence und Berninismus im Stil W.’s.2,51 seine nervöse Sinnlichkeit,2,60 Verwilderung im Rhythmischen,2,76 Katholizismus des Gefühls, seine „Helden“ physiologisch

unmöglich.W a n d e r e r u . S c h a t t e n 95 gegen das espressivo um jeden Preis.M o r g e n r ö t e 225 die Kunst W.s, den Laien in der Musik zu täuschen.F r ö h l . W i s s e n s c h a f t W. Schauspieler durch und durch,

auch als Musiker. 110 Bewunderungswürdig im Raffinement des sinnlichenSchmerzes.

J e n s e i t s v o n G u t u n d B ö s e 221 Wagner zum k r a n k e n Parisgehörig, eigentlich ein französischer Spät-Romantiker, wie Delacroix, wieBerlioz, alle mit einem fond von Unheilbarkeit auf dem Grunde und, folglich,Fanatiker des Ausdrucks.

— Warum ich das Alles Ihnen s c h r e i b e ? Weil man in St. Petersburg undin Paris mich ebenso ernst nimmt und l i e s t , wie nachlässig im „Vaterlande“…Nachlässig — was für ein Euphemismus…1185. An Ferdinand Avenarius in Dresden (Postkarte)

<Turin, 10. Dezember 1888>

Ein l e t z t e s Wort. Sie sind es mir vielleicht schuldig, jedenfalls bitte ich Siedarum, beide Briefe wörtlich im „Kunstwart“ wiederzugeben. Zuletzt wird derRedakteur am besten wissen, welche Auszeichnung damit seinem Blatt zu Theilwird. — Herr S p i t t e l e r , unter uns, ist etwas Ausgesuchtes undLiebenswürdiges im Urtheil: ich möchte Ihnen noch einen andren Kritiker derMusik rühmen, Dr. Carl Fuchs in Danzig, Virtuos, auch im Ausdruck: Wagnerhielt ihn für den geistreichsten deutschen Musiker, den ich kenne.

Nietzsche.Ist mein neues Buch „G ö t z e n - D ä m m e r u n g “ in Ihren Händen? —

Viel für Artisten1186. An Paul Deussen in Berlin

Torino, via Carlo Alberto 6 IIIDienstag <11. Dezember 1888>

Lieber Freund,

ich bin aufrichtig erfreut über Deinen Brief: er entspricht in allen Hauptsachenmeiner eignen Auffassung und auch der in diesenDingenm a ß g e b e n d e r e n , der meines mir unschätzbaren LeipzigerVerlegers C. G. Naumann. Dieser räth, zu w a r t e n : Fritzsch werde klug genugsein, einen sicheren Betrag für eine sehr unsichere und bei philosophischemVerlag zehnfach unsicherere Zukunft in die Hände zu bekommen. Ich betrachtediesen Lage als eine wirkliche Glückslage. Denn meine frühere Litteratur jetztum wenige Tausend Mark zurück zu bekommen, unmittelbar, bevor derenWerthb e g r i f f e n wird, wäre ohne diesen Zufall nicht möglich gewesen.Nichts liegt mir ferner als F<ritzsch> „ärgern“ zu wollen. Der Fall ist, daß erbeim Erscheinen vom „Fall Wagner“ in seiner eignen von ihm r e d i g i r t e nZeitung die schnödesten persönlichen Bemerkungen über mich hat druckenlassen: so daß mir von allen Seiten, auch von Naumann, eine wirklicheEntrüstung ausgedrückt wurde. Du mußt empfinden, welcher J u b e l darüberbei den Wagnerianern ist, daß mein eigner Verleger mich nicht nur in Stich läßt,sondern v e r h ö h n t . — Lassen wir das Wort „Ehre“ aus dem Spiel: es ist nurnicht mehr anständig, meine Bücher in s o l c h e n Händen zu lassen. —

Meine Gesundheit ausgezeichnet und vollkommen unverwüstlich, obwohlich, der Reihe nach, lauter ungeheure Aufgaben abzumachen hatte. Jedermannist erstaunt über die Heiterkeit und den Stolz, mit dem ich hier in Turin lebe: ichwerde behandelt wie ein Prinz, — ich bin es vielleicht auch. —

Mein Verleger hat den Auftrag, Dir das zuletzt fertig gewordene Werk die„G ö t z e n - D ä m m e r u n g “ zu überreichen. Es ist nicht unmöglich, daß einefranzösische Übersetzung davon erscheint: ich stehe in Verhandlungen. Wasjetzt gedruckt wird, heißt Ecce homo. W i e m a n w i r d , w a s m a n i s t .Dies erscheint zugleich englisch, französisch und deutsch. — Die Briefe, die ichin der letzten Zeit bekomme, vor Allem aus der ersten Gesellschaft von St.Petersburg, auch von einem wirklichen Genie von Dichter, der Schwede ist,haben alle etwas von einem welthistorischen Accente, wie als ob das Schicksalder Menschheit in meiner Hand liegt. —

Ich habe meinen ausgezeichneten Freund und maëstro P e t e r G a s t (—sein eigentlicher Name ist Heinrich Köselitz) aufgefordert, Dir seinen Besuchzu machen. Er hat bei weitem den tiefsten Begriff von mir, Du kannst ihn überAlles fragen. Man kommt ihm übrigens in Berlin sehr entgegen: es istwahrscheinlich, daß Joachim selbst sein „provençalisches Quartett“ (das mirgewidmet ist —) zum ersten Male vorführt. Unter uns, ein reizendes Mädchenaus der reichsten Aristokratie von Berlin (mit großem Grundbesitz inHinterpommern) ist der Grund seiner Berliner Existenz: er hat einen GrafenSchlieben zum Rivalen, aber die artige Person will lieber sterben als — —Nochmals, dies u n t e r u n s . — Er war den Sommer auf ihrem Waldschloßund hat die Concurrenz von lauter Gardelieutnants aus umwohnendem Adel nurzu glücklich ausgehalten. — Eine Geschichte, die in Ve n e d i g begann. — DieHerrn Musikanten! — — — — Ich selbst habe dieser Tage beinahe eineLiebeserklärung von der charmantesten und geistvollsten Frau von St.Petersburg bekommen, Madame la Princesse Anna Dmitriewna Ténicheff, einergroße<n> Verehrerin meiner Bücher. Georg Brandes geht diesen Winter nach St.Petersburg und hält Vorträge über mich. —

Mich Dir und Deiner lieben Frau auf das Herzlichste

empfehlend Dein Nietzsche

Weitere Verhandlungen über Beschaffung von Geld bitte ich dringend zuunterlassen. Wenn die Summe noch in dem von Naumann erwarteten Gradeheruntergeht, bin ich selbst der Lage gewachsen.1187. An Carl Fuchs in Danzig

T o r i n o , via Carlo Alberto 6, III<11. Dezember 1888>

Lieber Freund,

inzwischen steht und geht Alles wunderbar; ich habe nie annähernd eine solcheZeit erlebt, wie von Anfang September bis heute. Die unerhörtesten Aufgabenleicht wie ein Spiel; die Gesundheit, dem Wetter gleich, täglich mit unbändigerHelle und Festigkeit heraufkommend. Ich mag nicht erzählen, w a s Alles fertigwurde: A l l e s i s t f e r t i g .

Die nächsten Jahre steht die Welt auf dem Kopf: nach dem der alte Gottabgedankt ist, werde ich von nun an die Welt regieren.

Mein Verleger hat, wie ich nicht zweifle, Ihnen sowohl den F a l l als,zuallerletzt, die G ö t z e n - D ä m m e r u n g übersandt. Hätten Sie nicht eine

kleine kriegerische Laune? Es wäre mir äußerst erwünscht, wenn jetzt ein —d e r — geistvoller Musiker öffentlich Partei für mich als A n t i w a g n e rnehme und den Bayreuthern den Handschuh hinwürfe? Eine kleine Broschüre,in der über mich lauter Neues und Entscheidendes gesagt würde, mit einerNutzanwendung im Einzelfall, M u s i k , was denken Sie dazu? NichtsLangwieriges, etwas Schlagendes, Schlagfertiges… Der Augenblick ist günstig.Man k a n n noch Wahrheiten über mich sagen, die zwei Jahre später beinaheniaiseries sein dürften.

— Und w a s macht Danzig — oder vielmehr N i c h t -Danzig?… ErzählenSie mir wieder von sich selbst, lieber Freund, — ich habe Zeit, ich habeO h r e n …

Es grüßt Sie auf dasHerzlichste

das U n t h i e r .1188. An Franziska Nietzsche in Naumburg (Postkarte)

<Turin, 11. Dezember 1888>

Meine alte Mutter, wundere Dich nicht, wenn ich jetzt so wenig schreibe. Ichhabe nur zu viel zu schreiben, besonders auch wichtige Briefe. Es geht mirübrigens, nach wie vor, ausgezeichnet, kein schlechter Tag bisher. Das Wetterimmer noch herrlich; etwas f r i s c h , aber nicht anders, als ich’s vomOberengadin her gewöhnt bin. Der O f e n ist noch nicht da; die Sache istvollkommen aufgeklärt — es sind F e h l e r bei der Untersuchung des Prof.Koch gemacht worden. Die Öfen haben sich seit 8 Jahren in allen Ländernbewährt, — ich habe ein paar Bogen voll der g l ä n z e n d s t e n Zeugnisse vonFürsten, Ministern, Professoren und jeder Art Stand. — Von Nizza sind die 3Bücherkisten eingetroffen. — Ich bin jetzt in jeder Hinsicht hier gutaufgehoben; große Reinlichkeit; ausgezeichnete Nahrung; mächtiges Bett, worindie Italiäner ihren Luxus haben; auch habe ich noch nie so gut geschlafen.

Dein altes GeschöpfTorino, via Carlo Alberto 6, III: g e n a u e A d r e s s e ! —1189. An Carl Spitteler in Basel

Torino, via Carlo Alberto 6, IIID i e n s t a g <11. Dezember 1888>

Werther Herr,

ich will Ihnen heute einen Vorschlag machen, zu dem nicht Nein zu sagen ichSie inständig bitte. Mein Kampf gegen Wagner ist auf eine absurde Weise

dadurch bisher mißrathen, daß N i e m a n d m e i n e S c h r i f t e n k e n n t :so daß die „Sinnes-Änderung“, wie zb. Avenarius sich ausdrückt, als Etwas gilt,was ungefähr gleichzeitig mit dem „Fall Wagner“ ist. Thatsächlich führe ich seit10 Jahren Krieg — Wagner wußte es selbst am besten —: ich habe keinenallgemeinen Satz, psychologischer oder streng aesthetischer Natur, im „FallWagner“ ausgesprochen, den ich nicht schon in meinen Schriften auf dasErnsthafteste vorgetragen habe. Unter diesen Umständen will ich, um diesenFrage auf die Höhe und b i s z u m K r i e g e zu bringen, jetzt noch eineSchrift gleicher Ausstattung und gleichen Umfangs wie der „Fall Wagner“herausgeben, die nur aus 8 größeren sehr ausgewählten Stücken meinerSchriften besteht, unter dem Titel:

Nietzsche c o n t r a Wagner.Aktenstücke

aus Nietzsche’s Werken.Werther Herr, Sie sollen das herausgeben und eine l ä n g e r e Vo r r e d e ,

eine wirkliche K r i e g s e r k l ä r u n g dazu schreiben. Das k ö n n e n Sie, ichweiß das: Sie nehmen das Schicksal der Musik tief genug, um hier derLeidenschaft fähig zu sein.

Die S t e l l e n — ich werde sie selber abschreiben und Ihnen dann zusenden— sind folgende (— ich nehme an, daß Sie meine Schriften besitzen?Andrenfalls ein Wort an mich, damit was fehlt, sofort an Sie abgeht)1. Z w e i A n t i p o d e n . (fröhliche Wissenschaft S. 312—16)2. E i n e K u n s t o h n e Z u k u n f t . (Menschliches, Allzumenschliches Bd.2, 76—783. B a r o c c o . (Menschliches, Allzumenschliches Bd. 2, 62—644 . D a s e s p r e s s i v o u m j e d e n P r e i s . (Wanderer und sein SchattenS. 93 (also Menschliches, Allzumenschliches II, l e t z t e Hälfte.5. Wagner S c h a u s p i e l e r , n i c h t s m e h r (fröhliche Wissenschaft S.309—11)6. W a g n e r g e h ö r t n a c h F r a n k r e i c h (Jenseits von Gut und Böse220—24)7. W a g n e r a l s A p o s t e l d e r K e u s c h h e i t (Genealogie der MoralS. 99—1058. N i e t z s c h e s B r u c h m i t W a g n e r (Menschliches,Allzumenschliches Band II Vorwort p. VII—VIII)

In der Vorrede wäre auch die e n t s c h e i d e n d e Einsicht vom Gesammt-décadence-Charakter der modernen Musik an’s Licht zu stellen: es ist eigentlichdas, was die Schrift voraus hat gegen das, was ich früher schon gesagt habe. —

Sehen Sie, dies Gesindel fühlt meinen Ingrimm nicht, weil ich „überausespritreich“ geschrieben habe! Das kann sich Geist nicht mit Leidenschaftverbunden denken… Eine „ruhig-sachliche Entwicklung der Gründe“ verlangtAv<enarius>, wo unsereins vor Leidenschaft zittert…

Ach, das verstehen S i e —

Nietzsche1190. An Carl Spitteler in Basel (Postkarte)

<Turin, 12. Dezember 1888>

Geehrter Herr,

diese Nacht fiel mir ein Einwand ein, den ich heute am Tage nicht los werde.Hinter einer solchen Veröffentlichung, wie ich sie gestern vorschlug, würde mandoch unter allen Umständen mich als Urheber voraussetzen — es stehen zup r i v a t e Dinge in den Stellen, die abgedruckt werden müßten

Mit der Bitte um Nachsicht Ihr N.

1191. An Constantin Georg Naumann in Leipzig

<Turin,> S o n n a b e n d <15. Dezember 1888>Geehrter Herr Verleger,

hier kommt noch ein schönes Manus<c>ript, etwas Kleines, aber sehr gutGerathenes, auf das ich stolz bin. Nachdem ich im „Fall Wagner“ eine kleinePosse geschrieben habe, kommt hier der E r n s t zu Wort: denn wir — Wagnerund ich — haben im Grunde eine Tragödie mit einander erlebt. — Es scheintmir, nachdem durch den „Fall Wagner“ die Frage nach unserm Verhältnißwachgerufen ist, sehr an der Zeit, hier einmal eine außerordentlich merkwürdigeGeschichte zu erzählen. — Rechnen Sie nun gefälligst aus, wie viel Seiten es inder gleichen Ausstattung wie „Fall Wagner“ ergeben wird? Zwei bis drei Bogen,vermuthe ich. — Mein Wunsch wäre, daß wir diesen kleine Sache s o f o r tabsolviren. Ich gewinne dadurch auch noch Zeit, die Übersetzer-Frage in Bezugauf E c c e h o m o die bis jetzt wenig Chance hat, neu aufzunehmen. ZumMindesten möchte ich eine f r a n z ö s . Übersetzung, aber ein Meisterstück vonÜbersetzung haben. —

Sehr erbaut über die schönen und tiefen Worte des Herrn Köselitz (PeterGast) im „Kunstwart“. Herr Avenarius hat hinterdrein einigeT h o r h e i t e n gesagt, aber sich bereits auf das Artigste bei mir entschuldigt —ich habe ihm ein sehr heiteres Briefchen geschrieben. Hat er nicht sein

B e d a u e r n darüber ausgedrückt, daß ich dies Mal „überaus espritreich“geschrieben hätte? — Als ob meine Schriften sonst sich durch S t u p i d i t ä tauszeichneten!

ErgebenstIhr

Dr. Nietzsche.Herr E. W. Fritzsch s c h w e i g t . Ich auch. — Ich bitte noch, für mich, um 4

Exemplare G ö t z e n - D ä m m e r u n g und 1 Exemplar „Fall Wagner“.1192. An Heinrich Köselitz in Berlin

T o r i n o , den 16. Dezember 1888Lieber Freund,

bedeutende Erweiterung des Begriffs „Operette“. S p a n i s c h e Operette. L ag r a n v i a , z w e i Mal gehört — Hauptzugstück von Madrid. Ist einfach nichtzu importiren: man muß dazu Spitzbube und verfluchter Kerl von Instinkt sein— und dabei f e i e r l i c h … Ein Terzett von drei feierlichen alten riesengroßenCanaillen ist das Stärkste, was ich gehört u n d g e s e h n habe — a u c h alsMusik: genial, gar nicht zu rubriziren… Ich nahm, da ich jetzt sehr gebildet inRossini bin und bereits 8 Opern kenne, die von mir vorgezogene Cenerentolazum Vergleich — ist tausend Mal zu g u t a r t i g gegen diesen Spanier. WissenSie die H a n d l u n g schon kann nur ein vollendeter Spitzbube ausdenken —lauter Sachen, die wie T a s c h e n s p i e l e r e i wirken, so blitzartig kommt diecanaille zum Vorschein. Vier oder fünf Stücke Musik, die man h ö r e n muß;sonst hat der Wiener Walzer in der Form g r ö ß e r e r E n s e m b l e s dasÜbergewicht. — Offenbach’s „schöne Helena“ h i n t e r d r e i n fiel einfach ab.Ich lief fort. — Dauer präcis 1 Stunde.

— Heute Nachmittag werde ich ein R e q u i e m von dem alten NeapolitanerMaestro Jommelli hören (starb ungefähr 1770): Accademia di canto corale. —

Und nun die H a u p t s a c h e . Ich habe gestern ein Manuscript an C. G.Naumann geschickt, welches zunächst, also vor Ecce homo, absolvirt werdenmuß. Ich finde die Ü b e r s e t z e r für „Ecce“ nicht: ich muß einige Monate denDruck noch hinausschieben. Zuletzt eilt es nicht. — Das N e u e wird IhnenVergnügen machen: — auch kommen Sie vor — und wie! —Es heißt

N i e t z s c h e c o n t r a W a g n e r .Aktenstücke

eines Psychologen.Es ist wesentlich eine A n t i p o d e n -Charakteristik, wobei ich eine Reihe

Stellen meiner älteren Schriften benutzt und dergestalt zum „Fall Wagner“dass e h r e r n s t e Gegenstück gegeben habe. Das hindert nicht, daß dieDeutschen darin mit s p a n i s c h e r Bosheit behandelt werden — die Schrift(drei Bogen etwa) ist extrem a n t i d e u t s c h . Am Schluß erscheint Etwas,wovon selbst Freund Köselitz keine Ahnung hat: ein Lied (oder wie Sie’snennen wollen… ) Zarathustra’s, mit dem Titel Vo n d e r A r m u t d e sR e i c h s t e n — wissen Sie, eine kleine siebente Seligkeit und noch ein Achteldazu… Musik…

— Ich sehe jetzt mitunter nicht ein, wozu ich die t r a g i s c h e Katastrophemeines Lebens, die mit „E c c e “ beginnt, zu sehr beschleunigen sollte.DiesN e u e wird vielleicht, auf Grund der Neugierde, welche der „F a l lW a g n e r “ hervorgerufen hat, stark gelesen werden — und da ich jetzt keinenSatz mehr schreibe, worin ich nicht g a n z zum Vorschein käme, so ist zuletztschon diesen P s y c h o l o g e n - A n t i t h e s e der Weg, um mich zu verstehn— Ia gran via…

Avenarius, dem ich mit einem boshaften Briefchen auf die Finger gefühlthabe, hat auf das Allerartigste und Herzlichste sich entschuldigt — ichglaube,d i e s e Geschichte habe ich sehr gut gemacht. (Verlangen Sie nocheinige E x e m p l a r e von Avenarius!)

— Sehen Sie, lieber Freund! Piemonteser K ü c h e ! Ah, meine trattoria! Ichhabe keinen Begriff gehabt, was in der K u n s t der Zubereitung die Italiänerüberlegen sind! — und der Qualität! Nicht umsonst mitten innerhalb derallerberühmtesten Viehzucht! — Und, nach wie vor, obwohl ich essey wie einPrinz, auch v i e l , zahle ich für jede Mahlzeit (10 ct. Trinkgeld mit) 1 fr. 25. —Für Wohnung, sehr gute Bedienung eingerechnet, erste Lage der Stadt,Sonnenzimmer comme il faut, 25 frs den Monat.

Abends sitze ich in einem prachtvollen hohen Raum: ein kleines s e h ra n s t ä n d i g e s Concert (Clavier 4 Saiteninstr<umente> 2 Bläser) kommtgerade so gedämpft, als es wünschenswerth, zu mir — es sind 3 Sälenebeneinander. Man bringt mir m e i n e Zeitung Journal des débats, — ich esseeine Portion ausgezeichnetes Eis: kostet, mit Trinkgeld (worauf ich halte, weiles hier nicht Sitte ist) 40 ct. — In der galeria Subalpina (in die ich hinabsehe,wenn ich aus meinem Zimmer heraustrete), dem schönsten elegantesten Raumdieser Art, den ich kenne, spielt man jetzt Abend für Abend den barbiere diSeviglia, und zwar v o r t r e f f l i c h : man zahlt, was man verzehrt, mit einemetwas erhöhten Preise. — Und wie g u t sieht die Stadt aus, wenn es trübe ist!Neulich sagte ich mir: einen Ort zu haben, w o m a n n i c h t h e r a u sw i l l , nicht einmal in die Landschaft, wo man sich freut, i n d e n S t r a ß e n

zu gehn! — früher hätte ich’s für unmöglich gehalten. —

In FreundschaftIhr N.

Etwas Letztes, n i c h t Letztes: Alle, die jetzt mit mir zu thun haben, bis zurHökerin herab, die mir herrliche Trauben aussucht, sind lauter vollkommengerathene Menschen, sehr artig, heiter, ein wenig fett, — selbst die Kellner.

— Eben starb der P r i n z v o n C a r i g n a n o : wir werden ein großesBegräbniß haben. —

Eben trifft ein h e r r l i c h e r Brief Taine’s ein! —1193. An Constantin Georg Naumann in Leipzig

<Turin, verm. 17. Dezember 1888>

Wir wollen 2 Bogen von E c c e h o m o drucken und e i n i g e A b z ü g e aufgutem Papier davon machen, damit ich meinen französischen und englischenÜbersetzern resp. Verlegern einen deutlichen Begriff davon geben kann, welcherArt das Werk ist. Diese Abzüge bitte ich mir hierher aus. — Inzwischen ist aufeine ganz unschätzbar<e> Weise eine Beziehung zwischen mir und dem beiweitem einflußreichsten Mann in Frankreich hergestellt worden, einflußreich fürLitteratur Buchhandel und litterarisches rénomée, mit dem Chef-Redakteur desJ o u r n a l d e s D é b a t s und der R e v u e d e s d e u x M o n d e s , derzugleich auch für politische Fragen eine der festesten und geschütztestenPositionen Frankreichs hat. Der erste Philosoph Frankreichs, Ms Taine, eingroßer Bewunderer meiner Schriften, räth mir unbedingt an, meine Sache in dieHände seines Freundes zu legen, an dem ich einen der allerintelligentesten Leserhaben würde (— er ist aufs Tiefste unterrichtet über alles Deutsche, auch selbstim Sprachlichen Meister) Dies heißt in Frankreich seinen Prozeßg e w o n n e nhaben. —

Für England habe ich eine ausgezeichnete Schriftstellerin im Auge, dieschon das Verdienst hat, Schopenhauer in England eingeführt zu haben, M i s sH e l e n Z i m m e r n , in Florenz lebend, Mitarbeiterin der Times und allergroßen Reviews, — in Deutschland geboren, so daß sie vollkommen auch imSprachlichen competent ist.

Wenn die zwei Bogen erledigt sind, gehn wir an N i e t z s c h e c o n t r aW a g n e r . Einige Wochen werden dann hingehn, ehe alle die Präliminarien mitÜbersetzern und Verlegern in Paris und London erledigt sind. —

N.— Damit der Titel sich so eng wie möglich an den „Fall Wagner“ anschließt,

wollen wir schreibenN i e t z s c h e c o n t r a W a g n e r

Ein Psychologen-Problem1194. An Franz Overbeck in Basel

T o r i n o , via Carlo Alberto 6. III<um den 17. Dezember 1888>

Lieber Freund,

ich zählte eben meine Gelder, — ich habe gerade noch 100 frs., so daß ich ohneSchwierigkeit Deiner Sendung gegen Ende des Monats entgegensehe. Ich binstolz darauf, mich nicht verrechnet zu haben. D e n n …

Der Herbst und der Anfang Winter sind mir immerfort sehr wohlthätiggewesen: so daß meine Arbeit und eine sehr tapfere Laune keinen Augenblicknachgelassen haben. Meine jetzige Erholung ist s p a n i s c h e Operette, ausMadrid: das geht über Alles hinaus, lauter feierliche canailles, Spitzbuben durchund durch, aber mit grandezza — —

Überallher gute Nachrichten. Ich lege einen kleinen Brief aus Paris bei, vonM. Taine; mit der Bitte, mir ihn umgehend zurückzusenden. Die Beziehung zumRedakteur des Journal des Débats, die er mir vorschlägt, macht mir großesVergnügen; ich lese seit Jahren keine andre Zeitung mehr. — In Paris hat mein„Fall Wagner“ Aufsehn gemacht; man sagt mir, ich müsse ein geborner Parisersein: — noch nie habe ein Ausländer so französisch g e d a c h t wie ich im„Fall“. — Von Petersburg bekomme ich wahre Huldigungs-Schreiben,eingerechnet Liebeserklärungen. Georg Brandes hält diesen Winter wieder dortVorträge. Ich habe jetzt Leser — und, zum Glück, lauter a u s g e s u c h t eIntelligenzen, die mir Ehre machen — ü b e r a l l , vor allem in Wien, St.Petersburg, Paris, Stockholm, New York. Meine nächsten Werke werdensogleich mehrsprachig erscheinen. — Das schwedische Genie Strindberg (seineTragödie d e r Va t e r ist soeben in der Reklamschen Bibliothek erschienen:lies es doch!) endet alle Briefe an alle Welt: „Carthago est delenda. LisezNietzsche!“

Was macht die Gesundheit?

Dein alter Freund N.1195. An Hippolythe Taine in Paris (Entwurf)

<Turin, um den 17. Dezember 1888>

Ms Taine 23 rue CassetteVerehrter Herr,

Sie haben mich auf eine unbeschreibliche Weise geehrt und — beschämt; ichhabe es Ihnen nie vergessen, was Ihre große Güte mir nach Zusendung von„Jenseits von Gut und Böse“ gesagt hat. Es war im Grunde die e r s t e Stimme,die ich hörte. Denn meine Einsamkeit war immer vollkommen. Nicht daß ichdies beklagte. Ich glaube, es ist die Grundbedingung dafür, jenen äußerstenGrad von Selbstbesinnung zu erreichen, der das Wesen meiner Philosophieausmacht. Auch spricht meine gute Laune dafür, daß es das Rechte war: ichhabe nie an „Vereinsamung“ gelitten. —

Zugleich mit Ihrem unschätzbaren Billet traf das erste tiefe und muthigeWort über mich aus Deutschland ein; da Sie darin genannt werden, nehme ichmir die Freiheit, es Ihnen vorzulegen.

Friedrich Nietzsche.1196. An Jean Bourdeau in Paris (Entwurf)

<Turin, etwa 17. Dezember 1888>

Verehrter Herr

Ein unschätzbares Billet von Ms. Taine, das ich beilege, giebt mir den Muth,Ihren Rath in einer mir sehr ernsten Sache auszubitten. Ich wünsche, inFrankreich gelesen zu werden; mehr noch, ich habe es nöthig. So wie ich bin,der unabhängigste und, vielleicht der stärkste Geist, der heute lebt, verurtheilt zueiner großen Aufgabe, kann ich mich unmöglich durch die absurden Grenzen,welche eine fluchwürdige und von den Lügenhaften vertretene, dynastischeInteressen-Politik zwischen die Völker gezogen hat, abhalten lassen nach denWenigen zu suchen, die überhaupt für mich Ohren haben. Und ich bekenne esgern: ich suche sie vor Allem in Frankreich. Es ist mir nichts fremd, was sich inder geistigen Welt Frankreichs begiebt: man sagt mir, ich schreibe im Grundefranzösisch, obschon ich vielleicht mit der deutschen Sprache besonders inmeinem Zarathustra, etwas in Deutschland selbst Unerreichtes erreicht habe. Ichwage zu sagen, daß meine Vorfahren, vierte Generation, polnische Edelleutewaren; daß meine Urgroßmutter und Großmutter väterlicher Seits in dieGoethische Zeit Weimars gehören: Gründe genug, um in einem kaum denkbarenGrade heute der e i n s a m s t e Deutsche zu sein. Es hat mich nie ein Worterreicht — u n d , aufrichtig, ich habe nie desh<alb> geklagt… Jetzt habe ichLeser überall, in Wien, in St. Petersburg, in Stockholm, in Kopenhagen —lautera u s g e s u c h t e Intelligenzen, die mir Ehre machen — sie fehlen mir inDeutschland… Daß selbst in D<eutschland> ein Gefühl dafür ist, wie wenig ichdahin gehöre, dafür ist ein sehr ernster Aufsatz Zeugniß, im K u n s t w a r terschienen, den beizulegen ich mir erlaube. Der Verfasser ist ein Musiker ersten

Ranges, der Einzige, wenn ich ein Urtheil über diesen Dinge habe —f o l g l i c h unbekannt… — Zum Glück habe ich, mit 24 Jahren alsUniversitätsprofessor nach Basel berufen, es nicht nöthig gehabt, fortwährendKrieg zu führen und mich in bloßen Streitereien zu verschwenden. In Basel fandich den verehrungswürdigen Jakob Burckhardt, der mir von Anfang an tiefgeneigt war, — ich hatte in Richard Wagner und Frau, die damals in Tribschenbei Luzern lebten, eine Intimität, wie ich sie mir werthvoller nicht denkenkonnte. Im Grunde bin ich vielleicht ein alter Musikant. — Später hat michKrankheit aus diesen letzten Beziehungen herausgelöst und mich in einenZustand tiefster Selbstbesinnung gebracht, wie er vielleicht kaum je erreichtworden ist. Und da in meiner Natur selbst nichts Krankhaftes und Willkürlichesist, so habe ich diesen Einsamkeit kaum als Druck, sondern als eineunschätzbare Auszeichnung gleichsam als R e i n l i c h k e i t empfunden. Auchhat sich noch Niemand bei mir über düstere Miene beklagt, ich selbst nichteinmal: ich habe vielleicht schlimmere und fragwürdigere Welten desGedankens kennen gelernt als irgend Jemand, aber nur weil es in meiner Naturliegt, das Abenteuer zu lieben. Ich rechne die Heiterkeit zu den B e w e i s e nmeiner Philosophie… Vielleicht beweise ich diesen Satz durch die zwei Bücher,die ich Ihnen hiermit vorlege

Erwägen Sie, verehrter Herr, ob die G ö t z e n - D ä m m e r u n g , ein sehrradikal gedachtes und in der Form gewagtes Buch, nicht übersetzt werden sollte.Ich bekenne ein Vergnügen ersten Rangs, mich selbst wie einen Band PaulsBourget (— das ist ein tiefer und gleichwohl nicht pessimistischer Geist —)

— es würde am schnellsten und gründlichsten in meine Gedanken einführen;ich glaube kaum, daß es möglich ist, mehr Substanz auf kleinerem Raum zugeben. — Von der Schrift über Wagner sagt man mir, sie sei so französischgedacht, daß man sie nicht ins Deutsche übersetzen könnte. — Die Werke, dieeine Entscheidung heraufführen, an der das brutale Rechen-Exempel derjetzigen Politik sich vielleicht als R e c h e n f e h l e r erweisen könnte, sindvollkommen druckfertig: Jetzt wird erscheinen E c c e h o m o . Oder: wie manwird was man ist. Später U m w e r t h u n g a l l e r W e r t h e . Aber auchdiesen Werke müßten erst ins Französische und Englische übersetzt werden, daich mein Schicksal <zu>letzt von keiner kaiserlichen Polizeimaßregel abhängigmachen will… Dieser junge Kaiser hat nie von den Dingen gehört, wo für Unsereinen das Hören erst a n f ä n g t : Otitis, beinahe schon Meta-Otitis…

Ich habe die Ehre zu sein ein alter Leser des J<ournal> d<es> D<ebats>: dievollkommene Stumpfheit der jetzigen Deutschen für jede Art höheren Sinnskommt in ihrem Verhalten gegen mich seit 16 Jahren, wohlverstanden! zu einem

geradezu erschreckenden Ausdruck. Ich fürchte, es giebt gar keineentscheidenderen, tieferen und, wenn man Ohren hat, aufregenderen Bücher alsder

M a r t e a u d e s I d o l e swäre: eine wirkliche Krisis kommt in ihm zum Ausdruck, aber keinD<eutscher> hat einen Begriff davon — auch bin ich das Gegentheil einesFanatikers und Apostels und vertrage keine Weisheit außer mit sehr viel Bosheitund guter Laune gewürzt. Meine Bücher sind nicht einmal langweilig — undtrotzdem hat noch kein Deutscher einen Begriff davon.. Meine Besorgniß ist,daß im Augenblick, wo man moralisch vor einer meiner Schriften steht, man sieverdirbt: deshalb ist es an der höchsten Zeit, daß ich noch einmal als Franzosezur Welt komme — denn die Aufgabe, um derentwillen ich lebe, ist — — —

— Ich nehme mir die Freiheit, Ihnen jene Bücher vorzulegen: gesetzt, daßdiesen französisch erscheinen, so bin ich v o r g e s t e l l t , e i n g e f ü h r t inFrankreich, — der Rest folgt daraus. (— Der Rest heißt hier das tiefste Buch,das die Menschheit hat, mein Zarathustra. Aber mit dem kann man nichtanfangen.)

Jenseits von Gut und Böse: auch bei d<iesem> Werk hat mir seiner Zeit Ms.Taine eine außerordentliche Theilnahme bezeugt.

Die Götzen-Dämmerung oder wie man mit dem Hammer philosophirt, mankönnte den Titel vereinfachen:

Marteau des IdolesIch weiß nur dies: in dem Augenblick, wo man mor<a>l<is>ch vor einem

meiner Bücher steht, wird man sie verderben. Nun stehe ich gerade vordeme n t s c h e i d e n d e n Schritt meines Lebens: die Werke, die im Grundekeine Bücher sind, <sondern> eine Art Schicksal darstellen werden, sinddruckfertig, — es steht in meiner Hand, wie viele Monate oder Jahre sie noch zuwarten haben. Es ist deshalb für mich eine Frage ersten Rangs, nicht auf denZufall, auf die Brutalität eines Polizei-Verbots mit meiner Aufgabe angewiesenzu sein, — es ist die höchste Zeit, mich auch außerhalb D<eutsch land>s— — —1197. An Helen Zimmern in Florenz

Turin, via Carlo Alberto 6 III<um den 17. Dezember 1888>

Verehrtes Fräulein

Sie würden mir einen großen Dienst erweisen, wenn Sie beifolgenden Aufsatz

des Herrn Peter Gast unter dem Titel „Nietzsche c o n t r a Wagner“ für eine dergroßen Review’s übersetzen wollten. Ich habe jetzt absolut nöthig, in Englandbekannt zu werden, denn meine nächsten Schriften — sie sind vollkommendruckfertig — sollen zugleich englisch, französisch und deutsch erscheinen. DieH o r n v i e h -Rasse der Deutschen — Verzeihung für das starke Wort! — istmir vollkommen fremd; man wird sich gegen mich mit Confiscationen undandren Polizei-Maßregeln wehren. Also habe ich für meine Aufgabe, die zu denallergrößten gehört, welche ein Mensch auf sich nehmen kann — ich will dasChristenthum v e r n i c h t e n — Amerika, England und Frankreich nöthig —Preßfreiheit in jedem Sinn…

Ich erinnere mich, in einer Nummer des Journal des Débats gelesen zuhaben, daß eine englische Zeitschrift (Century Review oder ähnlich —) denKampf gegen Wagner sehr energisch eröffnet hat. Wenn Sie Lust haben, sosende ich Ihnen meine Schrift. Sie ist über alle Maaßen boshaft und könnte eherschon von einem Pariser geschrieben sein.

Jetzt eben erscheint von mir etwas extrem Radikales G ö t z e n -D ä m m e r u n g . Oder: wie man mit dem Hammer philosophirt.* Ich sende esIhnen zu — unter Umständen führen Sie dies Stück in England ein. Es istantideutsch und antichristlich par excellence — sollte es damit nicht stark aufEngländer wirken? Meine Argumente sind ganz andrer Art, als je angewendetworden sind, — ich bin gar kein Mensch, ich bin Dynamit.

Hoffentlich trifft mein Brief Sie in muthiger und kriegsgewohnterVerfassung? —

Sehr ergebenNietzsche

— Herr P e t e r G a s t ist einer unserer ersten Musiker oder, wenn Sie mirglauben wollen, bei weitem der Erste — er kann das, was zu allen Zeiten dieSeltensten können, das Vo l l k o m m n e . Es ehrt mich, einen solchen „Jünger“zu haben.

N.— Ms. Taine hat mir über die G ö t z e n - D ä m m e r u n g einen

unschätzbaren Brief geschrieben, voller Bewunderung über „toutes mes audaceset finesses“. Ich bin eben in Unterhandlung, auf M. Taines Rath, mit demausgezeichneten Chef-Redakteur des Journal des Débats und der Revue desdeux Mondes Ms. Bourdeau, den er mir als einen der intelligentesten undeinflußreichsten Franzosen empfohlen hat: derselbe soll die Schritte zurÜbersetzung des Werks vorbereiten.* * Man könnte den Titel vereinfachen: G ö t z e n - H a m m e r

1198. An Constantin Georg Naumann in Leipzig (Postkarte)

<Turin, 18. Dezember 1888>

Alles wohl erwogen, scheint es mir für den angedeuteten Zweck nützlich<er>,statt des z w e i t e n Bogens das T i t e l b l a t t , das Vo r w o r t unddasI n h a l t s verzeichniß zu drucken. Das zusammen giebt dann eine deutlicheVorstellung. Eine ungefähre Berechnung der B o g e n z a h l wäre ebenfallsnöthig. —

— Ein Exemplar der G ö t z e n - D ä m m e r u n g wollen wir noch übersMeer schicken: e i n g e s c h r i e b e n

Herrn Dr. Bernhard FörsterNeu-Germanienbei A s u n c i o n

A m é r i q u e d e S u d

Paraguay

Sollte der 2te Bogen schon ganz oder halb gedruckt sein, so nehmen wir ihn mitdazu.1199. An August Strindberg in Holte

Torino, Via Carlo Alberto 6 III<18. Dezember 1888>

Werther und sehr lieber Herr,

inzwischen hat man mir aus Deutschland „d e n Va t e r “ geschickt, zumBeweis dafür, daß ich gleichfalls meine Freunde für den Vater des Vatersinteressire. — Das Théatre libre des Ms. Antoine ist ja dazu gemacht, um zur i s k i r e n . Ihr Werk ist vollkommen unschuldig gegen das, was man schon inden letzten Monaten darauf riskirt hat. Es kam dahin, daß A<lbert> Wolf, imLeitartikel des Figaro, öffentlich, im Namen Frankreichs, e r r ö t h e t e . —Aber M. Antoine ist ein eminenter Schauspieler, der sofort die Rolle descapitains („Rittmeisters“) sich aneignen wird. Ich rathe nicht mehr, Zolahineinzumischen, sondern Exemplar und Brief d i r e k t an Ms. Antoine,directeur du theatre libre, zu senden. Man spielt gerne A u s l ä n d e r —

Draußen bewegt sich, mit düsterem Pomp, ein großes Leichenbegängniß: ilprincipe di Carignano, Vetter des Königs, Admiral der Flotte. Ganz Italien inTurin. —

Ach, wie Sie mich über Ihre Schweden unterrichtet haben! Und n e i d i s c hgemacht haben! Sie unterschätzen Ihr Glück: „o fortunatos nimium, sua si bonanorint“ — nämlich, daß Sie kein Deutscher sind… Es giebt gar keine andere

Cultur, als die französische, es ist kein Einwand, sondern die Vernunft selber,daß man in die e i n z i g e Schule geht — sie ist nothwendig die r e c h t e ..Wollen Sie den B e w e i s dafür? — Aber Sie sind der Beweis! —

Ich sende, mit allerverbindlichstem Danke, die Hefte wieder zurück, in derAnnahme, daß Sie dieselben nicht in mehreren Exemplaren besitzen. —

Gleichzeitig mit Ihrem Brief kam ein Brief aus Paris an, von Ms. Taine, vollder höchsten Auszeichnungen für die G ö t z e n - D ä m m e r u n g in Hinsichtauf audaces et finesses, und mit einer sehr ernsten Aufforderung, die ganzeFrage meines Bekanntwerdens in Frankreich, eingerechnet die Mittel dazu, indie Hände seines Freundes, des Chef-Redakteurs des Journal des Débats und derRevue des deux mondes zu legen, dessen tiefe und freie Intelligenz, auch wasForm, was Kenntniß des Deutschen und der deutschen Cultur betrifft, er mirnicht genug zu rühmen weiß. Zuletzt lese ich seit Jahren nur noch das Journaldes débats. — Auf diesen Eröffnung meines P a n a m a - C a n a l s nachFrankreich hin habe ich die weitere Publikation von n e u e n Schriften (dreisind vollkommen druckfertig —) aufs Unbestimmte hinausgeschoben. Zunächstsollen die beiden capitalen Bücher J e n s e i t s v o n G u t u n d B ö s e unddieG ö t z e n - D ä m m e r u n g übersetzt werden: damit bin ich in Frankreichv o r g e s t e l l t . —

Ihnen zugethan und voll guter WünscheNietzsche.

1200. An E. Kürbitz in Naumburg

Torino, via Carlo Alberto 6, IIIden 19. Dez. 1888

Geehrtester Herr,

hiermit ersuche ich Sie, meiner Mutter, Frau Pastor Nietzsche, wieder 30 Mark(dreißig Mark) aushändigen zu lassen. Die Angelegenheit Nieske, Dresden hatsich in willkommner Weise erledigt.

HochachtungsvollDr. Nietzsche

1201. An Constantin Georg Naumann in Leipzig (Telegramm)

<Turin, 20. Dezember 1888>

C. G. Naumann Leipzig

Ecce vorwärts

Nietzsche1202. An Constantin Georg Naumann in Leipzig (Postkarte)

<Turin, 20. Dezember 1888>

Eine neue Erwägung überzeugt mich, daß wir durchaus E c c e h o m o erstfertig drucken müssen und daß nachher erst N.c.W. an die Reihe kommt. AlleVerhandlungen mit Verlegern, Schriftstellern und meinen eignen Anhängernkann ich nur mit den fertigen Exemplaren machen: ein Andres ist die Z e i t derVeröffentlichung. Für Frankreich will ich zunächst eine Übersetzung von derG ö t z e n - D ä m m e r u n g verabreden: sie ist kurz und im höchsten Gradevorbereitend. —

Die Z a h l der Exemplare — können Sie mir einmal einen ungefährenKostenüberschlag für 1000 gute Exemplare und 4000 auf geringerem Papiermachen?

Hochachtungsvoll N.Das Exemplar des B o g e n s 1 ist an mich nicht angekommen; bitte mir mit

Bogen 2 eins mitzusenden.1203. An Constantin Georg Naumann in Leipzig (Postkarte)

<Turin, 20. Dezember 1888>

Ich habe ein einzelnes Blatt, mit der Überschrift Intermezzo, an Sie abgesandt,mit der Bitte, es in N. contra W. einzulegen. Jetzt wollen wir es lieber, wie esursprünglich bestimmt war, in Ecce einlegen: und zwar in das z w e i t eHauptcapitel (Warum ich so klug bin) als A b s c h n i t t 5. Demnach sind diefolgenden Ziffern zu ändern. Der Titel „Intermezzo“ natürlich w e g .

N.1204. an Franziska Nietzsche in Naumburg

Torino, via Carlo Alberto 6 III den21. Dezember 1888

Meine alte Mutter,

es giebt, wenn mich nicht Alles täuscht, in den nächsten Tagen Weihnachten:vielleicht kommt mein Brief noch zur rechten Zeit, vielleicht auch hat HerrKürbitz einen Wink verstanden, den ich ihm vor einigen Tagen gegeben habe.Mit der Bitte, Dir Etwas auszudenken, was Dir Vergnügen macht und wobei Dugerne an Dein altes Geschöpf denkst und, im Übrigen, um Nachsicht bittend,daß es nicht mehr ist. — Wir haben auch hier ein wenig Winter, doch nicht so,

daß ich hätte heizen müssen. Die Sonne und der helle Himmel werden nach einpaar Tagen Nebel immer wieder Herr. Es gab ein großes Leichenbegängniß,einer unsrer Prinzen, der Vetter des Königs; sehr verdient um Italien, auch umdie Marine, denn er war der Admiral der Flotte.

Ich bin in jedem Sinne froh, mit Nizza fertig zu sein, — man hat mirindessen 3 Bücherkisten hierher gesandt. Auch die einzige wohlthätige undliebenswürdige Gesellschaft, die ich dort hatte, die ausgezeichnetenK ö c h l i n s , ebenso reiche als feine und an die besten Kreise gewöhnte Leute,fehlen zum ersten Male diesen Winter in Nizza. Es geht schlecht mit dem altenKöchlin, Madame C é c i l e hat mir ausführlich geschrieben: beständigesFieber. Sie sind bei Genua, in Nervi. — Dagegen habe ich aus Genf gute undheitere Nachrichten von Madame Fynn und ihrer russischen Freundin.

Das Allerbeste aber bekomme ich von meinem Freunde K ö s e l i t z zuhören, dessen ganze Existenz sich erstaunlich verändert hat. Nicht nur daß dieersten Künstler Berlins, Joachim, de Ahna sich auf das Tiefste für seine Werkeinteressiren, diesen anspruchsvollste und verwöhnteste Art Künstler, dieDeutschland hat: Du würdest vor Allem verwundert sein, daß er in den reichstenund vornehmsten Cirkeln Berlins nur verkehrt und sich mit allzuviel Erfolg umein schönes und erschrecklich reiches Mädchen bewirbt, obwohl er einen jungenGrafen Schlichen zum Rivalen hat. Ja die Herrn Musiker! Er hat schon denganzen Sommer auf dem Schloß seiner Prinzessin, in Hinterpommern,ungeheure Wälder, zwischen lauter Junkern und Gardeoffizieren gelebt; aber siewill nichts als Musik von Köselitzen g e i g e n und singen. — Vielleicht erlebtseine Oper ihre erste Aufführung in Berlin; Graf Hochberg steht den Kreisennahe, die er frequentirt. —

Im Grunde ist Dein altes Geschöpf jetzt ein ungeheuer berühmtes Thier:nicht gerade in Deutschland, denn die Deutschen sind zu dumm und zu gemeinfür die H ö h e meines Geistes und haben sich immer an mir blamirt, aber sonstüberall. Ich habe lauter a u s g e s u c h t e Naturen zu meinen Verehrern; lauterhochgestellte und einflußreiche Menschen, in St. Petersburg, in Paris, inStockholm, in Wien, in New-York. Ach wenn Du wüßtest, mit welchen Wortenmir die e r s t e n Personnagen ihre Ergebenheit ausdrücken, die charmantestenFrauen, eine Madame la princesse Ténicheff, durchaus nicht ausgeschlossen. Ichhabe wirkliche Genies unter meinen Verehrern, — es giebt heute keinen Namen,der mit so viel Auszeichnung und Ehrfurcht behandelt wird, als der meine. —Siehst Du, das ist das Kunststück: ohne Name, ohne Rang, ohne Reichthumwerde ich hier wie ein kleiner Prinz behandelt, von Jedermann bis zu meinerHökerin herab, die nicht eher Ruhe hat als bis sie das Süßeste aus allen ihren

Trauben zusammengesucht hat (das Pfund jetzt 28 Pf.)Zum Glück bin ich jetzt Allem gewachsen, was meine Aufgabe von mir

verlangt. Meine Gesundheit ist wirklich ausgezeichnet; die schwerstenAufgaben, zu denen noch nie ein Mensch stark genug war, fallen mir leicht.Turin ist wirklich meine Residenz; ah mit welcher D i s t i n k t i o n man michhier behandelt! —

Meine alte Mutter, empfange, zum Schluß des Jahres, meine herzlichstenWünsche und wünsche mir selber ein Jahr, das den großen Dingen, die in ihmgeschehn müssen, in jeder Hinsicht entspricht.

Dein altes Geschöpf.1206. An Ferdinand Avenarius in Dresden (Fragment)

<Turin, kurz vor dem 22. Dezember 1888>

— — — Ihr Blatt hat bei weitem das Tiefste und Schönste über mich gesagt,was bisher gesagt worden ist. — — —1206. An Ferdinand Avenarius in Dresden

Turin, 22. Dezember 1888

Sehr geehrter Herr,

soeben fiel mir ein, daß es in Ihrem und vielleicht auch in meinem Interessewäre, wenn Sie den Aufsatz des Herrn Heinrich Köselitz separatim, alsBroschüre von wenig Blättern herausgeben wollten. Es ist aller Anschein dafürda, daß er ungeheuer gelesen und gehört würde. Sie können nicht glauben,welche Zeichen von Huldigungen mir von überall jetzt zukommen: ein paarMonate später, mit dem Erscheinen von E c c e h o m o , von dem 2 Bogengedruckt sind, rechne ich meine Anhänger nach Millionen. Ihr „Kunstwart“ wirdsich dabei nicht schlecht befinden, wenn er das e r s t e Wort dieser Art gesagthat.

Der A n t i c h r i s t .1207. An Heinrich Köselitz in Annaberg

Turin, den 22. Dezember 1888.

Lieber Freund,

dies Papier habe ich entdeckt, das Erste, auf dem ich schreiben kann.Insgleichen Feder, diesen aber aus Deutschland: Sönnekken’s Rundschrift-Feder. Insgleichen Tinte, diesen aber aus New-York, theuer, ausgezeichnet. —Ihre Nachrichten sind ausgezeichnet; der Fall Joachim ist ersten Ranges. OhneJuden giebt es keine Unsterblichkeit, — sie sind nicht umsonst „ewig“. — Auch

Dr. Fuchs macht seine Sache vortrefflich; ich bekenne, daß, s o l a n g e es einechance Hochberg giebt — es kann ja jeden Augenblick ein toller Wagnerianeran seine Stelle treten — ist die Chance im Auge zu behalten. — Von HerrnWiedemann erbitten Sie sich, so rücksichtsvoll wie möglich, das Exemplarwieder aus: ich muß das Werk gegen alle Zufälle von Leben und Tod sicherstellen. —

Sehr curios! Ich verstehe seit 4 Wochen meine eignen Schriften, — mehrnoch, ich schätze sie. Allen Ernstes, ich habe nie gewußt, was sie bedeuten; ichwürde lügen, wenn ich sagen wollte, den Zarathustra ausgenommen, daß sie mirimponirt hätten. Es ist die Mutter mit ihrem Kinde: sie liebt es vielleicht, aber invollkommner Stupidität darüber, was das Kind i s t . — Jetzt habe ich dieabsolute Überzeugung, daß Alles wohlgerathen ist, von Anfang an, — AllesEins ist und Eins will. Ich las vorgestern die „Geburt“: etwas Unbeschreibliches,t i e f , zart, glücklich…

Gehn Sie nicht zu Prof. Deussen: er ist zu stupid für uns, — zu gewöhnlich.— Herr Spitteler ist, seit I h r e m „Kunstwart“, zur S a l z s ä u l e erstarrt: erblickt auf seine Dummheit vom letzten Januar zurück…

Die Schrift N<ietzsche> contra W<agner> wollen wir nicht drucken. Das„Ecce“ enthält alles Entscheidende auch über diesen Beziehung. Die Partie,welche, unter Anderm, auch den maestro „Pietro Gasti“ bedenkt, ist bereits in„Ecce“ eingetragen. Vielleicht nehme ich auch das Lied Zarathustras — esheißt: „von der Armut des Reichsten“ — noch hinein. Als Zwischenspielzwischen 2 Hauptabschnitten.

Unbeschreiblich delikater Brief von Ms. Taine aus Paris (— er bekommtauch P e t e r G a s t zu lesen!); er beklagt, für toutes mes audaces und finessesnicht genug deutsch zu verstehn — das heißt nicht gleich b e i m e r s t e nB l i c k sie zu verstehn — und empfiehlt mir, als einen competenten Leser, deraufs Tiefste auch Deutschland und deutsche Litteratur studirt habe, NiemandGeringeres als den Chef-Redakteur des Journal des Débats und der Revue desdeux Mondes, Ms. Bourdeau, eine der ersten und einflußreichsten PersonnagenFrankreichs. D e r soll mein Bekanntwerden in Frankreich in die Hand nehmen,die Frage der Übersetzung: dazu empfiehlt ihn Ms. Taine. — Damit ist dergroße Panama-Canal nach Frankreich hin eröffnet.Meine herzlichsten Grüße an Ihre verehrten Angehörigen!E r s t e r S c h n e e , hübsch!!!

Ihr Freund Nietzsche.1208. An Andreas Heusler in Basel (Visitenkarte)

Torino, via Carlo Alberto 6, III <22. Dezember 1888>

Es giebt jetzt keinen Zufall mehr in meinem Leben. Diese Nacht gedachte icheines von mir besonders verehrten Baslers — ich hüte mich zu sagen wen: undeben kommt ein Brief von Overbeck..1209. An Franz Overbeck in Basel

Turin, den 22. Dezember 1888

Lieber Freund,

ich danke Dir herzlich für Deine Worte, obgleich Du, gemäß dem tiefenVertrauen, das wir zu einander haben, vollkommen das Recht hättest, jahrelangzu schweigen. Auch habe ich eben einen Gruß an Andreas Heusler abgeschickt:ein sehr angenehmer Zufall wollte, daß er mir diesen Nacht einfiel und mitbesonders guten Empfindungen. Vergebung! aber fast jeder Brief, den ich jetztschreibe, beginnt mit dem Satz, daß es keinen Zufall mehr in meinem Lebengiebt. — C. G. Naumann hat mir noch nicht mitgetheilt, ob und wann dieVersendung der G ö t z e n - D ä m m e r u n g beginnen soll. Ich glaube, er hatjetzt sehr viel mit mir zu thun; vom E c c e h o m o sind 2 Druckbogenangelangt. — Dies Mal habe ich Basel so bedacht, daß man schon den Versuchmachen muß, mich kennen zu lernen. Und man kommt jetzt wenigstens darüberüberein, daß ich nicht stupid bin. Abgesehn von Deinem Exemplar, sindExemplare für die B i b l i o t h e k , für die L e s e g e s e l l s c h a f t , für dieB a s l e r N a c h r i c h t e n , für Hr. S p i t t e l e r bestimmt. Jakob Burckhardt,der zweimal mit außerordentlichen Ehren vorkommt, hat das allerersteExemplar bekommen, das Naumann für m i c h schickte. — Was ich wünschte,ist, daß ein capitaler Aufsatz über mich von Köselitz, ein Meisterstück vonPräcision und Tiefe, im K u n s t w a r t erschienen, dessen Redakteur mich auchals „Hochzuverehrender!“ anredet, etwa in den B a s l e r N a c h r i c h t e nabgedruckt würde. Es ist durchaus nichts Provocirendes darin; „daß dasVerhalten der Deutschen gegen Nietzsche ein neues Blatt zur Geschichte ihrerzunehmenden geistigen Inferiorität liefert“, wird hoffentlich die Basler nichtbeleidigen. —

Und nun der „F a l l F r i t z s c h !“ — Dessentwegen muß ich Dirschreiben. Mein Verleger! Der Verleger des Zarathustra! — Ich habe auf derStelle an ihn geschrieben: „Wie viel verlangen Sie für meine gesammteLitteratur? In aufrichtiger Verachtung Nietzsche“. Antwort: c. 11 000 Mark. —

Es ist eine A n s t a n d s s a c h e für mich, ich werde mich hüten, das Wort„Ehre“ solchem Gesindel gegenüber zu mißbrauchen. — C. G. Naumann, indieser Sache mir zurathend, empfiehlt noch zu warten und eine Reduktion des

Preises zu erzielen. Freilich dürfte die Art, wie jetzt von mir gesprochen wird,ihn stutzig machen, so daß ich nicht an Reduktion glaube. Im Grunde ist dieSache ein Glücksfall ersten Rangs: ich bekomme den A l l e i n b e s i t z meinerLitteratur in die Hand im Augenblick, wo sie v e r k ä u f l i c h wird. Denn auchdie Werke bei C. G. Naumann gehören allein mir.

P r o b l e m : wie schaffe ich jetzt 11 000 Mark? Wie viel würden meineBasler Ersparnisse zusammen ausmachen? (— ich bekenne, sie warenn i c h t dafür, sondern für die großen Druckkosten der nächsten Jahre bestimmt.Zuletzt könnte ich zum ersten Male in meinem Leben Geld d a f ü r borgen, dadie „Zahlungsfähigkeit“ bei mir in den nächsten Jahren gar nicht unbeträchtlichwerden dürfte. Mit einem guten Pariser Verleger, Lemerre zB., will ich fürE c c e h o m o , mit Vermittlung dieses allereinflußreichsten Chefredakteursder beiden d o m i n i r e n d e n Blätter Frankreichs, Bedingungen ausmachen,wie die ersten Pariser Romanciers sie haben — u n d ich werde an Zahl derAuflagen selbst Zola’s Nana überwinden… Was r ä t h s t D u ? — Dir undDeiner lieben Frau ein fröhliches Weihnachten wünschend

Dein Freund N.Bemerke, ich hatte Taine ganz direkt um die Mittel ersucht, in Frankreich

gelesen zu werden, übersetzt zu werden: zu d i e s e m Zweck nennt er mir Ms.B<ourdeau>, aber so delikat, daß es anders klingt.1209a. An Giosué Carducci in Italien (Entwurf)

<Turin, 25. Dezember 1888>

Verehrter Herr,

Ich weiß nur zu gut, wie gut sie deutsch verstehen: erwägen Sie, ob Sie nichterst diese Schrift N<ietzsche> c<ontra> W<agner> den Italiänern vorstellenwollen? Man muß in Italien einen Anfang mit mir machen: ich habe die erstenIntelligenzen Europas für mich — Monsieur Taine zum Beispiel — [— — —]1210. An Franz Overbeck in Basel

<Turin> W e i h n a c h t e n . <1888>Lieber Freund

wir müssen die Sache mit Fritzsch schnell machen, denn in zwei Monaten binich der erste Name auf der Erde. —

Ich wage noch zu erzählen, daß es in Paraguay so schlimm als möglich steht.Die hinüber gelockten Deutschen sind in Empörung, verlangen ihr Geld zurück— man hat keins. Es sind schon Brutalitäten vorgekommen; ich fürchte dasÄußerste. — Dies hindert meine Schwester n i c h t , mir zum 15. Oktober mit

äußerstem Hohne zu schreiben, ich wolle wohl auch anfangen „berühmt“ zuwerden. Das sei freilich eine süße Sache! und was für Gesindel ich mirausgesucht hätte, Juden, die an allen Töpfen geleckt hätten wie GeorgBrandes… Dabei nennt sie mich „Herzensfritz“… D i e s dauert nun 7 Jahre! ——

Meine Mutter hat keine Ahnung bisher davon — das ist mein Meisterstück.Sie schickte mir zu Weihnachten ein Spiel: F r i t z und L i e s c h e n …

Was hier in Turin merkwürdig ist, das ist eine vollkommene Fascination, dieich ausübe, obwohl ich der anspruchsloseste Mensch bin und N i c h t s verlange.Aber wenn ich in ein großes Geschäft komme, so verändert sich jedes Gesicht;die Frauen auf der Straße blicken mich an, — meine alte Hökerin legt für michdas Süßeste von Trauben zurück und h a t d e n P r e i s e r m ä ß i g t !… Erist an sich lächerlich… Ich esse in einer der ersten Trattorien, mit 2 ungeheurenEtagen von Sälen und Zimmern. Ich zahle für jede Mahlzeit 1 fr. 25 mitTrinkgeld — und ich bekomme das Ausgesuchteste in der ausgesuchtestenZubereitung* —, ich habe nie einen Begriff davon gehabt, weder was Fleisch,noch was Gemüse, noch was alle diesen eigentlichen ita<lienischen> Speisensein k ö n n e n … Heute z. B. die delikatesten ossobuchi, Gott weiß, wie mandeutsch sagt, das Fleisch an den Knochen, wo das herrliche Mark ist! Dazubroccoli auf eine unglaubliche Weise zubereitet, zuerst die allerzartestenMaccaroni. — Meine Kellner glänzen vor Feinheit und Entgegenkommen: dasB e s t e ist, ich mache Niemanden dümmer..

Da in meinem Leben noch Alles möglich ist, so notire <ich> mir alle diesenIndividuen, die in dieser u n e n t d e c k t e n Zeit mich entdeckt haben. Ichverschwöre es nicht, daß mich bereits mein zukünftiger Koch bedient. —

Noch Niemand hat mich für einen Deutschen gehalten… Ich lese das Journaldes Débats, man hat es mir instinktiv beim ersten Betreten des ersten Cafésgebracht. —

Es giebt auch keine Zufälle mehr: wenn ich an Jemand denke, tritt ein Briefvon ihm höflich zur Thür herein…

Naumann ist in einem prachtvollen Feuereifer. Ich habe den Argwohn, daß erdie Festtage hat drucken lassen. Es sind 5 Bogen in 2 Wochen mir zugeschicktworden. Den Schluß von E c c e h o m o macht ein Dithyrambus von einerganz grenzenlosen Erfindung, — ich darf nicht daran denken, ohne zuschluchzen.

Unter uns, ich komme dieses Frühjahr nach Basel, — ich habe es n ö t h i g !Zum Teufel, wenn man nie ein Wort im Vertrauen sagen kann..

Dein Freund N.

Dr. Fuchs führt eben das Duett K<öselitzen>s in einem Danziger Concertauf, er wünscht fürs dortige Theater den L ö w e n v o n Ve n e d i g ! InAnbetracht aber, daß Joachim seine Theilnahme fortsetzt, so ist das Werk sehrwahrscheinlich vom Grafen Hochberg alsbald in Beschlag genommen..K<öselitz> ist fortgelaufen für die Weihnachtszeit zu seinen Eltern, um sichnicht b e s c h e n k e n zu lassen… Die von Krauses machen in derWeihnachtszeit (wie sonst) einen fürstlichen Aufwand: sie senden z. B. an jedeFamilie ihrer Dörfer eine Weihnachtskiste. K<öselitz> hat Krause zu seinemVenediger Freunde dem berühmten Passini geführt, um ihm einige Tausende zuverdienen zu geben. — P<assini> lebt jetzt in Berlin.* M o r a l : ich habe auch noch nie einen verdorbenen Magen gehabt..1 essay(s) in Contexta1211. An Cosima Wagner in Bayreuth (Entwurf)

<Turin, etwa 25. Dezember 1888>

Verehrte Frau,

im Grunde die einzige Frau, die ich verehrt habe… lassen Sie es sich gefallen,das erste Exemplar dieses Ecce homo entgegenzunehmen. Es wird d<a>r<in>im Grunde alle Welt schlecht behandelt, Richard W<agner> ausgenommen —und noch Turin. Auch kommt Malvida als Kundry vor…

Der Antichrist.1 essay(s) in Contexta1212. An Franz Overbeck in Basel

<Turin, 26. Dezember 1888> Freitag, Morgens.

Lieber Freund,

soeben mußte ich lachen: mir fiel Dein alter Kassierer ein, den ich noch zuberuhigen habe. Es wird ihm wohlthun, zu hören, daß ich seit 1869 nicht mehrheimatberechtigt in Deutschland bin und einen wunderschönen Basler Paßbesitze, der mehrere Male von schweizerischen Konsulaten erneuert worden ist.—

— Ich selber arbeite eben an einem Promemoria für die europäischen Höfezum Zwecke einer antideutschen Liga. Ich will das „Reich“ in ein eisernesHemd einschnüren und zu einem Verzweiflungs-Krieg provociren. Ich habenicht eher die Hände frei, bevor ich nicht den jungen Kaiser, s a m m t Zubehörin den Händen habe.

Unter uns! S e h r unter uns! — Vollkommene Windstille der Seele! ZehnStunden ununterbrochen geschlafen!

N.1213. An Constantin Georg Naumann in Leipzig

<Turin,> den 27. December <1888>

Geehrter Herr,

Sehr verbunden für den Eifer, mit dem der Druck vorwärts geht. Ich habesowohl die 2 Bogen E c c e als die 2 Bogen N. contra W. druckfertig an Siezurückgeschickt. —

Soeben meldet mir D r . C a r l F u c h s , daß er eine Schrift gegen Wagnerverbrochen habe, die in Danzig durch esprit und Feinheit — er hat sie in derlitterarischen Gesellschaft vorgelesen — und auch bei besonderen Fachkennerneinen außerordentlichen Erfolg gehabt hat. — Dr. Fuchs ist bei weitem dergeistreichste Musiker; das war auch Richard Wagners eigne Meinung. — Ichhabe ihm geschrieben, daß ich gerne die Herstellungskosten tragen würde; es istmir wesentlich, daß ein M u s i k e r mir wieder in dieser Sache Recht giebt. —

Ich nehme an, daß wir die Versendung der G ö t z e n - D ä m m e r u n gimmer noch h i n a u s s c h i e b e n ? Es hat nicht den geringsten Sinn, jetzt mitPublikationen zu eilen. —

Auch wollen wir so wenig als möglich überflüssige Exemplare verschenkenund es im Wesentlichen als ein Buch für die betrachten, die näher schon mitmeiner Absicht und Aufgabe vertraut sind. Ü b e r f l ü s s i g zum Beispiel wäreein Exemplar nach Paraguay. — Die Verhandlungen zum Zweck einerfranzösischen und englischen Übersetzung der G ö t z e n - D ä m m e r u n gsind eingeleitet. —

Alles erwogen, wollen wir im Jahre 1889 die G ö t z e n - D ä m m e r u n gund N i e t z s c h e c o n t r a W a g n e r herausgeben: letztere <Schrift>vielleicht zuerst, da mir von allen Seiten geschrieben wird, daß mein „FallWagner“ eigentlich erst eine wirklich öffentliche Aufmerksamkeit für michgeschaffen habe.

E c c e h o m o , das, sobald es fertig ist, in die Hände der Übersetzerüberzugehn hat, könnte keinesfalls vor 1890 fertig sein, um in den drei Sprachenzugleich zu erscheinen.

Für die U m w e r t h u n g a l l e r W e r t h e habe ich noch gar keinenTermin. Der Erfolg von E c c e h o m o muß hier erst vorangegangen sein. —Daß das Werk druckfertig ist, habe ich Ihnen geschrieben.

Als Vorrede zu der Arbeit des Dr. Fuchs würden wir den ausgezeichnetenAufsatz des Hr. Gast nehmen können; ich habe schon mit Avenarius darübermich verständigt. Titel etwa:

D e r F a l l N i e t z s c h e .Randbemerkungenzweier Musikanten

1214. An Carl Fuchs in Danzig

<Turin,> 27. Dezember 1888.

Alles erwogen, lieber Freund, hat es von jetzt ab keinen Sinn mehr, über michzu reden und zu schreiben; ich habe die Frage, w e r i c h b i n , mit der Schrift,an der wir drucken E c c e h o m o für die nächste Ewigkeit ad acta gelegt. Mansoll sich fürderhin nie um mich bekümmern, sondern um die Dinge,derentwegen ich da bin. — Auch könnte sich in den nächsten Jahren einedergestalt ungeheure Umgestaltung meiner äußern Lage ereignen, daß selbstjede Einzelfrage im Schicksal und Lebensaufgabe meiner Freunde davonabhängig würde, — nicht zu reden davon, daß solche ephemere Gebilde wie„das deutsche Reich“ in jeder Rechnung für das, was kommt, wegbleibenmüssen. — Zunächst wird N i e t z s c h e c o n t r a W a g n e rherauskommen, wenn Alles geräth, auch noch französisch. Das Problem unsresAntagonism<us> ist hier so tief genommen, daß eigentlich auch die FrageWagner ad acta gelegt ist. Eine Seite „Musik“ über Musik in der genanntenSchrift ist vielleicht das Merkwürdigste, was ich geschrieben habe .. Das, wasich über Bizet sage, dürfen Sie nicht ernst nehmen; so wie ich bin, kommtB<izet> Tausend Mal für mich nicht in Betracht. Aber als ironischeA n t i t h e s e gegen W<agner> wirkt es sehr stark; es wäre ja eineGeschmacklosigkeit ohne Gleichen gewesen, wenn ich etwa von einem LobeBeethovens hätte ausgehen wollen. Zu alledem war W<agner> rasend neidischauf Bizet: Carmen ist der größte Opern-Erfolg überhaupt in der Geschichte derOper und hat bei weitem die Zahl der Aufführungen aller Wagnerischen Opernzusammen in Europa für sich allein überboten. —

Die stupide Taktlosigkeit F r i t z s c h s , mich in seinem eignen Blatte zuverhöhnen, hat den großen Nutzen, daß sie mir einen Anlaß bot, F<ritzsch> zuschreiben: wie viel wollen Sie für meine ganze Litteratur? In aufrichtigerVerachtung Nietzsche. Antwort: 11 000 Mark. — Gesetzt, daß ich auf diesenWeise, im letzten Augenblick Alleinbesitzer meiner Werke werde (— denn auchC. G. Naumann besitzt nichts von mir), so war die Dummheit F<ritzsch>s einGlücksfall ersten Rangs. — Ich will schon dafür Sorge tragen, daß Sie zurrechten Zeit alle meine Schriften, die Ihnen fehlen, zugeschickt bekommen:warten Sie nur noch ein wenig! — Der Gedanke mit Rostock, gesetzt auch daßes ein Interim-Gedanke von zwei Jahren wäre, scheint mir sehr vorzüglich,

namentlich in der Übung und Einübung der eigentlichen Dirigenten-Qualitäten,— auch sonst…

Lieber Freund, ich bitte Sie dringend darum, Ihre Schrift über Wagner anmeinen Verleger Herrn C. G. Naumann zu schicken: Sie dürfen sie mir mit einerkleinen Vorrede widmen. Wir müssen die Deutschen durch e s p r i t rasendmachen…

Den T r i s t a n umgehn Sie ja nicht: es ist das c a p i t a l e Werk und voneiner Fascination, die nicht nur in der Musik, sondern in allen Künsten ohneGleichen ist. —

Ich schlage vor, den ausgezeichneten Aufsatz des Herrn Köselitz über michals Vo r r e d e zu Ihrer Schrift gegen W<agner> voranzudrucken: macht einenprachtvollen Eindruck.

T i t e l : D e r F a l l N i e t z s c h evon Peter Gast und Carl Fuchs

1 essay(s) in Contexta1215. An Heinrich Köselitz in Annaberg

<Turin, 27. Dezember 1888>

Ein Wort nur, lieber Freund! Ich proponire eben Herrn Dr. Fuchs, seine Schriftgegen Wagner im Bunde mit Ihnen herauszugeben, so daß Ihr AufsatzimK u n s t w a r t die Einleitung macht — oder die Vorrede. Ich habe bereitsmich mit Avenarius über eine Separat-Ausgabe derselben verständigt (— wiebillig, könnten Sie etwas Weggestrichnes wieder herstellen). T i t e l , wasdenken Sie?

D e r F a l l N i e t z s c h e .Randbemerkungenzweier Musikanten.

Auch schadet es Nichts, wenn Sie mich ein wenig als Musiker behandeln —den stupiden Deutschen käme dergleichen nie in den Kopf.1216. An Constantin Georg Naumann in Leipzig (Postkarte)

<Turin, 28. Dezember 1888>

Ich habe einen Accent vergessen auf Seite 4 von N.c.WGéraudel

Auf Seite 6 fünfte Zeile von unten muß es heißen:aus drei Gründen,

N.Ein gutes Neujahr — für uns Beide…

1217. An Jean Bourdeau in Paris (Entwurf)

<Turin, kurz vor dem 29. Dezember 1888>

Zuletzt, verehrter Herr, verberge ich mir, als alter Leser des J<ournal> d<es>D<ébats> nicht, wie wenig Sie gerade jetzt für mich Zeit haben werden.Nehmen Sie an, daß ich zufrieden bin, mich Ihnen vorgestellt zu haben, — unddaß ich warten kann…1218. An Julius Kaftan in Berlin (Entwürfe)

<Turin, gegen Ende Dezember 1888>

Werther Herr Professor,

Sie gehören, mit Ihrem Besuch in Sils von vorigem Sommer, zu denhaarsträubenden Geschichten meines Lebens. Ich übersende Ihnen ein Buch, dasin zehn Tagen Ihres Aufenthalts daselbst entstanden ist, nur um Ihnen einenBegriff davon zu geben, daß der Ort, den der tiefste Geist aller Jahrtausendesich ausgewählt hat, keine Theologen verträgt.

Herrn Professor K a f t a nWerthester Herr Professor, Sie gehören, mit Ihrem Besuch in Sils, zu denhaarsträubenden Geschichten meines Lebens. Das hindert mich nicht, Ihnengewogen zu sein: Zeugniß die Übersendung des beifolgenden Buchs. — In zweiJahren wird Ihnen jeder Zweifel daran benommen sein, daß i c h von nun an dieWelt regiere

Friedrich Nietzsche.1219. An Carl Spitteler in Basel (Entwurf)

<Turin, gegen Ende Dezember 1888>

Werther Herr,

Sie sind, mit Dr. Widmann, ein extremer Fall in meinem Leben. Ich bekenne,daß ich den Fall Spitteler nicht verstehe: ich bin an Ehrfurcht gewohnt,vergeben Sie mir das Wort — nicht von irgend Jemand, sondern von dene r s t e n Geistern, die es heute giebt. Sie sollten einen Begriff davon haben,wie Ms Taine an mich schreibt. — Im Grunde verstehe ich Sie nicht. Ihre Worteüber „die Geneal<ogie> der Moral“, die mich im Zustand tiefster Versenkung inmeine ungeheure Aufgabe trafen, werden mir unvergeßlich bleiben. Nehmen Siealle Höhe, alle Geisteskraft alle Schöpfungen der ersten Individuen derM<ensch>h<eit> zusammen — Sie bringen nicht eine S e i t e dieses Werkeshervor, geschweige denn ihre Form. — Es ist gar nicht nöthig, Viel von mir zulesen, eine S e i t e , um eine Distanz aufzurichten, über die Niemand

hinwegspringt. Sie haben nicht einmal gemerkt, daß die Schrift über W<agner>von mir handelt.1220. An Constantin Georg Naumann in Leipzig

<Turin, den 29. Dec. 1888>

Geehrter Herr Verleger,

mich bestens für Ihre so eben erhaltne Mittheilung bedankend, möchte ich Siebitten, die Fortsetzung der Drucklegung des E c c e anzuordnen, sobald N.c.W.fertig ist. Einstweilen kommt E c c e auch für Übersetzungs-Pläne noch nicht inBetracht. Ein äußerst liebenswürdiger und entgegenkommender Brief des Ms.Bourdeau, Chefredakteur des J. des Débats, der heute eintraf und der mirerzählt, wie lange und wie gut er meine Werke kenne, nimmt zunächst la„C r é p u s c u l e d e s i d o l e s “ in Aussicht. — Über das g l e i c h e Werkverhandle ich hinsichtlich einer englischen und eineri t a l i ä n i s c h e n Übersetzung. Man muß erst eine Brücke geschaffen haben.—

Ein Rest von Ms, lauter extrem wesentliche Sachen, darunter das Gedicht,mit dem E c c e h o m o schließen soll, ein non plus ultra von Höhe undErfindung — ist heute e i n g e s c h r i e b e n an Sie abgegangen. — Mit bestemGruß und Neujahrswunsch

ergebenstNietzsche

— Ich bin Ihrer Meinung, daß wir auch für E c c e die Zahl von 1000Exemplar nicht überschreiten wollen: 1000 Exemp<lar>e in Deutschland ist fürein Werk hohen Stils vielleicht schon ein wenig verrückt, — in Frankreichrechne ich, a l l e n E r n s t s , auf 80—400 000 Exemplare. —

Eine Besprechung vom „Fall W<agner>“ im J. des Déb. für Januar inAussicht1221. An Franz Overbeck in Basel (Entwurf)

<Turin, etwa 29. Dezember 1888>

Lieber Freund, Dein Brief überrascht mich nicht. Ich rechne es Niemandem an,wenn er nicht weiß, wer ich bin; es steht Niemandem frei, das zu wissen. Esstünde schlimm um mich, wenn ich meine paar menschl<ichen> Beziehungenmir mit absurden Ansprüchen verdorben hätte. Ich habe keinen Augenblick inmeinem Leben gegen Dich irgend ein Mißtrauen oder auch nur Verstimmungverspürt: Du bist sogar einer der ganz Wenigen, — gegen die ich tiefverpflichtet bin. — Daß ich kein Mensch, sondern ein S c h i c k s a l bin, das ist

kein Gefühl, welches sich mittheilen ließe. Du brauchst es mir auch heute nichtzu glauben: ich selber glaube sehr ungern daran. Es fehlt mir nicht an Bosheitund Übermuth, um gelegentlich mich über mich lustig zu machen.1222. An Franz Overbeck in Basel

<Turin, 29. Dezember 1888>

Nein, lieber Freund, mein Befinden ist nach wie vor ausgezeichnet; nur habe ichden Brief bei s e h r s c h l e c h t e m Licht geschrieben — ich erkannte nichtmehr, was ich schrieb. Auch darfst Du nicht denken, daß jene „traurigen“Mittheilungen auch nur im Entferntesten mich berührten; das liegt seit Jahrentausend Meilen unter mir. — Die Sache mit F<ritzsch> laufen zu lassen istjedenfalls die Vernunft selbst: er hat mir in seinem neuesten Brief noch erklärt,daß er sich an die genannte Ziffer g e b u n d e n wisse. — Ich bin heute sehrglücklich über einen überaus liebevollen und delikaten Brief des Ms. Bourdeau,der mir erzählt, wie viel er von mir schon kenne und wie er von seinem FreundeHillebrand sehr gut über mich seit lange unterrichtet worden sei. Das Journaldes Déb<ats> bringe im Monat Januar einen Artikel über den „Fall Wagner“ ausder Feder M o n o d ’ s . — Auch Heusler hat mir auf das Herzlichstegeschrieben. —

„C r é p u s c u l e d e s i d o l e s “ wird zuerst in Angriff genommen; ichbin für die Übersetzung desselben Werks mit Miß Helen Zimmern inUnterhandlung, die auch schon Schopenhauer den Engländern vorgestellt hat.— (Ich verhandle auch mit B o n g h i —) Unterschätze nicht, daß ich den FallFritzsch als G l ü c k s f a l l empfinde…

Mein Brief kommt gerade zur rechten Zeit, um Dir und Deiner lieben Frauherzlich zum neuen Jahr Glück zu wünschen.

Dein Freund N— Weißt Du, in meiner ä u ß e r e n Lage verändert sich in den nächsten Jahrengar nichts, vielleicht überhaupt nicht mehr. Ich mag jeden Grad von Ansehnerreichen, ich will weder meine Gewohnheiten, noch mein Zimmer für 25 frs.aufgeben. Man muß sich an d i e s e Sorte Philosoph gewöhnen. —

Es ist wieder recht schlechtes Licht — come in L o n d r a , sagen mir dieTuriner seit 6 Tagen. Nebbia!…

Ich bildete mir sogar ein, ich hätte Dir lauter s e h r h e i t r e Sachengeschrieben? — Aufrichtig, ich weiß gar nicht mehr, wie das aussieht, was manÄrger nennt…1223. An Meta von Salis auf Marschlins

Turin, den 29. Dez. 1888.

Verehrtes Fräulein,

es ist vielleicht nicht verboten, Ihnen um die Jahreswende einen Gruß zu senden— Hoffentlich giebt es ein g u t e s Jahr. Vom a l t e n sage ich gar Nichts mehr— es war z u g u t …

Inzwischen fange ich an, auf eine vollkommen unerhörte Weise berühmt zuwerden. Ich glaube, daß noch nie ein Sterblicher solche Briefe bekommen hat,wie ich sie bekomme und nur von lauter a u s g e s u c h t e n Intelligenzen, vonCharakteren in hohen Pflichten und Stellungen bewährt. Überall her: nicht amwenigsten aus der ersten St. Petersburger Gesellschaft. Und die Franzosen! Siesollten den Ton hören, mit dem Ms. Taine an mich schreibt! So eben traf einbezaubernder, vielleicht auch bezauberter Brief eines der ersten undeinflußreichsten Männer Frankreichs ein, der aus dem Bekanntwerden undÜbersetzen meiner Schriften sich eine Aufgabe machen will: kein Geringerer alsder Chef-Redakteur des Journal des Débats und der Revue des deux MondesMs. Bourdeau. Er sagt mir übrigens, daß eine Besprechung meines „FallWagner“ im Januar des J. d Déb. erscheinen werde — von wem? Von M o n o d .— Ich habe ein veritables Genie unter meinen Lesern, den Schweden AugustStrindberg, der mich als den tiefsten Geist aller Jahrtausende empfindet. Ichsende Ihnen einen Aufsatz im „Kunstwart“, mit der Bitte, ihn mir gelegentlichzurückzugeben, der in der That auf eine vollkommene Weise den „FallNietzsche“ präcisirt. — Das Merkwürdigste ist hier in Turin eine vollkommneFascination, die ich ausübe — in allen Ständen. Ich werde mit jedem Blick wieein Fürst behandelt, — es giebt eine extreme Distinktion in der Art, wie man mirdie Thür aufmacht, eine Speise vorsetzt. Jedes Gesicht verwandelt sich, wennich in ein großes Geschäft trete. — Und da ich Nichts beanspruche und mitvollkommner Gelassenheit gegen Jedermann gleich bin, auch das Gegentheileines düsteren Gesichts habe, so brauche ich weder Namen, noch Rang, nochGeld, um immer noch unbedingt der Erste zu sein. —

Damit es nicht am C o n t r a s t e fehlt! meine Schwester hat mir zu meinemGeburtstage mit äußerstem Hohne erklärt, ich wolle wohl auch anfangen,„berühmt“ zu werden… Das werde ein schönes Gesindel sein, das an m i c hglaube… Dies dauert jetzt s i e b e n Jahre… —

Noch ein a n d r e r Fall. Ich halte ernsthaft die Deutschen für eineh u n d s g e m e i n e Art Mensch und danke dem Himmel, daß ich in allenmeinen Instinkten Pole und nichts Andres bin. Mein Verleger, Herr E. W.Fritzsch, hat bei Gelegenheit vom „Fall Wagner“ einen der schnödesten Artikelüber mich in dem von ihm selbst redigirten M u s < i k a l i s c h e n >

W o c h e n b l a t t abdrucken lassen. Ich habe ihm darauf sofort geschrieben„Wieviel verlangen Sie für meine ganze Litteratur? In aufrichtiger VerachtungNietzsche.“ — Antwort: 11 000 Mark. — Sehen Sie! Das ist deutsch… derVerleger desZ a r a t h u s t r a !

Georg Brandes geht diesen Winter wieder nach St. Petersburg, um über dasUnthier Nietzsche Vorträge zu halten. Er ist wirklich ein ausgezeichnetintelligenter und guter Mensch, ich habe noch nie so delikate Briefe bekommen.— Es wird auf das Eifrigste gedruckt, f e u e r eifrigst… Inzwischen ist HerrKöselitz ein großes Thier geworden: Joachim und de Ahna schwärmen fürdiesen neuen „Klassiker“, — ich füge hinzu, daß er in einem der glänzendstenHäuser Berlins mit nur allzuglücklichem Erfolg sich um ein merkwürdigschönes und interessantes Mädchen bewirbt, obwohl er einen Grafen Schliebenzum Rivalen hat. Er war schon den ganzen Sommer auf dem Waldschloß seinerPrinzessin in Hinterpommern unter lauter Junkern und Gardelieutnants.Wahrscheinlich wird ihn Graf Hochberg um die erste Aufführung des L ö w e nv o n Ve n e d i g für Berlin angehen. — Kurz: U m w e r t h u n g a l l e rW e r t h e … Mit den besten Grüßen und Wünschen

Ihr N.Haben Sie davon gehört, daß Mad. Kowalewski in Stockholm (— sie stammt

vom alten Ungarnkönig Matthias Corvin) den allerersten mathematischen Preisvon der Pariser Akademie erhalten hat, den sie vergeben kann? Sie gilt heute alsdas einzige Genie der Mathematik. —1224. An Meta von Salis in Marschlins (Postkarte)

<Turin, 29. Dezember 1888>

Verehrtes Fräulein,

erweisen Sie mir die Gefälligkeit, den K u n s t w a r t nicht an mich, sondern anHerrn Prof. Dr. Overbeck (Basel, Seevogelstr.) weiter zu senden.Hochachtungsvoll ergeben

N.1225. An Constantin Georg Naumann in Leipzig (Postkarte)

Turin, 30. Dezember 1888

Auf Seite 6 unten ist der Text dergestalt zu erweitern: :ich nehme, aus drei Gründen, Wagner’s Siegfried-Idyll aus; vielleicht auch

Liszt, der die vornehmen Orchester-Accente vor allen Musikern voraushat; zuletzt noch Alles, was jenseits der Alpen gewachsen ist —

d i e s s e i t s … Ich würde Rossini usw. usw.1226. An Andreas Heusler in Basel

Torino, via Carlo Alberto 6, IIIden 30. Dezember 1888

Lieber Heusler,

ich gebe Ihnen sofort ein Zeichen meines Vertrauens, wie ich es jetzt nicht anfünf, sechs Andre geben möchte. Alle stupiden Geschichten in meinem Lebenkommen aus Deutschland: hören Sie die letzte! — Mein eigner Verleger E. W.Fritzsch in Leipzig, der neun Werke von mir hat (unter Anderem denZarathustra, das erste Buch aller Bücher, ich bitte um Vergebung für diesenAusdruck) — besagter F. hat mich bei Gelegenheit des „Fall Wagner“ in der vonihm selbst redigirten musikalischen Wochenschrift auf die schnödeste undpersönlichste Weise verhöhnen lassen. Darauf habe ich ihm geschrieben: „wieviel wollen Sie für meine ganze Litteratur? In aufrichtiger VerachtungNietzsche“ — Antwort: c. 11,000 Mark: das ist der d r i t t e Theil des brutto-Werthes der noch vorhandenen Exemplare (= 33,000 M) Mein eigentlicherVerleger, Herr C. G. Naumann, einer der ehrenwerthesten GeschäftsleuteLeipzigs und Besitzer einer großen Druckerei, räth mir unbedingt dazu, dieunerhörte Taktlosigkeit des Fritzsch als G l ü c k s f a l l zu betrachten, da ichdergestalt, unmittelbar vor dem Augenblick, wo ich „weltberühmt“ werde,meine ganze Litteratur in die Hände bekomme. Denn ich bin auch für denVerlag von C. G. Naumann (— 4 Werke bis jetzt) der Alleinbesitzer. Es wird aufmeine Kosten gedruckt und betrieben; ich habe noch keinen Centime Honorarempfangen (— einK u n s t s t ü c k , lieber Heusler! denn ich bin der Gegensatzeines vermöglichen Menschen, zum Glück aber sehr ökonomisch. Ich zahle z.B. hier 25 frs. für mein Zimmer, den Monat, mit Bedienung — ich will’s auchdurchaus nicht anders haben)

M o r a l d e r G e s c h i c h t e : ich brauche c. 14000 frs. — In Anbetracht,daß meine nächsten Werke sich nicht nach Tausenden, sondern nachZehntausenden verkaufen, und zwar zugleich französisch, englisch und deutsch,so darf ich unbedenklich jetzt mir die genannte Summe entleihen. Ich habe inmeinem Leben noch keinen centime Schulden gehabt. — Für dief r a n z ö s i s c h e n Übersetzungen meiner Bücher, sammt den dazu gehörigenVerleger-Arrangements, sorgt einer der einflußreichsten und intelligentestenMänner Frankreichs, der Chef-Redakteur des Journal des Débats und der Revuedes deux Mondes, Ms. Bourdeau, der mir gestern noch denallerliebenswürdigsten Brief schrieb — denn ich habe das Glück, daß mich

meine Anhänger lieben. Zunächst wird erscheinen: Crépuscule des idoles. —Die Beziehung zwischen uns ist durch Ms. Taine hergestellt, mit einerdélicatesse, die ich nicht genug bewundern kann. — Ich gelte, unter uns, inParis als das geistreichste Thier, das auf Erden dagewesen ist und, vielleicht,noch als etwas mehr..

Lieber Heusler! Der Rest ist S c h w e i g e n .. Alles unter u n s !

Friedrich Nietzsche— m i s i n c e r i a u g u r i …(Anbei folgt ein Wort über mich, absolut gescheut und ohne Hintergedanken:

der Verfasser, jetzt bei weitem der erste Musiker, mein maëstro, hat in Baselstudirt, als ich dort war — P e t e r G a s t (pseudon. für Heinrich Köselitz)

— ich bitte mir das Blatt zurück, da ich es nicht zwei Mal habe1227. An Heinrich Köselitz in Berlin (Entwurf)

<Turin,> Sonntag — S o n n t a g <30 Dzpar excellence

(obwohl es trübe ist —)Alter Freund,

unter meinem Fenster spielt, ganz als ob ich bereits princeps Taurinorum,Caesar Caesarum und dergleichen wäre, in aller Macht das Municipal-Orchestervon Turin z. B. eben noch rhapsodie hongroise ich erkenne das grandioseCleopatra-Werk von Mancinelli. Vorhin gieng ich an der mole Antonellianavorbei, dem genialsten Bauwerk, das vielleicht gebaut worden, — merkwürdig,es hat noch keinen Namen — aus einem absoluten Höhentrieb heraus, —erinnert an gar nichts außer an meinen Zarathustra. Ich habe es E c c e h o m ogetauft und im Geiste einen ungeheuren freien Raum herum gestellt. — Danngieng ich nach meinem palazzo, jetzt palazzo Madama — die madama dazuschaffen wir an —: kann vollkommen b l e i b e n wie er ist, bei weitem diemalerischeste Art von großgedachtem Schloß — namentlich im Treppenhaus.Dann bekam ich ein Huldigungsschreiben von meinem Dichter AugusteStrindberg, einem veritablen Genie zu Ehren meiner „grandiosissimeGénealogie de la Morale“, mit seinem Ausdruck de sa profonde admiration.Dann schrieb ich, in einem heroisch-aristophanischen Übermuth eineProklamation an die europäischen Höfe zu einer Ve r n i c h t u n g des HausesHohenzollern, dieser scharlachnen Idioten und Verbrecher-Rasse seit mehr als100 Jahren verfügte dabei über den Thron von Frankreich auch über Elsass,indem ich Victor Buonaparte, den Bruder unsrer Laetitia zum Kaiser machteund meinen ausgezeichneten Ms. Bourdeau, Chef-Redakteur des Journal de

Débats und der Revue des deux Mondes zum ambassadeur an meinem Hofeernannte, — aß nachher bei meinem Koch zu Mittag (— er heißt nicht umsonstde la Pace —) und schreibe nunmehr an meinen Freund und allerhöchstvollkommenen maëstro einen Brief, um ihm Theater, Orchester und alle Artc a m e r a in Aussicht zu stellen… Auch habe ich bereits, ihm zu Liebe, dieschönste Seite über Musik geschrieben die vielleicht geschrieben worden ist —und zuletzt nicht ihm zu Liebe, vielmehr Jemandem — der, die, das — zuLiebe, der — die — das die Seite einmal lesen soll…

Friedrich NietzscheN.

Ich war noch beim Begräbniß des uralten Antonelli zugegen, diesenNovember. — Er lebte genau so lange, bis E c c e h o m o , das Buch, fertigwar. — Das Buch und der M e n s c h dazu…

Ich habe gestern mein non plus ultra in die Druckerei geschickt, R u h mu n d E w i g k e i t betitelt, jenseits aller sieben Himmel gedichtet. Es machtden Schluß von E c c e h o m o . — Man stirbt daran, wenn man’s unvorbereitetliest…

Man wird deutsch an meinem Hofe sprechen: d e n n die höchsten Werke derM<ensch>h<eit> sind deutsch geschrieben…

Gymnastik und Pastilles Géraudel nehmen…

Damit ich Ihnen meine Hintergedanken nicht vorenthalte, schicke ich Ihneneinen Brief ab, den ich gestern für meinen maestro, Herrn Pietro Gasti schrieb— und der noch ein paar Tage warten darf… Ich vermache Ihnen diesenB<rief> zu jedem beliebigen Gebrauch

Wenn Sie mich bitten, bekommen Sie auch die Proklamation für dasJ<ournal> des Debats : sie g e n ü g t … Triple alliance — aber das ist ja nureine Höflichkeit für mésalliance …1228. An Heinrich Köselitz in Annaberg

Turin, den 31. Dezember 1888

— Sie haben tausend Mal Recht! Warnen Sie selbst Fuchs… Sie werden inE c c e h o m o eine ungeheure Seite über den Tristan finden, überhaupt übermein Verhältniß zu Wagner. W<agner> ist durchaus der erste Name, der inE<cce> h<omo> vorkommt. — Dort, wo ich über Nichts Zweifel lasse, habe ichauch hierüber den Muth zum Äußersten gehabt.

Ah, Freund! w e l c h e r Augenblick! — Als Ihre Karte kam, was that ichda… Es war der berühmte Rubicon…

Meine Adresse weiß ich nicht mehr: nehmen wir an, daß sie zunächst derpalazzo del Quirinale sein dürfte.

N.1229. An August Strindberg in Holte

Turin, den 31. Dezember 1888

Lieber Herr,

Sie werden die Antwort auf Ihre Novelle in Kürze zu hören bekommen — sieklingt wie ein F l i n t e n s c h u ß .. Ich habe einen Fürstentag nach Romzusammenbefohlen, ich will den jungen Kaiser füsillieren lassen.

Auf Wiedersehn! D e n n wir werden uns wiedersehn.. Une seule condition:Divorçons…

Nietzsche Caesar1230. An Ruggero Bonghi in Rom (Entwurf)

<Turin, Ende Dezember 1888>

Ich würde einen außerordentlichen Werth darauf legen, von Ihnen den Italiänernvorgestellt zu werden. Ich habe jetzt meine Leser überall,lautera u s g e s u c h t e Intelligenzen — Msr. Taine gehört zu ihnen, bewährte,in hohen Stellen und Pflichten erprobte Charaktere — in Wien, in St.Petersburg, in Stockholm, in Paris, in New York — ich habe sie n i c h t inDeutschland: kein Wunders, daß keiner mich auch in Italien hört! — Wie k a n nein Volk von ernsthaften Menschen, das erste Volk Europas, sich mit dieserHeerden-Rasse par excellence einlassen?… Triple alliance — aber das ist ja dasWort für mésalliance.

Ich sende Ihnen irgend ein Buch von mir. Jeder braucht der Vorstellung. Ichbin bei weitem der stärkste Geist, der auf Erden sein kann, — es steht mir nichtfrei etwas andres zu sein. In zwei Jahren habe ich die höchste Gewalt in Hand,die je ein Mensch gehabt hat — ich will das „Reich“ in einen eisernen Gürteleinschließen…

Für die Übersetzung der G ö t z e n - D ä m m e r u n g sind eben dieUnterhandlungen für Frankreich (Ms. Bourdeau Chefredakteur führt [—]) undeinen englischen Übersetzer eingeleitet, — das Buch genügt, um auch für Italiendie a b s u r d e n Fragen, eingerechnet die päpstliche, ad acta zu legen.

Ich wäre dankbar, wenn Sie meinen Brief Seiner Majestät dem KönigeUmberto vorlegten. Es giebt keinen besseren Freund Italiens als mich. Ichdenke, ich werde Victor Buonaparte als K>aiser> v<on> F<rankreich> nöthig

haben.1231. An Ruggero Bonghi in Rom (Entwurf)

<Turin, Ende Dezember 1888>

Was geht uns Alle um des Himmels Willen der dynastische Wahnsinn desHauses Hohenzollern an!… Es ist ja keine nationale Bewegung, nichts als einedynastische… Fürst Bismarck hat nie ans „Reich“ gedacht, — er ist ja mit allenInstinkten bloß Werkzeug des Hauses Hohenzollern! — und diesen Aufreizungzur S e l b s t s u c h t der Völker wird als große Politik, als Pflicht beinahe inEuropa empfunden und gelehrt!… Damit muß man ein Ende machen — u n di c h b i n s t a r k g e n u g d a z u …

Um einen Begriff von mir zu geben, lege ich ein Buch bei, das noch nicht imBuchhandel ist; insgleichen ein Unheil über mich, das von einem ausgesuchttiefen und ernsten M. herrührt. Es wäre mein aufrichtiger Wunsch, daß das Buchauf italiänisch zu lesen wäre: ich verhandle eben mit dem ausgezeichnetenRedakteur des Journal des Débats und der Revue Ms. Bourdeau zum Zweckeiner französischen Übersetzung. — Die Werke, die von mir folgen werden —und die alle vollkommen bereit sind — sind keine Bücher mehr, sondernSchicksale. Aber ich habe nothwendig erst die intelligenten Nationen auf meineSeite zu bringen: denn obwohl ich den Deutschen so nahe wie möglich stand —ich war mit 24 Jahren ordentlicher Universitätsprofessor — so habe ich nicht einOhr dieser stupiden Rasse zu mir überredet.1231a. An Ruggero Bonghi in Rom (Entwurf)

<Turin, Ende Dezember 1888>

Ich würde einen ausserordentl. Werth darauf legen, von Ihnen den Italiänernvorgestellt zu werden. Ich habe meine Leser jetzt überall, lauter ausgesuchteM<enschen> in St. Petersburg in Paris in Kopenhagen, Stockholm — ich habesie nicht in Europas „Flachland" Deutschland

xxx s. Faksimile, Anhang Nr. 84 M. Taine gehört zu ihnen — Sie enthalten auch noch Andr. Um einen Begriffvon mir zu geben, lege ich ein Buch bei, das noch nicht im Buchhandel ist;desgleichen ein Urtheil über mich, das von Jemanden herrührt, der sich amtiefsten mit mir beschäftigt hat.

[Briefe von Nietzsche]

[1889]

1232. An Jean Bourdeau in Paris

<Turin, verm. 1. Januar 1889>

Verehrter Herr,

ich schicke Ihnen hiermit den Schluß meiner Proclamation: wir wollen imletzten Satz des ersten Theils das Wort „exekutiren“ vermeiden und dafür etwasagen: niet- und nagelfest machen. —

Ich halte es aufrichtig für möglich, die ganze absurde Lage Europa’s durcheine Art von welthistorischem Gelächter in Ordnung zu bringen, ohne daß auchnur ein Tropfen Bluts zu fließen brauchte. Anders ausgedrückt: das Journal desDébats g e n ü g t ..

N.Meinen ergebensten Glückwunsch zu heute!

1233. An Constantin Georg Naumann in Leipzig (Postkarte)

<Turin, 1. Januar 1889>

Geehrter Herr,

ich muß mir das Gedicht noch einmal ausbitten, das den Schluß vom E c c eh o m o macht: es heißt R u h m und E w i g k e i t , — ich habe es nochzuallerletzt geschickt.

N.Der Gedanke einer Publikation Fuchs—Köselitz ist aufgegeben.

1234. An Catulle Mendès in Paris (Entwurf)

<Turin, am 1. Januar 1889.>

Acht Inedita und inaudita, dem Dichter der Isoline meinem Freund und Satyrmit hoher Auszeichnung überreicht: mag er mein Geschenk der Menschheitüberreichen

Nietzsche Dionysos1 essay(s) in Contexta1235. An Catulle Mendès in Paris (Widmung)

<Turin, 1. Januar 1889>

Indem ich der Menschheit eine unbegrenzte Wohlthat erweisen will, gebe ich ihrmeine Dithyramben.

Ich lege sie in die Hände des Dichters der Isoline, des größten und erstenSatyr, der heute lebt — und nicht nur heute…

Dionysos2 essay(s) in Contexta1236. An Constantin Georg Naumann in Leipzig (Telegramm)

<Turin, 2. Januar 1889>

C. G. Naumann Leipzig

Manuscript der zwei Schlußgedichte1237. An Constantin Georg Naumann in Leipzig

<Turin, 2. Januar 1889>

Die Ereignisse haben die kleine Schrift Nietzsche contra W. vollständigüberholt: senden Sie mir umgehend das Gedicht, das den Schluß macht, ebensowie das letztgesandte Gedicht „R u h m u n d E w i g k e i t “. Vorwärts mitE c c e !

Telegraphiren Sie Herrn Gast!Adresse nach wie vor

Turin1238. An August Strindberg in Holte

<Turin, Anfang Januar 1889>

Herrn StrindbergEheu?… Nicht mehr Divorçons?…

Der Gekreuzigte1239. An Meta von Salis in Marschlins

<Turin, 3. Januar 1889>

Fräulein von Salis.

Die Welt ist verklärt, denn Gott ist auf der Erde. Sehen Sie nicht, wie alleHimmel sich freuen? Ich habe eben Besitz ergriffen von meinem Reich, werfeden Papst ins Gefängniß und lasse Wilhelm, Bismarck und Stöcker erschießen.

Der Gekreuzigte.1240. An Cosima Wagner in Bayreuth

<Turin, 3. Januar 1889>

Man erzählt mir, daß ein gewisser göttlicher Hanswurst dieser Tage mit denDionysos-Dithyramben fertig geworden ist…1241. An Cosima Wagner in Bayreuth

<Turin, 3. Januar 1889>

An die Prinzeß Ariadne, meine Geliebte.Es ist ein Vorurtheil, daß ich ein Mensch bin. Aber ich habe schon oft unter denMenschen gelebt und kenne Alles, was Menschen erleben können, vomNiedrigsten bis zum Höchsten. Ich bin unter Indern Buddha, in GriechenlandDionysos gewesen, — Alexander und Caesar sind meine Inkarnationen,insgleichen der Dichter des Shakespeare Lord Bakon. Zuletzt war ich nochVoltaire und Napoleon, vielleicht auch Richard Wagner … Dies Mal aberkomme ich als der siegreiche Dionysos, der die Erde zu einem Festtag machenwird… Nicht daß ich viel Zeit hätte… Die Himmel freuen sich, daß ich dabin… Ich habe auch am Kreuze gehangen…1242. An Cosima Wagner in Bayreuth

<Turin, 3. Januar 1889>

Dies breve an die Menschheit sollst du herausgeben, von Bayreuth aus, mit derAufschrift:

D i e f r o h e B o t s c h a f t .1142a. An Cosima Wagner in Bayreuth

Turin, vermutlich 3. Januar 1889

Ariadne, ich liebe Dich! Dionysos1243. An Georg Brandes in Kopenhagen

<Turin, 4. Januar 1889>

Meinem Freunde Georg.Nachdem Du mich entdeckt hast, war es kein Kunststück mich zu finden: dieSchwierigkeit ist jetzt die, mich zu verlieren…

Der Gekreuzigte.1 essay(s) in Contexta1244. An Hans von Bülow in Hamburg

<Turin, 4. Januar 1889>

Herrn Hanns von Bülow..

In Anbetracht, dass Sie angefangen haben und der erste Hanseat gewesen, ich,in aller Bescheidenheit, bloss der Dritte Veuve Cliquot-Ariadne, darf ich Ihnenschon nicht das Spiel verderben: vielmehr verurtheile ich Sie zum „Löwen vonVenedig“ — der mag Sie fressen…

Dionysos1245. An Jacob Burckhardt in Basel

<Turin, 4. Januar 1889>

Meinem verehrungswürdigen Jakob Burckhardt.Das war der kleine Scherz, dessentwegen ich mir die Langeweile, eine Weltgeschaffen zu haben, nachsehe. Nun sind Sie — bist du — unser grossergrösster Lehrer: denn ich, zusammen mit Ariadne, habe nur das goldneGleichgewicht aller Dinge zu sein, wir haben in jedem Stücke Solche, die überuns sind…

Dionysos.1246. An Paul Deussen in Berlin

<Turin, 4. Januar 1889>

Nachdem sich unwiederruflich herausgestellt hat, daß ich eigentlich die Weltgeschaffen habe, erscheint auch Freund Paul im Weltenplan vorgesehen: er soll,zusammen mit Monsieur Catulle Mendès, einer meiner großen Satyrn undFestthiere sein.

Dionysos.1247. An Heinrich Köselitz in Annaberg

<Turin, 4. Januar 1889>

Meinem maëstro PietroSinge mir ein neues Lied: die Welt ist verklärt und alle Himmel freuen sich.

Der Gekreuzigte.1248. An Malwida von Meysenbug in Rom

<Turin, um den 4. Januar 1889>

Nachtrag zu den „Memoiren einer Idealistin“Obwohl Malvida bekanntlich Kundry ist, welche gelacht hat in einemAugenblick, wo die Welt wackelte, so ist ihr doch Viel verziehn, weil sie michviel geliebt hat: siehe ersten Band der „Memoiren“ … Ich verehre alle diesenausgesuchten Seelen um Malvida in Natalie lebt ihr Vater und der war ich auch.

Der Gekreuzigte1 essay(s) in Contexta1249. An Franz Overbeck in Basel

<Turin, um den 4. Januar 1889>

Dem Freunde Overbeck und FrauObwohl ihr bisher einen geringen Glauben an meine Zahlungsfähigkeitbewiesen habt, hoffe ich doch noch zu beweisen, dass ich Jemand bin, der seineSchulden bezahlt — zum Beispiel gegen euch… Ich lasse eben alle Antisemitenerschiessen…

Dionysos.1250. An Erwin Rohde in Heidelberg

<Turin, 4. Januar 1889>

Meinem Brummbär Erwin

Auf die Gefahr hin, dich nochmals durch meine Blindheit gegen MonsieurTaine, der ehemals den Veda gedichtet hat zu entrüsten, wage ich es, dich unterdie Götter zu versetzen und die allerliebste Göttin neben dich…

Dionysos.1251. An Carl Spitteler in Basel (Fragment)

<Turin, 4. Januar 1889>

[+ + +] meiner Göttlichkeit gehört: ich werde die Ehre haben, dafür an mirR a c h e zu nehmen..

Dionysos1252. An Heinrich Wiener in Leipzig

<Turin, um den 4. Januar 1889>

Herrn Reichsgerichtsrath Dr. Wiener

Obwohl Sie mir die Ehre erwiesen haben, den „Fall Wagner“ für Wagnervernichtend zu finden, wagt es besagter Wagner dennoch, seine décadencedurch eine welthistorische Unzurechnungsfähigkeit ans Licht zu stellen — inlucem aeternam…

Dionysos.1253. „Den erlauchten Polen“

<Turin, um den 4. Januar 1889>

Den erlauchten PolenIch gehöre zu euch, ich bin mehr noch Pole als ich Gott bin, ich will euch Ehrengeben, wie ich Ehren zu geben vermag… Ich lebe unter euch als Matejo…

Der Gekreuzigte1254. An Kardinal Mariani in Rom

<Turin, um den 4. Januar 1889>

Meinem geliebten Sohn Mariani..Mein Friede sei mit dir! Ich komme Dienstag nach Rom, um seiner Heiligkeitmeine Ehrfurcht zu erweisen…

Der Gekreuzigte.1255. An Umberto I König von Italien

<Turin, um den 4. Januar 1889>

Meinem geliebten Sohn UmbertoMein Friede sei mit dir! Ich komme Dienstag nach Rom und will dich nebenseiner Heiligkeit dem Papst sehn.

Der Gekreuzigte1255a. An das Haus Baden

Turin, Anfang Januar 1889

Dem Hause Baden

Kinder, das thut nicht gut, wenn man sich mit den verrückten Hohenzollerneinlässt, obwohl man, durch Stéphanie, von meiner Rasse ist… Zieht euchbescheiden ins Privatleben zurück, denselben Rath gebe ich Baiern…

Der Gekreuzigte1256. An Jacob Burckhardt in Basel

<Turin,> Am 6 Januar 1889.

Lieber Herr Professor,

zuletzt wäre ich sehr viel lieber Basler Professor als Gott; aber ich habe es nichtgewagt, meinen Privat-Egoismus so weit zu treiben, um seinetwegen dieSchaffung der Welt zu unterlassen. Sie sehen, man muß Opfer bringen, wie undwo man lebt. — Doch habe ich mir ein kleines Studenten-Zimmer reservirt, dasdem Palazzo Carignano (— in dem ich als Vittorio Emanuele geboren bin)gegenüber liegt und außerdem erlaubt, die prachtvolle Musik unter mir, in der

Galleria Subalpina, von seinem Arbeitstisch aus zu hören. Ich zahle 25 fr. mitBedienung, besorge mir meinen Thee und alle Einkäufe selbst, leide anzerrissenen Stiefeln und danke dem Himmel jeden Augenblick für die a l t eWelt, für die die Menschen nicht einfach und still genug gewesen sind. — Daich verurtheilt bin, die nächste Ewigkeit durch schlechte Witze zu unterhalten,so habe ich hier eine Schreiberei, die eigentlich, nichts zu wünschen übrig läßt,sehr hübsch und ganz und gar nicht anstrengend. Die Post ist 5 Schritt weit, dastecke ich selber die Briefe hinein, um den großen Feuilletonisten der grandemonde abzugeben. Ich stehe natürlich mit dem Figaro in näheren Beziehungen,und damit Sie einen Begriff bekommen, wie harmlos ich sein kann, so hören Siemeine ersten zwei schlechten Witze:

Nehmen Sie den Fall Prado nicht zu schwer. Ich bin Prado, ich bin auch derVater Prado, ich wage zu sagen, daß ich auch Lesseps bin… Ich wollte meinenParisern, die ich liebe, einen neuen Begriff geben — den eines anständigenVerbrechers. Ich bin auch Chambige — auch ein anständiger Verbrecher.

Z w e i t e r W i t z . Ich grüße die Unsterblichen Monsieur Daudet gehört zuden quarante

Astu.Was unangenehm ist und meiner Bescheidenheit zusetzt, ist, daß im Grunde

jeder Name in der Geschichte ich bin; auch mit den Kindern, die ich in die Weltgesetzt habe, steht es so, daß ich mit einigem Mißtrauen erwäge, ob nicht Alle,die in das „Reich Gottes“ kommen, auch a u s Gott kommen. In diesem Herbstwar ich, so gering gekleidet als möglich, zwei Mal bei meinem Begräbnissezugegen, zuerst als conte Robilant nein, das ist mein Sohn, insofern ich CarloAlberto bin, meine Natur unten) aber Antonelli war ich selbst. Lieber HerrProfessor, dieses Bauwerk sollten Sie sehn; da ich gänzlich unerfahren in denDingen bin, welche ich schaffe, so steht Ihnen jede Kritik zu, ich bin dankbar,ohne versprechen zu können, Nutzen zu ziehn. Wir Artisten sind unbelehrbar. —Heute habe ich mir meine Operette — genial-maurisch — angesehn, bei dieserGelegenheit auch mit Vergnügen constatirt, daß jetzt Moskau sowohl wie Romgrandiose Sachen sind. Sehen Sie, auch für die Landschaft spricht man mir dasTalent nicht ab. — Erwägen Sie, wir machen eine schöne schöne Plauderei,Turin ist nicht weit, sehr ernste Berufspflichten fehlen vor der Hand, ein GlasVeltliner würde zu beschaffen sein. Neglige des Anzugs Anstandsbedingung.

In herzlicher Liebe IhrNietzsche

Morgen kommt mein Sohn Umberto mit der lieblichen Margherita, die ichaber auch nur hier in Hemdsärmeln empfange. Der R e s t für Frau Cosima…

Ariadne… Von Zeit zu Zeit wird gezaubert…Ich gehe überall hin in meinem Studentenrock, schlage hier und da

Jemandem auf die Schulter und sage: siamo contenti? son dio, ho fatto questacaricatura…

Ich habe Kaiphas in Ketten legen lassen; auch bin ich voriges Jahr von dendeutschen Ärzten auf eine sehr langwierige Weise gekreuzigt worden. WilhelmBismarck und alle Antisemiten abgeschafft.

Sie können von diesen Brief jeden Gebrauch machen, der mich in derAchtung der Basler nicht heruntersetzt. —