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10. Jahrgang 4 11 13 21 29 33 45 November 2011 verdikt Mitteilungen der Fachgruppen Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte in ver.di 2.11 Kriegsjustiz durch die Hintertür § 80 WDO muss nach wie vor abgeschafft werden Justiz in Frankreich: Chronik einer vorhersehbaren Krise Die EMRK, nur ein einfaches Gesetz? – 60 Jahre Widerstand gegen die Nürnberger Prinzipien Der lange Marsch – oder: Neues von der Unabhängigkeitsbewegung Berlin und Brandenburg verabschieden neue Richtergesetze – Legen sie die Axt an die richterliche Unabhängigkeit? Intervision in der Sozialgerichtsbarkeit – Konzept für die Durchführung der kollegialen Beratung bei den Gerichten der nds.-brem. Sozialgerichtsbarkeit

November 2011 10. Jahrgang 2.11 verdikt+file++52243a3a890e... · tet, und von Ingo Müller (S. 21), in dem aufge-zeigt wird, wie sehr die Europäische Menschen-rechtskonvention auch

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10. Jahrgang

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November 2011

verdiktMitteilungen der Fachgruppen Richterinnen und Richter,Staatsanwältinnen und Staatsanwälte in ver.di

2.11

Kriegsjustiz durch die Hintertür§ 80 WDO muss nach wie vor abgeschafft werdenJustiz in Frankreich: Chronik einer vorhersehbaren KriseDie EMRK, nur ein einfaches Gesetz? – 60 Jahre Widerstand gegen die Nürnberger PrinzipienDer lange Marsch – oder: Neues von der UnabhängigkeitsbewegungBerlin und Brandenburg verabschieden neue Richtergesetze – Legen sie die Axt an dierichterliche Unabhängigkeit?Intervision in der Sozialgerichtsbarkeit – Konzept für die Durchführung der kollegialenBeratung bei den Gerichten der nds.-brem. Sozialgerichtsbarkeit

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verdikt 2.11 , Seite 2

B R E N N P U N K T

I N T E R N AT I O N A L E S

I N E I G E N E R S A C H E

D I E M E I N U N G

R E C H T S P O L I T I K

R E C H T S P R E C H U N G

J U S T I Z P O L I T I S C H E S

A U S D E R J U S T I Z

R E Z E N S I O N E N

R E C H T L I T E R A R I S C H

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I M P R E S S U M

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Editorial

Kriegsjustiz – früher und heuteKriegsjustiz durch die Hintertür | Helmut Kramer

„Bis zur Narbe“ – Eine Erzählung über ein Opfer der NS-Militärjustiz von Hans Hesse | Peter Kalmbach

§ 80 WDO muss nach wie vor abgeschafft werden | Bernd Asbrock

Justiz in Frankreich: Chronik einer vorhersehbaren Krise und einer Mobilisierung wie noch nie | Simone Gaboriau

Richterinnen des Obersten Gerichtshofs Kasachstan zu Besuch beim ver.di-Landesbezirk Nds./Bremen | Martina Dierßen

Martin Bender i. R. | Klaus Thommes

Aufstand der Präsidenten | Bernd Asbrock

Die EMRK, nur ein einfaches Gesetz? – 60 Jahre Widerstand gegen die Nürnberger Prinzipien | Ingo Müller

Meinungsaustausch im BMJ | Georg Schäfer

Wer wird Präsident? Das Urteil des BVerwG vom 04.11.2010 zum Konkurrentenstreit | Karl Otte

Missbrauch der Justiz – Ein Leitartikel | Christian Bommarius

So sieht eben bei uns Gewaltenteilung aus – Ein Leserbrief | Georg Schäfer

Der lange Marsch – oder: Neues von der Unabhängigkeitsbewegung | Hans-Ernst Böttcher

ver.di fordert: Selbstverwaltung der Justiz auch in Deutschland – Antrag zum ver.di Bundeskongress in Leipzig

Berlin und Brandenburg verabschieden neue Richtergesetze –

Legen sie die Axt an die richterliche Unabhängigkeit? | Percy MacLean

„ … der Entwurf ist keinesfalls verabschiedungsreif“ –

ver.di Stellungnahme zum Entwurf eines Mediationsgesetzes vom 15.05.2011

„Was gleicht wohl auf Erden dem Jägervergnügen …“ – Zur Jagd auf Stasi-Richter in Brandenburg |

Sabine Stachwitz

Länderbericht aus Hessen mit einer Vision für 2015 | Georg Schäfer

Gemeinsame Verbändeerklärung zum hess. IT-Konzept v. 09.05.2011ver.di beim nds. Justizminister Busemann | Karl Schulte

Überlegungen zur Änderung der R - Besoldungsstruktur – Kritische Thesen zum niedersächsischen

Stellenhebungskonzept | Michael Schwickert

Intervision in der Sozialgerichtsbarkeit | Lioba Huss

Konzept für die Durchführung der kollegialen Beratung (Intervision) bei den Gerichten der niedersächsischen und bremischen Sozialgerichtsbarkeit

Rolf Lamprecht – Ich gehe bis nach Karlsruhe –

Eine Geschichte des Bundesverfassungsgerichts | Hans-Ernst Böttcher

Rudolph Bauer u.Lothar Bührmann – Schutzschirmsprache. Politische Lyrik und Cartoons | Rolf Gössner

Heiner Wille – Heiner gegen den Rest der Welt – Ein Mord der keiner sein durfte | Stella Polaris

Der kluge Richter | Johann Peter Hebel

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[ E D I TO R I A L ]

Liebe Leserinnen und Leser,

. Manche mag das ermüden, manche mögen

das als zu rückwärts gewandt ansehen. Aber

der lange Schatten des Unrechts, das in jenen

Jahren geschah, reicht weit in die Bundesrepu-

blik hinein, auch wenn die Verantwortlichen

inzwischen fast alle tot sind und – theologisch

gesprochen – vor einem anderen Richter ge-

standen haben. Wie weit die Aktualität einer

solchen Rückschau geht, zeigen besonders

deutlich die Beiträge von Helmut Kramer (S. 4),

der eine Renaissance der Kriegsjustiz befürch-

tet, und von Ingo Müller (S. 21), in dem aufge-

zeigt wird, wie sehr die Europäische Menschen-

rechtskonvention auch mit der deutschen

Nazivergangenheit zu tun hat und wie sehr

sie – auch deshalb – von deutschen Juristen

(und das nicht nur in der Nachkriegszeit) ab-

gelehnt wurde (und wird), besonders klar er-

kennbar am Problem der Sicherungsverwah-

rung, das wir schon vor der bahnbrechenden

Entscheidung des BVerfG im letzten Heft

behandelt haben.

. Ein anderes Thema aus dem letzten Heft

greifen wir erneut auf: Es geht um die Entwick-

lungen in der französischen Justiz, die Simone

Gaborieau (S. 13) vorliegend einer vertiefenden

Analyse unterzieht. Auch wenn wir uns von

solchen Verhältnissen noch weit entfernt se-

hen, so sind Fragen wie diejenige nach dem

Richterbild und dem politischen Umfeld, in dem

wir agieren, auch für uns aktuell. Außerdem

scheint es mir so, als ob wir uns in manchen

Bereichen der ausgezehrten französischen

Justiz durchaus annähern, ein Faktum, das

uns Anlass zur Beunruhigung und zur Wach-

samkeit geben muss.

Uwe Boysen

für die Redaktion

verdikt hat es sich ebenso wie sein Vorläufer ‚ötv in der Rechtspflege‘ seit jeher zur Aufgabegemacht, die verheerenden Auswirkungen der deutschen Justiz in den Jahren zwischen 1933und 1945 zu thematisieren.

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verdikt 2.11 , Seite 4

. Kaum haben sich kurz vor der Bundestagswahl die Unionsparteien

und in ihrem Schlepptau SPD und FDP auf öffentlichen Druck dazu durch-

gerungen, ebenso wie die Linkspartei das Unrecht der Wehrmachtsjus-

tiz beim Namen zu nennen und die „Kriegsverräter“ zu rehabilitierenA,

wird der Versuch unternommen, wieder eine eigene Militärgerichtsbar-

keit einzuführen, oder, was im Ergebnis auf dasselbe hinausläuft, Sol-

daten Straffreiheit für leichtfertig angerichtete „Kollateralschäden“ zu

garantieren.

. Angesichts schlimmer Erfahrungen im Kaiserreich war die Militärjus-

tiz 1919 und, nach ihrer Wiedererrichtung durch die Nazis, im Jahre 1946

erneut abgeschafft worden. Der im Rahmen der Wiederaufrüstung der

Bundesrepublik 1956 ins Grundgesetz eingefügte Art. 96 hatte zwar die

theoretische Möglichkeit einer Wehrstrafgerichtsbarkeit eröffnet. We-

gen des zu erwartenden öffentlichen Widerstandes scheute man aber

schon die bloße Diskussion darüber. Dennoch machten sich bald nach

Gründung der Bundeswehr Juristen im Bundesjustiz- und Bundesver-

teidigungsministerium in aller Heimlichkeit an die Planung einer eigen-

ständigen Militärjustiz. In den Schubladen wurden bis zum Jahre 1975

fertig erarbeitete GesetzentwürfeB bereitgelegt, die für Deserteure und

andere Beschuldigte einen drastisch verkürzten Rechtsschutz vorsahen,

außerdem Eingriffsrechte des jeweils kommandierenden Generals als

„Gerichtsherr“ unseligen Angedenkens sowie die Aufstellung von Sonder-

einheiten, vergleichbar den Bewährungskompanien der Wehrmacht.

Ebenso vor der Öffentlichkeit verborgen, selbst unter Kollegen verheim-

licht, ließen sich die als künftige Militärrichter bereits vorgesehenen

Juristen nach Sardinien und Kreta fliegen, um dort in simulierten

Gerichtsverhandlungen mit Staatsanwälten, Richtern und Angeklagten

ihre künftige Tätigkeit einzuüben. Neben Schreibkräften hatten sie auch

Bücherkisten mit juristischen Kommentaren und Lexika in Polnisch,

Russisch und Tschechisch dabei, dazu Roben (mit dem „Tätigkeitsab-

zeichen“ einer vom Schwert gekreuzten Waage), unter denen der Kampf-

anzug getragen wurde. Als der Skandal durch eine „Panne“ (im Haus-

haltsplan der Bundesregierung von 1984 wurde ein verkappter PostenC

entdeckt) und durch das Buch „Kampfanzug unter der Robe“ von Ulrich

VultejusD ans Tageslicht kam, musste die Planung abgebrochen werden.

Strafrechtliche Privilegierung von Soldaten?. Dass die alte Forderung nach einer Sondergerichtsbarkeit fürs Mili-

tär heute wieder aufkommt, ist kein Zufall in einer Zeit, da in den be-

setzten Ländern zunehmend unbeteiligte Zivilisten Opfer von Bomben-

angriffen und anderen militärischen Exzessen werden. Diese Gefahr

hat im Zuge einer Waffenentwicklung zugenommen, die darauf gerich-

tet ist, die Zahl der eigenen Opfer zu minimieren und zugleich die des

Gegners zu maximieren. Seit sich im Rahmen der Entstehung eines

Völkerrechts ein differenziertes Bewusstsein für Recht und Unrecht im

Krieg entwickelt hat, darf es im Krieg keine rechtsfreien Räume geben.

In einem bewaffneten Konflikt hat die Bundeswehr die Strafgesetze und

das humanitäre Völkerrecht (die Genfer Konventionen) zu beachten.

Zugleich zeigt sich das Bestreben der militärischen Akteure, sich den

durch das Recht gesetzten Einschränkungen zu entziehen. Man möchte

der Gefahr einen Riegel vorschieben, dass militärisches Unrecht aufge-

klärt und gar von unbefangenen Juristen geprüft wird, das die Politik

lieber unter den Teppich gekehrt sehen möchte. Der Bundeswehrver-

band unter dem Vorsitz von Oberst Ulrich Kirsch beklagte die „Rechts-

unsicherheit“ der Soldaten und forderte für sie „einen ganz anderen

Rechtsstatus“. Und unverhohlen rief der frühere Verteidigungsminister

Franz Josef Jung mit der plumpen Forderung, „Soldaten sollten nicht mit

staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen konfrontiert werden“, nach einer

Justiz mit bloßer Feigenblattfunktion, denn, so Jung weiter, ein Straf-

verfahren gegen Oberst Georg Klein mit dem Ziel der Aufklärung des

Massakers bei Kundus hätte „katastrophale Folgen“ für die Bundeswehr.

. Wenn die Militärbürokraten in der Politik „Rechtssicherheit“ und

„Handlungssicherheit“ verlangen, geht es ihnen unmißverständlich um

die Ausstellung eines Freibriefs. In der Debatte über die grausame Ver-

folgung von Deserteuren, „Wehrkraftzersetzern“ und „Kriegsverrätern“

durch die Wehrmachtsjustiz zwecks Aufrechterhaltung der „Mannes-

zucht“ beschäftigten sich die Medien und selbst die meisten Historiker

nur am Rande mit einer anderen wichtigen, völkerrechtlich auch wäh-

rend des Zweiten Weltkriegs unbestrittenen Funktion einer Militärjus-

tiz: der Aufgabe, militärische Übergriffe gegen die Zivilbevölkerung

okkupierter Länder zu legitimieren.

. Nach dem von hohen Militärjuristen der NS-Zeit formulierten „Bar-

barossa“-Kriegsgerichtsbarkeitserlass sollte sich die Wehrmachtsjustiz

einfach gar nicht um solche Übergriffe kümmern. Diese Abstinenz der

Wehrmachtsjustiz war eine wesentliche Voraussetzung für den millio-

nenfachen Massenmord an der jüdischen und übrigen Zivilbevölkerung

in Polen und der Sowjetunion sowie für die Ausrottung ganzer Dörfer

auch in Griechenland und Italien. Gewiß darf man den NS-Vernichtungs-

krieg nicht mit den „humanitären“ Militärinterventionen von heute

vergleichen. Wie wir aber nicht nur am Beispiel der vielen von US-Militärs

in Vietnam an Zivilisten verübten Massakern wissen, besteht die allzu

oft von der Justiz gedeckte Anfälligkeit von Soldaten für Gewaltexzesse

unabhängig von ideologischen VoreinstellungenE.

[ B R E N N P U N K T : K R I E G S J U S T I Z – F R Ü H E R U N D H E U T E ]

Helmut Kramer

Kriegsjustiz durch die Hintertür

1 zu dem durch das Gesetz vom 08.09.2009 beendeten Konflikt um die Aufhebung der Todes-

urteile gegen die sog. Kriegsverräter, vgl. Helmut Kramer: Der Streit um die Kriegsverräter.

Geschichtsfälschung im Dienst der Politik, in: Blätter für deutsche und internationale Politik,

Heft 3/2009, S. 109 – 119.

2 darunter eine Wehrstrafgerichtsordnung, die spätestens im Kriegsfall, dann gegebenenfalls

durch das Notparlament nach Artikel 53 a, 115 e Grundgesetz, verabschiedet werden sollte.

3 Erst auf Nachfrage eines Bundestagsabgeordneten ergab sich, dass es sich um Kosten für den

Ersatz von durch Mottenfraß beschädigte Roben handelte.

4 vgl. Ulrich Vultejus: Kampfanzug unter der Robe. Kriegsgerichtsbarkeit des Dritten Weltkriegs.

Hamburg 1984, S. 7 – 44.

5 vgl. Sönke Neitzel und Harald Welzer: Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben,

Frankfurt 2011

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verdikt 2.11 , Seite 5

pelten örtlichen zentralen gerichtlichen Zuständigkeiten. Ein Gesetz-

entwurfH sieht dazu eine Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes

(§ 143 GVG) und der Strafprozessordnung (Einfügung eines § 11 a StPO)

vor. Nach der jetzigen Rechtslage ist für nach im Auslandseinsatz be-

gangenen Taten von Soldaten die für den inländischen Einheitsstandort

zuständige Staatsanwaltschaft bzw. das Gericht am Standort zuständig.

Waren mehrere Soldaten mit verschiedenen Stammeinheiten beteiligt,

bestimmte die Staatsanwaltschaft Potsdam die zuständige Staatsan-

waltschaft. Begründet wird die nun angestrebte Zuständigkeit einer

einzigen Staatsanwaltschaft u. a. mit der Möglichkeit von Kompetenz-

konflikten bei Beteiligung mehrerer verschiedenen Heimatkasernen

zugehöriger Soldaten. Hier hat es jedoch, wie bei vielen anderen Straf-

verfahren mit mehreren Beteiligten, schon bisher keine Schwierigkeiten

gegeben. Nach Maßgabe, wer in erster Linie als Täter in Frage kommt –

z. B. der den Einsatzbefehl erteilende Offizier – wurde die Staatsan-

waltschaft dann durch die als erste Anlaufstelle fungierende Staatsan-

waltschaft Potsdam bestimmtI. So wurde für die strafrechtlichen Er-

mittlungen wegen der Bombardierung der Tanklastzüge bei Kundus

anfangs die Staatsanwaltschaft Dresden zuständig. Dresden ist näm-

lich der Sitz der Stammeinheit des Oberst Georg Klein.

. Umso mehr erfordern die anderen zugunsten einer einzigen Zustän-

digkeit ins Feld geführten Argumente besondere Aufmerksamkeit. Dis-

kussionswürdig erscheint auf den ersten Blick der Spezialisierungseffekt.

Verwiesen wird auf das Erfordernis „besonderer Kenntnisse, etwa zu den

rechtlichen und konkreten Rahmenbedingungen“ der Auslandseinsätze,

insbesondere Kenntnisse der „konkreten militärischen Abläufe“. In der

Tat hat man mit Rücksicht auf das Spezialisierungserfordernis schon

. Viele heutige Juristen würden sich wohl eine generelle Anweisung

zur Niederschlagung von Verfahren wegen Ausschreitungen gegen die

Zivilbevölkerung verbitten. Die historische Willfährigkeit der Wehr-

machtsrichter lenkt jedoch den Blick auf Gefahren, in denen jede eigens

für den Militärbereich eingerichtete Sondergerichtsbarkeit und auch

jede auf Militärsachen spezialisierte Staatsanwaltschaft steht: dass

nämlich der rechtliche Opferschutz vernachlässigt wird und Übergriffe

gegen die Zivilbevölkerung ungeahndet bleiben. …

. Solange die Tötung von Zivilisten und andere in Afghanistan ange-

richtete „Kollateralschäden“ im Halbdunkel blieben, war das Bedürfnis

nach einem rechtsfreien Raum für Soldaten und Offiziere wenig aktuell.

Das änderte sich mit der Bombardierung der beiden Tanklastzüge bei

Kundus am 4. September 2009. Damit wurde erstmals einer breiten

Öffentlichkeit bewusst, dass Zivilisten als Kriegsopfer des Schutzes

durch die Justiz bedürfen. …

Militärjustiz durch die Hintertür. Was nach den Erfahrungen der Bundeswehr bis vor kurzem noch als

Tabu galt, wird jetzt vom Bundeswehrverband mit Nachdruck gefordert:

die Wiedereinrichtung einer Militärjustiz. Denn es könne nicht sein,

dass einem Soldaten wegen ziviler Opfer in Afghanistan der Prozess

gemacht werdeF. Nach der Erschießung eines afghanischen Jugendlichen

im Jahre 2006 dachte man sogar an eine „Militärgerichtsbarkeit mit

Staatsanwälten, die mit in den Einsatz entsandt werden“G, sozusagen

eine embedded justice.

. Angesichts der Vergangenheit der deutschen Militärjustiz werden

solche frommen Wünsche nach einer förmlichen Rückkehr zu einer

Militärjustiz mit fest in die militärischen Strukturen eingebundenem

Personal zwar nicht alsbald durchsetzbar sein. Doch sind längst Lösun-

gen im Gespräch, die darauf hinauslaufen, dass sich mit der weniger

rechtlich als politisch heiklen Materie nur „zuverlässige“ Juristen be-

schäftigen. Man will eine Justizpraxis erreichen, die sicherstellt, dass

die Auslandsaktivitäten der Bundeswehr vom Recht möglichst unge-

stört bleiben. Der Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung sah die

Einrichtung einer „zentralen Zuständigkeit der Justiz“ für Bundeswehr-

strafsachen vor. Die früheren Pläne für eine mit ausgewählten Richtern

mit einer eigenen Laufbahn besetzte Sondergerichtsbarkeit für Bundes-

wehrsachen hat man zwar nicht wieder aufgegriffen. Die rechtlichen

und verfassungsrechtlichen Voraussetzungen wären nicht herzustellen

gewesen. Stattdessen favorisiert das Bundesjustizministerium nun die

Einrichtung einer „Schwerpunktstaatsanwaltschaft“ mit daran gekop-

Verhandlung vor einem Kriegsgericht –

von einem Zuschauer heimlich über die Schulter

aufgenommen, Foto: Privatbesitz

6 Tageszeitung v. 12.09.2009

7 vgl. Per Kornelius, in: Süddeutsche Zeitung vom 21.07.09.

8 Referentenentwurf des Bundesjustizministerium vom 28.04.2010

9 Die Staatsanwaltschaft Potsdam ist dem Einsatzführungskommando der Bundeswehr

benachbart.

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verdikt 2.11 , Seite 6

gigkeit gilt nämlich nur für Richter, nicht für Staatsanwälte. Die Vor-

stellung, die Staatsanwaltschaft sei „die objektivste Behörde der Welt“AD,

entspricht einem frommen Wunsch. Mit der Verdichtung des Verbin-

dungsstranges zu den vorgesetzten Behörden erhält das Weisungsrecht

der Exekutive, von dem die meisten Staatsanwälte im konkreten Fall

nur hinter vorgehaltener Hand sprechen, eine noch größere Bedeutung.

Gerade weil Staatsanwälte und Justizminister von ihrem Weisungsrecht

nur selten ausdrücklich Gebrauch machen und sich, selbst bei ausdrück-

licher Bitte eines Staatsanwaltes um Klarstellung, nur selten dazu be-

kennen, gewinnt das insgeheime Hineinreden in Entscheidungen der

Staatsanwaltschaft an Wirksamkeit. So gern die Objektivität von Ent-

scheidungen der Staatsanwaltschaften suggeriert wird, zeigt gerade

das strafrechtlich sanktionierte Verbot der Erwähnung erteilter Weisun-

genAE, wie unverzichtbar Machtpolitikern das Weisungsrecht ist. Nur

selten und auch dann nur, wenn sich die Weisungsgeber ausnahms-

weise öffentlich in die Defensive gedrängt sehen, bekennen sich Vor-

gesetzte zu ihrer Einmischung und räumen ein, dass es ihnen dabei

nicht um korrekte Rechtsanwendung geht, sondern um „das Kräfte-

verhältnis der politischen Strategien, Erwünschtheiten (und) Verträg-

lichkeiten“AF.

. In diesem Sinne lässt der in der Begründung des Gesetzentwurfs

enthaltene Hinweis auf die angeblich von der Spezialisierung erhoffte

„Verbesserung der Entscheidungsqualität“ aufhorchen. Wenn Juristen

sich überwiegend nur mit einem einzigen Rechtsbereich befassen, gar

in enger Tuchfühlung mit dem Dienstherren der Beschuldigten, kann

das eher zu einer Blickverengung durch Betriebsblindheit führen. Auch

erleichtert eine solche Verfahrenskonzentration die zentrale Steuerung

sämtlicher Verfahren eines politisch sensiblen Bereichs. So hat die Kon-

zentration der Staatsschutzverfahren während des Kalten Krieges auf

wenige Gerichte dazu geführt, dass die Justiz jahrelang voll den an sie

gestellten Verhaltenserwartungen entsprach. Dementsprechend hatte

der damalige Vertreter des Bundesjustizministeriums Ministerialrat

Hans Rotberg die Konzentration der Staatsschutzsachen in der Zeit des

Kalten Krieges auf wenige Staatsanwaltschaften und Gerichte damit

begründet, dass dadurch die Rechtsprechung in diesem „Sonderbereich

besonders zuverlässig“ wurde. Auch könnten die damit befassten Ju-

risten so „bei einer besonders sachkundigen Stelle“ Erfahrungen sam-

meln, um (...) „bessere Maßstäbe“ zu gewinnen. Schließlich sei es auf

diese Weise möglich, „besonders hochwertige Richter für die Aufgabe

zu finden, die nicht jedem liege“AG. Nicht anders würde eine Verfah-

renskonzentration im Bereich der genannten Bundeswehrsachen den

zu einigen wenigen anderen Strafrechtsbereichen Schwerpunktstaats-

anwaltschaften eingerichtet, bislang jedoch nur auf Länderebene, auch

nur für Wirtschafts- und Korruptionsdelikte und für die Bearbeitung von

NS-Gewaltverbrechen. Eine Konzentration auch dieser Verfahren in den

Händen einer einzelnen Staatsanwaltschaft mit entsprechender zentra-

ler Gerichtszuständigkeit ist angesichts der begrenzten Gesetzgebungs-

kompetenz des Bundes bislang aber nicht einmal erwogen worden.

Aber auch bei den Bundeswehrsachen würde ein solcher Eingriff in die

föderale Struktur der Bundeswehr voraussetzen, dass der „Eingriff zur

Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen

Interesse erforderlich“ istAJ. Entsprechende massive verfassungsrecht-

liche Bedenken gegen die beabsichtigte Gesetzesänderungen haben

deshalb der Deutsche RichterbundAA, die Neue RichtervereinigungAB und

der Deutsche AnwaltvereinAC geäußert. Wenn sich trotzdem die 81. Kon-

ferenz der Justizministerinnen und Justizminister vom 23./24. Juni 2010

für die Einrichtung einer „zentralen Zuständigkeit“ für die genannten

Bundeswehrsachen ausgesprochen hat, werden dafür eher militärpoli-

tische Erwägungen den Ausschlag gegeben haben.

. Im Zusammenhang mit der durch eine Verfahrenskonzentration er-

möglichten besonderen Sachkunde wird auf die durch die Neuregelung

erreichte „zügige Erledigung“ der Strafverfahren verwiesen. Damit wer-

de die mit jedem schwebenden Verfahren verbundene psychologische

Belastung der betroffenen Soldaten verkürzt – ein Argument, das aber

nicht minder für viele andere in verantwortungsvollen und psychisch

angespannten Berufen stehende Bürger gilt. An die Einrichtung von

Schwerpunktstaatsanwaltschaften für Verfahren z. B. gegen Ärzte, Bus-

fahrer, Lokomotivführer, Politiker und ähnlich vor psychischen Belastun-

gen zu bewahrenden Bürger hat aber noch niemand ernsthaft gedacht.

Überdies wäre eine einzige für alle diese Bundeswehrsachen zuständige

Staatsanwaltschaft einer einzigen Landesjustizverwaltung untergeord-

net. Wenn sich der Referentenentwurf gerade für Leipzig (Bundesland

Sachsen) und nicht für Potsdam (Brandenburg) entschieden hat, ist das

nur auf den ersten Blick unverfänglich. Die Gesetzesbegründung ver-

weist darauf, dass Leipzig Sitz des Bundesverwaltungsgerichts ist, auch

des 5. Strafsenats des BGH und der diesem Senat zugeordneten Dienst-

stelle des Generalbundesanwalts.

Die unsichtbare Hand des Weisungsrechts der Exekutive. Die Zusammenziehung aller Auslandsmilitärstrafsachen bei einer

einzigen Behörde bringt Gefahren mit sich, die nicht übersehen werden

dürfen. Der verfassungsrechtliche Grundsatz der richterlichen Unabhän-

10 vgl. Art. 72 Abs. 1 und 2, Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG

11 vgl. Stellungnahme des DRiB Nr. 15/10, Mai 2010

12 http: //www.nrv-net (03.06.2010)

13 vgl. Stellungnahme des DAV Nr. 122/2010, April 2010

14 Staatsanwälte, die sich auf diesen von Franz von Liszt. (Deutsche Juristenzeitung 1901, S. 180)

geprägten Spruch berufen, übersehen, dass von Liszt damit gerade auf die Verfehltheit dieser

Funktionsbeschreibung der Staatsanwaltschaft aufmerksam machen wollte, mit Hinweis auf

den noch heute gültigen § 147 GVG: “Die Beamten der Staatsanwaltschaft sind verpflichtet,

den dienstlichen Anweisungen ihrer Vorgesetzten nachzukommen”.

15 § 353 b StGB: Verletzung des Dienstgeheimnisses

16 so der Münchener Generalstaatsanwalt Hermann Froschauer vor dem Untersuchungsaus-

schuss des Bayerischen Landtages, zitiert nach Winfried Meier, in: Betrifft Justiz 2003, S. 8.

17 nach Alexander von Brünnek: Politische Justiz gegen Kommunisten in der Bundesrepublik

Deutschland 1949 – 1968, Frankfurt 1978, S. 225.

verdikt 2.2011_1_c 27.10.2011 12:00 Uhr Seite 6

Page 7: November 2011 10. Jahrgang 2.11 verdikt+file++52243a3a890e... · tet, und von Ingo Müller (S. 21), in dem aufge-zeigt wird, wie sehr die Europäische Menschen-rechtskonvention auch

verdikt 2.11 , Seite 7

Zugriff der dann in der Hand eines einzigen Justizministeriums liegen-

den Exekutive auf die einzelnen Verfahren begünstigen und zugleich

die Besetzung der entsprechenden Behörde mit solchen Staatsanwäl-

ten erleichtern, die das erwünschte System von Verfahrenserledigung

bejahen.

Garantierter Täterschutz bei perfekter Schutzlosigkeit der Opfer. Wie sehr den Militärpolitikern an einer vom Recht ungestörten Durch-

führung von Militäraktionen liegt, haben zwei Disziplinarverfahren

gezeigt: Die Verfahren gegen den Major Florian Pfaff und den Oberst-

leutnant Jürgen Rose. Florian Pfaff hatte die Beteiligung an dem völker-

rechtswidrigen Irak-Krieg verweigert und war deshalb unter Degradie-

rung zum Hauptmann und letztlich sogar mit dem Ziel der Entlassung

aus der Bundeswehr disziplinarisch gemaßregelt worden. Jürgen Rose

hatte in einem Zeitschriftenartikel die Unterstützung des Angriffskrieges

gegen den Irak-Krieg als völker- und verfassungswidrig kritisiert. Wäh-

rend das in der Berufungsinstanz mit dem Fall Florian Pfaff befasste

Bundesverwaltungsgericht die Befehlsverweigerung Pfaffs als rechtmäßig

ansah und die Disziplinarmaßnahmen aufhobAH, endete das Disziplinar-

verfahren gegen Jürgen Rose in beiden Instanzen des Truppendienstge-

richts mit einer Bestätigung der gegen ihn verhängten Disziplinarbuße

von 750,00 ¤ AI. Zwischen beiden Verfahren gibt es allerdings einen

bemerkenswerten Unterschied: Während die Richter des Bundesver-

waltungsgerichts der allgemeinen Gerichtsbarkeit zugehören, sind die

Truppendienstgerichte als Sondergerichtsbarkeit fest in die Organisati-

onsstruktur der Bundeswehr eingebunden. Gegen ihre Entscheidungen

gibt es keine weiteren Rechtsmittel, auch nicht zum BVerwG. So be-

leuchtet der unterschiedliche Ausgang der beiden inhaltlich ähnlichen

Verfahren die Gefahren einer Verfahrensspezialisierung auf Bundes-

wehrsachen. …

. Jede auf angeblich besondere militärische Erfordernisse zugeschnit-

tene Justiz ist in der Gefahr, unter ausdrücklicher oder insgeheimer

Berufung auf außerrechtliche Werte wie „Handlungssicherheit“, Auf-

rechterhaltung der „Kampfkraft der Truppe“ oder allgemein „Funktions-

fähigkeit der Bundeswehr“ fragwürdige Militäraktionen juristisch

abzuschirmen. Das beweist auch außerhalb der deutschen Militärjustiz-

geschichte von 1933 – 1945 die Justizgeschichte aller Länder, von den

Landesverratsprozessen gegen Pazifisten in der Weimarer RepublikBJ

bis zu der weitgehenden Niederschlagung der Verfahren gegen die im

Vietnam-Krieg an den Massakern von My Lai und anderen Massenmor-

den in Vietnam beteiligten MilitärsBA.

. Das Interesse der Politik an einer willfährigen Staatsanwaltschaft

geht noch über das Interesse an der personellen Besetzung der Gerichte

hinaus: Gegen gerichtliche Entscheidungen gibt es vielfältige Rechts-

mittel. Von der vorgesetzten Behörde angeordnete oder mitgetragene

Verfahrenseinstellungen durch die Staatsanwaltschaft sind aber prak-

tisch unanfechtbarBB.

. Während die von den Militärs so vehement geforderte „Rechtssicher-

heit“ für die Soldaten schon jetzt nichts zu wünschen übrig lässt, hat

das Bedürfnis an einem effektiven rechtlichen Opferschutz heute stark

zugenommen. In einer Zeit, in der die distanzgerichtete moderne Waffen-

technik die Gefährdung der eigenen Soldaten stark verringert hat, werden

immer mehr Opfer unter der Zivilbevölkerung in Kauf genommenBC.

. Leider ist der Funktionswandel der Militärjustiz unter den Bedingun-

gen moderner Kriegsführung von den Verantwortlichen bislang nicht

zur Kenntnis genommen worden. Der verbesserte Eigenschutz der Sol-

daten hat mit der dadurch verringerten Versuchung zu einer „Flucht

vor dem Feind“ die Aufgabe, die „Kampfmoral“ durch Strafandrohungen

zu sichern, hinter der Aufgabe zurücktreten lassen, das zum Schutz der

Zivilbevölkerung geschaffene Kriegsvölkerrecht durchzusetzen. Bedauer-

licherweise ist in dem Gesetzentwurf des Bundesjustizministeriums

und in den rechtspolitischen Forderungen der Militärpolitiker von einem

zu verbessernden OpferschutzBD nicht die RedeBE. Anstatt das Völkerstraf-

recht weiter aufzuweichen, sollten die Möglichkeiten des auf Straftaten

gewöhnlicher Art zugeschnitten Klageerzwingungsverfahrens (§ 172 StPO)

in Bezug auf Kriegsverbrechen, überhaupt auf Massenverbrechen, aus-

gedehnt werden, ebenso wie der Gesetzgeber durch den Erlass des Völ-

kerstrafgesetzbuchs gemeint hat, den Besonderheiten des Krieges

Rechnung tragen zu müssen.

. Die Konzentration politisch heikler Strafverfahren auf eine einzige

Behörde ist auch in personalpolitischer Hinsicht nicht unbedenklich.

Die hohe Kunst, mittels rechtsmethodologischer Kunstgriffe unter

stillschweigender Berücksichtigung „militärischer Notwendigkeiten“

höheren Orts unerwünschte Strafverfahren geräuschlos zu Ende zu

bringen, kann bei einer Spezialisierung auf Strafverfahren in politisch

heiklen Strafrechtsbereichen besonders perfekt eingeübt werden. Um-

gekehrt werden ihr Tun selbstkritisch reflektierende Juristen, die sich

nicht im Sinne bestimmter Verhaltenserwartungen instrumentieren

lassen, gar das Völkerrecht ernst nehmen, es in einer solchen in die

Militärpolitik integrierten Behörde nicht leicht haben. Schon jetzt wer-

18 vgl. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 21.06.2005, NJW 2006, S. 77 – 108; Jürgen Rose:

Ernstfall Angriffskrieg. Frieden schaffen mit aller Gewalt?, Hannover 2009, S. 132 – 142.

19 vgl. Jürgen Rose, ebd., S. 142 – 148.

20 vgl. Ingo Müller, Landesverratsprozesse und Beleidigungsverfahren gegen Pazifisten in der

Weimarer Republik, in: Helmut Kramer und Wolfram Wette: Recht ist, was den Waffen nützt.

Justiz und Pazifismus im 20. Jahrhundert, Berlin 2004, S. 143 – 159.

21 vgl. Bernd Greiner: Krieg ohne Fronten. Die USA in Vietnam, Hamburg 2007, S. 439 – 510.

22 das der durch eine Straftat verletzten Person zustehende Recht auf ein Klageerzwingungs-

verfahren (§ 172 StPO) ist an so viele Kautelen geknüpft, dass es nur äußerst selten zu einer

Anklageerhebung führt.

23 nach dem Jahresbericht 2010 der Menschenrechtsorganisation „Afghanistan Rights Monitor“

(ARM) waren im Jahre 2010 mindestens 2.124 Ziviltote (also täglich 6 – 7) zu beklagen, wovon

63 % auf Kosten des afghanischen Widerstandes gehen, während 21 % den Besatzungstruppen

zugerechnet werden. In den zehn Jahren des Krieges am Hindukusch sind in den Reihen der

Besatzungstruppen etwa 2.300 Soldaten, davon 49 Bundeswehrsoldaten gefallen.

24 der strafrechtlichen Schutzlosigkeit der Zivilbevölkerung entspricht die faktische Aberkennung

von Entschädigungsansprüchen im Zivilrecht. Völkerrechtswissenschaftler haben für Kriegs-

opfer ein Ausnahmerecht geschaffen, das ihnen Entschädigungsansprüche nur auf dem Pa-

pier gewährt. Vgl. Helmut Kramer: Entschädigung der Opfer würde den Krieg verteuern, in:

Die Opfer der Kriege. Sonderheft Ossietzky. Zweiwochenschrift für Politik/Kultur/Wirtschaft,

hg. von Eckart Spoo u. a. Januar 2007, S. 16 – 18.

25 die Militärjuristin Karen-Birgit Sprung, in: Brauchen wir in Deutschland eine Militärjustiz?

Baden-Baden 2008, lässt diesen Aspekt völlig unbeachtet.

verdikt 2.2011_1_c 27.10.2011 12:00 Uhr Seite 7

Page 8: November 2011 10. Jahrgang 2.11 verdikt+file++52243a3a890e... · tet, und von Ingo Müller (S. 21), in dem aufge-zeigt wird, wie sehr die Europäische Menschen-rechtskonvention auch

verdikt 2.11 , Seite 8

den gesetzestreue, standhaft bleibende Staats-

anwälte zurückgepfiffen, um den Politikern

wirtschaftlich oder sonst nahestehende Straf-

täter vor Strafe zu schützen. Gegebenenfalls

werden sie auf einen anderen Posten versetzt,

wie dies dem Staatsanwalt Winfried Maier wäh-

rend des von ihm geführten Verfahrens der

Staatsanwaltschaft Augsburg gegen den Waf-

fenhändler Karlheinz Schreiber, Max Strauß,

Ex-Staatssekretär Holger Pfahls und zwei

Thyssen-Manager widerfuhrBF.

Der juristische Umgang mit dem Massakerbei Kundus in Afghanistan . Aus der Sicht derjenigen Militärpolitiker, die

sich eine Justiz wünschen, die noch so fragwür-

dige Militäraktionen unkritisch absegnet, hat

leider schon die vorhandene Organisations-

struktur der Justiz kaum zu wünschen übrig

gelassen. Das zeigt gerade der Fall, der das

Rechtsgewissen und die juristische Redlichkeit

besonders hätte herausfordern müssen: das

auf Befehl des Oberst Georg Klein angerichtete

Blutbad bei Kundus in Afghanistan. Hier ermög-

lichte ein den meisten Bundesbürgern unbe-

kanntes Gesetz, das erst im Jahre 2002 in Kraft

getretene Völkerstrafgesetzbuch (VStGB), der-

artige Verfahren von vornherein auf eine solche

Ebene zu hieven, wo die Rücksichtnahme auf

„Bündnisverpflichtungen“ und andere militär-

politische Belange sichergestellt ist. Deshalb

hat die Staatsanwaltschaft Dresden, nach wo-

chenlangem Zögern, ob sie für das Massaker

bei Kundus überhaupt ein Aktenzeichen ver-

geben sollte oder nicht, das Verfahren gegen

Oberst Klein an den Generalbundesanwalt

(GBA) in Karlsruhe abgegeben. Dieser ist bei

Verdacht eines Verstoßes gegen das Völkerstraf-

recht im Rahmen eines bewaffneten Konflikts

an erster Stelle zuständigBG.

. Inzwischen hat der GBA das Verfahren gegen

Oberst Klein eingestelltBH, mit der Begründung,

die Bombardierung der Tanklastzüge verstoße

weder gegen nationales noch internationales

Recht und erfülle auch nicht den Verdacht ver-

botener Methoden der Kriegsführung. Man sei

zu der Einschätzung gelangt, dass Oberst Klein

„nach Ausschöpfung aller Erkenntnismöglich-

keiten“ davon ausgehen durfte, dass sich zur

fraglichen Zeit keine Zivilisten am Einsatzort

befanden. Allerdings hat der GBA sich einer

Überprüfung auf juristische Korrektheit der

Entscheidung dadurch entzogen, dass er das

zugrundeliegende Tatsachenmaterial in Über-

einstimmung mit dem Bundesverteidigungs-

ministerium als Verschlusssache geheim hält. …

Freibrief zum Töten. Wer sich ein vollständiges Bild von einer

„Militärjustiz durch die Hintertür“ machen will,

muss, bevor er Schuldzuweisungen trifft, das

komplizierte Gesamtgefüge der an der Straf-

verfolgung beteiligten Institutionen und ge-

setzlichen Normen in den Blick nehmen. Die

Politiker, die an vom Recht unbehelligter Durch-

führung von Angriffskriegen und anderen dem

Völkerrecht zuwiderlaufenden Militäraktionen

interessiert sind, haben auf vielen Ebenen und

Stufen wirksame Sicherungen eingebaut, die

eine effektive Verfolgung von Kriegsverbrechen

nahezu unmöglich machen.

. Der Versuch, die juristische Überprüfung

von Kriegsverbrechen zu vereiteln, beginnt oft

noch bevor sich Polizei oder Justiz mit dem Tat-

geschehen befassen können: mit der faktischen

Beseitigung oder Veränderung der Spuren, so

wie dies im Fall Kundus geschehen ist. In an-

deren Fällen gibt es verfälschte Sachberichte

und andere Mittel der Desinformation.

. Gewissermaßen am oberen Ende der juris-

tischen Stufenleiter lassen sich Völkerrechts-

wissenschaftler und andere Juristen im Dienst

der Militärpolitik instrumentalisieren, indem

sie Hilfestellung bei einer täterfreundlichen

Normierung des Völkerrechts leisten. Ein ein-

drucksvolles Beispiel für eine Juristenkunst, die

auf den ersten Blick eine rigorose Verfolgung

von Kriegsverbrechen verspricht, bei näherem

Besehen aber Kriegsverbrecher effektiv vor

Strafe schützt, ist das von den Massenmedien

hoch gelobte Völkerstrafgesetzbuch (VStGB).

Seine Paragraphen haben das bislang für alle

Bürger ohne Privilegierung einer Berufsgruppe

geltende allgemeine Strafrecht als Spezialnorm

weitgehend verdrängt. Von den Massenmedien

als großer Rechtsfortschritt gerühmt, scheint

es eine scharfe Waffe gegen Kriegsverbrechen

zu sein, vor allem wegen seiner hohen Straf-

drohungen bis zur lebenslangen Freiheitsstrafe.

Bei näherem Besehen knüpft es eine Verurtei-

lung wegen der Tötung von unbeteiligten Zivil-

personen an eine Fülle von Voraussetzungen,

die die Verantwortlichen selbst bei grob fahr-

lässig angerichteten Massentötungen straffrei

lassen.

. Der Ausgang des Ermittlungsverfahrens

gegen Oberst Klein ist ein Paradebeispiel für

die Wirkungslosigkeit des Kriegsvölkerstraf-

rechts. Nach § 11 Abs. 1 Nr. 1 VStGB muss der

Angriff „gegen die Zivilbevölkerung als solche“

gerichtet sein. Nach § 11 Abs. 1 Nr. 3 muss der

Täter „als sicher erwarten, dass der Angriff die

Tötung oder Verletzung von Zivilpersonen (...)

verursachen wird“. Danach genügt es nicht,

dass der Soldat bei dem Waffeneinsatz mit

dem Tod vieler Zivilisten gerechnet hat. Selbst

wenn sich ihm das Vorhandensein und die

Folge der Tötung vieler Zivilisten aufdrängen

müssen, handelt er nach § 11 Abs. 1 Nr. 3 VStGB

auch bei gröbster Fahrlässigkeit nicht rechts-

widrig. Es reicht nicht einmal aus, dass er sich

sagt, auch das sollte mir recht sein. Und auch

dann setzt er sich einer Bestrafung nur dann

aus, wenn „die Tötung oder Verletzung von

Zivilpersonen ‚außer Verhältnis zu dem insge-

samt erwarteten konkreten und unmittelbaren

militärischen Vorteil’ stehen würde“.

. Ebenso gut hätte der Gesetzgeber des VStGB

sagen können: „Den Soldaten, der eine größere

Menschenmenge bombardiert, ohne zu wissen,

wer sich darunter befindet, trifft keine straf-

rechtliche Schuld.“ Mit diesem auf die Konfe-

renz vieler Staaten in Kampala zurückgehenden

Gesetzbuch hat man einen Freibrief für die An-

richtung von „Kollateralschäden“ jedweder Art

ausgestellt.

26 vgl. Winfried Maier, BJ Nr. 73 S. 8 und Michael Stiller, a.a.O.

S. 10-12; weitere Fälle solcher Eingriffe von hoher Hand insbe-

sondere in Strafverfahren wegen verbotener Waffengeschäfte,

Großbetrügereien von Wirtschaftskriminellen, Steuerstrafverfah-

ren und dergleichen bei Helmut Kramer, in: „Rechtsstaat“, in:

Gabriele Gillen und Walter van Rossum (Hg.): Schwarzbuch

Deutschland. Das Handbuch der vermissten Informationen,

Reinbek 2009, S. 477 – 482, 631 – 633.

27 vgl. §§ 143 Abs. 1, 120 Abs. 1 Nr. 8 GVG.

28 Bescheid des Generalbundesanwalts v. 19.04.2010 in: 8/10,

http // www.generalbundesanwalt (05.06.2010); vgl. auch FAZ

v. 17.04.2010, s.a. die IALANA-Stellungnahme in verdikt 1.10 S. 16

verdikt 2.2011_1_c 27.10.2011 12:00 Uhr Seite 8

Page 9: November 2011 10. Jahrgang 2.11 verdikt+file++52243a3a890e... · tet, und von Ingo Müller (S. 21), in dem aufge-zeigt wird, wie sehr die Europäische Menschen-rechtskonvention auch

. Die Erzählung „Bis zur Narbe“ des in Bremen geborenen Historikers

Hans Hesse ist ein vielseitiges und gelungenes Buch, das die Hinmor-

dung des Studenten Kurt Elvers im Februar 1945 sowie die sich anschlie-

ßenden Gegebenheiten bis in die Gegenwart thematisiert und dabei

Wissenschaft und Literatur verbindet, ohne dass diese aber verschwim-

men und sich dadurch wechselseitig entwerten würden.

. Kurt Elvers hatte sich nach einer Verwundung als Soldat der Wehr-

macht an der Nordischen Kunsthochschule in Bremen eingeschrieben.

Nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 wurde er

aufgrund einer darauf bezogenen Äußerung von einem Kommilitonen

denunziert und im August 1944 verhaftet. Elvers gehörte als freigestellter

Soldat dem sog. Beurlaubtenstand an und unterstand somit – zumindest

grundsätzlich – der Gerichtsbarkeit der Wehrmacht. Die Wehrmachtjus-

tiz, im Januar 1934 als eigenständiger Justizzweig entstanden, hatte ihr

Gefüge just ab diesem Zeitraum zugunsten einer stärkeren Kooperation

Unabhängige oder gesteuerte Justiz. Welch großen Wert die Zweite Gewalt auf

eine willfährige Dritte Gewalt gerade in Bundes-

wehrsachen legt, ist am Beispiel der für Diszi-

plinarverfahren gegen Soldaten zuständigen

Wehrdienstsenate des BVerwG offenkundig

geworden. Wenn – wie es im Fall des Massakers

bei Kundus hätte geschehen müssen – die

Dienstaufsicht nicht darum herumkommt, ein

Disziplinarverfahren einzuleiten, etwa wegen

Missachtung der ISAF-Regeln, wird in letzter

Instanz einer der beiden Leipziger Senate damit

befaßt werden.

. Nach dem Grundgesetz sind Richter unab-

hängig und nicht an Weisungen gebunden.

Doch gerade im Fall der Leipziger Wehrdienst-

senate ist die richterliche Unabhängigkeit in

Frage gestellt. Eine auf den ersten Blick unauf-

fällige, aber eindeutig verfassungswidrige Vor-

schrift (§ 80 II der Wehrdisziplinarordnung)

ermöglicht es nämlich, diese Senate mit der

Bundesregierung genehmen Juristen zu beset-

zen: Das Präsidium des BVerwG darf die Wehr-

dienstsenate nur mit solchen Richtern besetzen,

die das Bundesjustizministerium speziell für

diese Aufgabe bestimmt hat.

. Als würde dieser Eingriff in die Unabhängig-

keit nicht genügen, hat nach einer in keinem

Gesetzblatt stehenden Vereinbarung zwischen

Justiz- und Verteidigungsministerium vom

. Auch dafür, dass Ermittlungsverfahren we-

gen Kriegsverbrechen einer „verlässlichen“ Stel-

le, nämlich der dem Bundesjustizministerium

untergeordneten GBA, vorbehalten bleiben, hat

der Gesetzgeber Vorsorge getroffen. Nach § 120

Abs. 1 Nr. 8 GVG sind für Straftaten nach dem

Völkerstrafgesetzbuch nicht die sonst für Tö-

tungsdelikte zuständigen Landgerichte, son-

dern allein die Oberlandesgerichte zuständig.

Und nach § 142 a GVG übt der GBA in den zur

Zuständigkeit von Oberlandesgerichten im

ersten Rechtszug gehörenden Strafsachen das

Amt der Staatsanwaltschaft auch bei diesen

Gerichten aus. In der Tat ist für die Anhänger

einer „Kriegsjustiz durch die Hintertür“ die

Bearbeitung durch die GBA die optimale Rege-

lung: Sie untersteht dem Bundesjustizminis-

terium, das wiederum im ständigen Kontakt

mit dem Verteidigungsressort steht. Auch von

der Personalauswahl her können diejenigen,

die militärpolitisch heikle Verfahren handver-

lesenen Juristen anvertraut sehen möchten,

zufrieden sein: Die Bundesanwaltschaft ist

mit vom Bundesjustizministerium ernannten

Juristen besetzt, die absolute Loyalität gegen-

über der Bundesregierung garantieren. Damit

kann die erwünschte Steuerung der Recht-

sprechung eher noch besser erreicht werden

als mit einer Sondergerichtsbarkeit für die

Bundeswehr.

verdikt 2.11 , Seite 9

Peter Kalmbach | Rechtsanwalt in Bremen

„Bis zur Narbe“ – Eine Erzählung über einOpfer der NS-Militärjustiz von Hans Hesse

21. Oktober 1970 das Verteidigungsministerium,

also eine Prozesspartei, das Recht, die Richter

für die Wehrdienstsenate mit auszusuchen.

Diese Senate sollen als Werkzeug des Ministe-

riums dienen – das hat im September 2009 der

damalige Minister Franz Josef Jung bewiesen.

Kaum war die Möglichkeit eines Disziplinar-

verfahrens gegen Oberst Klein, den Verant-

wortlichen des Bombardements bei Kundus,

an den Horizont gerückt, lehnte Jung einen

bereits vom Präsidium des BVerwG in den für

Klein zuständigen Senat gewählten Richter

ab, dem der Makel anhaftete, nie in der Bun-

deswehr gedient zu haben: einen veritablen

Wehrdienstverweigerer. Man verständigte sich

dann auf einen anderen, dem Verteidigungs-

ministerium genehmen Juristen. Inzwischen

haben die Präsidenten des BVerwG und aller

Oberverwaltungsgerichte einhellig protestiert

und die Streichung des § 80 II der Wehrdiszipli-

narordnung gefordert (dazu auch der Beitrag

von Asbrock auf S. 11 in diesem Heft).

Hinweis der Redaktion:Gekürzte Fassung eines Beitrags aus dem

Sammelband „Mit reinem Gewissen – Wehr-

machtrichter in der Bundesrepublik und ihre

Opfer“, hrsg. von Joachim Perels u. Wolfram

Wette im Aufbau Verlag. Das Buch im Okto-

ber 2011 erschienen. ;

verdikt 2.2011_1_c 27.10.2011 12:00 Uhr Seite 9

Page 10: November 2011 10. Jahrgang 2.11 verdikt+file++52243a3a890e... · tet, und von Ingo Müller (S. 21), in dem aufge-zeigt wird, wie sehr die Europäische Menschen-rechtskonvention auch

verdikt 2.11 , Seite 10

die Stationen des weiteren Geschehens wieder, wobei Hesse, basierend

auf gesichteten Ermittlungs- und Entnazifizierungsakten, weitere Be-

teiligte zu Wort kommen lässt. Die Gruppe der Täter ist weitläufig:

Denunzianten, Zeugen, ein Gerichtsoffizier, Angehörige des Kriegsge-

richts sowie ein Militärjurist stellen sich nach dem Zusammenbruch

des „Dritten Reiches“ auf die Seite der Ahnungslosen. Angesprochen

auf die gerichtlich angeordnete Tötung Elvers’ fällt kein Wort der Reue.

Hingegen greifen übliche Erklärungsmuster Platz: Erinnerungslücken,

die Berufung auf Dienstpflichten und auf angebliche Kriegsnotwendig-

keiten sowie die Beteuerung, man selbst habe doch stets das Beste ge-

wollt, nur nicht gekonnt. Der öffentliche Kläger der Entnazifizierungs-

behörde bedauert das Schicksal des Jungen, offenbart indes auch die

um sich greifende Bürokratisierung und Ausdünnung des Verfahrens

sowie den bald nach der Befreiung einsetzenden Interessenverlust an

der Aufarbeitung des Terrorregimes. Zwar ereilt den Hauptdenunzian-

ten eine Verurteilung zu Arbeitslager, durch Rechtsmittel und Verzöge-

rungen kann er sich der Gerechtigkeit jedoch entziehen und kommt

schließlich in den Genuss der in der beginnenden Adenauer-Ära um

sich greifenden Amnestien.

. Im zweiten – dokumentarischen – Teil greift Hesse insbesondere den

nach Kriegsende folgenden Abschnitt der Geschichte auf und skizziert

noch einmal anschaulich die sich über Jahre hinziehende Justizposse, die

den Tätern Schutz gewährt, während die Eltern des Ermordeten erleben,

wie alle Anstrengungen, die an der Verurteilung des Sohnes Beteiligten

zur Rechenschaft zu ziehen, ergebnislos enden.

. „Bis zur Narbe“ ist ein ausgesprochen gelungenes literarisch-wissen-

schaftliches Erinnerungswerk über einen von 20.000 bis 30.000 durch

die Wehrmachtjustiz zum Tode Verurteilten und Hingerichteten. Die

eindrucksvolle Mischung von Fakten und fiktiven Elementen lässt die

Brutalität des NS-Justizsystems und die funktionierende Einheit von

Denunzianten und Ausführenden, die beide dem Regime nützen, in be-

klemmender Weise deutlich werden. Rechtsgeschichtliche Vorkenntnis

erfordert „Bis zur Narbe“ nicht und richtet sich so an einen weitläufigen

Leserkreis. Es scheint gut geeignet – auch auszugsweise – Verwendung

in gymnasialen Oberstufenkursen zu finden. Für die NS-Justiz-Forschung

ist das Buch eine Bereicherung und beleuchtet besonders eindrucksvoll

die menschlichen Seiten auf Opfer- wie auf Täterseite. Wie makaber der

jahrzehntelange Umgang in der Bundesrepublik mit Opfern und Tätern

war, lässt Hesse in den letzten Zeilen dann noch einmal deutlich werden:

Die fünf am Kriegsgericht Verden tätig gewesenen Wehrmachtjuristen

fanden alle nach 1945 wieder Verwendung als Richter.

Hans Hesse: Bis zur Narbe, Eine Erzählung, Bremen 2011,

herausgegeben von der Hochschule für Künste Bremen, 228 Seiten. ;

mit dem SS-Apparat und dem Reichsjustizministerium sowie einer noch

radikaleren Spruchpraxis verändert. So war es die Gestapo, die zunächst

die Ermittlungen gegen Elvers durchführte und ihre Ergebnisse an die

Juristen der Wehrmacht lieferte. Die Elvers vorgeworfene Bemerkung,

ein geglücktes Attentat auf den Diktator hätte zur Beendigung des Krie-

ges geführt, galt als „Zersetzung der Wehrkraft“. Hinzu kamen weitere

im Vorhinein gefallene Sätze, die Kritik gegenüber der NS-Herrschaft

erkennen ließen. Die Normierung der Wehrkraftzersetzung war mit Kriegs-

beginn in Kraft getreten und legte die Todesstrafe bei jeder Handlung

oder Äußerung fest, die vom NS-System als kritisch bewertet wurde.A

Gemäß eines „Führer-Befehls“ hatte die Militärgerichtsbarkeit nun-

mehr – ab September 1944 – vom Reichsjustizministerium eine Erlaub-

nis einzuholen, ob sie selbst ein solches Verfahren durchführen dürfe

oder ob dies vor einem – zivilen – Sondergericht zu geschehen habe.B

Im Oktober 1944 wurde schließlich der Prozess vor dem Kriegsgericht

der Division Nr. 180 in Verden/Aller geführt und Elvers durch mehrere Zeu-

gen schwer belastet. Die Eruption der Gewaltbereitschaft seitens des

im Todeskampf befindlichen Regimes und seiner Justizinstitutionen

riss den jungen Kurt Elvers in den Abgrund: Das Urteil lautete auf die

Regelstrafe – Tod.

. Mit der Füsilierung des Verurteilten beginnt der erste Teil der Erzäh-

lung. Aus der Verknüpfung einer Anleitung für Gerichtsoffiziere zwecks

Durchführungen von Erschießungen sowie Auszügen aus den Tagebü-

chern Ernst Jüngers, der einer Exekution beiwohnte, rekonstruiert Hesse

die letzten Augenblicke Kurt Elvers’. Die Ausführungen Jüngers, die im

Original einen beinahe obszönen Ton anschlagen, lesen sich hier, ver-

bunden mit dem mitleidslosen Hinrichtungsleitfaden, derart klar, dass

sich das erschreckende Ende des denunzierten Studenten vor dem geis-

tigen Auge des Lesers wie ein schriftliches Denkmal abzeichnet. Die

folgenden Abschnitte dieses – literarisch geprägten – ersten Teils geben

Gedenktafel am Hinrichtungsplatz Hamburg-Höltigbaum

Quelle: Hans Hesse

1 Vgl. Verordnung über das Sonderstrafrecht im Kriege und bei besonderem Einsatz, RGBl. 1939 I,

S. 1455.

2 Vgl. dazu Führer-Erlass vom 20.9.1944 betr. Verfolgung politischer Straftaten, abgedruckt bei:

Martin Moll, „Führer-Erlasse“ 1939-1945, Stuttgart 1997, S. 458.

verdikt 2.2011_1_c 27.10.2011 12:00 Uhr Seite 10

Page 11: November 2011 10. Jahrgang 2.11 verdikt+file++52243a3a890e... · tet, und von Ingo Müller (S. 21), in dem aufge-zeigt wird, wie sehr die Europäische Menschen-rechtskonvention auch

verdikt 2.11 , Seite 11

. Wir erinnern uns – 2 Jahre ist es her, dass

es hieß: „ver.di-Richter decken Eingriff in die

Unabhängigkeit der Justiz auf!“

. Mit Schreiben vom 29. September 2009 bat

der ver.di-Bundesvorsitzende Frank Bsirske

den damaligen Bundesverteidigungsminister

Franz-Josef Jung um Stellungnahme zu einem

kaum glaublichen Vorgang. Der Bundesfach-

ausschuss Richterinnen und Richter, Staats-

anwältinnen und Staatsanwälte in ver.di hatte

in Erfahrung gebracht, dass das Verteidigungs-

ministerium im Mai 2009 erfolgreich der Zu-

weisung eines „ungedienten“ Richters zum

Wehrdienstsenat des BVerwG widersprochen

hatte.

. Normalerweise ist es das verfassungsrecht-

lich garantierte Recht eines jeden Gerichts,

die Geschäftsverteilung und die Besetzung

der Spruchkammern in voller Unabhängigkeit

selbst zu regeln. Deshalb ist es höchst bedenk-

lich, wenn § 80 Abs. 2 der Wehrdisziplinarord-

nung (WDO) festlegt, dass „bei den Wehrdienst-

senaten … nur Richter mitwirken (dürfen), die

vom Bundesministerium der Justiz hierfür

bestimmt sind“. Damit nicht genug: Darüber

hinaus existiert ein bis dahin nicht bekanntes

Ressortabkommen aus dem Jahr 1970 zwischen

dem BMJ und dem BMVg, wonach der Verteidi-

gungsminister zu beteiligen ist und dieser – wie

im konkreten Fall des ungedienten Richters

durch den Minister Jung geschehen – sein Veto

gegen die Zuteilung des Bundesrichters zum

Wehrdienstsenat einlegen kann.

. Die ver.di-Richterinnen und -richter mach-

ten deutlich, dass sie in dieser Vorgehensweise

einen ungeheuerlichen Eingriff des Bundesver-

teidigungsministers als Teil der Exekutive in

die verfassungsrechtlich garantierte Unabhän-

gigkeit des BVerwG sehen. In der Konsequenz

hat das Ministerium – dazu noch als Prozess-

partei! – direkten Einfluss auf die Besetzung

des 2. Wehrdienstsenats genommen.

. In dem verdi – Schreiben, von dem eine

Durchschrift an die SPD-Bundesjustizministe-

rin Brigitte Zypries und an die Präsidentin des

BVerwG geschickt wurde, heißt es u.a.:

. Gemäß § 80 Abs. 2 der Wehrdisziplinarord-

nung (WDO) dürfen „bei den Wehrdienstsenaten

... nur Richter mitwirken, die vom Bundesminis-

terium der Justiz hierfür bestimmt sind“; diese

„Bestimmung bei der Übertragung des Richter-

amtes wird beim Bundesverwaltungsgericht

getroffen“. Entsprechend legte die Präsidialver-

waltung des BVerwG vor ca. 2 Monaten den

Beschluss des Gerichtspräsidiums über die

erfolgte Zuteilung des neu gewählten Bundes-

richters Dr. W. zum 2. Wehrdienstsenat zwecks

Vornahme der förmlichen „Bestimmung“ dem

Bundesjustizministerium vor. Dieses teilte Ihrem

Hause mit, es werde nun die in § 80 Abs. 2 WDO

vorgesehene förmliche „Bestimmung“ des neu

gewählten Bundesrichters Dr. W. – in Überein-

stimmung mit dem Gerichtspräsidium – vor-

nehmen. Entsprechend einem „geheimen“, uns

im Einzelnen nicht bekannten, Ressortabkom-

men aus dem Jahre 1969/1970 wurde hierzu Ihr

Einvernehmen erbeten. Daraufhin teilten Sie

dem Bundesjustizministerium mit, Sie würden

gegen die vorgesehene Zuweisung des neu ge-

wählten Bundesrichters Dr. W. Ihr Veto einlegen.

Als Begründung sollen Sie angegeben haben, der

neu gewählte Bundesrichter Dr. W. habe „in der

Bundeswehr nicht gedient“ und dürfe deshalb in

einem Wehrdienstsenat keine richterlichen Auf-

gaben und Pflichten wahrnehmen.

. … Der ohnehin verfassungsrechtlich äußerst

umstrittene § 80 Abs. 2 WDO sieht ein Mitwir-

kungs- oder Veto-Recht des Bundesverteidigungs-

ministers gegen die vom Präsidium vorgenom-

mene Geschäftsverteilung des BVerwG nicht vor.

Die gerichtsinterne Geschäftsverteilung, welche

die Zuweisung der Sachgebiete sowie die der

Richterinnen und Richter an die einzelnen Senate

umfasst, steht allein dem Präsidium des BVerwG

zu. Nur so kann die im Grundgesetz gewährleistete

richterliche Unabhängigkeit von der Exekutive

gewährleistet werden.

. Die Wehrdienstsenate des BVerwG entscheiden

bekanntlich letztinstanzlich nach der Wehrdiszi-

plinarordnung in den Disziplinarverfahren ge-

gen Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr.

Andererseits haben sie auch erst- und letztin-

stanzlich nach der Wehrbeschwerdeordnung in

den Beschwerdeverfahren der Soldatinnen und

Soldaten gegen Maßnahmen oder Entscheidun-

gen des Bundesverteidigungsministers, der In-

spekteure des Heeres, der Luftwaffe und der

Marine zu befinden. In beiden Bereichen ist es

somit Aufgabe der Wehrdienstsenate, Entschei-

dungen aus dem Ressortbereich des Bundesver-

teidigungsministeriums gerichtlich zu überprüfen.

Umso gravierender erscheint … ein „Übergriff“

des Bundesministers der Verteidigung auf die

„Richterbank“. … wo kommen wir hin, wenn

Bundesminister darüber entscheiden, vor wel-

chen Richtern sie gerne Angelegenheiten aus

ihrem Ressortbereich entschieden sehen wollen?

Das Vertrauen der Rechtsschutzsuchenden und

der Öffentlichkeit in die Unabhängigkeit des

angerufenen Gerichts könnte schwerwiegenden

Schaden nehmen.

. … Seine besondere Brisanz erhält der von uns

angesprochene Vorgang angesichts der aktuellen

Kontroverse um den von einem Oberst der Bun-

deswehr veranlassten militärischen Luftangriff

in Afghanistan auf den bei Kundus stecken

gebliebenen und zuvor offenbar entführten

Tanklastzug, in dessen Verlauf eine Vielzahl von

Personen, möglicherweise auch Zivilpersonen,

getötet wurden. An diesem Beispiel lässt sich die

Tragweite des Zugriffs Ihres Hauses verdeutlichen.

In prozessrechtlicher Hinsicht könnte die Einfluss-

nahme auf die Zusammensetzung der Richter-

bank in den Wehrdienstsenaten gravierende

Folgen haben. Der 2. Wehrdienstsenat wäre für

ein etwaiges gerichtliches Disziplinarverfahren

gegen den Bundeswehroberst oder andere Ver-

antwortliche letztinstanzlich zuständig. Der 1.

Wehrdienstsenat hätte über etwaige Beschwer-

deverfahren gegen zuständige Bundeswehr-Vor-

gesetzte (z.B.Einsatzführungskommando) oder

gegen Sie als obersten Dienstvorgesetzten zu

entscheiden. Konsequenz wäre, dass die Verfah-

rensbeteiligten in jedem einzelnen Verfahren mit

Erfolg geltend machen könnten, die Richterbank

sei aufgrund dieses Eingriffs in die gerichtliche

Unabhängigkeit fehlerhaft besetzt …

. Darüber hinaus ist die grundsätzliche Frage

aufgeworfen, inwieweit die gegenwärtige Rege-

lung des § 80 Abs. 2 WDO nicht ohnehin verfas-

sungsrechtlich verfehlt – wenn nicht sogar ver-

fassungswidrig - ist (vgl. u.a. Brunn in: Betrifft

Bernd Asbrock

§ 80 WDO muss nach wie vor abgeschafft werdenEine Zwischenbilanz

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Page 12: November 2011 10. Jahrgang 2.11 verdikt+file++52243a3a890e... · tet, und von Ingo Müller (S. 21), in dem aufge-zeigt wird, wie sehr die Europäische Menschen-rechtskonvention auch

. Wegen der in Berlin laufenden Koalitionsver-

handlungen richtete ver.di unter dem 14.10.2009

entsprechende Schreiben an den CDU-Bundes-

innenminister Wolfgang Schäuble und an die

stv. Vorsitzende der FDP-Fraktion im Deutschen

Bundestag Frau Leutheusser-Schnarrenberger,

jeweils mit dem Appell, im Rahmen der Koaliti-

onsverhandlungen ihren Einfluss geltend zu

machen, um die anachronistische, in höchstem

Maße fragwürdige Regelung abzuschaffen.

. Während es nicht überraschte, dass der da-

mals noch amtierende Bundesverteidigungs-

minister Jung in seinem Antwortschreiben an

ver.di vom 24.10.2009 die Vorwürfe zurückwies

und versicherte, in Übereinstimmung mit dem

BMJ laufe „das geltende Verfahren … auf gesetz-

lich einwandfreier Grundlage“ ab, konnte man

doch nach dem Regierungswechsel in Berlin

zuversichtlich sein, dass die neue Bundesjus-

tizministerin Leutheusser-Schnarrenberger

initiativ werden würde, hatte sie doch noch

als MdB und rechtspolitische Sprecherin der

FDP-Fraktion in ihrem Antwortschreiben an

ver.di vom 26.10.2009 die Bedenken gegen-

über der Regelung des § 80 Abs. 2 Wehrdiszipli-

narordnung geteilt und versprochen, sich „in

der neuen Wahlperiode für eine entsprechende

Änderung der Wehrdisziplinarordnung einzu-

setzen“.

. Daraus wurde allerdings bislang nichts.

Ein zwischenzeitlich im Januar 2010 vorgeleg-

ter Gesetzentwurf der Fraktion DIE LINKE mit

dem Ziel, § 80 Abs. 2 WDO zu streichen (Drs.

17/572), fand keine Mehrheit.

Mit Beschluss vom 20.01.2011, dem sich der

Rechtsausschuss anschloss, empfahl der feder-

führende Verteidigungsausschuss mit den

verdikt 2.11 , Seite 12

Justiz 2005, S. 32 ff mit weiteren Nachweisen).

Nach uns vorliegenden Informationen hatte sich

deshalb die Präsidialverwaltung des Bundesver-

waltungsgerichts wiederholt für die ersatzlose

Aufhebung der umstrittenen Regelung und des

„geheimen“ Ressortabkommens zwischen Ihnen

und dem Bundesjustizministerium ausgespro-

chen. Das Bundesjustizministerium soll sich dem

Vorschlag des BVerwG angeschlossen haben. Im

Rahmen der Ressortabstimmung sei die Initiative

jedoch an Ihrem Ministerium gescheitert. Ihr

Haus soll sich – uns unverständlich – strikt gegen

die Aufhebung des § 80 Abs. 2 WDO positioniert

haben.

. Aus oben erwähnten verfassungsrechtlichen

Bedenken ersuchen wir Sie, eine Aufhebung des

jetzigen § 80 Abs. 2 WDO zu unterstützen …

(Der volle Wortlaut des Schreibens ist unter

http://richter-staatsanwaelte.verdi.de abrufbar).

. Das Echo auf den ver.di Vorstoß war groß.

Die überörtliche Presse (FR, taz) berichtete

mehrfach über diesen Vorgang und weitere

Verbände schlossen sich der Kritik an, so der

Bund deutscher Verwaltungsrichterinnen und

Verwaltungsrichter (BDVR) und die Neue Rich-

tervereinigung (NRV).

. Auch die Präsidentin des Bundesverwal-

tungsgerichts sowie sämtliche Präsidentinnen

und Präsidenten der deutschen Oberverwal-

tungsgerichte haben ein Ende der Einflussnah-

me des Bundesverteidigungsministeriums auf

die Besetzung der Wehrdienstsenate gefordert

und sprachen sich ebenfalls für die Abschaffung

des § 80 Abs.2 WDO aus.

Stimmen der Fraktionen der CDU/ CSU, SPD

und FDP gegen die Stimmen der Fraktionen

DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dem

Bundestag, den Gesetzentwurf abzulehnen

(BT-Drucksache 17/4488).

. Eine weitere Beratung im Bundestag, deren

Ergebnis vorbestimmt erscheint, ist bislang

noch nicht erfolgt.

. Jüngst hat ver.di noch einmal schriftlich

bei der Bundesjustizministerin ebenso wie der

Bundesfachausschuss anlässlich des Gesprächs

am 4.5.2011 im BMJ (siehe Bericht von Georg

Schäfer S. 24/25 in diesem Heft) nach dem

Stand der Sache gefragt. Die Antworten waren

nicht ermutigend: Der Sachstand sei unverän-

dert. Offenbar wird dort (wiederum aufgrund

des Widerstands des Verteidigungsministeri-

ums?) kein Anlass gesehen, die geltenden Rege-

lungen und Verfahrensabsprachen zu ändern.

Es scheint auch nicht beabsichtigt zu sein,

wenigstens die ressortübergreifende Absprache

mit dem Verteidigungsministerium aufzukün-

digen. Dieser Stillstand ist höchst bedauerlich.

. Die Notwendigkeit der Abschaffung des § 80

Abs .2 WDO wird auch nicht deshalb in Frage

gestellt, weil es in den vergangenen zwei Jahren

bei den zwischenzeitlich erfolgten drei Neube-

setzungen in den beiden Wehrdienstsenaten –

soweit bekannt – keinen weiteren Fall einer

entsprechenden Einflussnahme des BMVg

oder auch des BMJ auf die Besetzung und kei-

ne Richterablehnungen durch Prozessparteien

mit der Begründung gegeben hat, das derzei-

tige Besetzungsverfahren sei wegen der Ein-

griffsbefugnisse der ministeriellen Exekutive

in das Selbstverwaltungsrecht des Präsidiums

verfassungswidrig. ;

Im Übrigen ist die Militärjustiz in allen Fällen von Übel:nicht nur, weil sie vom Militär kommt, sondern weilsie sich als Justiz gibt, was sie niemals sein kann.

Kurt Tucholsky

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Page 13: November 2011 10. Jahrgang 2.11 verdikt+file++52243a3a890e... · tet, und von Ingo Müller (S. 21), in dem aufge-zeigt wird, wie sehr die Europäische Menschen-rechtskonvention auch

verdikt 2.11 , Seite 13

. Nachdem der Präsident der Republik Nico-

las Sarkozy, auf Grund der Vorfälle von Nantes

den nach seiner Meinung Verantwortlichen mit

„Sanktionen“ wegen ihres „Fehlverhaltens“ ge-

droht hatte, anstatt als Garant ihrer Unabhän-

gigkeit aufzutreten, kam es zu einer bisher nie

da gewesenen Streikbewegung innerhalb der

Justiz, die im Februar das ganze Land erfasste.

Sehr schnell konnte eine Zusage dahin erreicht

werden, dass es zu keinen Disziplinarmaßnah-

men gegen die beteiligten Richter und Beamten

kommen werde. Tatsächlich ließ sich auch nach

gründlichen Untersuchungen kein Fehlverhalten

der Beteiligten feststellen, stattdessen jedoch

die mangelhafte Ausstattung der Justiz, die dem

Justizministerium auch mehrfach angezeigt

worden war. Darüber hinaus traten die großen

Schwierigkeiten klar zu Tage, denen sich die

französische Justiz insgesamt gegenübersieht.

. Die Regierung will diese Realitäten nicht zur

Kenntnis nehmen und versucht alles, um eine

realistische Bestandsaufnahme des Zustands

der Justiz zu hintertreiben. Auch deshalb ist

die Protestbewegung innerhalb der Justiz, an

der sich alle Bediensteten beteiligen, mit der

Forderung nach einem Notfallplan für die Jus-

tiz fortgesetzt worden.

Eine in Kauf genommene Krise

. Die Beschädigung der Justiz ist ungeheuer-

lich. Man kann sich dabei des Eindrucks nicht

mehr erwehren, dass von den Verantwortlichen

alles getan worden ist, um einen solch katastro-

phalen Zustand herbeizuführen. Oder aber:

Welche Inkompetenz!

wachsenden – unterschiedlichen Aufgaben zu

erfüllen. Besonders deutlich wird diese Inflati-

on im Strafrecht, wo sich die Politik der Justiz

zur Durchsetzung ihres Repressionsprinzips

bedienen will. Natürlich unterliegt nicht nur

die Justiz den staatlichen Einsparbemühungen.

Aber nach einem ohnehin schon harten Ein-

sparkurs, der immer wieder, jedoch vergeblich,

angeprangert wurde, hat die finanzielle Aus-

trocknung der Justiz nunmehr fast zu ihrer

Erstickung geführt.

Ein Klima, das durch Aggressivität und Dro-hung mit Sanktionen gekennzeichnet ist

. Immer wieder stellen die regierenden Poli-

tiker, allen voran Staatspräsident Nicolas Sar-

kozy, namentlich diejenigen Richter an den

Pranger, die es wagen, eine Entscheidung im

Sinne der Grundrechte zu treffen. Dabei wird

rhetorisch stets die Einleitung von Disziplinar-

verfahren angedroht wie auch im Fall von Nan-

tes, der zum Auslöser der Streikbewegung des

Frühjahres wurde. Dieses aggressive Auftreten

gegenüber der Richterschaft ist keine Eintags-

fliege, sondern hat strukturelle Gründe. Die

Absicht ist, die Justiz unter Druck zu setzen

und ihre Existenz insgesamt in Frage zu stellen.

. Der letzte Bericht der europäischen Kom-

mission zur Beurteilung der Wirksamkeit der

Justiz (CEPEJ 2010) ist überdeutlichA: Frank-

reich nimmt unter den 43 Ländern des Europa-

rats bei der Vergabe von Haushaltsmitteln für

die Justiz im Verhältnis zum Bruttoinlandspro-

dukt pro Kopf Platz 37 ein. Bei 15 wirtschaftlich

miteinander vergleichbaren Ländern ist es

1 Bericht S. 128

. Zum einen haben wir es mit einem politi-

schen Diskurs zu tun, der jede nur etwas spek-

takuläre Straftat – und sei sie noch so unbedeu-

tend (das, was so in der Lokalzeitung unter

„Vermischtes“ auftaucht) nutzt, um Emotionen

der Öffentlichkeit zu schüren und dabei auf

Lösungen verfällt, die man nur als repressive

Täuschung der Öffentlichkeit bezeichnen kann,

nach dem Motto: für jede solche Straftat ein

neues Gesetz, während man gleichzeitig nach

sog. Schuldigen innerhalb der Justiz sucht.

Auf der anderen Seite werden die Mittel für die

Justiz immer mehr verknappt, was es unmög-

lich macht, mit der Überlastung fertig zu wer-

den, die gerade durch diese Art von Sicherheits-

politik verursacht worden ist. So sind seit 2002

nicht weniger als 35 Sicherheitsgesetze verab-

schiedet worden, von denen sich allein ca. 10

mit dem Problem von Rückfalltätern beschäf-

tigen. Und diese Einschnürung der Justiz erfolgt

natürlich, ohne einen Gedanken auf ihre Unab-

hängigkeit zu verschwenden. Erhöhung des

öffentlichen Drucks, Verknappung der Ressour-

cen und Schuldzuweisungen durch die Politik:

Das Ergebnis konnte nur eine Justizkrise sein,

die ihres gleichen sucht.

Eine unterdrückte und erstickende Justiz

. In den letzten Jahren haben die verschiede-

nen Regierungen immer wieder Druck auf die

Justiz ausgeübt, ohne ihren verfassungsrecht-

lich garantierten Platz im Herzen der Republik

zu respektieren. Zudem ist die Justiz auf Grund

des anhaltenden Ressourcenmangels nicht

mehr in der Lage, all ihre – auf Grund der Ge-

setzesflut und der Definition neuer „Ziele“ stets

[ I N T E R N AT I O N A L E S ]

Seit Anfang 2011 befindet sich die französische Justiz im Ausnahmezustand.Wir haben in verdikt Heft 1.11 darüber berichtet. In dem folgenden – vonder Redaktion leicht gekürzten – Beitrag geht unsere französische Gast-autorin Simone Gaboriau diesmal den Ursachen der Krise näher nach.Der Aufsatz ist ursprünglich für die Zeitschrift unserer italienischen

Simone Gaboriau

Justiz in Frankreich: Chronik einer vorhersehbaren Krise und einer Mobilisierung wie noch nie

Schwestergewerkschaft Magistratura Democratica Questione Giustiziageschrieben und enthält daher auch Querverweise auf Italien.

(Übersetzung und redaktionelle Überarbeitung: Uwe Boysen und Hans-Ernst

Böttcher)

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Page 14: November 2011 10. Jahrgang 2.11 verdikt+file++52243a3a890e... · tet, und von Ingo Müller (S. 21), in dem aufge-zeigt wird, wie sehr die Europäische Menschen-rechtskonvention auch

verdikt 2.11 , Seite 14

Platz 14. Für seine Justiz gibt Frankreich 57,70 ¤ pro Einwohner jährlich

aus. Im Vergleich zu Italien (71,80 ¤) oder Spanien (86,30 ¤) ist das schon

sehr gering. Auch zählt Frankreich zu den europäischen Ländern mit dem

geringsten ‚Anteil von Berufsrichtern. Dazu enthält der Bericht ebenfalls

aufschlussreiche Fakten: In den Justizsystemen, in denen Richter einen

bedeutenden Platz einnehmen, findet man eine geringe Richterdichte

in Ländern wie Armenien, Aserbaidschan und Frankreich: 9,1 Richter auf

100.000 Einwohner bei einem europäischen Durchschnitt von 20,6. Für

die Ressourcenknappheit im Bereich des Justizpersonals ist auch ein an-

deres Faktum bezeichnend: Im nicht richterlichen Dienst nimmt Frank-

reich mit 29,1 Personen auf 100.000 Einwohner bei einem europäischen

Durchschnitt von 67,5 gleichfalls einen hinteren Platz ein. In Italien sind

es 42,6 Personen.

. Auch wenn diese Zahlen das Elend der französischen Justiz schon

eindrucksvoll belegen, so muss man doch wissen, dass sie aus dem

Jahr 2008 stammen und dass sich die Lage seither höchstwahrschein-

lich noch verschlimmert hat. Inzwischen ist es nämlich im Rahmen der

von Nicolas Sarkozy angestoßenen allgemeinen Überprüfung staatli-

cher Ausgaben („révision générale des politiques publiques = RGPP) zu

schweren Haushaltseinschnitten gekommen. Erstmals sind dabei 2011

auch 76 Richterstellen gestrichen worden.

. 2011 beläuft sich der Justizhaushalt auf 7,128 Milliarden ¤, wobei sich

die Regierung selbst für die Überschreitung der symbolischen 7-Milliar-

den-Grenze beglückwünschte. Dabei wächst aber der Anteil des Straf-

vollzuges zum Nachteil der übrigen Justizdienstleistungen, d. h. zum

Schaden einer funktionierenden Justiz insgesamt. In acht Jahren hat

sich der Anteil der Ausgaben für den Strafvollzug im Justizhaushalt von

28 % auf fast 40 % erhöht, was die Prioritätensetzung der Regierung

auf Repression sehr deutlich zeigt. Dabei ist die Notwendigkeit unbe-

streitbar, die französischen Gefängnisse an die europäischen Standards

anzupassen; denn sie sind, um die Formulierung eines Berichts des fran-

zösischen Senats aufzugreifen, „die Schande der Republik“. Kritikwürdig

ist aber die Logik, ständig weitere Haftplätze zu schaffen. Hierhin gehen

die aller meisten Haushaltsmittel, während diejenigen für Resozialisie-

rung oder die Bewährungsaufsicht kaum ins Gewicht fallen.B

Die Folgen des strafrechtlichen Populismus

. Warum diese Begrifflichkeit? Bekanntermaßen ist Populismus eine

politische Einstellung, bei der sich dessen Protagonisten vorgeblich auf

das Volk stützen und gegen die politischen Eliten Front machen. Gefüh-

le werden dabei über die Vernunft gestellt. Die regierenden, allen voran

Nicolas Sarkozy, nutzen das Bedürfnis der Bevölkerung nach Sicherheit

aus und hämmern ihr in weit verbreiteten öffentlichen Reden ausschließ-

lich strafrechtliche Antworten ein, ohne auch nur einen Gedanken auf

die Einhaltung fundamentaler Rechtssätze zu vergeuden. Schon die

kleinste Abweichung von dieser Linie wird als Missachtung des Opfers

2 Bericht des (frz.) Rates für Wirtschaft, Soziales und Umweltfragen „Die Bedingungen für die

Wiedereingliederung der Strafgefangenen in Frankreich“, 2006; Bericht des (frz.) Rechnungs-

hofes „Der Strafvollzug“, 2010

3 D. Salas, La volonté de punir. Essai sur le populisme pénal, Paris, Hachette, 2005.

4 Nicolas Sarkozy am 24. August 2007.

5 Nicolas Sarkozy am 23. Februar 2008 auf der Landwirtschaftsausstellung.

6 Nicolas Sarkozy am 20. September 2006.

7 Nicolas Sarkozy am 3. Februar 2011.

einer Straftat gewertet, dessen Leiden man instrumentalisiert, oder wie

Mireille Delmas-Marty es ausdrückt: „Er spielt mit den Emotionen und

drängt uns in die Rolle der Verteidiger von Schwerverbrechern.“ So sieht

er aus, der strafrechtliche Populismus.C

. Einige Bemerkungen des Präsidenten mögen als Illustration des Ge-

sagten dienen: „Man spricht von den Tätern. Ich möchte, dass man von

den Opfern spricht.“D „Die Pflicht zur Vorsorge wird auf die Natur bezo-

gen. Sie muss auch auf die Opfer bezogen werden.“E „Ich würde mich

freuen, wenn mir jemand erklären könnte, wie man einen Täter davor

bewahrt, rückfällig zu werden, wenn man nicht den Mut hat, ihn ins

Gefängnis zu stecken.“F Und zu dem Verbrechen, das Ausgangspunkt

für die Streikbewegung der Justiz warG, erklärte er: „Unsere Pflicht ist

es, die Gesellschaft vor solchen Scheusalen zu schützen. Ich sage Scheu-

sale, weil ich glaube, dass es einen Augenblick gibt, in dem man Worte

benutzen muss, die der Situation angemessen sind, anstatt die Augen

vor der Realität zu verschließen.“ So bezeichnete er also denjenigen,

den er als vermutlich Schuldigen ausgemacht hatte.

. Der aktuelle politische Kontext: Wir befinden uns im Vorfeld der

Präsidentenwahl 2012. Sarkozys Umfragewerte sind im Keller, die rechts-

radikale Partei Front National (FN) hat gewisse Erfolge bei den letzten

Kommunal- und Regionalwahlen erzielt. Das führt dazu, dass sich diese

Rhetorik noch verschärft.

Eine beispiellose Überbelegung der Gefängnisse

. Am 1. März 2011 war eine Rekordmarke erreicht: 70.198 zu Freiheits-

strafen verurteilte Täter bei 56.518 verfügbaren Haftplätzen. Die tatsäch-

liche Zahl der Einsitzenden betrug 62.685 (6.877 Verurteilte standen

unter elektronischer Aufsicht; 636 waren außerhalb von Haftanstalten

untergebracht.). Zum Vergleich: Am 1. Februar 2002 betrug die Population

der französischen Haftanstalten insgesamt 50.310 Häftlinge.

. Während sich die Gefangenenzahlen vom Ende des 19. Jahrhunderts

bis in die 1970er Jahre kaum veränderten, hat es in Frankreich noch nie

so viele Gefangene gegeben wie jetzt. Die Zahl von 60.000 Inhaftierten,

die nach der Befreiung am Ende des 2. Weltkriegs erhoben wurde und

die zu einem Drittel auf Häftlinge zurückzuführen war, denen Kollabo-

ration vorgeworfen wurde, hielt man lange für nie wieder erreichbar.

Seit einigen Jahren stimmt das aber nun nicht mehr.

. Stellen wir einmal einen europäischen Vergleich auf der Grundlage

statistischer Erhebungen des Europarates an: Am 01. September 2008

hatte Frankreich eine Haftquote von 104,1 und lag damit unter den Län-

dern der Europäischen Union an 12. Stelle, wenn man eine höhere Haft-

quote mit höheren Rangplätzen bewertet. Italien lag mit 96 Gefangenen

auf dem 7. Platz. Im Übrigen betrug die Belegungsquote, bezogen auf

100.000 Einwohner 131,1 und war damit deutlich höher als in der Euro-

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verdikt 2.11 , Seite 15

päischen Union insgesamt. Frankreich landete damit an 24. Stelle im Ver-

gleich der 27 EU-Staaten, gleich hinter Italien mit einer Quote von 129,9.

Die Ergebnisse der Politik „Repression um jeden Preis“

. Die Verwüstungen, die die Ideologie der „zero tolerance“ und eine

ausschließlich auf Wegsperren ausgerichtete Kriminalpolitik mit ihren

Schlagworten von der Notwendigkeit zeitnaher, systematischer und

immer schärferer Bestrafung angerichtet haben, gefährden das gesam-

te strafrechtliche Sanktionensystem. Dieses Sicherheitsdenken bildet

nunmehr das Zentrum der gesamten populistischen Kriminalpolitik

Nicolas Sarkozys und seiner Regierung. Das lässt sich an der Abfolge

einer Vielzahl von Gesetzen zeigen. Mit ihnen wurden Strafandrohungen

in vielen Bereichen verschärft, u. a. bei Rückfalltätern. Außerdem wur-

den verschiedene Maßnahmen zur Überwachung von Strafgefangenen

nach Verbüßung ihrer Strafe eingeführt. Das G. vom 10. August 2007,

das sog. Strafrahmengesetz, schreibt Mindeststrafen für Rückfalltäter

vor (und zwar auch für Minderjährige) und ist bezeichnend für die von

Nicolas Sarkozy verfolgte Kriminalpolitik. Immerhin war es das erste

Strafgesetz, das in seiner 5jährigen Amtszeit verabschiedet wurde.

Schon unter Jacques Chirac hatte er seit 2002 – damals noch vergeblich –

versucht, dieses Konzept innerhalb mehrerer Regierungen durchzusetzen,

wenngleich auch diese schon beklagenswerte Eingriffe am System des

französischen Strafrechts vorgenommen hatten. Im Gefolge dieses

Gesetzes wurde die Repression gegen Rückfalltäter verschärft und die

gegen sie ausgesprochenen Strafen wurden höher, so dass sich die Zahl

der Verurteilten in den letzten 5 Jahren um mehr als ein Viertel erhöht

hat, ohne dass sich das Gesetz positiv auf die Rückfallquote ausgewirkt

hätte.

. So stieg die Zahl der Verurteilten bis zum 1. Januar 2010 auf 235.000

an, von denen 174.000 sich in „offenen Milieus“ befanden. So wurden

insbesondere die Beamten der Bewährungs- und Gerichtshilfe nach dem

tragischen Gewaltverbrechen zur Zielscheibe der Regierungskritik.

Richtig: Der Täter hätte nach der kurz vor der neuerlichen Tat ausgespro-

chenen Verurteilung zu einer Haftstrafe von den Sozialen Diensten der

Justiz überwacht werden müssen; denn er war außerdem zu einer Be-

währungsstrafe verurteilt worden.

Die Flucht nach vorn

. Die ständig steigenden Gefangenenzahlen setzten auch eine andere

bestürzende Spirale in Gang, die Erweiterung von Haftplätzen. So sa-

gen die Hochrechnungen der Strafvollzugsverwaltung für die nächsten

Jahre eine weitere Erhöhung der Gefangenenzahlen voraus. Bis 2012 ist

von 72.800 die Rede. Am Ende des jetzigen Ausbauprogramms werden

dem 64.500 Haftplätze gegenüberstehen. Aus Haushaltsgründen will

man es dabei bewenden lassen. Wenn man nun – die unvermeidliche

Konsequenz einer solchen Gesetzgebung - trotz der Repressionspolitik

die Zahl der „Eingänge“ in die Gefängnisse nicht senken konnte, so die

Überlegung der Regierung, könnte man doch versuchen, die Zahl der

Entlassungen zu erhöhen. So kam es zur Verabschiedung des Strafvoll-

zugsgesetzes vom 29. November 2009, in dessen Begründung man sich

darauf berief, eine Anpassung an europarechtliche Normen vorzunehmen.

Dieses Gesetz hat die praktische Gestaltung des Strafvollzuges völlig

auf den Kopf gestellt. Soweit es eine individualisierte Strafzumessung

und entsprechende Vollzugspläne fordert und die Überbelegung der

Gefängnisse bekämpft, kann man seiner Zielsetzung nur zustimmen.

So hat es die Möglichkeit, eine Reststrafe außerhalb des Gefängnisses

zu verbüßen, für Strafandrohungen von bis zu zwei Jahren (zuvor nur

bis zu einem Jahr) geschaffen und außerdem für die letzten 4 Monate

des Strafvollzugs die regelmäßige elektronische Überwachung in Frei-

heit eingeführt. Aber die zur Durchsetzung dieser Ziele notwendigen

1.000 Stellen, sowohl für Vollstreckungsrichter als auch für Mitarbeiter

in den Gerichten und im Vollzug sind tragischerweise auf der Strecke

geblieben. Auch mussten Prioritäten gesetzt werden, um gewisse Qua-

litätsstandards aufrecht zu erhalten, was wiederum zu Verzögerungen

bei anderen Maßnahmen geführt hat. Genau auf Grund einer solchen

Entscheidung wurde auch der Verdächtige von Nantes gerade nicht

überwacht.

Eine ernste moralische Krise

. Die allgemeine Überprüfung staatlicher Ausgabenpolitik (RGGP, s.o.)

führt nicht nur zu heftigen Einschnitten in der öffentlichen Verwaltung,

sondern verfolgt auch eine Managementphilosophie des „new public

management“, wonach sich die öffentliche Hand an den Prinzipien der

Privatwirtschaft zu orientieren hat. Auch das ist der Justiz nicht erspart

geblieben. Entsprechend werden auch für Richter die Pensen jedenfalls

faktisch hochgeschraubt und die Kriterien hierfür werden autoritativ

und einseitig bestimmt mit der Folge, dass man für den einzelnen Fall

nicht mehr die Sorgfalt aufwenden kann, die für qualitativ hochwertige

Entscheidungen nötig wäre, und dass man sich immer mehr auf Stan-

dardformeln zurückzieht. Diese Einengung richterlicher Spielräume ist

oft mit der Androhung von Disziplinarmaßnahmen verbunden und

dokumentiert die undemokratische Organisation der Rechtspflege, in

der die Hierarchiespitze ungeahnte Macht besitzt. Die Frage ist nicht

mehr, ob richtig entschieden worden ist, sondern nur noch, ob man

den vorhandenen Aktenberg abgearbeitet hat. Es geht ausschließlich

noch um vermeintlich messbare, nämlich quantitative „Leistung“ und

nicht mehr um die Qualität richterlicher Arbeit. Diese wird vielmehr

auf eine Art Magie verengt. So birgt das Übergewicht der Justizverwal-

tung die Gefahr, dass die Justiz ihre humanistischen Ideale einbüßt

und ihre demokratischen Werte verliert. Sich dieser Herausforderung

stellen zu müssen, ohne eine Möglichkeit zu haben, diese Tendenzen

wirksam zu bekämpfen, beunruhigt die Richter, die das Gefühl haben,

dass dadurch die Seele der Justiz verloren geht – und damit auch ihre

eigene.

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verdikt 2.11 , Seite 16

. Die Besorgnis verschärft sich noch durch

das oben beschriebene aggressive Klima. In

zwei Fällen kam es so weit, dass erst der als

sehr moderat geltende Verfassungsrat (frz.

Conseil Constitutionnel; eine Institution, die

mehr und mehr den Rang eines Verfassungs-

gerichts erlangt. Anm. der Übersetzer) dienst-

rechtliche Disziplinierungsversuche ent-

schärfte.

. So erklärte er 2007 ein Gesetz für verfas-

sungswidrigH, wonach gegen Richter bei Aus-

übung ihrer Rechtsprechungstätigkeit Diszi-

plinarmaßnahmen sollten verhängt werden

können, ohne dass auch nur eine rechtskräftige

gerichtliche Entscheidung in der Sache vorlag,

die einen vorwerfbaren Gesetzesverstoß fest-

gestellt hätte.

. 2010 kassierte er sodann ein GesetzI, wo-

nach der Oberste Richterrat (CSM) über Dienst-

aufsichtsbeschwerden gegenüber Richtern ent-

scheiden sollte, obwohl sie weiterhin mit der

Sache befasst waren, in der die vorgeblichen

Rechtsverstöße stattgefunden haben sollten.

. Schließlich sind auch die Parameter der

richterlichen Verantwortlichkeit in Bewegung

geraten, und zwar vor allem bei der Frage nach

Sinn und Zweck des Strafens. Der schon oben

beschriebene Kontext einer nur noch auf Sicher-

heit verengten Kriminalpolitik vernebelt wich-

tige Bezüge: Es geht nicht mehr bloß um eine

gerechte Strafe, sondern um einen gewisser-

maßen absoluten Schutz vor Straftaten. Die

Gewichte verschieben sich von der Prüfung

einer persönlichen Schuld des Täters hin zur

Betonung seiner Gefährlichkeit für die Gesell-

schaft, und dadurch werden die Ergebnisse

mehr oder weniger zufällig und die Entschei-

dungsfindung wird für die Richter noch kom-

plexer; denn wie soll man tatsächlich mit einer

gewissen Zuverlässigkeit voraussagen, ob die

Gefahr eines Rückfalls besteht und sich gleich-

zeitig noch an die in der Europäischen Men-

schenrechtskonvention verankerten Garantien

halten?

. Diejenigen Richter, die sich dieser Gefahr

bewusst sind und gleichzeitig wissen, dass es

auf dieser Welt kein Null-Risiko gibt, fragen

sich, wenn sie vor ihrer Verantwortlichkeit nicht

fliehen, betroffen nach deren Ausmaß.

Eine historische Bewegung

. Nicht nur die Richter haben sich der be-

schriebenen Streikbewegung angeschlossen,

sondern alle am Justizsystem Beteiligten, so

die besonders in die Kritik geratenen Vollzugs-

beamten, die Vertreter der Jugendgerichtshil-

fe, aber auch die Anwälte und – jedenfalls zu

Beginn –sogar Polizeibeamte. Hinzu kommt,

dass sich immer häufiger auch Vertreter der

Verwaltungsgerichtsbarkeit an diesen Aktionen

beteiligen – eine Neuigkeit für französische

Verhältnisse, da sonst die beiden Gerichtsbar-

keiten (die Ordentliche Gerichtsbarkeit und

die Verwaltungsgerichtsbarkeit) völlig für sich

leben. Sämtliche diese Aktionen tragenden

Gewerkschaften und Verbände (insgesamt

etwa 25; vgl. die in verdikt 1.11 abgebildeten

Aufrufe mit den vielen Logos) verlangen einen

Notfallplan für die Justiz. Von den durchgeführ-

ten Aktionen soll hier insbesondere auf dieje-

nigen in den Gerichten selbst eingegangen

werden.

Der Streik – Streikrecht für Richter

. Wenn das Demonstrationsrecht für Richter

auch seit mehr als 10 Jahren anerkannt wird, so

gilt das nicht in gleicher Weise für das Streik-

recht. Allerdings hat die französische Richter-

gewerkschaft (Syndicat de la Magistrature)

seit ihrer Gründung 1968 schon immer das

Streikrecht auch für Richter gefordert, handelt

es sich dabei doch um ein völlig normales

Recht von Gewerkschaften, ihren Forderungen

Nachdruck zu verleihen. Sie beruft sich dabei

auf die Präambel der französischen Verfassung,

in der das Streikrecht „im Rahmen der gelten-

den Gesetze“ garantiert wird. Als einzige ein-

schlägige Textstelle kommt insoweit eine Pas-

sage aus dem Richtergesetz in Betracht, in der

abgestimmte Aktionen verboten werden, sofern

sie geeignet sind, den Stillstand der Rechts-

pflege herbeizuführen oder sie ernsthaft zu

behindern. Dieses nie auf seine Verfassungs-

mäßigkeit hin überprüfte Verbot lässt sich nur

im Zusammenhang mit der Kontinuität der

französischen Verwaltung verstehen. Es muss

verfassungskonform im Lichte des dort garan-

tierten Streikrechts einschränkend interpretiert

werden, so jedenfalls seit jeher die Analyse des

Syndicat de la Magistrature. So muss etwa die

Durchführung von Eilverfahren, insbesondere

wenn es um freiheitsentziehende Maßnahmen

geht, gewährleistet bleiben. Nebenbei ist in den

letzten Jahrzehnten kein einziges Disziplinar-

verfahren gegen streikende Richter eingeleitet

worden. Bisher war es nur das Syndicat de la

Magistrature (SM), das sich des Streikmittels

bedient hatte. Deshalb war es eine große Pre-

miere, dass an der Streikbewegung von 2011,

insbesondere während der Aktionen am 10. Fe-

bruar, weit mehr Menschen teilnahmen als bloß

die Mitglieder oder Sympathisanten des SM.

Die Gesetzesanwendung

. Grundthema dieser Bewegung ist die Sor-

ge um das Selbstverständnis der Justiz. „Wir

dürfen uns nicht einfach damit abfinden, auf

unsere verfassungsmäßige Aufgabe zu ver-

zichten, der Justiz einen Sinn zu geben.“ Das

erklärt auch den Einsatz einer anderen Protest-

form, die strikte Anwendung des Gesetzes.

Zur Verdeutlichung mögen einige Beispiele

dienen:

. So wurde verlangt, dass an jeder Sitzung

tatsächlich ein Urkundsbeamter teilnimmt,

was einerseits zwar gesetzlich vorgesehen, aber

wegen der knappen Ressourcen kaum mehr

der Fall ist. Das durch diese einfache Rückkehr

zu gesetzlichen Bestimmungen ausgelöste or-

ganisatorische Chaos demonstrierte die völlig

ungenügende Ausstattung der Justiz über-

deutlich.

. Weiter wurde die Länge der Sitzungen in

Strafverfahren zeitlich begrenzt, während diese

sonst in Frankreich häufig bis spät in die Nacht

dauern (und teilweise als „Pyjamasitzungen“

bezeichnet werden). Niemand kann doch wirk-

lich bestreiten, dass solche Nachtverfahren

das Gebot eines fairen Prozesses verletzen,

und entsprechend ist Frankreich auch schon

vom Europäischen Gerichtshof für Menschen-

rechte verurteilt worden.AJ Im Jahre 2001, als

noch die Linke regierte, wurde eine Rundver-

fügung herausgegeben, mit deren Hilfe die

Dauer der Sitzungen eingedämmt werden

sollte,AA um so die Arbeitsbedingungen des

Gerichtspersonals und auch das Ansehen der

Justiz in der Öffentlichkeit zu verbessern. Aber

das blieb ohne dauerhafte Wirkung. Auch die-

8 CC (=Entscheidungen des Verfassungsrates) vom 1. März 2007

n_2007-551DC.

9 CC vom 19. Juli 2010 2010 n_2010-611.

10 akhfi ./. France; CDEH, 19. Oktober 2004.

11 Verfügung vom 2001, genannt „Lebranchu“ nach der dama-

ligen Justizministerin.

verdikt 2.2011_1_c 27.10.2011 12:00 Uhr Seite 16

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verdikt 2.11 , Seite 17

se Aktionen haben die normalen Abläufe der

Justiz erheblich gestört, sah man diese nächt-

lichen Sitzungsexzesse bisher doch mehr oder

weniger als schicksalhaft an. So kommt noch

einmal die alles entscheidende Frage auf die

Tagesordnung: Darf man in dem geschilderten

Repressionszusammenhang fehlerhafte Geset-

ze anwenden?

. In Zivil- wie in Strafverfahren besann man

sich bei Fällen, die dies erfordern, auf das Kol-

legialprinzip. Um mit der Aktenflut fertig zu

werden, hatte sich nämlich häufig eine Art von

Einzelrichterprinzip durchgesetzt, bei dem der

Berichterstatter praktisch die Entscheidung traf,

ohne dass es noch eine wirkliche Beratung in

der Kammer gegeben hätte, auch ein Armuts-

zeugnis für die Qualität der Justiz!

Die Bestandsaufnahme

. Auch das Prinzip der richterlichen Unabhän-

gigkeit wird in Frankreich missachtet, da es

keine effektive Kontrolle der Justizverwaltung

durch den Obersten Richterrat gibt und wesent-

liche Entscheidungen von der zentralen Justiz-

verwaltung oder auf lokaler Ebene von den

allmächtigen Gerichtspräsidenten getroffen

werden. Viele von ihnen sind mehr an ihrer ei-

genen Karriere als daran interessiert, die Situa-

tion in ihren Gericht offen zu legen. (Karriere

ist in Frankreich ein mächtiger Motor innerhalb

des Rechtssystems.) Insbesondere im Hinblick

auf die Einführung von radikalen Management-

methoden in die Justiz könnte ein „schlechter

Output“ ja dazu führen, dass die Schuld dafür

nicht bei fehlenden Ressourcen gesucht wird,

sondern bei den Gerichtspräsidenten, deren

Karrierechancen sich so verschlechtern könn-

ten. Alles in allem führt das gegenwärtige Sys-

tem mit seiner Betonung der RGPP dazu, dass

Mittel nur im Rahmen erbrachter „Leistungen“

verteilt werden. Es gibt tatsächlich kein Forum,

in dem über Anforderungen und Ziele der Jus-

tiz beraten werden könnte; denn Gremien, in

denen eine Zusammenarbeit möglich wäre,

spielen lediglich eine rein formelle Rolle. So

kam es zur Forderung einer ehrlichen Bestands-

aufnahme innerhalb der Justiz. Dabei spielte

die Forderung nach Richtervollversammlungen

eine zentrale Rolle (Anm. der Übersetzer: Das

ist praktisch die Forderung in Richtung eines

Organs aller Richter, das – wie bei uns die Prä-

sidien oder an kleinen Gerichten das Plenum

der auf Lebenszeit ernannten Richter – die Be-

stimmung in zentralen Angelegenheiten des

Gerichts trifft). Dort wo sich das durchsetzen

ließ, stellten sich diese Aktionen als kleine Re-

volution dar, bedienten sich die Richter doch

erstmals des Instrumentariums der Justizver-

waltung. Schon das allein ist ein Etappensieg

auf dem Weg hin zu einer demokratischeren

Justiz. Und natürlich zeigte sich mit Hilfe dieser

Bestandsaufnahme, wie armselig die Ressour-

cen in der Justiz tatsächlich sind. Deshalb war

es eines der Ziele des zweiten Aktionstages vom

29. März 2011, dem Gesetzgeber diese Wirklich-

keit zu vermitteln.

. Vor allem auf Grund gewisser Widerstände

auf allen Ebenen der Justizverwaltung (=Präsi-

denten der Gerichte) wurden nicht alle zuvor

beschriebenen Aktionsformen in sämtlichen

Gerichtsbezirken angewandt. Aber sie stellen

doch verschiedene Wege dar, zu einer neuen

Praxis zu gelangen.

Die Regierung stellt sich taub

. Statt einen sozialen Dialog einzuleiten, der

diesen Namen verdient hätte, ergriff der Justiz-

minister bis heute nur geradezu lächerliche

Maßnahmen, etwa der Aufruf an pensionierte

Richter, sich für bestimmte Aufgaben zur Ver-

fügung zu stellen oder die Gründung von Ar-

beitsgruppen im Justizministerium selbst (die

von den richterlichen Gewerkschaften und Ver-

einigungen jedoch boykottiert worden sind).

. Offenbar war der Minister aber doch von der

Größe der Bewegung, insbesondere im Februar,

beeindruckt, die – o Wunder – sogar von der

Spitze der Justizhierarchie bis hin zur „Cour de

Cassation“ (Die Cour de Cassation ist sozusagen

der frz. BGH; Anm. der Übersetzer) unterstützt

wurde. Um die Richterschaft wieder in den

Griff zu bekommen, wandte der Minister sich

– wie in Frankreich üblich – sodann an die

Spitzen der Justiz. Jedoch gelang es dank der

Hartnäckigkeit der Richter, die es nicht länger

hinnehmen wollen, dass die Grundlagen der

Justiz zerstört werden, die Bewegung aufrecht

zu erhalten. Und mittlerweile beginnt auch die

öffentliche Meinung eine Sensibilität für diese

wesentlichen die Justiz betreffenden Fragen

zu entwickeln. Nach einer vor kurzem durch-

geführten Umfrage unterstützt eine Mehrheit

der Befragten die Bewegung. Das, was in der

Justiz auf dem Spiele steht, dringt so in öffent-

liche Debatten ein und wird notwendigerweise

dort Spuren hinterlassen, auch wenn der Justiz-

minister, auf Bitten von Nicolas Sarkozy, ver-

sucht, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit

auf eine neue Reform der Strafprozessordnung

zu richten. Gemeint sind Veränderungen bei den

ehrenamtlichen Richtern in den Strafkammern,

weiter die Schaffung einer Strafkammer für

jugendliche Rückfalltäter (was den Prinzipien

des Jugend(straf)rechts ins Gesicht schlägt).

Weder das eine noch das andere ist vordring-

lich oder überhaupt notwendig und hat über-

dies – im vielfachen Sinne des Wortes – seinen

Preis! Wie auch immer: Früher oder später wird

sich die Regierung entschließen müssen, einen

Notfallplan für die Justiz zu beschließen, geht

es doch um nichts weniger als das Überleben

der Justiz überhaupt.

Was folgt daraus?

. Die dringliche, für die Zukunft der Justiz

existenzielle Frage lässt sich nicht darauf

reduzieren, ob die für die Aufgabenerfüllung

hinreichenden Mittel bereitgestellt werden

(wenngleich auch das natürlich ein starker

Impuls war). Vielmehr geht es der Bewegung

um Grundsatzfragen, von deren Beantwortung

die Zukunft der Justiz abhängt: Unabhängig-

keit, Unparteilichkeit und Qualität einer Jus-

tiz, die die Rechte aller Menschen schützt. So

muss eine lebendige Justiz in der Demokratie

beschaffen sein.

Leider ist Frankreich weit davon entfernt. ;

verdikt 2.2011_1_c 27.10.2011 12:00 Uhr Seite 17

Page 18: November 2011 10. Jahrgang 2.11 verdikt+file++52243a3a890e... · tet, und von Ingo Müller (S. 21), in dem aufge-zeigt wird, wie sehr die Europäische Menschen-rechtskonvention auch

verdikt 2.11 , Seite 18

. Die Deutsche Stiftung für Internationale Rechtliche Zusammenarbeit

e.V. (IRZ) hatte in der Zeit vom 09.–13.05.2011 einen Studienaufenthalt

für eine Delegation kasachischer Richterinnen zum Thema „Streitigkeiten

im Arbeits- und Sozialrecht“ organisiert. Die Stiftung wurde 1992 auf

Initiative des damaligen Bundesaußenministers Kinkel gegründet und

wird im wesentlichen vom BMJ finanziert. Seit mehr als fünfzehn Jahren

unterstützt die IRZ-Stiftung als gemeinnütziger Verein Staaten „bei der

Entwicklung rechtsstaatlicher und marktwirtschaftlicher Strukturen“,

s. http://www.irz-stiftung.de/.

. Auf dem Programm der komplett weiblichenA Delegation standen im

eingangs genannten Zeitraum Begegnungen und Referate beim Landes-

arbeitsgericht Bremen, dem Landessozialgericht Schleswig-Holstein

und einer Rechtsanwaltskanzlei für Arbeitsrecht in Bremen zu grundle-

genden arbeits- und sozialrechtlichen Themen sowohl des materiellen

als auch des Prozessrechts. Das Programm beinhaltete darüber hinaus

einen Vormittag bei der Rechtsabteilung des ver.di-Landesbezirks Nds.-

Bremen im Landesbüro Bremen.

. Die Teilnehmerinnen erhielten einen kurzen Überblick über die Ge-

schichte der deutschen Gewerkschaften, vor allem über die der Vereinten

Dienstleistungsgewerkschaft ver.di und Erläuterungen zu deren Zielen

und Aufgaben, insbesondere auch zum gewerkschaftlichen Rechts-

schutz. Die Teilnehmerinnen zeigten sich sehr beeindruckt, einerseits

von der Möglichkeit von ver.di-Mitgliedern, kostenlose Rechtsberatung

und Prozessvertretung in arbeits- und sozialrechtlichen Fragen in An-

spruch nehmen zu können, andererseits auch von der Möglichkeit, sich

als Richter oder Richterin gewerkschaftlich zu organisieren.

. Rechtliche Schwerpunktthemen waren das Tarifvertragsgesetz und

das Arbeitskampfrecht; angesichts des knappen Zeitrahmens war nur

ein grober Überblick möglich. Die Teilnehmerinnen – die ausgesprochen

konzentriert und interessiert waren und von zwei versierten Dolmet-

scherinnen unterstützt wurden – zeigten sich besonders beeindruckt von

der durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleisteten Autonomie der Tarifvertrags-

parteien, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln, von den Inhalten des

Tarifvertragsgesetzes und den Möglichkeiten zum Abschluss von Tarif-

verträgen und deren vielfältigen Regelungsgegenständen. Besondere

Aufmerksamkeit widmeten die Teilnehmerinnen auch den Erläuterungen

zum Arbeitskampfrecht, das ja weitgehend durch die Rechtsprechung

der Landesarbeitsgerichte und vor allem des Bundesarbeitsgerichts

geprägt ist. Bemerkenswert und wesentlich erschien ihnen die Tatsache,

dass der Staat sich aus solchen tariflichen Auseinandersetzungen heraus

zu halten hat und in Konfliktfällen die Tarifvertragsparteien es selbst in

der Hand haben, ob sie sich an die (Arbeits-) Gerichtsbarkeit wenden.

. Die Veranstaltung endete mit Gastgeschenken der Richterinnen und

einer Einladung nach Kasachstan; ein für alle Beteiligten interessanter

und gelungener Vormittag! ;

1 Nach Auskunft der Teilnehmerinnen sind im Bereich des Arbeits- und Sozialrechts in Kasach-

stan fast ausschließlich Frauen als Richterinnen tätig; die männlichen Kollegen hingegen

seien in aller Regel nur im Bereich des Strafrechts zu finden, die Richtertätigkeit dort werde

besser vergütet.

Martina Dierßen | Rechtsanwältin, Rechtsabteilung ver.di Landesbezirk Nds./Bremen

Richterinnen des Obersten Gerichtshofs Kasachstan zu Besuch beim ver.di - Landesbezirk Niedersachsen/Bremen

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seinen Gegenstand an der Schnittstelle zwi-

schen Arbeits- und Sozialrecht gefunden hat.

Diesen Bereichen hat er sich über viele Jahre

mit großer Kontinuität und einer Liebe einer-

seits für die Angelegenheiten der kleinen Leute,

aber auch andererseits mit großer Achtung für

das geltende und daher anzuwendende Recht

und die daraus resultierenden Grenzen richter-

licher Tätigkeit gewidmet und dabei in ihrer

Kombination wunderbar alle Klippen der blut-

losen Juristerei einerseits und der vom Recht

losgelösten Interessenjurisprudenz anderer-

seits vermieden.

. Martin hat dann eine weitere Welle mitge-

macht – die Hartz IV Welle. Als alter Verwal-

tungsrichter hatte er ja Erfahrung mit Wellen

und hat sie mit großer Ruhe, gelassen und

rechtsstaatlich angegangen, gestaltet und in

vielen Fortbildungsveranstaltungen begleitet.

Wie akzeptiert und engagiert Martin in der

neuen Gerichtsbarkeit geworden ist, wird ohne

weiteres deutlich an seiner langjährigen Mit-

gliedschaft im Präsidium des Gerichts, im Prä-

sidialrat der Gerichtsbarkeit und im Richterrat

Wer weiß, wie mächtig die „Kommunalen“ in

der Landespolitik sind – schon weil die meisten

Abgeordneten des niedersächsischen Landtages

auch „in der Kommune Verantwortung tragen“,

der weiß, welch exquisiten Zugang diese Ver-

bände zu den wahren Gestaltungspositionen

in der niedersächsischen Landespolitik haben.

Martin ist diesen Weg jedoch nicht weiter ge-

gangen, sondern hat sich vielmehr auf unabhän-

gige Pfade in die Verwaltungsgerichtsbarkeit

an das VG Hannover begeben (geflüchtet?).

Der Wellenreiter . Dort hat er alle politischen Kämpfe und

Wellen, die die Verwaltungsgerichtsbarkeit in

der damaligen Zeit erlebt hat mitgemacht.

Dazu gehörten in Hannover natürlich große

Auseinandersetzungen um das Versammlungs-

recht, in denen das VG immer mal wieder Ge-

genposition gegen das OVG Lüneburg bezogen

hat. Dann sind die Wellen der KDV-Verfahren

und der Asylverfahren über die Verwaltungs-

gerichtsbarkeit hinweg gegangen. Die Gerichts-

barkeit hat sich enorm vergrößert und mit der

ihr eigenen stoischen Beharrlichkeit all diese

„Wellen“ abgearbeitet. Alle diese Stürme hat

Martin Bender miterlebt, mitgestaltet und da-

bei sein ruhiges und unerschütterliches Wesen

immer weiter ausgebildet. Von der Pike auf

mit der Arbeit im Spruchkörper vertraut, war

er für alle jüngeren Kollegen und Kolleginnen

genauso wie für persönliche Eigenheiten aus-

prägende Vorsitzende immer der ruhende Pol

in der Kammer. Noch heute kann man Martin

Bender zu vergangenen Verstrickungen in der

niedersächsischen Politik und in der Justiz

immer wieder Gewinn bringend befragen. Im

Zweifel findet sich im Bender’schen Fundus

ein altes Buch über die Welfen in Celle oder über

vom niedersächsischen Verfassungsschutz

höchstselbst verübte Anschläge, die den Leser

auf den Stand der Tatsachen bringen.

Eine neue Herausforderung: der Wechsel indie Sozialgerichtsbarkeit. Dann folgte der Wechsel an das Landesso-

zialgericht in Celle, wo Martin nach anfänglicher

Tätigkeit im Recht der gesetzlichen Unfallver-

sicherung alsbald im Arbeitsförderungsrecht

verdikt 2.11 , Seite 19

. Der Kollege Martin Bender ist nach erreichen

der Altersgrenze aus dem richterlichen Dienst

ausgeschieden und genießt nun den wohlver-

dienten Ruhestand. Das soll Anlass sein, einen

Kollegen zu würdigen, der der Redaktion dieser

Zeitung, sei es unter dem Namen ötv in der

Rechtspflege, sei es unter dem Namen verdikt,

bereits seit Jahrzehnten angehört.

Prägende universitäre Jahre. Martin Bender stammt aus den waldigen

Hügeln des Siegerlandes und hat Jura in Mar-

burg studiert, wo er sogleich die ganze Band-

breite der juristischen Wissenschaft kennen

lernen durfte: einerseits den Doyen der deut-

schen Militärstrafgerichtsbarkeit, den tief in

den Nationalsozialismus verstrickten, aber un-

verdrossen und nicht irritiert weiter lehrenden

Erich Schwinge, andererseits den Partisanen-

professor, Widerstandskämpfer, ehemaligen

Angehörigen eines Strafbataillons und kriti-

schen Berater der entstehenden Studentenbe-

wegung Wolfgang Abendroth, dem freilich kein

Lehrstuhl am juristischen Fachbereich sondern

„nur“ bei den Politikwissenschaftlern zuge-

standen worden war und der aus der Vereini-

gung der deutschen Staatsrechtslehrer heraus-

gedrängt wurde. Jeder, der sich in Marburg in

diesen Jahren herumgetrieben hat, wird sich

daran erinnern, wie ungemein befruchtend

Abendroth auf alle die gewirkt hat, die bereit

waren, ihm zuzuhören - auch auf aufgeschlos-

sene Juristen -. Noch anlässlich seines Todes

war bei der Gedenkfeier, bei der die Trauerrede

von einem seiner Habilitanden Jürgen Haber-

mas gehalten wurde, das Audimax der Univer-

sität völlig überfüllt. Schwinge hingegen war

am Fachbereich immer wieder für kleine und

große Skandale gut und hat im Aufbegehren

gegen ihn ebenfalls Viele geprägt, so auch

Martin Bender.

Erkenntnisse in der Kommunalverwaltung. Nach Studium und Referendariat – mit Sta-

tion in Speyer – war Martin Bender zunächst

bei einem niedersächsischen Kommunalver-

band tätig und konnte damit sogleich die

Funktionsweise niedersächsischer Politik an

einer ihrer urtümlichsten Stellen kennen lernen.

[ I N E I G E N E R S A C H E ]

Klaus Thommes für die Redaktion

Martin Bender i. R.

Martin Bender, Karikatur: Andreas Martins

verdikt 2.2011_1_c 27.10.2011 12:00 Uhr Seite 19

Page 20: November 2011 10. Jahrgang 2.11 verdikt+file++52243a3a890e... · tet, und von Ingo Müller (S. 21), in dem aufge-zeigt wird, wie sehr die Europäische Menschen-rechtskonvention auch

. Wohl wahr!

. Nun sollen die Auswirkungen des Personal-

abbaus auf die Justiz genauer geprüft und al-

ternative Einsparmöglichkeiten – was immer

das heißt – gesucht werden. Man darf auf den

Erfolg dieser Suche gespannt sein.

. Derweil ist auf Bundesebene ein Gesetz zum

Schutz vor überlangen Gerichtsverfahren auch

vom Bundesrat (mit Zustimmung Bremens!)

verabschiedet worden, das den im Grundgesetz

und in der Europäischen Menschenrechtskon-

vention verankerten Anspruch eines jeden Bür-

gers auf Rechtsschutz in angemessener Zeit

konkretisiert und bei Verletzung dieses Grund-

satzes einen Entschädigungsanspruch vorsieht.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrech-

te in Straßburg hatte das Gesetz angesichts

vielfacher Verurteilungen Deutschlands wegen

überlanger Verfahren immer wieder angemahnt,

zuletzt mit Fristsetzung bis Dezember 2011.

Deutschland musste bislang bereits ca. 1 Mio.

¤ Entschädigungen an die Betroffenen zahlen.

. Der Justizsenator sollte das einzusparende

Geld schon einmal vorsorglich für die abseh-

baren Bremischen Verstöße gegen das neue

Gesetz zurücklegen. ;

sonalvertretungen in den verschiedenen Justiz-

bereichen den bislang einmaligen Vorstoß der

Gerichtsspitzen begrüßten. Die Rechtsanwalts-

kammer sprach von skandalös langen Bearbei-

tungszeiten bei den Gerichten und die Bremer

Polizeiführung beklagte sich darüber, dass Straf-

täter oft erst nach Jahren angeklagt würden.

. Da passte es ins Bild, dass kurz darauf vor

dem Amtsgericht ein Strafprozess gegen 7 Hoo-

ligans begann, die nach einem bereits mehr als

4 5 Jahre zurückliegenden Überfall auf Werder-

fans im Weserstadion wegen z.T. schwerer Kör-

perverletzungstaten angeklagt waren.

. Angesichts des Protests der „Wut-Präsiden-

ten“ und der heftigen öffentlichen Justizschelte

sah sich der seit Anfang 2010 amtierende und

bislang kaum in Erscheinung getretene Justiz-

senator Günthner (SPD) – im Hauptamt Senator

für Wirtschaft, Häfen und Arbeit – veranlasst, in

einem langen, aber wenig konkreten Zeitungs-

interview zu betonen, dass er die Äußerungen

der Gerichtspräsidenten „sehr, sehr ernst“ neh-

me und bei allen notwendigen Sparanstrengun-

gen Bremens der Rechtsstaat in seiner Substanz

nicht gefährdet werden dürfe. Die Bürger hätten

auch in einem Haushaltsnotlageland Anspruch

auf ein funktionierendes Rechtssystem.

. Es waren nicht die üblichen Verdächtigen,

die Ende August d.J. gegen die im Koalitions-

vertrag festgeschriebenen Einsparziele des

Bremer rot-grünen Senats im Justizbereich pro-

testierten. Als „Aufstand der Präsidenten“ be-

zeichnete der Weser Kurier den ungewöhnlichen

öffentlichen Protest der Präsidentinnen und

Präsidenten der Bremer Obergerichte (Hans.

OLG, OVG, LAG, LSG und FG), denen sich auch

die Generalstaatsanwältin und der JVA-Leiter

angeschlossen hatten. Die vereinbarte Personal-

kürzung von 1,6 % für die nächsten 4 Jahre, die

einem Abbau von 80 weiteren Stellen entspricht,

geißeln die Justizoberen als unverantwortlich

und angesichts der zu erwartenden weiter an-

steigenden Dauer der Gerichtsverfahren als

ernsthafte Gefährdung des Rechtsstaats und

sie verweisen darauf, dass in den letzten 18 Jah-

ren die Bremer Justiz bereits 25 % ihrer Mitarbei-

terinnen und Mitarbeiter eingebüßt hat.

. Vor diesem Hintergrund klingt es wie Hohn,

wenn in demselben rot-grünen Koalitionsver-

trag der Justiz eine Personalausstattung ver-

sprochen wird, die gerichtliche Entscheidungen

zeitnah ermöglicht.

. Kein Wunder, dass der Richterverein, die

Richter u. Staatsanwälte in ver.di sowie die Per-

verdikt 2.11 , Seite 20

des Hauses. Außerdem sind viele, viele junge, neu eingestellte Kollegen

und Kolleginnen in ihrer Einweisungszeit beim Landessozialgericht von

Martin Bender in das richterliche Handwerk eingeführt worden.

. Daneben ist Martin Bender seit vielen Jahren Vorsitzender einer Kam-

mer der Schiedsstelle des diakonischen Werks Hannover, wo er sowohl

von den Vertretern der Mitarbeitervertretungen als auch von Arbeitgeber-

seite wegen tiefer Kenntnisse, ausgleichendem Wesen und souveräner

Verhandlungsführung gelobt wird und weiterhin die Grenzen des kirch-

lichen Arbeitsrechts auslotet.

Martins gewerkschaftliches Engagement. Neben all diesen Verpflichtungen ist Martin sozusagen schon immer

Mitglied der Gewerkschaft, engagiert sich regional im niedersächsischen

Fachausschuss von ötv/verdi und überregional im Bundesfachausschuss

der Gewerkschaftsrichter. Er hat zum Beispiel für die Gewerkschaft un-

zählige Versammlungen über sich ergehen lassen, die sich mit Pebbsy

befassten. Last but not least ist Martin auch fast immer schon – seit

[ D I E M E I N U N G ]

Bernd Asbrock

Aufstand der Präsidenten

1984 – der ruhende Pol in der Redaktionsarbeit unserer kleinen Zeitung.

Immer bereit, zusätzliche Aufgaben zu übernehmen und diese mit größ-

ter Zuverlässigkeit abzuarbeiten; immer wieder den Kontakt mit der Ge-

werkschaft und dem in ihr vertretenen großen Spektrum von Interessen

zu suchen; immer ausgleichend und vermittelnd, wenn alte Matadore

ihre Lieblingsthemen vielleicht ein wenig über Gebühr ausbreiten; immer

den Bedürfnissen der Kollegen und Kolleginnen verpflichtet, die die Zei-

tung mit Gewinn zur Hand nehmen sollen. Redaktionssitzungen im

benderschen Wohnzimmer hoch über der Eilenriede waren und sind

immer ein Genuss, reichlich unterstützt vom guten Kuchen aus der Hof-

bäckerei, wunderbaren Imbissen und dem die Arbeit so erleichternden

Roten. So vergehen die Stunden schnell – und pardauz auch die Jahre.

Eigentlich kann es noch keiner glauben, dass ein so jugendlicher Mann,

Kollege und Freund schon die Altersgrenze erreicht haben soll und

wahrscheinlich liegt dem auch ein großer Irrtum zu Grunde. Wir waren

jedenfalls – mal wieder – schlauer als das Land Niedersachsen und ha-

ben uns der weiteren Mitarbeit von Martin über den Ruhestand hinaus

versichert. Darauf freuen wir uns sehr!! ;

verdikt 2.2011_1_c 27.10.2011 12:00 Uhr Seite 20

Page 21: November 2011 10. Jahrgang 2.11 verdikt+file++52243a3a890e... · tet, und von Ingo Müller (S. 21), in dem aufge-zeigt wird, wie sehr die Europäische Menschen-rechtskonvention auch

verdikt 2.11 , Seite 21

. Sie trat so scharf und so sicher zwischen die Eier hinein, bei den Eiern

nieder, dass man jeden Augenblick dachte, sie müsse eins zertreten oder

bei schnellen Wendungen das andere fortschleudern. Mitnichten! Sie be-

rührte keines, ob sie gleich mit allen Arten von Schritten, engen und weiten,

ja sogar mit Sprüngen und zuletzt halb kniend sich durch die Reihen wand.

…. Der Tanz ging zu Ende; sie rollte die Eier mit den Füßen sachte zusammen

auf ein Häufchen, ließ keines zurück, beschädigte keines und stellte sich

dazu, indem sie die Binde von den Augen nahm und ihr Kunststück mit

einem Bückling endigte.

(Wilhelm Meisters Lehrjahre, 2. Buch, 8. Kapitel)

. Seit der bekannteste deutsche Jurist diese Szene beschrieben hat

(1829), spricht man bei schwer verständlichem Hin- und Herwinden

vom Eiertanz. Damit scheint mir die Haltung der etablierten deutschen

Rechtswissenschaft zur Europäischen Menschenrechtskonvention und

den auf ihr basierenden Urteilen des Straßburger Menschenrechtsge-

richtshofs treffend beschrieben. Mal nannte man sie „Bundesrecht“A,

mal „gültiges innerdeutsches Recht“B, „in deutsches Recht umgeform-

tes Recht“C, „Recht mit Gesetzeskraft“D oder „Vorschriften bundesrecht-

licher Art“E, aber immer und nach wie vor bezeichnet die herrschende

Lehre die EMRK als „einfaches Gesetz“ mit minderer Geltung, jedenfalls

als Verfassungsrecht. Niemand, der sich mit ihr befasst, versäumt, das

zu erwähnen. Wie es dazu kam, versuche ich zu erklären. Im Grunde

wird es schon in der Ankündigung meines Referats verraten. Es hat eine

längere Vorgeschichte, deren Ergebnisse uns noch heute belasten.

. „Keine Rechtspraxis“, schreibt Winfried Hassemer in einer Analyse

der bundesrepublikanischen Strafrechtswissenschaft, „und keine Vor-

stellung vom Recht war nach 1945 so wie zuvor“F. Das genaue Gegenteil

scheint mir richtig: mit Zähnen und Klauen hielten Justiz und Rechts-

wissenschaft an den „Errungenschaften“ jener zwölf Jahre fest, von

den verschärften Strafen für Homosexualitität und Abtreibung über das

Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses bis zu den verschiede-

nen Strafprozessnovellen des Dritten Reichs.

1 Bundesverwaltungsgericht, BVerwGE, NJW 1958, S. 35; BayVerfGHE 12 II, S. 71; OLG Bremen,

JZ 1960, S.260

2 Württ.-Bad. VGH, VerwRspr. 8, 861

3 OVG Münster, NJW 1965, S. 1374

4 BVerwG, DVBl. 1962, S. 490

5 BVerwGE 3, 58

6 Strafrechtswissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland, in: D. Simon (Hrsg.),

Rechtswissenschaft in der Bonner Republik (1994), S. 259

7 Dallinger, SJZ 1950, S. 731

8 BT-Drs. 4/178

9 Die Wiederherstellung rechtsstaatlicher Garantien im deutschen Strafprozessrecht,

Festschrift für H.F. Pfenninger (1956), S. 7

Die Ablehnung Grundlegender Reformen nach dem Krieg durch diedeutsche Rechswissenschaft

. In den späten vierziger Jahren war die deutsche Juristenschaft einig,

dass „grundlegende Reformen (unserer Rechtsordnung) jedenfalls zur

Zeit nicht erstrebenswert“ seienG und die Bundesregierung meinte,

dass „übereilte Änderungen sich in verhängnisvoller Weise auswirken

und dem Ansehen der deutschen Rechtspflege Abbruch tun“ müsstenH.

Im Rückblick auf diese Zeit resümierte der keineswegs ns-belastete, von

der französischen Besatzungsmacht zum Generalstaatsanwalt am OLG

Freiburg ernannte Karl Siegfried Bader im Jahr 1956: „Nach 1945 mit großer

Vehemenz auftauchenden Versuchen, englische und amerikanische

Rechtsgrundsätze einzuführen, mußte aus Gründen einer sinnvollen

Rechtskontinuität entgegengetreten werden.“I

Die Wurzeln der EMRK

. Englische und amerikanische Rechtsprinzipien waren auch die

Menschenrechtskonventionen der UNO und des Europarats. Die Men-

schenrechtserklärung der Vereinten Nationen hatte es in Deutschland

schon deshalb schwer, weil „United Nations“ sich die Weltkriegsgegner

Deutschlands genannt hatten und die den Kern des neuen Völkerbun-

des bildeten. Schon am 1. Januar 1942 beschlossen die 26 Staaten der

„Anti-Hitler-Koalition“ in Washington die Deklaration der Vereinten

Nationen, weitere Gründungsstationen waren die Konferenzen der

Weltkriegsgegner im Oktober 1943 in Moskau und 1945 in Jalta, bis sich

die Organisation von inzwischen 50 Nationen am 26. Juni 1945 in San

Francisco formell konstituierte. Deren Menschenrechtsdeklaration

vom 10. Dezember 1948 war Vorbild für die Europäische Menschen-

rechtskonvention vom 4. November 1950 (die EMRK erklärt das aus-

drücklich in ihrer Präambel).

. Aber nicht nur ihre Herkunft diskreditierte die EMRK in den Augen der

deutschen Wissenschaft, sondern auch ihr Inhalt. Sie war nämlich in vieler-

lei Hinsicht eine Reaktion auf die in Nürnberg offen gelegten Verbrechen.

Ingo Müller

Die EMRK, nur ein einfaches Gesetz?60 Jahre Widerstand gegen die Nürnberger Prinzipien

[ R E C H T S P O L I T I K ]

Das Forum Justizgeschichte hat seine 13. Tagung unter dem Thema „Ach Europa! Ach Menschenrechte! – 60 Jahre Europäische Menschenrechts-konvention und die Justiz“ vom 23. bis 25. September 2011 traditionell in der Deutschen Richterakademie in Wustrau abgehalten.In alter Verbundenheit war Prof. Dr. Dr. Ingo Müller so freundlich, uns sein Referat zum Abdruck zu überlassen, das wir also mit Dank brandaktuellbringen können. Der Text erscheint demnächst auch im Newsletter des Forums Justizgeschichte, den Sie wie alles Wichtige auf dessen Websitewww.forum-justizgeschichte.de finden. Die Redaktion

verdikt 2.2011_1_c 27.10.2011 12:00 Uhr Seite 21

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verdikt 2.11 , Seite 22

Und in der Ablehnung der Nürnberger Prozesse und der ihnen zugrunde

liegenden Prinzipien war man sich in Deutschland einig.

Die deutsche Rezeption der Nürnberger Prozesse

. In den zunächst recht dünnen, neu gegründeten juristischen Zeit-

schriften wurden in den späten vierziger Jahren die Nürnberger Prozesse

zunächst regelrecht totgeschwiegen. Allein die von Gustav Radbruch,

Karl S. Bader und Georg August Zinn gegründete Süddeutsche Juristen-

zeitung informierte ab und zu über die Verfahren. Festschriften, die da-

mals trotz Papierknappheit erschienen, setzten sich eher verschlüsselt

und historisch verbrämt mit den Nürnberger Prozessen auseinander.

Der Kölner Strafrechtsprofessor Gotthold Bohne weist in der Festschrift

für Wilhelm Sauer zum Siebzigsten 1949 mit einem Streifzug durch das

mittelalterliche Völkerstrafrecht von Hugolinus (gest. 1233) über Oldradus

de Ponte (gest. 1235) bis Albericus de Rosciate (gest. 1353) nach, dass

schon damals die Rechtskonstruktion des Nürnberger Tribunals hoff-

nungslos veraltet warAJ.

. Zu Beginn der fünfziger Jahre brauchte man seine Meinung nicht

mehr historisch zu tarnen. August von Knieriem, bis 1945 Vorstandsmit-

glied und Chefjurist der I.G. Farben, konstatierte in einem viel beachte-

ten Buch über die Prozesse, dass „wohl selten eine Anklage in einem

großen politischen Prozess so kläglich zusammengebrochen“ seiAA und

dass dort „Geschichtsklitterungen und Rechtsverdrehungen einander

ablösten“. Otto Kranzbühler, der unermüdlich die „ungesunden Recht-

sprinzipien“ von Nürnberg anprangerte, rückt in der Festschrift zu

Erich Kaufmanns Siebzigstem auch die historischen Fakten zurecht:

Angriffskrieg, das war der Kriegseintritt der USA; der deutsche Überfall

auf die Sowjetunion war dagegen ein „Akt der Verteidigung“AB. Die

Deutsche Gesellschaft für Völkerrecht lud Kranzbühler zu ihrer Ham-

burger Jahrestagung 1950, um ihn zu „Rechtsfragen der Nürnberger

Prozesse“ zu hörenAC. Und als 1961 die Katholische Akademie in Bayern

eine Tagung zu „Möglichkeiten und Grenzen für die Bewältigung histo-

rischer und politischer Schuld in Strafprozessen“ abhielt, war Kranz-

bühler Hauptreferent. Zum Nürnberger Anklagepunkt „Angriffskrieg“

meinte er, dass „das alte Mittel des Krieges … nicht verurteilt werden

(kann), weil es kein anderes und besseres (!) zur Lösung internationaler

Konflikte gibt“AD.

. Eine beispiellose wissenschaftliche Karriere konnte der langjährige

Direktor des Freiburger Max-Planck-Instituts für internationales und aus-

ländisches Strafrecht, Hans-Heinrich Jescheck, auf seine Habilitations-

schrift „Die Verantwortlichkeit der Staatsorgane nach Völkerrecht“ auf-

bauen. Schon in der Einleitung der von Edmund Mezger, Adolf Schönke

und Erich Schwinge herausgegebenen Studie nennt er die Verfahren „ein

trübes Kapitel aus den dunkelsten Stunden des deutschen Volkes“. Im

Osten und auf dem Balkan wurde „auf beiden Seiten ein Weltanschau-

ungskrieg ohne Recht und Gnade geführt, (daher ist es) unerträglich, wenn

genau gleichliegende Sachverhalte mit zweierlei Maß gemessen werden“AE,

im Übrigen sei es „Sache des Staates, dem der Beschuldigte angehört,

darüber zu entscheiden, ob hierwegen ein Strafverfahren durchgeführt

werden soll“AF. Ob für Herbert Kraus, Direktor des Instituts für Völkerrecht

an der Universität Göttingen, „Nürnberg“ ein „Inferno“ war, das „in die

Seele eines jeden, der es miterlebte, … tiefe unauslöschliche Furchen

gegraben hat“AG und er Lidice, Oradour und Auschwitz nur „Missetaten“

und „inhumane Maßnahmen“ nannte, oder Friedrich Berber, Münchener

Völkerrechtsordinarius, die fehlende Einwilligung der „Reichsführung“

rügteAH, oder ob der über Nürnberg zum Völkerrechtler mutierte Straf-

rechtler Georg Dahm das Nürnberger Tribunal „ein Ausnahmegericht für

die Besiegten“ nannte, das auf keinen Fall den Holocaust hätte beurtei-

len dürfenAI, da dieser eine innerdeutsche Angelegenheit war, die deut-

sche Rechtswissenschaft ließ an den Prozessen kein gutes Haar. Der

Hamburger Oberregierungsrat Karl-Heinz Lüders, einer der ganz weni-

gen deutschen Juristen, die den Nürnberger Prozess begrüßten, hatte

in einem der ersten Hefte der Süddeutschen Juristenzeitung behauptet,

„nur noch böswillige und verhärtete Nationalsozialisten“ zögen die

Objektivität des Nürnberger Gerichts in ZweifelBJ. Hätte er damit Recht

gehabt, müsste man die ganze deutsche Juristenschaft dazu zählen.

. Beim Beitritt Deutschlands zum Europarat sah man hier, nicht ganz

zu unrecht, eine Anerkennung der Rechtsprinzipien von Nürnberg, vor

allem im Artikel 7 der Menschenrechtskonvention, der gleich mehrfach

Bezug auf deutsche Verhältnisse nahm:

I. Niemand kann wegen einer Handlung oder Unterlassung

verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach inlän-

dischem oder internationalem Recht nicht strafbar war.

Ebenso darf keine höhere Strafe als die im Zeitpunkt der

Begehung der strafbaren Handlung angedrohte Strafe ver-

hängt werden.

II. Durch diesen Artikel darf die Verurteilung oder Bestrafung

einer Person nicht ausgeschlossen werden, die sich einer

Handlung oder Unterlassung schuldig gemacht hat, wel-

che im Zeitpunkt ihrer Begehung nach allgemeinen von

den zivilisierten Völkern anerkannten Rechtsgrundsätzen

strafbar war.

. Die Bestimmung, dass eine Strafe nicht nachträglich verschärft wer-

den dürfe, ist eine Anspielung auf die Lex van der Lubbe vom 29. März

1933. Damals hatten die renommiertesten deutschen Strafrechtslehrer

Nagler, Oetker und von Weber in einem Rechtsgutachten für die Reichs-

regierung ausgeführt, die nachträgliche Strafverschärfung (zur Todes-

strafe) für den Reichstagsbrandstifter sei mit dem Nulla-Poena-Grund-

satz durchaus vereinbar, weil Brandstiftung ja schon vorher strafbar

war. Das Wort vom „internationalen“ Strafrecht war schon ein Bezug

auf Nürnberg, vor allem aber der Absatz 2.

10 Organisationsverbrechen, Gruppenkriminalität und Kollektivschuld in Theorie und Praxis, in:

Festschrift für Wilhelm Sauer zu seinem 70. Geburtstag (1949), S. 128 ff.

11 Nürnberg, Rechtliche und menschliche Probleme (1953), S. 543

12 Nürnberg als Rechtsproblem, in: Um Recht und Gerechtigkeit, Festgabe für Erich Kaufmann

(1950), S. 227

13 vgl. den Tagungsbericht in: SJZ 1950, Sp. 539/540

14 Studien und Berichte der Katholischen Akademie in Bayern, Heft 19 (1962), S. 31

15 S. 297

16 a.a.O.

17 Gerichtstag in Nürnberg (1947), S. 3

18 Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. II (1962), S. 259

19 Völkerrecht, Bd. III, S. 292

20 SJZ 1946, Sp. 23

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verdikt 2.11 , Seite 23

. Bei der Ratifikation der Konvention machte Deutschland daher den

Vorbehalt, „dass (die Bundesrepublik) die Bestimmung des Artikels 7

Abs. 2 .der Konvention nur in den Grenzen des Artikels 103 Abs. 2 des

Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland anwenden wird“BA.

Nur der Vollständigkeit halber sei hier erwähnt, dass das Bundesverfas-

sungsgericht den Vorbehalt inzwischen für unmaßgeblich erklärt hat.

In seiner Mauerschützenentscheidung vom 24. Oktober 1996BB führt es

aus, dass niemand darauf vertrauen dürfe, „dass die von ihm vorgenom-

menen systemimmanent Straffreistellungen für immer und ewig Bestand

haben, … wenn die in der Völkergemeinschaft allgemein anerkannten

Menschenrechte in schwerwiegender Weise missachtet werden“BC.

. Aber unabhängig von Artikel 7 fiel die Konvention bei der deutschen

Rechtswissenschaft durch, vor allem wegen der umfangreichen Prozess-

garantien des Artikel 6, die in dieser oder jener Form bei uns für unbe-

achtlich erklärt werden.

Die Bagatellisierung der strafprozessualen Garantien

. Die Bagatellisierung der strafprozessualen Garantien der Konventi-

on verlief in zwei Phasen:

Zunächst wurden die einzelnen Verbürgungen als absurd und mit deut-

schem Recht unvereinbar erklärt, vor allem die (nach angelsächsischem

Verständnis) Grundvoraussetzung eines „fair trial“, die Waffengleichheit

zwischen Anklage und Verteidigung. Zwar nicht mehr mit der Vehemenz

des Marburger Strafrechtsprofessors Ulrich Stock („Fort mit dem abwe-

gigen Gedanken der Waffengleichheit, das fordert die neue Idee der Ge-

rechtigkeit“BD), aber in der Sache nicht weniger aussagekräftig meinte

Roxin, die dominierende Stellung der Staatsanwaltschaft im deutschen

Strafprozess verbiete den Grundsatz, „eine wirkliche Waffengleichheit

wäre mit unserer Verfahrensstruktur nicht zu vereinbaren“BE. Eberhard

Schmidt, Altmeister des Strafprozessrechts, fand den „Gesichtspunkt

der Waffengleichheit im Strafprozess … völlig fehl am Platz“BF. Allge-

mein war die Strafrechtslehrerschaft der Auffassung, „das ängstliche

Bemühen um eine uneingeschränkte Wahrung dieser Freiheitsrechte

(führt) im prozessualen Bereich zu einer verkrampften, doktrinär über-

steigerten Betonung dieser Rechte und (lähmt) dadurch (eine) sachge-

rechte Strafrechtspflege.“BG Die Garantie des Art. 6 Abs. 3 d, die Ladung

und Vernehmung der Entlastungszeugen unter den selben Bedingungen

wie die der Belastungszeugen zu erwirken, wurde gar nicht erst als Kon-

kretisierung der Waffengleichheit zwischen Anklage und Verteidigung

betrachtet, sondern unter Hinweis auf § 160 Abs. 2 StPO (Staatsanwalt-

schaft = „objektivste Behörde der Welt“) als erfüllt angesehen. So stieß

auch eine 1978 vorgenommene Änderung des § 245 StPO, dass nur noch

von der Staatsanwaltschaft herbeigeschaffte Beweismittel verwendet

werden müssen, nicht solche der VerteidigungBH, in der Strafrechtswis-

senschaft auf keinen Widerstand.

Ähnlich die Diskussion um die in Art. 6 Abs. 2 verbürgte Unschuldsver-

mutung: diese sei mit der deutschen Verfahrensstruktur nicht verein-

bar: „solange § 238 Abs. 1 (StPO) als Kernvorschrift des Amtsprozesses

bestehen bleibt“BI.

. Auf Dauer ließ sich die Abwehr der Konventionsgarantien mit der

Behauptung, sie seien mit deutschen Rechtsprinzipien unvereinbar,

nicht halten. Man erklärte daher, die Verbürgungen der EMRK seien im

deutschen Strafprozess erfüllt, ja übererfüllt. Die Grundgesetzgarantien

von Menschenwürde und Rechtsstaatsprinzip umfassten alle Beschuldig-

tenrechte der Konvention. Dabei ging man in teleologischer Auslegung

der EMRK von einer Gesamtbilanz des deutschen Strafverfahrens aus.

An seine Grenzen stieß diese Betrachtungsweise in einem relativ unspek-

takulären Verfahren vor dem Straßburger Gerichtshof. Obwohl Art. 6

Abs. 3 e der Konvention die „unentgeltliche Herbeiziehung eines Dol-

metschers“ garantiert, „wenn er (der Angeklagte) die Verhandlungs-

sprache des Gerichts nicht versteht oder sich nicht darin ausdrücken

kann“, wurden Verurteilten die Dolmetscherkosten gemäß dem Kosten-

verzeichnis zum GKG regelmäßig auferlegt. Als daraufhin ein Verurteil-

ter in Straßburg dagegen klagte, argumentierte die Bundesregierung:

die Vorschrift habe den Sinn, ein faires Verfahren zu garantieren. Das

deutsche Strafverfahren sei aber dermaßen fair, dass es der Kostenfrei-

stellung nicht bedürfe. Die Kommission (damals erste Instanz des

EGMR) zitierte in ihrer stattgebenden Entscheidung alle Wörterbücher

der Konventionssprachen, die sämtlich unentgeltlich mit „gratuit“,

„free of cost“, „sans payer rien“ etc. übersetzten, und meinte, dass

offenbar nur die deutsche Regierung meine, es heiße, man müsse

bezahlen. Sie prägte dazu den Leitsatz: „Die in der Europäischen Men-

schenrechtskonvention verankerten Wertentscheidungen können im

Rahmen der vertragskonformen Auslegung deutschen Rechts nur

innerhalb der Schranken berücksichtigt werden, die einer Auslegung

gezogen sind“CJ. Die Dolmetscherkosten sind inzwischen aus dem

Kostenverzeichnis verschwunden. Weitere Konsequenzen wurden aus

der Entscheidung aber nicht gezogen. Immer noch werden mittellosen

Verurteilten die Pflichtverteidigergebühren auferlegt, obwohl Art. 6

Abs. 3 c auch hier Unentgeltlichkeit fordert. Und nach wie vor wird an

unseren Universitäten gelehrt, dass die EMRK nur „Mindeststandards“

vorschreibe, die in Deutschland längst übererfüllt seien. „In der Bundes-

republik mit ihrem Grundrechtskatalog … und dem durch die Verfas-

sungsbeschwerde gesicherten Rechtsschutzverfahren“, heißt es im

meistbenutzten Handkommentar zur StPO, „ist die EMRK nur von sub-

sidiärer und verhältnismäßig geringer Bedeutung“CA.

Der konfuse Widerstand der deutschen Gerichte

. Nachdem der Menschenrechtsgerichtshof im Fall Görgülü die Ent-

scheidungen deutscher Gerichte einschließlich des Verfassungsgerichts

beanstandet hatte, es ging um das Umgangsrecht eines unehelichen

Vaters mit seinem Kind, entschied das Bundesverfassungsgericht,

Urteile aus Straßburg seien nicht „schematisch“ zu vollstrecken. Zwar

müssten deutsche Gerichte sich mit der Straßburger Rechtsprechung

21 BGBl 1954 Teil II, S. 14

22 BVerfGE 95, 96

23 a.a.O. S. 133

24 Zur Strafprozesserneuerung (1935)

25 Kern-Roxin, Strafverfahrensrecht (1975), S. 55, 57

26 Deutsches Strafprozessrecht (1967), S. 42

27 Sax, Grundsätze der Strafrechtspflege, in: Bettermann, Nipperdey, Scheuner (Hrsg.),

Die Grundrechte (1959), S. 970

28 Gesetz vom 5.10.1978, BGBl I, S. 1645

29 Sax, Grundsätze der Strafrechtspflege, in: Bettermann, Nipperdey, Scheuner (Hrsg.),

Die Grundrechte (1959), S. 990

30 EGMR vom 23.10.1978, NJW 1979, S. 1091

31 Meyer-Goßner, StPO, 48. Aufl. (2005) Rdn. 1 zu Art. 1 EMRK

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„gebührend auseinandersetzen“ und sie „nach Möglichkeit“ berücksich-

tigen, aber eben nicht Wort für WortCB. Das konnte niemand verstehen,

auch nicht die Richter des OLG Naumburg, die gemeint hatten, die Ent-

scheidung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs sei unbeacht-

lich und die sich damit sogar ein Rechtsbeugungsverfahren einhandel-

ten. Nach der Aussage des Verfassungsgerichts, die Urteile seien nicht

zu befolgen, aber zu berücksichtigen, verwies Lucius Wildhaber, Baseler

Völkerrechtsprofessor und von 1998 bis 2007 Präsident des Straßburger

Gerichts, in einem viel beachteten Spiegel-InterviewCC darauf, dass in der

Europäischen Menschenrechtskonvention unmissverständlich stehe,

dass alle Unterzeichnerstaaten, auch Deutschland, sich verpflichtet

hätten, den Urteilen des EGMR Folge zu leisten. Es binde alle Staatsor-

gane, auch die Gerichte: „Wir kümmern uns nicht darum, ob eine staat-

liche Regelung Verfassungsrang hat. Wenn sie gegen die europäische

Menschenrechtskonvention verstößt, muss sie geändert werden. Dazu

hat sich auch die Bundesrepublik verpflichtet. Wir prüfen auch Verfas-

sungsnormen. … Welchen Rang die Konvention in ihrer Verfassungs-

ordnung hat, ist Sache der Deutschen, wenn es aber Schwierigkeiten

bei der Umsetzung der Urteile gebe, muss man der Konvention in

Deutschland einen höheren Rang einräumen“, was viele Länder, u.a.

Österreich und sogar die Türkei schon getan hätten.

. Das wollte dagegen Präsident Papier vom Bundesverfassungsgericht

überhaupt nicht akzeptieren. In mehreren Stellungnahmen beharrte er

auf dem Primat des Grundgesetzes vor der Europäischen Menschen-

rechtskonvention und behielt sich vor, anders zu entscheiden, als die

Straßburger Richter, denn „die Europäische Menschenrechtskonvention

hat in unserer Rechtsordnung nur den Rang eines einfachen Gesetzes,

steht also unterhalb der Verfassung“. Er legte dem Straßburger Gericht

nahe, sich künftig gegenüber dem deutschen Verfassungsgericht zurück-

zuhalten und sich auf Grundrechtsentscheidungen zu beschränkenCD.

. Wildhaber äußerte daraufhin, solche Äußerungen untergraben die

Autorität des Straßburger Gerichts. Inzwischen hätten sich Anfragen

aus anderen Staaten gehäuft, ob man sich wirklich in allen Punkten an

Entscheidungen des EGMR halten müsse.

. Als im Sommer dieses Jahres in der russischen Duma ein Gesetzent-

wurf vorgelegt wurde, nach dem sich Russland vorbehält, Urteile aus

Straßburg nicht zu befolgen, wenn sie der russischen Verfassung und/

oder Rechtsprechung des Verfassungsgerichts widersprechen, titelte der

Berliner Tagesspiegel „Russland droht Rausschmiss aus Europarat“CE. In

der Tat kann der Europarat solche Nonchalance bei der Umsetzung der

Straßburger Urteile nicht dulden.

. Aber wie ist es bei uns? Es scheint an der Zeit, der Menschenrechts-

konvention endlich Verfassungsrang beizumessen und das unsinnige

Gerede vom „einfachen Gesetz“ zu beenden. ;

. Zu einem offenen Informations- und Meinungsaustausch war das

Sprecherteam des Bundesfachausschusses Richterinnen und Richter,

Staatsanwältinnen und Staatsanwälte zusammen mit den verdikt-

Redakteuren Bernd Asbrock und Hans-Ernst Böttcher sowie der ver.di-

Bundesfachgruppenleiterin Justiz, Barbara Wederhake, am 5. Mai 2011

in das Bundesministerium der Justiz eingeladen. Empfangen wurde die

Gruppe von Frau Graf-Schlicker, der Abteilungsleiterin Rechtspflege,

die – begleitet und assistiert von drei Mitarbeiterinnen und einem Mit-

arbeiter – durch ihre offene, freundliche und verbindliche Art von Anfang

an für eine sehr angenehme und von kollegialem Vertrauen getragene

Atmosphäre sorgte.

. Entsprechend der vorher eingereichten Themenliste wurden nach

einer kurzen Vorstellungsrunde folgende Punkte abgehandelt:

Selbstverwaltung der Justiz. Leider sind auf diesem Gebiet keinerlei Initiativen aus dem BMJ zu

erwarten. Da die Justizverwaltung und ihre Ausgestaltung Ländersache

ist und aus der Justizministerkonferenz keine Schritte hin zu einer stär-

keren Autonomie der Justiz zu erwarten seien, beschränke sich das Mi-

nisterium derzeit auf das Beobachten der Entwicklung sowohl im euro-

päischen als auch im deutschen Rechtsraum. Zwar sei richtig, dass sich

die Ministerin vor ihrem Amtsantritt dafür stark gemacht habe, dass sich

Deutschland in Richtung auf die in fast ganz Europa üblichen Organi-

sationsformen bewege. Da man aber davon ausgehe, dass die von den

Richterorganisationen einhellig gewünschten Reformen nicht ohne

eine Grundgesetzänderung möglich, hierfür Mehrheiten aber nicht

erkennbar seien, sähe man derzeit von irgendwelchen Initiativen ab.

Entwurf eines Gesetzes zur Förderung der Mediation. Großen Raum nahm die Diskussion dieses Punktes ein. Die Vertre-

terinnen des Ministeriums erläuterten sehr anschaulich die von ihnen

so genannte multipolare Interessenlage, die teilweise zu einer unüber-

sichtlichen „Gefechtsanordnung“ führe. Kaum ein Gesetzentwurf der

letzten Zeit habe so viele – teilweise vollständig gegensätzliche – Ände-

rungsvorschläge provoziert. Auch die Stellungnahme des Bundesrates

sei ungewöhnlich ausführlich. Deshalb sei auch noch keineswegs ab-

sehbar, welche Gestalt das noch für die Zeit vor der parlamentarischen

Sommerpause geplante endgültige Gesetz annehme. Da der Bundes-

fachausschuss zum Zeitpunkt des Gesprächs noch keine endgültige

Stellungnahme zum Gesetzentwurf beschlossen hatte, gaben dessen

Vertreter nur einige vorläufige Statements wieder, über die jedenfalls

Konsens bestand. So beispielsweise zur grundsätzlichen Befürwortung

der gerichtsinternen Mediation in allen Gerichtsbarkeiten und zum

notwendigen Schutz des richterlichen Mediators durch ein späteres

Aussageverweigerungsrecht. Kritisch wurde insbesondere auch der

geplante § 15 GVG neu beurteilt, der den Bundesländern nur für einen

beschränkten Zeitraum die Möglichkeit geben soll, Mediation einzu-

führen.

Georg Schäfer

Meinungsaustausch im Bundesjustizministerium

32 BVerfGE 111, 307 ff.

33 Nr. 47/2004, S. 50-54

34 Das Verhältnis von nationalem Verfassungsrecht zum Gemeinschaftsrecht und zur EMRK,

Statement aus Anlass des Besuchs des Bundesverfassungsgerichts beim Conseil Constitutionel

am 10. Februar 2005 in Paris; www.conseil-constitutionel.fr/bilan/20050211/int1a.htm

35 23. Juni 2011

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finanzhof von 17 % auf 21 % steigerte, ist am

BGH kaum Veränderung erkennbar. Hier wuchs

der Frauenanteil nur um einen Prozentpunkt

von 20 % auf 21 % im Jahr 2010. Hieran ist nach

Aussage von Frau Graf-Schlicker zum großen

Teil die Vorschlagspraxis der Länder verantwort-

lich. So seien im Jahr 2010 unter 65 vorgeschla-

genen Personen nur 13 Frauen gewesen, von

denen 9 gewählt wurden. Noch unbefriedigen-

der sei die Quote im Jahr 2011 gewesen, wo un-

ter 47 vorgeschlagenen Personen nur 5 Frauen

waren, von denen wiederum eine gewählt

wurde.

. Dass dieses Verhältnis alles andere als be-

friedigend ist, wurde offen zugegeben. Man

beschäftige sich intensiv mit dem Problem,

auf das die Länderministerien jährlich hinge-

wiesen würden. Nach Auffassung von Frau

Graf-Schlicker müsse dort insbesondere die

frühe Förderung geeigneter und interessierter

Frauen erheblich verstärkt werden, damit sich

mehr von ihnen bewerben. Es handele sich ins-

gesamt um einen schwierigen und langwieri-

gen Prozess, für den sich das BMJ sehr positiv

engagiere.

Weitere aktuelle Gesetzesvorhaben. Unter den aktuellen Themen, die außerdem

noch relativ kurz angesprochen wurden, befand

sich natürlich auch die Frage nach der zukünf-

tigen Handhabung der Sicherungsverwahrung,

über die das BVerfG einen Tag vor dem Besuch

der ver.di-Delegation entschieden hatte. Wie

nicht anders zu erwarten, waren unsere Ge-

sprächspartnerinnen zum damaligen Zeitpunkt

nicht in der Lage, schon Konsequenzen aus der

im Einzelnen noch nicht analysierten Entschei-

dung zu formulieren. Jedenfalls zeigte man sich

mit dem Karlsruher Ergebnis einigermaßen

zufrieden.

. Ähnliches galt auch für den viel diskutierten

„Warnarrest“ für jugendliche Gewalttäter.

Auch hierzu sei die Diskussion im Hause ent-

gegen anderweitiger Veröffentlichungen in der

Presse noch längst nicht abgeschlossen.

. Es würde zu weit führen, im Rahmen dieses

Artikels die Diskussion auch über andere Ge-

setzesvorhaben (darunter so unterschiedliche

Bereiche wie die Vorratsdatenspeicherung

einerseits, das Kostenrecht andererseits oder

zivil- und strafprozessuale Einzelvorschriften)

auch nur annähernd angemessen darzustellen.

Hervorzuheben bleibt aber, dass das gesamte

Gespräch in einer sehr angenehmen Atmosphä-

re gegenseitigen Interesses stattfand und bei-

de Seiten am Ende zusagten, den nach einer

mehrjährigen Unterbrechung wieder aufge-

nommenen Gesprächsfaden nicht abreißen zu

lassen, sondern ihn kontinuierlich weiterzu-

entwickeln. Konkret wurde von mehreren Ge-

sprächsteilnehmern der Wunsch geäußert, bei

einem Fortsetzungstermin im nächsten Jahr die

Aus- und Fortbildung der Richterinnen und

Richter als Schwerpunktthema zu wählen.

Frankfurt am Main, im Mai 2011 ;

Einflussnahme der Bundesregierung auf dieBesetzung der Wehrdienstsenate beim BVerwG. Im Jahre 2009 hatte der Bundesfachaus-

schuss öffentlich gemacht, dass sich die Bun-

desregierung in Gestalt des damaligen Bundes-

verteidigungsministers in unerträglicher Weise

in die Besetzung des Wehrdienstsenats beim

Bundesverwaltungsgericht eingemischt hatte.

Noch als Bundestagsabgeordnete und rechts-

politische Sprecherin der FDP-Fraktion hatte

dann Frau Leutheusser-Schnarrenberger ge-

genüber Frank Bsirske in einem Schreiben vom

26. Oktober 2009 versprochen, sich „in der

neuen Wahlperiode für eine entsprechende

Änderung der Wehrdisziplinarordnung einzu-

setzen“. Daraus wurde allerdings nichts, denn

ein Antrag der Fraktion DIE LINKE, § 80 Abs. 2

WDO zu streichen, fand erwartungsgemäß

keine Mehrheit, sondern wurde auf Vorschlag

des Verteidigungsausschusses, dem sich der

Rechtsausschuss anschloss, abgelehnt.

Danach ist auf absehbare Zeit mit einer Ände-

rung der Rechtslage nicht zu rechnen. Es bleibt

allerdings hier anzumerken und durch den Fach-

ausschuss weiter zu recherchieren, ob nicht

wenigstens die ressortübergreifende Absprache,

nach der das Justizministerium in dieser Ange-

legenheit dem Verteidigungsministerium die

Stellungnahme überlässt, gekündigt wird.

Zum Stand des Frauenanteils an den Bundes-gerichten. Während sich der Anteil der Richterinnen

am Bundesverwaltungsgericht in den letzten

vier Jahren von 13 % auf 27 % und am Bundes-

Die Vertreter/innen des BMJ mit der Abteilungsleiterin Rechtspflege Marie Luise Graf-Schlicker

(2. v. re.), Foto: privat

Die ver.di-Delegation mit der Leiterin der Bundesfachgruppe Justiz Barbara Wederhake (3. v. re.)

und dem Sprecher der Fachgruppe Georg Schäfer (2. v. li.), Foto: privat

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verdikt 2.11 , Seite 26

die Bewerberauswahl. Dieser Bewerbungsver-

fahrensanspruch, der ein grundrechtsgleiches

Recht ist, steht im Konflikt mit dem Grund-

satz der Ämterstabilität, der es ausschließen

soll, dass einmal erfolgte Ernennungen wieder

rückgängig gemacht werden. Seit Jahrzehnten

bemüht sich die Rechtsprechung, diese beiden

Grundsätze miteinander auszutarieren. Einen

ersten Pflock schlug das BVerfG im Jahr 1989

ein. Es bestimmte, dass der nicht ausgewählte

Mitbewerber die von ihm als fehlerhaft bewer-

tete Auswahlentscheidung nur im Wege des

einstweiligen Rechtsschutzes überprüfen lassen

kann, der faktisch an die Stelle eines Haupt-

sacheverfahrens tritt. Unterliegt er dort, kann

der Mitbewerber befördert werden, diese Ent-

scheidung ist in einem Hauptsacheverfahren

nicht mehr angreifbar. Die nachfolgende Recht-

sprechung hat diesen Ansatz in der Weise kon-

kretisiert, dass der unterlegene Mitbewerber

über die getroffene Auswahlentscheidung zu

informieren ist. Er hat dann zwei Wochen Zeit,

einstweiligen Rechtsschutz in Anspruch zu

nehmen, und zwar nicht nur in erster und zwei-

ter Instanz bei der Verwaltungsgerichtsbarkeit,

sondern im Falle der Ablehnung darüber hinaus

auch beim BVerfG.

. Für die Entscheider, die einen bestimmten

Bewerber durchdrücken oder auch nur verhin-

dern wollen, dass Stellen längere Zeit vakant

bleiben, ist die Versuchung groß, die Rechts-

schutzmöglichkeiten abzuschneiden und den

ausgewählten Bewerber vorzeitig zu ernennen,

um sich sodann auf den Standpunkt zu stellen,

die umgesetzte Entscheidung sei wegen des

Grundsatzes der Ämterstabilität nicht revisibel.

Lange Zeit bestand Unsicherheit, wie damit

umzugehen ist. Der BGH sprach 1995 einem

Bewerber, dem man vor der Ernennung des Mit-

bewerbers nicht über das Ergebnis des Auswahl-

verfahrens informiert hatte, Schadenersatz zu.

Im Jahr 2003 versuchte das BVerwG den Spagat

zwischen Bewerbungsverfahrensanspruch und

ÄmterstabilitätC. In dem zugrundeliegenden

Fall hatte der Dienstherr den von ihm ausge-

wählten Bewerber befördert, obwohl dem An-

trag des Mitbewerbers auf Erlass einer einst-

weiligen Anordnung dahingehend, die Stelle

frei zu halten, entsprochen worden war. Das

Gericht vertritt die Auffassung, dass der Dienst-

herr nicht mit Hinweis auf die Ämterstabilität

den verfassungsrechtlich gewährleisteten

effektiven Rechtsschutz vereiteln dürfe, son-

dern der unterlegene Mitbewerber seinen Be-

werbungsverfahrensanspruch im Hauptsache-

verfahren weiterverfolgen könne. Obsiege er

dort, behalte zwar der zuerst im rechtsfehler-

haften Verfahren ausgewählte Bewerber seine

Planstelle, erforderlichenfalls müsse daneben

aber noch eine weitere Stelle geschaffen werden.

3. Die Entscheidung des BVerwG vom 04.11.2010

. Eine Umsetzung der 2003 aufgestellten

Grundsätze hätte im vorliegenden Fall erhebli-

che Probleme bereitet. Es wäre kaum denkbar,

zwei Präsidenten des OLG Koblenz zu ernennen.

Auch sind nach Besoldungsgruppe R6 bewer-

tete Richterstellen in einem Bundesland sehr

rar gesät. Das BVerwG musste sich also etwas

anderes einfallen lassen. Es stellt in einem

ersten Schritt fest, dass der Dienstherr Grund-

rechte des unterlegenen Bewerbers Graefen

verletzte, indem er diesem die Möglichkeit

abschnitt, eine einstweilige Anordnung beim

BVerfG zu beantragen. Liegt ein solcher Verfah-

rensverstoß vor, ist in einem zweiten Schritt

zu prüfen, ob zumindest die ernsthafte Mög-

lichkeit bestanden hätte, dass der abgelehnte

Bewerber bei einem rechtsfehlerfreiem Ver-

lauf des Auswahlverfahrens ausgewählt und

ernannt worden wäre. Wird das bejaht, ist nach

neuer Auffassung des BVerwG die Ernennung

des ausgewählten Bewerbers mit Wirkung für

die Zukunft aufzuheben und ein erneutes

Auswahlverfahren durchzuführen. Der Grund-

satz der Ämterstabilität wird damit erheblich

relativiert.

. In einer Aufsehen erregenden Entscheidung

hat das BVerwG das Land Rheinland-Pfalz ver-

urteilt, die Ernennung eines Bewerbers zum

Präsidenten des Oberlandesgerichts Koblenz

aufzuheben und ein neues Auswahlverfahren

durchzuführen. Das Gericht stellt neue Grund-

sätze auf und stärkt die Stellung des zu Unrecht

nicht ausgewählten Mitbewerbers.

1. Der Fall

. Um die ausgeschriebene Stelle des OLG-

Präsidenten hatten sich sowohl der Koblenzer

Landgerichtspräsident Hans-Josef Graefen als

auch der Präsident des Landessozialgerichts

Ralf Bartz beworben. Beide Bewerber wurden

mit der Bestnote beurteilt. Der Justizminister

entschied sich für den Bewerber Bartz und

verwies dabei insbesondere auf die in dessen

Amtszeit als LSG-Präsident erzielten Arbeits-

ergebnisse der Sozialgerichtsbarkeit des Landes.

Der unterlegene Bewerber Graefen versuchte

die Ernennung des Ausgewählten im Wege der

einstweiligen Anordnung zu verhindern, unter-

lag jedoch im Verfahren des einstweiligen

Rechtsschutzes sowohl beim VG als auch beim

OVG. Noch während des Beschwerdeverfahrens

kündigte er an, im Falle eines zweitinstanzli-

chen Unterliegens verfassungsgerichtlichen

Eilrechtsschutz in Anspruch nehmen zu wollen.

Dies konnte er jedoch nicht mehr umsetzen, da

bereits wenige Minuten, nachdem ihm die Ent-

scheidung des OVG per Fax übermittelt worden

war, die Ernennung seines Mitbewerbers zum

OLG-Präsidenten erfolgte.

2. Entwicklung der Rechtsprechung

. Nach Art. 33 Abs. 2 GG sind Ämter von Beam-

ten und Richtern nach dem Leistungsgrundsatz,

also nach Eignung, Befähigung und fachlicher

Leistung zu vergeben. Aus dieser Bestimmung

resultiert für den einzelnen Bewerber zwar

kein Anspruch auf Ernennung, wohl aber ein

solcher auf leistungsgerechte Einbeziehung in

[ R E C H T S P R E C H U N G ]

Karl Otte | Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht in Hannover

Wer wird Präsident?Das Urteil des BVerwG vom 04.11.2010 zum KonkurrentenstreitA

1 Az.: 2 C 16/09 ZBR 2011, 91 ff.

2 Urteil vom 21.08.2003 - 2 C 14/02, ZBR 2004, 101 ff.

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verdikt 2.11 , Seite 27

Justizministeriums, anzufordern. Wegen die-

ser Defizite sei die Aufhebung der erfolgten

Ernennung und die Durchführung eines neuen

Auswahlverfahrens erforderlich.

4. Wie ging es weiter?

. Das Land beugte sich der Entscheidung und

nahm die Ernennung des Präsidenten Bartz

zurück. Die Stelle des OLG-Präsidenten wurde

zunächst neu ausgeschrieben, die Ausschrei-

bung jedoch dann mit der Begründung zurück-

gezogen, das Land wolle das OLG Koblenz mit

dem OLG Zweibrücken zusammenlegen. Der

unterlegene Bewerber Graefen beantragte da-

raufhin die Zwangsvollstreckung, das VG Kob-

lenz verpflichtete das Land, die Stelle innerhalb

eines Monats zu besetzen und drohte für den

Fall der Zuwiderhandlung ein Zwangsgeld in

Höhe von 10.000,00 ¤ an. Das vom Land ange-

rufene OVG setzte das Vollstreckungsverfahren

vorläufig aus. Es vertritt die Auffassung, dass

hier zu enge zeitliche Vorgaben gesetzt worden

seien. Auf der Internetseite des OLG Koblenz

ist die Stelle des Behördenleiters derzeit mit

„N. N.“ ausgewiesen.

5. Fazit:

. Die recht häufigen Missbrauchsfälle werden

aufgrund der Entscheidung des BVerwG zurück-

gehen. Ein Abschneiden des Rechtsschutzes

wird nur dann sanktionslos bleiben, wenn der

unterlegene Mitbewerber ersichtlich keine

Chance gehabt hätte, bei ordnungsgemäßem

. Die vom Gericht durchgeführte fiktive Nach-

zeichnung eines korrekten Verfahrens fiel zu-

gunsten des Bewerbers Graefen aus. Der Jus-

tizminister, der in Personalunion sowohl den

Präsidenten des Landessozialgerichts beurteilte,

als auch anschließend auswählte, hatte seine

Entscheidung damit begründet, dass während

dessen Amtszeit die Sozialgerichtsbarkeit des

Landes nach ausgewerteten Statistiken zur

Spitzengruppe der Sozialgerichtsbarkeit ge-

führt worden sei. Das BVerwG lässt das nicht

gelten. Statistische Angaben über Erledigungs-

zahlen und Verfahrenslaufzeiten ließen für sich

genommen keinen Rückschluss auf die Leis-

tung eines Präsidenten zu, da dieser auf die

Arbeitsweise unabhängiger Richter nicht un-

mittelbar einwirken und damit auch nicht für

deren Arbeitsergebnisse verantwortlich sein

könne.

. Der Justizminister hatte weiter darauf ver-

wiesen, dass er persönliche Eindrücke von der

Person des ausgewählten Bewerbers aufgrund

von Begegnungen bei Tagungen und vergleich-

baren Veranstaltungen bekommen habe und

ihn auch deshalb bewerten könne. Das BVerwG

stellt dazu fest, dass derartige Zusammenkünf-

te nicht geeignet seien, eine Tatsachengrund-

lage für ein Gesamturteil über die Eignung für

ein höherwertiges Amt zu liefern. Es vermisst

Tatsachenerkenntnisse über die eigentliche

Arbeit des Bewerbers. Da der Justizminister hier

keine eigenen Kenntnisse gehabt habe, sei er

verpflichtet gewesen, Beurteilungsbeiträge

hinreichend sachkundiger Personen, beispiels-

weise Mitarbeiter der Personalabteilung des

Verfahren zum Zuge zu kommen. Die Drohung

mit der Aufhebung bereits erfolgter Ernennun-

gen hat erheblichen Abschreckungscharakter.

Das bedeutet leider nicht, dass Auswahlent-

scheidungen zukünftig ausschließlich nach

dem Leistungsprinzip getroffen werden. Wie

üblich werden Vorgesetzte weiter häufig vor

Beginn des Auswahlverfahrens einen Bewerber

favorisieren und diesem mittels einer bewusst

zugeteilten besseren Beurteilungsnote zur

Beförderung verhelfen, was wegen der verwal-

tungsgerichtlich nur sehr eingeschränkten

Überprüfung von Beurteilungen kaum angreif-

bar ist. Ein Stück weit könnte die hier beste-

hende Möglichkeit der Manipulation dadurch

eingeschränkt werden, dass die Zuständigkeit

für Beurteilungen strikt von derjenigen für

Auswahlentscheidungen getrennt wird.

Literaturhinweise:

– von Roetteken, Konkurrenzschutz im Beam-

tenrecht nach dem Urteil des BVerwG vom

04.11.2010 - 2 C 16.09, ZBR 2011, 73 ff.

– Wieland, Aufhebung der Ernennung im

Konkurrentenstreit, PersR 2011, 162 ff.1 ;

Statistische Angaben über Erledigungszahlen und Verfahrenslaufzeiten (lassen) fürsich genommen keinen Rückschluss auf die Leistung eines Präsidenten zu, da die-ser auf die Arbeitsweise unabhängiger Richter nicht unmittelbar einwirken unddamit auch nicht für deren Arbeitsergebnisse verantwortlich sein (kann).

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verdikt 2.11 , Seite 28

Christian Bommarius

Missbrauch der JustizEin Leitartikel

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Betreff: Leitartikel „Missbrauch der Justiz“ Christian Bommarius

(FR vom 1.8.2011)

Sehr geehrte Damen und Herren,

. mit seinem heutigen Leitartikel spricht mir Christian Bommarius

aus der Seele. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass die

Feststellung in Artikel 92 unseres Grundgesetzes „Die rechtsprechende

Gewalt ist den Richtern anvertraut“ endlich durch echte Selbstverwal-

tung umgesetzt werden muss, dann hat ihn die rheinland-pfälzische

Landesregierung mit ihrem arroganten und von Bommarius zu Recht

als unverschämt bezeichneten Verhalten gegenüber der Dritten Gewalt

erbracht. Diese Forderung nach Selbstverwaltung der Justiz wird seit

vielen Jahren von den in der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di orga-

nisierten Richterinnen und Richtern erhoben, ebenso von der Neuen

Richtervereinigung (NRV) und seit einigen Jahren auch vom Deutschen

Richterbund. Die Modelle der drei Organisationen mögen sich im Detail

unterscheiden, im Prinzip sind sie sich aber einig: Auch in Deutschland

muss endlich der Status der Gewaltenteilung erreicht werden, der in fast

allen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union selbstverständlich ist.

. Gerade wenn uns Vertretern der Richterschaft dann in Diskussionen

von Politikern aller Couleur entgegengehalten wird, ein Justizminister

könne sich im Kabinett viel besser gegenüber seinen Kollegen durch-

setzen und die erforderlichen Mittel für die Justiz erkämpfen, so klingt

dies angesichts der aktuellen Beschlüsse in Rheinland-Pfalz wie Hohn.

Aber in Hessen sieht es derzeit auch nicht viel besser aus: Da werden in

diesen Wochen Verträge über Mietverhältnisse und Umbauten von

Gerichtsgebäuden unterzeichnet, obwohl das Gesetz, mit dem fünf

Amtsgerichte und fünf Arbeitsgerichte geschlossen werden sollen, vom

Landtag noch gar nicht verabschiedet wurde. In der nächsten Woche

findet im Landtag in Wiesbaden eine Anhörung zu dem Gesetzesvor-

haben statt, bei dem sich erwartungsgemäß alle Betroffenen gegen

diesen Rückzug der Justiz aus der Fläche aussprechen werden, dessen

Einspareffekt mehr als fraglich ist. Aber ebenso erwartungsgemäß wird

die Mehrheit im Landtag anschließend das Gesetz dennoch verabschie-

den. So sieht eben bei uns Gewaltenteilung aus.

. Es ist in dieser Situation für uns sehr betrüblich, dass von den in

den vergangenen Monaten neu gewählten Landesregierungen keine

einzige beabsichtigt, einen Schritt in Richtung Selbstverwaltung der

Justiz zu gehen. Aber wenn Ihr Leitartikel dazu führt, den Druck durch

eine größere Öffentlichkeit zu erhöhen, würde mich das sehr freuen.

Georg Schäfer,

Sprecher des Bundesfachausschusses Richterinnen und Richter, Staatsan-

wältinnen und Staatsanwälte in ver.di ;

ver.di-Gewerkschaftstag bringt Richterfor-derungen voran. Nun sind wir also auf dem Wege in die poli-

tische Sphäre etwas weiter. Wir können brand-

aktuell berichten: Der Gewerkschaftstag von

ver.di hat Ende September den im Folgenden

abgedruckten Antrag des Bundesfachgruppen-

vorstandes Justiz, der im wesentlichen von uns

Richterinnen und Richtern, Staatsanwältinnen

und Staatsanwälten formuliert worden war,

positiv auf den weiteren Weg gebracht: Er hat

beschlossen, ihn entsprechend der Empfehlung

der Antragskommission als Arbeitsmaterial

an den Bundesvorstand weiterzuleiten. Das

gibt jetzt Gelegenheit zur weiteren innerge-

werkschaftlichen Diskussion und das heißt:

Überzeugungsarbeit. Wenn am Ende steht,

dass sich der ver.di-Hauptvorstand die Forde-

rungen zu eigen macht, werden wir in der

öffentlichen Überzeugungsbildung einen

großen Schritt weiter sein. Wir werden dann

sagen können: Das sind nicht nur die Erwägun-

gen und Forderungen der gewerkschaftlich

organisierten Richterinnen und Richter, son-

dern: Dahinter steht eine große Gewerkschaft

mit fast zwei Millionen Mitgliedern und täg-

lichen Erfahrungen mit dem Recht und der

Justiz. Es wird also in den nächsten Jahren

parallel zu dem Überzeugungskampf in der

allgemeinen politischen Arena darum gehen,

aus der Richterforderung eine gesamtgewerk-

schaftliche Forderung werden zu lassen.

In Brandenburg geht es weiter. Die Projektgruppe beim brandenburgischen

Justizministerium hat im Sommer ihren zwei-

ten Arbeitsbericht unter dem Titel „Branden-

burgische Erwägungen für eine Stärkung der

Autonomie der Dritten Gewalt“ vorgelegt (vgl.

KritV Heft 2/2011, S. 119 ff.; siehe auch Stötzel,

a.a.O., S. 136 ff.).

. Der zweite Bericht der Kommission soll auch

in die Website des Justizministeriums einge-

Georg Schäfer

So sieht eben bei uns Gewaltenteilung ausEin Leserbrief vom 1.8.2011 an die Frankfurter Rundschau

[ J U S T I Z P O L I T I S C H E S ]

Hans-Ernst Böttcher

Der lange Marsch – oder: Neues von derUnabhängigkeitsbewegung

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Antrag zum ver.di Bundeskongress in Leipzig

Bundesfachgruppenvorstand Justiz

Fachbereich Bund und Länder

Ressort 12

(beschlossen am 21. März 2011)

ver.di fordert: Selbstverwaltung („Autonomie“) der Justiz auch inDeutschland

Bausteine für eine unabhängige, selbst verwaltete Justiz müssen sein:

Stärkung der Präsidien der einzelnen Gerichte als Selbstverwaltungs-

organe der Justiz „an der Basis“;

Einführung von Gerichtsbarkeitsräten auf Landesebene und im

Bund, deren richterliche Mitglieder in Urwahl durch alle Richter mit

gleichem Stimmrecht bestimmt werden;

Stärkung der parlamentarischen Richterwahlausschüsse; zwingende

Einrichtung von Richterwahlausschüssen auch in den Ländern, in

denen sie bisher nicht vorgesehen sind;

Enthierarchisierung der Justiz (einheitliches Richteramt, grund-

sätzlich gleiche Besoldung, Vergabe von Leitungsfunktionen auf

Zeit);

Ausreichende Finanzausstattung der Justiz; amtsangemessene

Ausgestaltung der Richtergehälter;

Grundsätzlich gleiche Rechte für unabhängige Staatsanwältinnenund Staatsanwälte wie für die Richterinnen und Richter; Abschaf-fung des Weisungsrechts der Justizministerien gegenüber der

Staatsanwaltschaft;

Sicherung und Ausbau der betrieblichen Mitbestimmung, insbeson-

dere für die nichtrichterlichen Angehörigen der Justiz in den Gerich-

ten und Staatsanwaltschaften; Mitbestimmung ist kein Gegensatz,

sondern Teil der Selbstverwaltung und auch nach Einführung der

Autonomie wichtiger denn je für die gewerkschaftliche Interessen-

vertretung in der Justiz.

Begründung:

1. Die Richterinnen und Richter, denen „die rechtsprechende Gewalt

anvertraut ist“ (Art. 92 GG), sind in ihrer Richtertätigkeit „unabhän-

gig und nur dem Gesetz unterworfen“ (Art. 97 Abs. 1 GG). Sie selbst,

die Gerichte und Staatsanwaltschaften und die Justiz insgesamt

werden jedoch nach wie vor durch die Justizminister, also durch

Angehörige der Exekutive, verwaltet. Es liegt auf der Hand, dass

eine Verwaltung der „Dritten Gewalt“ durch die Exekutive mehr als

60 Jahre nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes nicht zur unab-

hängigen Justiz passt und auch nicht europäischen Standards

genügt.

2. Die verwaltungsmäßige Anbindung der unabhängigen Dritten

Gewalt (wozu auch die Staatsanwaltschaften zu rechnen sind) an

die Justizministerien dem Grundsatz der Gewaltenteilung, denn die

Justizministerin oder der Justizminister sind als Mitglied der Regie-

rung ein Angehöriger der vollziehenden Gewalt, der Exekutive.

In Deutschland ist diese Erkenntnis in nachwirkender wilhelminischer

Tradition immer noch nicht umgesetzt, die Gewaltenteilung also

nicht vollendet. Deutschland steht im demokratischen Europa

daher inzwischen isoliert da.

Das Thema Selbstverwaltung ist nicht nur eine rechtstheoretische

Diskussion. Nachdem die Diskussion, unabweisbar aus Europa

kommend, in Deutschland zunächst nur innerhalb der Justiz und

der Organisationen der Richterschaft (einschließlich der Richterinnen

und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte in ver.di) geführt

wurde, steht sie seit ca. 2008 auch immer wieder auf der allgemein-,

rechts- und justizpolitischen Agenda einiger Landesregierungen

und Parteien. Richtungweisend hat 2009 der damalige Hamburger

Justizsenator Dr. Till Steffen mit einer Fachtagung einen Anstoß zur

öffentlichen Diskussion gegeben. Im politischen Raum sind derzeit

vorrangig der brandenburgische Justizminister Volkmar Schöne-

burg und seine Staatssekretärin, die ver.di-Kollegin und langjährige

Richterin Sabine Stachwitz, aktiv. Sie haben eine Projektgruppe ein-

gesetzt, der neben zwei ver.di-Richterkollegen auch der Frankfurter

Professor Dr. Peter-Alexis Albrecht angehört, der Ende 2008 mit einem

europaweit besetzten Kongress an der Frankfurter Uni zusammen

mit deutschen und europäischen Richterorganisationen das Thema

in Deutschland auf die politische Tagesordnung gebracht hat. Ver-

einzelt haben sich auch Parteien und Landtagsfraktionen in Anhö-

rungen schon mit dem Thema auseinandergesetzt, und werden dies

in Zukunft verstärkt tun. Die Bundesministerin der Justiz, Frau

Leutheusser-Schnarrenberger, die sich vor ihrem erneuten Amts-

ver.di fordert: Selbstverwaltung der Justiz auch in Deutschland

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antritt im Europarat 2009 entschieden für

eine künftige organisatorische Unabhän-

gigkeit der Justiz ausgesprochen hatte,

hält sich derzeit bedeckt, will aber die wei-

tere Diskussion in den Ländern sowie die

wissenschaftliche Diskussion abwarten.

3. Umso wichtiger ist, dass in dieser Situation

eine große Gewerkschaft wie ver.di die Au-

tonomie der Justiz zu ihrem eigenen Thema

macht und zum Fortgang der rechts- und

gesellschaftspolitischen Diskussion beiträgt.

Schließlich geht es nicht um Privilegien

von Richtern und Staatsanwälten, sondern

um eine autonome Justiz, die dem Schutz

der Bürgerrechte dient. Überdies besteht

die Justiz nicht nur aus dem richterlichen

Personal, sondern aus vielen weiteren Mit-

arbeiterinnen und Mitarbeiter justiznaher

Berufe, wie insbesondere die Rechtspfle-

gerinnen und Rechtspfleger und Justizbe-

schäftigten in den Serviceeinheiten.

Die Gewerkschaften wissen vor dem Hinter-

grund der deutschen Geschichte im dritten

Reich am besten, was eine unabhängige

Justiz für die Bürgerinnen und Bürger und

für die abhängig Beschäftigten und ihre

Interessenvertretungen wert ist und wie

wichtig diese für das demokratische Selbst-

verständnis ist.

Es ist daher organisatorisch und im Verwal-

tungsaufbau dafür Sorge zu tragen, dass

schon jeder Anschein einer Einflussnahme

der Regierung auf die innere Unabhängig-

keit der Justiz vermieden wird. ver.di soll

durch ein eindeutiges Votum dazu beitragen,

die nicht mehr zeitgemäße Konstruktion

der Justizverwaltung in Deutschland zu

überwinden. ;

stellt werden. Er ist – in Auseinandersetzung mit den klassischen Ge-

genpositionen, die auch in der Projektgruppe vertreten waren und dort

intensiv diskutiert wurden – als grundsätzliches ausgeführtes Thesen-

papier gestaltet.

. Auf der Website des Ministeriums www.mdj.brandenburg.de (unter

„Die Gerichte“, dort weiter unter „Projektgruppe richterliche Selbstver-

waltung“) finden Sie auch den ersten Bericht (vom Sommer 2010) und

den ausformulierten Gesetzesentwurf für ein modernes Richtergesetz

(von der Projektgruppe jetzt gern als Musterentwurf eines Richtergesetzes

unter dem bundesgesetzlichen status quo bezeichnet) sowie eine Erläute-

rung zu einigen Bestimmungen dieses Entwurfs (Verfasser: Hans-Ernst

Böttcher; demnächst auch in BJ Heft Nr. 108/2011).

Eine neue große „Albrecht-Initiative“ auf Bundesebene – wird sie inGang kommen?. Prof. Peter-Alexis Albrecht, der bekanntlich den bahnbrechenden

Frankfurter Kongress zur Autonomie der Justiz im November 2008

organisiert hatte und der zu den treibenden Kräften in der brandenbur-

gischen Reformkommission zählt, hat im Verlaufe des ersten Halbjah-

res 2011 die Bundesjustizministerin (in Gestalt ihrer Abteilungsleiterin

Graf-Schlicker) dazu bewegen können, in näherer Zukunft an einer

„Denkfabrik“ mitzuarbeiten, zu der außer Albrecht selbst als dem

Initiator (und wissenschaftlichen Inspirator) Repräsentanten der drei

allgemeinen richterlichen Berufsorganisationen (DRiB, ver.di und NRV)

sowie – s.o. – eine Vertretung des BMJ und vierer Länder (möglichst

zwei Befürworter des Ausbaus der Selbstverwaltung und zwei Skepti-

ker) teilnehmen sollen. Der ver.di-Hauptvorstand hat auf Vorschlag des

Bundesfachausschusses den Verfasser benannt. Da auch die anderen

richterlichen Berufsorganisationen entsprechend reagiert haben und

eigentlich nur auf das konkrete Startsignal zur ersten Zusammenkunft

warten, fragt man sich, warum die Arbeit noch nicht losgegangen ist.

Die Erklärung ist einfach und macht die Sache kompliziert: Bei den

„Pro“-Ländern hatte der Initiator außer Brandenburg noch an Hamburg

gedacht, aber dort ist inzwischen der grüne Justizsenator Steffen

abhanden gekommen und die neue SPD-Senatorin zeigt (s. dazu noch

unten) nicht die geringste Absicht, hier an die offensive Arbeit ihres

Vorgängers anzuknüpfen oder auch eigene Ansätze in Richtung Auto-

nomie der Justiz zu entwickeln. Und es will sich wohl auch nicht so

recht – auf der anderen Seite – ein Land als „Gegner“ exponieren.

Unabhängig hiervon arbeiten selbstverständlich alle Organisationen

daran, für ihre Konzepte und gemeinsam für die Zukunftssache der

Autonomie zu werben und zu streiten.

Noch einmal Brandenburg – oder: Wasser im Wein. Das, was ich oben Musterentwurf genannt habe, war einmal als

Grundlage für möglichst weitgehend übereinstimmende novellierte

Richtergesetze der Länder Brandenburg und Berlin gedacht. Die beiden

Länder drängen bekanntlich auf immer engere Kooperation, haben vor

allem –außer in der ordentlichen Gerichtsbarkeit – bereits heute gemein-

same Obergerichte, also in der Arbeits-, Sozial- und Verwaltungsgerichts-

barkeit und auch ein gemeinsames Finanzgericht; und die Angelegenheit

sollte unbedingt vor den Berliner Wahlen über die Bühne gebracht sein

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(Warum eigentlich, blieb unklar). Wie sich nun die Verhandlungen zwi-

schen dem Justizminister des Landes Brandenburg und der Justizsena-

torin des Landes Berlin gestalteten und was hieraus geworden ist, kann

man nur als Trauerspiel bezeichnen. Justizsenatorin von der Aue (und

vor allem ihr Staatssekretär) haben die Gespräche mit Brandenburg

wohl in einer arroganten und imperialen Weise betrieben, dass es bei

einem durch und durch konventionellen Richtergesetz in beiden Län-

dern verblieben ist (vgl. zu dessen Entstehungsgeschichte und Inhalt

Näheres in dem Bericht von Percy MacLean in diesem Heft, S. 33).

(Wo) tut sich sonst noch etwas?. Es gibt bekanntlich einige neue Landesregierungen, darunter auch

rot-grüne; andere sind gerade dabei, gebildet zu werden.

In einigen der Koalitionsvereinbarungen sind kurze Sätze zur Selbstver-

waltung enthalten, die vor allem unsere MEDEL-Freunde von der Neuen

Richtervereinigung zu Jubelrufen veranlasst haben (Mag sein – und dafür

wären sie zu loben – dass sie zu den Autoren zählen).

. Sieht man näher hin, müsste der Jubel eigentlich verhaltener aus-

fallen, wenn nicht sogar Skepsis angesagt ist. Ich will nur andeuten, in

welchem Kontext zum Gesamtthema „Justiz“ (einschl. Strafvollzug)

sich die Sätze zur Selbstverwaltung finden. Daran könnte man traurige

Aussagen zum Stellenwert der Justiz und zur Anschauung der Politiker

von der Bedeutung der Dritten Gewalt im demokratischen Rechtsstaat

knüpfen. Im Kern soll es um die Selbstverwaltung gehen.

. Im grün-roten Koalitionsvertrag in Baden-Württemberg aus diesem

Jahr findet sich unter „Leistungsstarke und moderne Justiz“ eine Passage

„Unabhängigkeit der Justiz stärken“ mit den unvermittelt zwischen

Kriminalitätsbekämpfung/Qualitätssicherung/Stellensicherung/ demo-

kratische Leitungskultur einerseits und Fortbildungspflicht für Richter

andererseits auftauchenden Sätzen: „Als einzige der drei Staatsgewalten

ist die Justiz nicht organisatorisch unabhängig. Wir werden darum die

Umsetzungsmöglichkeiten bereits vorliegender Modelle einer autono-

men Justiz mit allen Beteiligten prüfen.“

. Das haben die Koalitionäre wörtlich aus dem rot-grünen Koalitions-

vertrag in Nordrhein-Westfalen von 2010 übernommen; nur das dritte

Wort im zweiten Satz „darum“ ist originär baden-württembergisch. In

Nordrhein-Westfalen stehen die Unabhängigkeits-Passagen zwischen

effektiver Rechtsprechung/zügiger Vollstreckung/Absage an kw-Vermer-

ke wg. Arbeitszeitverlängerung einerseits und Absage an die Privatisie-

rung des Gerichtsvollzieherwesens andererseits.

. Die Koalitionsvereinbarung in Rheinland-Pfalz ist, was die Themati-

sierung größerer organisatorischer Unabhängigkeit für die Justiz an-

geht, (noch) diffuser, dafür aber auch offener: Unter „Justizstruktur und

-verwaltung“ heißt es einleitend (ehe dann sogleich die „Häuser des

Jugendrechts“ als „wichtige Instrumente der effektiven Jugendkriminali-

tätsbekämpfung“ gerühmt werden) wörtlich: „Wir wollen eine Stärkung

der Justiz als Dritte Gewalt. Sie ist nicht organisatorisch unabhängig,

sondern wird von der Exekutive verwaltet. Deshalb werden wir mit den

Organisationen der Richterinnen und Richter, der Staatsanwältinnen

und Staatsanwälte und der Anwältinnen und Anwälte im Licht der Ver-

fassungsrechtsprechung einen offenen Dialog über eine Stärkung einer

parlamentarisch kontrollierten Selbstverwaltung der Dritten Gewalt

führen.“ Konsequent heißt es weiter: „Die Koalitionspartner vereinbaren,

die Zusammensetzung und Arbeit des Richterwahlausschusses einer

Evaluierung zu unterziehen.“

. Ach ja: Und in Bremen findet man zum Thema im rot-grünen Koa-

litionsvertrag nichts. Dazu passt es, dass von den Grünen in der jetzt

(Oktober 2011) entflammten Debatte um die Novellierung der bremi-

schen Gesetzeslage zum Richterwahlausschuss die Aussage zu hören

war: Eine Selbstverwaltung wird es jedenfalls nicht geben.

. Á propos Richterwahlausschuss: Wir erinnern uns noch an die fehl-

geschlagene Initiative Anfang der neunziger Jahre des vorigen Jahrhun-

derts, in Niedersachsen einen solchen einzuführen … – dies nur zur

Erinnerung, dass wir noch einiges vor uns haben (nachzuvollziehen in

verdikt 2.02, 1.03 u. 2.03 ).

. Damit es zum Thema „Selbstverwaltung/Autonomie“ nicht einsei-

tig wird: Im saarländischen Koalitionsvertrag von 2009 zwischen CDU,

Grünen und FDP („Jamaica-Koalition“) heißt es im Kapitel „Justiz und

Strafvollzug“ unter „Justizwesen“: „Wir werden prüfen, ob die saarlän-

dische Justiz in erweitertem Umfang Aufgaben der Justizverwaltung

übernehmen kann, und zu diesem Zwecke bestehende oder geplante

Modelle einer Selbstverwaltung im In- und Ausland untersuchen.“

. Man möge alle diese Worte an den Taten der Autoren und ihrer Par-

teien messen! Aber damit ich nicht – im Sinne einer maßlosen Kritik –

missverstanden werde: Immerhin ist man in den zitierten Ländern schon

so weit im Problembewusstsein (oder auch nur der Angst, sonst Ärger

mit nahestehenden Richterorganisationen zu bekommen?) gediehen,

dass man diese Merkposten aufgenommen hat. Und festzuhalten ist:

Immer sind die Grünen dabei (in Brandenburg bei dem schon weiter

gediehenen Versuch eines think tanks die LINKE).

. Es ist, außer im Saarland, immerhin auch die SPD dabei. Aber man

hat selbst hier den Eindruck, man müsse sie wie den Hund zum Jagen

tragen. Das zeigt sich ganz extrem (jedenfalls bisher) in Berlin, wo in

einer immerhin vormals gleichen rot-roten Koalition wie in Branden-

burg, aber mit einer SPD-Senatorin, nicht ein Hauch von Verständnis für

die (dabei durch und durch realistischen) Positionen der Brandenburger

zu einer behutsamen Novellierung des Richtergesetzes in Richtung

stärkerer Autonomie vorhanden war.

. Wie dem auch sei: Der SPD wird eine Schlüsselstellung in den weite-

ren Diskussionen um die erweiterte und eines Tages zu vollendende

Selbstverwaltung (Autonomie) der Dritten Gewalt und ihrer Träger und

Angehörigen zukommen. Es wird Zeit, dass sie das begreift. Oder es

werden ihr, wie auf anderen Politikfeldern, andere Parteien die Hege-

moniefähigkeit abnehmen.

. Wir werden weiter berichten. ;

verdikt 2.2011_1_c 27.10.2011 12:01 Uhr Seite 32

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verdikt 2.11 , Seite 33

. Was macht ein Justizministerium, das mehrfach im Richterwahl-

ausschuss keine Mehrheit für seine Beförderungskandidaten erhalten

hat und mit seinen Disziplinarmaßnahmen gegen unabhängige Richter

bei den Richterdienstgerichten gescheitert ist?

. Es ändert mit der Regierungsmehrheit im Parlament die Mehrheits-

verhältnisse im Richterwahlausschuss zu seinen Gunsten und die Zu-

ständigkeit und Zusammensetzung der Richterdienstgerichte.

. Nein, das geschieht nicht in Ungarn oder Italien, sondern mitten in

Deutschland, in den von SPD und Linken regierten Ländern Berlin und

Brandenburg. Getreu dem Leitgedanken des preußischen Justizministers

Leonhardt (1867-1879)B: „Solange ich über die Beförderungen bestimme,

bin ich gern bereit, den Richtern ihre sogenannte Unabhängigkeit zu

konzedieren“, haben die Länder Berlin und BrandenburgC im Mai und

Juni 2011 gegen den massiven Widerstand sämtlicher Richterverbände

und trotz deutlicher Kritik der Rechtsanwaltskammer mit der jeweiligen

Regierungsmehrheit weitgehend gleiche Richtergesetze durchgesetzt,

die wesentliche Elemente richterlicher Unabhängigkeit einschränken.

Anlass für die Regelungen war der im Jahr 2004 geschlossene Staatsver-

trag über die Errichtung gemeinsamer Fachobergerichte mit dem Ziel,

die richterrechtlichen Vorschriften zu vereinheitlichen. Von diesem An-

satz ist angesichts der zahlreichen Unterschiede in den Richtergesetzen

nicht viel geblieben. In Brandenburg konnten gegenüber den Berliner

Regelungen einige Verschärfungen verhindert werden. Das Ergebnis ist

allerdings insgesamt klar als Rückschritt zu bezeichnen. Angesichts der

mit dem Brandenburger Justizminister verbundenen Hoffnungen auf

eine stärkere Autonomie der Justiz ist das Ergebnis enttäuschendD.

. Während inzwischen alle Richterverbände wie auch der Bundesfach-

ausschuss der Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staats-

anwälte in der Gewerkschaft Ver.di verschiedene Modelle einer selbst-

verwalteten Dritten Gewalt fordern, teilweise bereits ausformulierte

Gesetzesvorschläge vorliegenE und eine Projektgruppe „Richterliche

Selbstverwaltung“ des Brandenburger Justizministeriums bereits um-

fangreiche „Erwägungen für eine Stärkung der Autonomie der Dritten

Gewalt“F vorgelegt hat, und nachdem auch der Europarat am 18. Novem-

ber 2010 mit der Magna Charta Europäischer Richterinnen und RichterG

organisatorische Garantien der richterlichen Unabhängigkeit und der

Autonomie der Judikative zu Grundprinzipien in Europa erklärt hat,

schränken die Länder Berlin und Brandenburg die ohnehin schwachen

Beteiligungsrechte der Richter- und Präsidialräte und die bisher im

bundesweiten Vergleich recht starke Position des Richterwahlaus-

schusses ein.

Richterwahlausschüsse

. Ein von parteipolitischen Mehrheitsverhältnissen unabhängiger

Richterwahlausschuss ist ein Pfeiler der Unabhängigkeit der rechtspre-

chenden Gewalt. Er vermittelt den Richtern durch die parlamentarische

Beteiligung die notwendige demokratische Legitimation und soll durch

die Beteiligung der gewählten Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwäl-

te gewährleisten, dass Personalentscheidungen in der Justiz politisch

ausgewogen, unabhängig von parteipolitischen Absprachen und allein

an dem Maßstab der Qualität und Bestenauslese orientiert sind. Perso-

nalvorschläge der Justizverwaltung werden durch den Richterwahlaus-

schuss transparent und einer Kontrolle unterworfen.

. Bislang war der Berliner Richterwahlausschuss – wie in vielen anderen

Bundesländern – paritätisch einerseits mit Abgeordneten und anderer-

seits mit gewählten Richterinnen und Richtern, Staatsanwältinnen und

Staatsanwälten und Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten besetzt,

die unabhängig von bestimmten Mehrheiten der Fraktionen über die

Einstellung, Ernennung und Beförderung allein nach fachlichen Gesichts-

punkten entschieden haben.

. Künftig werden die Richterwahlausschüsse mit einer 2/3-Mehrheit

von Abgeordneten besetzt sein und in einer ersten Sitzung zwar mit

einer 2/3-Mehrheit, in einer weiteren Sitzung aber, in die ein abgelehn-

ter Vorschlag erneut eingebracht werden kann, nur noch mit einfacher

(damit möglicherweise sogar nur mit Regierungs-) Mehrheit über die

Richterwahl entscheiden. Damit wird der Richterwahlausschuss zu

einem zahnlosen Tiger, weil keine Regierungskoalition – egal welcher

Couleur – den Vorschlag des eigenen Justizministers offen in Frage

stellen wird. Richterwahlen werden in Berlin und Brandenburg künftig

in den Hinterzimmern der Fraktionen ausgehandelt. Daran ändert auch

die in Berlin nachträglich eingefügte Öffnung nichts, anstelle von

Abgeordneten von diesen gewählte Personen in den Richterwahlaus-

schuss zu entsenden; denn diese dürfen – anders als bisher – nicht

mehr (unabhängige) Berufsrichter oder Staatsanwälte sein!

Percy MacLean

Berlin und Brandenburg verabschieden neue Richtergesetze – Legen sie die Axt an die richterlicheUnabhängigkeitA?

1 so pikanterweise die drastische Formulierung von Seiten der konservativen CDU (Abgeordne-

ter Sven Rissmann) im Rechtsausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses am 18. Mai 2011

Drucksache 16/76, S. 12.

2 Zitat bei E. Schiffer, Die Deutsche Justiz, 2. Auflage, München u. Berlin 1949, Seite 245

3 Abgeordnetenhaus von Berlin, Drucksache 16/3849 unter www. parlament-berlin.de; GVBl.

2011, S. 238.

4 vgl. den „Entwurf der [vom Brandenburger Justizminister eingesetzten] Projektgruppe ‚Rich-

terliche Selbstverwaltung‘ für ein Gesetz zur Angleichung des Richterrechts der Länder Berlin

und Brandenburg“ vom 30. Juni 2010 (http://www.mdj.brandenburg.de/sixcms/media.php/4055/

Gesetzentwurf%20Angleichung%20Richterrecht%20Berlin-Brandenburg.pdf), der leider auf

Druck der Berliner Justizverwaltung nicht annähernd umgesetzt wurde; s.a. Fn 6

5 vgl. Fn 4

6 Kritische Vierteljahresschrift 2/2011, S. 119-135; zur Zusammensetzung und zu weiteren Arbeit-

sergebnissen der Projektgruppe „Richterliche Unabhängigkeit“ s.a. die Homepage des Bran-

denburger Justizministeriums

(http://www.mdj.brandenburg.de/cms/detail.php/bb1.c.251104.de); s.a. Betrifft Justiz 4/2010

und verdikt 2.2010

7 https://wcd.coe.int/wcd/ViewDoc.jsp?id=1706263&Site=COE

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verdikt 2.11 , Seite 34

. Wäre es da nicht ehrlicher gewesen, auf

den Richterwahlausschuss gleich ganz zu ver-

zichten?

. Die Richtergesetze schränken zudem die

Beteiligungsrechte des Richterwahlausschus-

ses ein. Zukünftig ist nur noch der Präsidialrat

und nicht mehr der Richterwahlausschuss vor

Entlassungen von Proberichtern zu hören.

Während in Brandenburg der Richterwahlaus-

schuss immerhin bei allen Versetzungen von

Richtern zu beteiligten ist, ist der Berliner Rich-

terwahlausschuss nur dann bei Versetzungen

eingebunden, wenn es um die Besetzung von

Vizepräsidenten- und Präsidentenstellen geht.

Eine Pflicht, Stellen auszuschreiben, existiert

nur in Brandenburg. Damit kann die Berliner

Justizverwaltung beispielsweise einen Richter

am Kammergericht (dem Berliner OLG) ohne

Ausschreibung, ohne Bewerbungsverfahren

und ohne Richterwahlausschuss mit seiner Zu-

stimmung zum Landgericht (als Vorsitzenden

Richter) versetzen. Die bisherige gesetzliche

Regelung im Berliner Richtergesetz, spätestens

nach drei Jahren und neun Monaten über die

Ernennung eines Richters auf Probe zu entschei-

den und ihn zu ernennen, wird auf eine bloße

Zustimmung des Richterwahlausschusses

innerhalb dieser Frist herabgestuft, während

der entscheidende Zeitpunkt der Ernennung

auf Lebenszeit nunmehr völlig offen bleibtH.

Richterräte und Präsidialräte . Die von der Richterschaft eines Gerichts

gewählten Richterräte und Präsidialräte sind

die demokratische Vertretung der Richterinnen

und Richter und ein weiteres Fundament der

richterlichen Unabhängigkeit. Die Beteiligungs-

rechte gewährleisten, dass in der Justiz der Jus-

tizgewährleistungsanspruch und die Interessen

der Richterinnen und Richter gleichermaßen

berücksichtigt und in Einklang gebracht werden.

. Traditionell sind die Beteiligungsrechte der

Richterräte im Vergleich zu den Beteiligungs-

rechten der Betriebs- und Personalräte deutlich

geringer ausgeprägt. Dies gilt insbesondere in

Personalangelegenheiten; und für Organisation

und Ablauf der Arbeit ist ebenfalls die Justiz-

verwaltung zuständig, auf die ein Richter wenig

Einfluss hat. Die Rechte der Richtervertretung

am Gericht ähneln eher denen der Schülermit-

verwaltung an der Schule.I

. Die nunmehr beschlossenen Gesetze sehen

zwar größere Vertretungsgremien (Präsidialrat,

Richterrat, Stufenvertretungen und eine Eini-

gungsstelle), neuerdings auch einen Staatsan-

waltsrat und einen umfassenden Beteiligungs-

katalog vor. Das jeweilige Justizministerium hat

aber stets das letzte Wort und kann selbst die

wenigen bindenden Entscheidungen der Eini-

gungsstelle mit dem Argument, dass der Amts-

auftrag nicht nur unerheblich „berührt“ werde,

aufheben und letztlich allein entscheiden.

. Nach der Rechtsprechung des Bundesver-

fassungsgerichts (BVerfGE 41, 1 [13]) ist der Prä-

sidialrat ein besonderes Vertretungsorgan eines

Gerichts- oder Gerichtszweigs, dem in wichti-

gen Personalangelegenheiten Befugnisse zur

Kontrolle der im gewaltengeteilten Rechtsstaat

unvermeidbaren personellen Einflussnahme

der Exekutive auf die rechtsprechende Gewalt

eingeräumt sind. Er soll die Belange zur Geltung

bringen, die die Dritte Gewalt im Verhältnis zu

anderen Gewalten im Staat berühren.

. In der Praxis ist der Präsidialrat ein bloßes

Beteiligungsorgan, das ohnehin nur eine Stel-

lungnahme abgegeben kann, aber über kein

echtes Mitbestimmungsrecht verfügt. Künftig

wird er auch bei Versetzungen und Abordnun-

gen über sechs Monate beteiligt. Beibehalten

wurde jedoch die geradezu absurde Regelung,

dass die Präsidenten der oberen Landesgerichte

dem Präsidialrat als dessen geborene Vorsitzen-

de angehören, obwohl sie in ihrer Verwaltungs-

funktion weisungsgebundene Vertreter der

JustizverwaltungAJ sind. Niemand käme außer-

halb der Justiz auch nur auf den Gedanken, dass

der Leiter einer Behörde zugleich Vorsitzender

des eigenen Personalrats sein und über seinen

eigenen Personalvorschlag mitbestimmen oder

dazu eine Stellungnahme abgeben dürfte. Er

wäre zur Personalvertretung nicht einmal

wählbar.

Dienstgerichte. Die Richterdienstgerichte sind ein weiterer

Garant der richterlichen Unabhängigkeit. Sie

gewährleisten den Schutz der Richterinnen

und Richter gegen Maßnahmen der Justizver-

waltung, die in die richterliche Unabhängig-

keit eingreifen können. Sie sind gleichsam der

Schlussstein im Gewölbe einer unabhängigen

Justiz und eine Stütze des demokratischen

Rechtsstaats.

. Die Richtergesetze der Länder Berlin und

Brandenburg sehen nunmehr vor, die Dienst-

gerichte bei den Verwaltungsgerichten einzu-

richten und einen der richterlichen Beisitzer

durch einen anwaltlichen Beisitzer zu ersetzen.

Dies wird nach außen damit begründet, dass

man den praktischen Sachverstand und die

Außenansicht eines Anwalts in die Entschei-

dungen der Dienstgerichte einfließen lassen

wolle. Unter der Hand wird jedoch offen zuge-

geben, dass sowohl die Berliner Justizverwal-

tung als auch die Berliner Obergerichtspräsi-

denten den bestehenden Dienstgerichten mit

ihren unabhängigen Berufsrichtern misstrauen

und sich durch die neue Besetzung eine leich-

tere Disziplinierung der Richter erhoffen, weil

man Anwälten zutraut, ihren Frust über zu

lange Verfahrensdauer und unliebsame Ent-

scheidungen unter Vernachlässigung der rich-

terlichen Unabhängigkeit durch besondere

Strenge gegenüber den Richtern abzureagieren.

Ob diese Rechnung dann wirklich aufgeht, muss

sich allerdings erst in der Praxis erweisen.

Erzwungener Planstellenverzicht bei Teilzeitund Elternzeit . In Berlin hat man anders als in Brandenburg

an der schon bisher problematischen Regelung

festgehalten, Teilzeitbeschäftigung und Eltern-

zeit nur zu gewähren, wenn sich die Betroffe-

nen zuvor damit einverstanden erklären, bei

einer Änderung oder der Rückkehr innerhalb

des Gerichtszweiges an einem anderen Gericht

verwendet zu werden. Begründet wird dies mit

dem Erfordernis, das Personal flexibel einsetzen

zu können, um für eine reibungslose Rechts-

pflege zu sorgen. Nimmt beispielsweise eine

Amtsrichterin in Zivilsachen Elternzeit oder

Teilzeit, kann sie sich nach Beendigung der El-

ternzeit oder Änderung der Teilzeit auch ohne

ihre (aktuelle) Zustimmung als Beisitzerin einer

8 Die bisher auch in verschiedenen anderen Bundesländern

geübte Praxis, vom Richterwahlausschuss gewählte Richter

auf Probe nicht unmittelbar danach auf Lebenszeit zu ernen-

nen und ihnen damit die verfassungsrechtlich garantierte

persönliche Unabhängigkeit zu verweigern, ist verfassungs-

widrig (vgl. BVerfG, Beschluss vom 28. Februar 2007 – 2 BvR

2494/06 – juris). Ein solcher Proberichter ist nicht gesetzlicher

Richter. Das Argument, es müsse erst eine Planstelle frei

werden, ist seit der Änderung des BeamtStG, wonach auch

Proberichtern ein Amt übertragen wird, überholt.

9 Heribert Prantl, Die Entfesselung der dritten Gewalt, Süd-

deutschen Zeitung Nr. 81 vom 6. April 2006, Seite 28.

10 Gelegentlich werden die oberen Landesgerichte auch als

bloße Landesmittelbehörden bezeichnet.

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großen Strafkammer am Landgericht wiederfinden. Zwar sollen dabei

familiäre und persönliche Belange berücksichtigt werden, dies ändert

aber an der faktisch erzwungenen Zustimmung zur Versetzung nichts.

Die vor allem Frauen diskriminierende Regelung höhlt die in Art. 97

Abs. 2 GG garantierte persönliche Unabhängigkeit ohne Not aus.

Fazit und Ausblick. Die Chancen, in Berlin und Brandenburg ein einheitliches Richterge-

setz zu schaffen, das den europäischen Standards an eine organisato-

risch und personell autonome dritte Gewalt genügt, wurden nicht

genutzt. Zwar sieht Art. 98 Abs. 4 GG vor, dass die Länder bestimmen

können, dass über die Anstellung der Richter in den Ländern der Landes-

justizminister gemeinsam mit einem Richterwahlausschuss entscheidet.

Eine verbesserte Mitbestimmung der Richter und Staatsanwälte wäre

auch ohne Änderung des Grundgesetzes möglich gewesen, wenn der

politische Wille der Regierungen bestanden hätte, innerhalb der Justiz

mehr Demokratie statt Hierarchie zu wagen. In Brandenburg wurde zu-

mindest eine Evaluationsklausel aufgenommen, dem Landtag bis zum

31. Oktober 2015 über die Erfahrungen bei der Anwendung des Gesetzes

und über die Ergebnisse der Diskussionen über die Selbstverwaltung

der Justiz zu berichten. In Berlin wurde selbst dies nicht für erforderlich

gehalten. Nach Auffassung der Berliner Justizsenatorin ist die Selbst-

verwaltung der Justiz in Berlin sogar schon etabliert, weil im Rahmen

der Justizreform die Fach- und Ressourcenverantwortung im erheblichen

Umfang dezentralisiert worden sei und die Senatsverwaltung für Justiz

nur noch Aufgaben von strategischer Bedeutung wahrnehmeAA. Die Ge-

richte werden gleichsam „an der langen Leine“ geführt, die man nach

Bedarf anziehen kann.

. Übrigens wurde trotz vorgeblicher Vereinheitlichung die unterschied-

liche Besoldung der Richter und Staatsanwälte in Berlin und Branden-

burg ungeachtet gemeinsamer Fachobergerichte nicht beseitigt. Die

Richterbesoldung in Berlin und Brandenburg bleibt zudem mit deutli-

chem Abstand gegenüber allen anderen Bundesländern zurück. Berlin

ist sogar absolutes Schlusslicht in der Besoldung! Die Unterschiede sind

inzwischen so erheblich, dass selbst eine Beförderung an ein Gericht in

Berlin für Bewerber aus anderen Bundesländern zu Einkommensverlusten

führt. Wer es sich familiär leisten kann, macht bei einem Wechsel in

verschiedene andere Bundesländer selbst bei einer Herabstufung um

ein Beförderungsamt finanziell noch einen Gewinn. Werden sich Berli-

ner Richterinnen und Richter demnächst nicht mehr um Beförderungs-

ämter, sondern um Herabstufungsämter in anderen Bundesländern

bewerben?

. Was macht eigentlich ein Justizministerium, wenn sich keine Richter

und Staatsanwälte mehr für eine schlecht besoldete, familienunfreund-

liche und von der Exekutive abhängige Justiz mehr finden? ;

„… der Entwurf ist keinesfallsverabschiedungsreif“ver.di-Stellungnahme zum Entwurf eines Mediations-

gesetzes vom 15.05.2011

Noch im Mai dieses Jahres sah es so aus, als ob –

nach langen Jahren der Diskussion und der Vorar-

beiten – die Mediation, längst Gemeingut in der

deutschen Rechtslandschaft, in einigen Grundzü-

gen noch vor der parlamentarischen Sommerpause

nunmehr auch kodifiziert sein würde. Auch und

gerade für die gerichtsinterne Mediation wurde

dies zur Klarstellung erwartet.

Der Entwurf des BMJ (zuletzt als Kabinettsentwurf)

hatte allerdings schon Zweifel am Sinn seiner Um-

setzung in Gesetzesform aufkommen lassen, die

übrigens (u.a.) vom Bundesrat in seiner Stellung-

nahme, jeweils mit konstruktiven Alternativen, de-

tailliert begründet worden waren. Der Entwurf, der

doch in begrüßenswerter Absicht zur gesetzlichen

Verankerung einer neuen Streitkultur hatte beitragen

wollen, war nämlich von den Lobbyisten schon im

vorparlamentarischen Raum so zerfleddert worden,

dass seine Struktur, seine Schwerpunkte und seine

Inhalte kaum noch erwarten ließen, er könne die

tragfähige gesetzliche Grundlage der Zukunft der

Mediation in Deutschland, ob in der freien Land-

schaft oder auch bei Gericht, werden.

Nun hat sich erwiesen, dass der Deutsche Bundes-

tag den Entwurf nicht hat passieren lassen und dass

die Arbeiten im BMJ werden neu beginnen müssen.

Sie finden im Folgenden die vom Bundesfachaus-

schuss (BFA) Richterinnen und Richter, Staatsan-

wältinnen und Staatsanwälte in ver.di beschlossene

Stellungnahme, die unsere Gewerkschaft im Mai 2011

gegenüber dem Deutschen Bundestag, dem Bundes-

rat und dem BMJ abgegeben hat und von der wir

annehmen, dass sie mit ursächlich für das Inne-

halten des Gesetzgebers war.

Die Gedanken des ausführlicheren Papiers, das den

Erörterungen im BFA zu Grunde lag, finden sich im

wesentlichen wieder in dem Aufsatz unseres Redak-

tionsmitgliedes Hans-Ernst Böttcher „An sich ist

die Zeit reif, aber… - zum Regierungsentwurf eines

Gesetzes zur Förderung der Mediation und anderer

Verfahren der außergerichtlichen Streitbeilegung“,

der in den Schleswig-Holsteinischen Anzeigen

(SchlHAnz) 6/2011 erschienen ist.

Die Redaktion

11 vgl. Abgeordnetenhaus von Berlin, Plenarsitzung vom 17. Februar 2011, Nr. 9, Plenarprotokoll

16/77, S. 7388.

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Ressort 12Fachbereich Bund und Länder

Bundesfachgruppe Justiz

Vereinte Dienstleistungs- gewerkschaft

Bundesverwaltung

Berlin, 15. Mai 2011

Stellungnahme zum Gesetzentwurf der Bundesregierung: Gesetz zur Förderung der Mediation und anderer Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung vom 1. April 2011 (BT-Drs. 17/5335) Nach Auffassung der Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte in ver.di ist der vorgelegte Entwurf stark überarbeitungsbedürftig und in der vorliegenden Fassung keinesfalls verabschiedungsreif. Die sogleich (unter I.) folgende Kritik führt beispielhaft einige uns besonders wichtig erscheinende Punkte, insbesondere zur Regelung der gerichtsinternen Mediation, auf und ist am Schluss (unter II.) nochmals thesenartig zusammengefasst. I. Ausgewählte Anmerkungen

1. Zustimmung zur Mediation generell und insbesondere zur gerichtsnahen und gerichtsinternen Mediation Zunächst soll betont werden, dass - insofern übereinstimmend mit dem Entwurf und der Begründung - auch unseres Erachtens und insbesondere nach unseren richterlichen Erfahrungen die gesetzliche Regelung der Mediation und in diesem Zusammenhang die nunmehr ausdrückliche Einführung der Möglichkeit der Mediation auch im gerichtlichen Verfahren sinnvoll und erstrebenswert erscheinen; also auch in der Arbeitsgerichtsbarkeit und in den öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeiten. 2. Verschwiegenheitspflicht des Mediators/der Mediatorin Die in Art. 1 § 4 GE geregelte Verschwiegenheitspflicht des Mediators ergibt sich aus den Grundsätzen der Mediation.

Bundesfachausschuss Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte

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Sie müsste aber a) in den Prozessordnungen durch ein Zeugnisverweigerungsrecht und b) für richterliche Mediatoren überdies dienstrechtlich dadurch gesichert werden, dass

der/dem Mediator/in grundsätzlich durch den Dienstvorgesetzten eine Aussagegenehmigung nicht erteilt wird.

3. Übergangsfrist (hier auch: Auseinandersetzung mit § 15 GVG neu) In Art. 1 § 7 GE verbirgt sich hinter der harmlosen Überschrift „Übergangsbestimmung“ ein Sprengsatz. Man muss diese Norm in Zusammenhang mit dem neu zu fassenden § 15 GVG (s. Art. 2 GE, Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes) sehen. Dieser soll die Landesregierungen ermächtigen, „durch Rechtsverordnung zu bestimmen, dass gerichtsinterne Mediation in Zivilsachen angeboten wird…“ Das heißt im Klartext: Mediation findet in Zukunft nur dort statt, wo die Landesregierung eine solche Rechtsverordnung erlässt. Art. 1 § 7 Abs. 1 GE gibt bisher bestehender gerichtsinterner Mediation nur eine Übergangsfrist von einem Jahr. Das bedeutet, um es spiegelverkehrt zu wiederholen: In Ländern ohne Rechtsverordnung nach § 15 GVG neu soll es ab ein Jahr nach Inkrafttreten des Mediationsgesetzes keine gerichtsinterne Mediation mehr geben. Das aber bedeutet zugleich einen inneren Widerspruch zur Definition der gerichtsinternen Mediation als richterlicher Aufgabe und Tätigkeit. Der zuständige Bundesgesetzgeber, der die gerichtsinterne Mediation als (Teil der) Aufgabe des Richters anerkennt, darf es nicht im Wege der Verordnungsermächtigung der Exekutive der Länder überlassen, ob überhaupt Mediation stattfindet. Mit § 15 GVG neu geht der Gesetzgeber einen völlig falschen Weg. Richtig wäre es, an passender Stelle ins Gesetz (etwa im Rahmen der §§ 21 a ff GVG) einzufügen: „An den Gerichten findet nach näherer Bestimmung des Präsidiums gerichtsinterne Mediation statt.“ (Die merkwürdige Logik des Entwurfs kann man wohl nur verstehen, wenn man - s.u. 4. - § 278/278a ZPO neu und den bayerischen Sonderweg des Güterichters in den Blick nimmt.) 4. „Güterichter statt Mediation?“ - Erschwerung der Zwangsvollstreckung für Vergleiche, die nach gerichtsinterner Mediation geschlossen sind

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Kern der Regelung der gerichtsinternen Mediation (s. Art. 3 GE, Änderungen der Zivilprozessordnung) ist der neue § 278 a Abs. 1 Satz 2 ZPO, der lautet: „Soweit durch Landesrecht vorgesehen, kann das Gericht … in geeigneten Fällen eine gerichtsinterne Mediation … vorschlagen.“ Hier zeigt sich (s.o. zu 3.) die Abhängigkeit des zukünftigen Stattfindens der gerichtsinternen Mediation vom Tätigwerden des Landes-Verordnungsgebers. Darüber hinaus muss man § 278 a ZPO neu in Verbindung sehen mit der Neufassung des § 278 Abs. 5 ZPO. Dieser sagt: „Das Gericht kann die Parteien für die Güteverhandlung vor einen Güterichter als beauftragten oder ersuchten Richter verweisen.“ Der „Güterichter“ ist sozusagen die bayerische Variante der alternativen Kofliktregelung innerhalb des Gerichtsverfahrens, die bekanntlich in dem von Prof. Greger betreuten Modellversuch erprobt worden ist. Man kann das Güterichter-Modell, das nun in Gesetzesform gegossen werden soll, als Form der „Beinahe-Mediation“ bezeichnen: einerseits sollen in dem Einigungsversuch vor dem Güterichter durchaus mediative Elemente praktiziert werden, andererseits soll es doch keine Form der Mediation selbst sein. Das hat durchaus Vorteile: die umstandslose Vollstreckbarkeit der Einigung als vor einem deutschen Gericht geschlossener Vergleich gem. § 794 Abs. 1 Ziffer 1 ZPO. Der Nachteil dieser Ungleichbehandlung der beiden Modelle: a) Diese „Minderform“ gegenüber der Mediation wird unmittelbar durch Bundesgesetz dauerhaft gesetzlich geadelt, während die Mediation von der Einführung durch den Landes-Verordnungsgeber abhängig gemacht, m.a.W.: dort, wo das nicht der Fall ist, abgeschafft wird. b) Man schafft künstlich für die Einigung nach gerichtsinterner Mediation Hürden für die evtl. Vollstreckbarkeit (dazu sogleich). Zu erwarten gewesen wäre und zu fordern ist, für die gerichtsinterne Mediation (ganz abgesehen von der oben bereits abgehandelten missratenen Regelung in § 15 GVG), dass - der erprobten Praxis entsprechend - die Regelung des § 278 a ZPO, wie im neuen § 278 Abs. 5 ZPO für das Verfahren vor dem Güterichter, so gefasst wird, dass der nach dem Willen der Parteien und den Festlegungen der Geschäftsverteilung mit der Mediation betraute Richter für den Fall der Einigung auch ersuchter Richter im Sinne der ZPO ist und dass der den Fall in die Mediation gebende gesetzliche Richter dies, wie in der schon bisher praktizierten gerichtsinternen Mediation, in seinem Abgabe- und Ruhensbeschluss feststellt. Damit würden auch die (s. sogleich) künstlich geschaffenen Hindernisse für die Vollstreckung entfallen. Was die in einem neuen § 796 d ZPO geregelte Vollstreckbarkeit angeht, zeigt sich nämlich wieder die Kehrseite der bereits eingangs angemerkten Systematik: Weil der Entwurf die gerichtsinterne Mediation (nur) als eine der Formen der Mediation ansieht und deren andere Formen (außergerichtliche Mediation, gerichtsnahe Mediation, s. Art. 1 § 1 Abs. 1 Satz 2 Ziffern 1 und 2 GE ) naturgemäß nicht mit gerichtlichen Vergleichen enden können und daher einer anderen Form der Schaffung von vollstreckbaren Titeln bedürfen, liegt (s.bereits oben) nichts näher, als im Falle der gerichtsinternen Mediation

verdikt 2.11 , Seite 38

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das Verfahren so auszugestalten, dass ein Titel i.S. des § 794 Abs. 1 Ziff. 1 zu Stande kommt. II. Zusammenfassende Bewertung

1. Grundsätzlich ist der Absicht, die Mediation und dabei insbesondere auch die

gerichtsnahe und die gerichtsinterne Mediation gesetzlich zu regeln, zuzustimmen.

Zuzustimmen ist dem Entwurf auch darin, dass er im bereits laufenden gerichtlichen Verfahren das Angebot der Mediation neben der allgemeinen Zivilgerichtsbarkeit grundsätzlich auch für die Arbeitsgerichtsbarkeit und für die öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeiten vorsieht.

2. Die in § 15 GVG neu gewählte Form, das Stattfinden der Mediation von der Schaffung von Landesverordnungen abhängig zu machen, ist gänzlich verfehlt.

3. Die Mediation ist gesetzlich „chancengleich“ mit dem Modell des Güterichters auszugestalten. Womöglich ist das Modell des Güterichters gegenüber der Mediation sogar entbehrlich.

4. Das Verfahren der gerichtsinternen Mediation ist so auszugestalten, dass die Einigung als ein Vergleich anzusehen ist, der nach § 794 Abs. 1 Ziff. 1 GVG ohne weiteres vollstreckbar ist.

5. Dazu gehört, dass der richterliche Mediator für den Fall der Einigung als ersuchter Richter anzusehen ist, was - wie in der bisherigen Praxis - bei Abgabe des Verfahrens in die Mediation und Anordnung des Ruhens durch den zuvor mit der Sache betrauten gesetzlichen Richter auszusprechen ist.

6. Die Vertraulichkeits- und Verschwiegenheitsregelungen müssen für alle Mediatoren durch Regelungen zur Zeugnisverweigerung und für die richterlichen Mediatoren (gerichtsinterne Mediation) zusätzlich dienstrechtlich in der Weise getroffen werden, dass der Dienstvorgesetzte eine Aussagegenehmigung grundsätzlich nicht erteilt.

verdikt 2.11 , Seite 39

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verdikt 2.11 , Seite 40

. … preist der fröhliche Jägerchor aus Carl

Maria von Webers „Freischütz“ die Segnungen

der Jagd in freier Natur.

. Wir werden zurzeit Zeugen einer ganz an-

deren Jagd; einer Jagd auf brandenburgische

Richterinnen und Richter, denen nicht „die

Gnade der westdeutschen Geburt“ zuteil wurde

(diese Metapher in Anlehnung an den bekann-

ten Spruch von Altkanzler Helmut Kohl von

seiner „Gnade der späten Geburt“ sei erlaubt).

. Zum Halali blasen jetzt bei uns vornehm-

lich Landtagsabgeordnete der CDU. Sie for-

dern eine erneute Stasiüberprüfung der Richt-

erschaft in unserem Land.

. Das ist schon bemerkenswert – befand sich

doch das Justizministerium in den zurücklie-

genden zehn Jahren ( 1999 bis 2009) in den Hän-

den eben dieser Partei, ohne dass ein Justiz-

minister Schelter oder die Justizministerinnen

Richstein und Blechinger als oberste Dienst-

vorgesetzte aller Richterinnen und Richter

auch nur im Ansatz in Sorge schienen, Teile

der Richterschaft könnten Stasi belastet sein

und müssten deshalb wieder einmal überprüft

werden. Woher kommt also der Sinneswandel

in der CDU – jetzt – nachdem die Oppositions-

bänke wieder eingenommen werden mussten?

. Ist die plötzlich lauthals verkündete Sorge

ehrlich und gerechtfertigt? Ich meine, weder

noch.

. Hierzu muss man wissen, dass alle ab 1990

übernommenen und eingestellten branden-

burgischen Richterinnen und Richter nach den

im Juli 1990 noch von der Volkskammer be-

schlossenen Gesetzen und gefassten Beschlüs-

sen überprüft worden sind durch eigens gebil-

dete Richterwahlausschüsse. In tiefgreifender,

sorgfältiger und mehrstufiger Einzelfallprü-

fung wurde geklärt, ob die Richterinnen und

Richter die Voraussetzungen für ein Richteramt

in einem demokratisch verfassten Rechtsstaat

erfüllen. Zu diesen Voraussetzungen gehörten

und gehören fachliche und moralische Eig-

nung, Treue zur freiheitlich demokratischen

und sozialen Rechtsordnung, Integrität und

Fortbildungsbereitschaft – um nur einige der

Kriterien zu nennen. Im Überprüfungsverfahren

wurden Fragebögen und „Kaderakten“ aus-

gewertet, sowie vorgeschaltete Bewerberge-

spräche abgehalten, geführt von hochrangigen

und erfahrenen Richtern, wie zum Beispiel

dem Präsidenten des nordrheinwestfälischen

Landesverfassungs- und Oberverwaltungsge-

richts. Nach den seinerzeitigen Entscheidungs-

kriterien wurde ausdrücklich nicht berufen,

wer über normale Dienstpflichten hinaus mit

dem Staatssicherheitsdienst zusammengear-

beitet hatte. Ein zweites Mal wurden, als nach

drei bis fünf Jahren die erneute Wahl und

Ernennung dieser so bereits geprüften Richte-

rinnen und Richter auf Lebenszeit anstand,

ausnahmslos erneut die dann aktuellen Aus-

künfte der Stasi-Unterlagenbehörde eingeholt

und von demokratisch legitimierten Gremien

gewichtet unter fachkundiger Beratung der

Stasi-Unterlagenbehörde. Wir wissen, dass

heute noch 13 ( von gesamt 848 im Lande!)

Richterinnen und Richtern in ihrem „DDR

Leben“ mit der Stasi Berührung hatten; sie

alle hielten den strengen Beurteilungskriterien

stand und wurden in Kenntnis dieser Vergan-

genheit für geeignet und befähigt befunden,

das verantwortungsvolle Richteramt auszuüben.

Wissen muss man auch, dass die Stasi-Unter-

lagenbehörde, bei der alle Richterinnen und

Richter erfasst waren, bis 2006 gesetzlich ver-

pflichtet war, von Amts wegen beim Vorliegen

neuer Erkenntnisse dem Dienstherrn Meldung

zu erstatten. Nicht eine Meldung ging ein

trotz immens angewachsenen Materials ( z.B.

2004 die „Rosenholz“-Dateien). Gibt es ein

stärkeres Indiz für die Integrität der gewählten

und ernannten brandenburgischen Richterin-

nen und Richter? Auch ist kein einziger Fall

aufgetreten, in dem etwa hinsichtlich der Ein-

stellungsvoraussetzungen von den Bewerbern

arglistig getäuscht worden wäre.

. Sie alle nach mehr als zwanzig Jahren ohne

konkreten Anhaltspunkt mit einem General-

verdacht zu überziehen, verletzt deren An-

spruch auf Vertrauensschutz. Dem Ruf nach

erneuter Überprüfung steht auch der verfas-

sungsrechtliche Grundsatz der Verhältnis-

mäßigkeit entgegen. Es wird hier nämlich

weder ein legitimer Zweck verfolgt, noch wäre

eine erneute Überprüfung angemessen und

zumutbar für die Betroffenen.

. Den Richterinnen und Richtern gilt meine

ganze Achtung. Sie haben sich ihrer Vergan-

genheit gestellt und sie leisten seit vielen Jah-

ren eine schwierige und verantwortungsvolle

Arbeit für unsere Gesellschaft.

. Ich bin mir nicht sicher, ob die Jäger das

auch von sich sagen können. ;

Sabine Stachwitz

„Was gleicht wohl auf Erden dem Jägervergnügen …“Zur Jagd auf Stasi-Richter in Brandenburg

Sie alle nach mehr als zwanzig Jahren ohne konkreten Anhaltspunkt mit einemGeneralverdacht zu überziehen, verletzt deren Anspruch auf Vertrauensschutz.Dem Ruf nach erneuter Überprüfung steht auch der verfassungsrechtliche Grund-satz der Verhältnismäßigkeit entgegen.

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Allgemeine Situation

. Einsparungsvorhaben der hessischen Landesregierung:

Die Pläne zur Schließung und Zusammenlegung mehrerer Amts- und

Arbeitsgerichte wurden ungeachtet der Tatsache intensiv vorangetrie-

ben, dass die gesetzliche Grundlage dafür, das Gesetz zur Änderung

gerichtsorganisatorischer Regelungen, vor der parlamentarischen Som-

merpause nicht mehr vom Parlament verabschiedet werden konnte. Zu

diesem Gesetzentwurf gab es wieder eine gemeinsame Erklärung aller

betroffenen Richterorganisationen (Anlage).

. Diese Entwicklung nahm teilweise tragikomische Züge an, so z.B. in

Mittelhessen, wo die Maßnahmen zur Schaffung eines gemeinsamen

Arbeitsgerichts in Gießen bei gleichzeitiger Schließung der Arbeitsge-

richte Marburg und Wetzlar wegen der in Gießen erheblich höheren

Immobilienpreise und der erforderlichen Umbauten zu mindestens

mittelfristig zu erheblichen Mehrkosten führen würde, wenn der bis-

herige Standard an Büro- und Sitzungssaalflächen gehalten wird. Es

wurden heftige Diskussionen geführt, um eine tragbare Lösung zu fin-

den. Ob dies gelungen ist, wird sich erst in einigen Monaten zeigen.

. Am 10. August 2011 führte der Rechtsausschuss des Hessischen Land-

tags eine Anhörung zu dem geplanten Gesetz durch, die im Nachhinein

nur als Alibiveranstaltung angesehen werden kann. Einen ganzen Tag

lang lösten sich Vertreterinnen und Vertreter u.a. der Gerichte, der An-

waltschaft, der Gewerkschaften, der Richterorganisationen und nicht

zuletzt der betroffenen Gebietskörperschaften an den Mikrofonen ab

und trugen fast ausnahmslos ihre ablehnenden Stellungnahmen vor,

die in ausgedruckter Form einen Stapel von geschätzten 50 cm abgaben.

Schade um das schöne Papier und schade um die viele vertane Zeit! Für

alle Kenner der parlamentarischen Abläufe stand eigentlich längst fest,

dass sich an dem geplanten Gesetz nichts ändern würde. Denn bereits

in der vorausgegangenen Woche waren die ersten Verträge über Umbau-

und Umzugsmaßnahmen verbindlich geschlossen worden – erneut

ohne gesetzliche Grundlage. So erschien es zum Teil schon rührend,

mit welcher Energie manche Sprecher noch einmal an die Vertreter der

Regierungsfraktionen appellierten, die alle Argumente mit stoischer

Ruhe über sich ergehen ließen und auf die geradezu verzweifelte Frage,

warum sie denn dazu nichts erwiderten, ganz cool antworteten, es

handele sich um eine Anhörung, nicht um eine Fragestunde.

. Am Donnerstag, dem 15. September 2011 beschloss der Hessische

Landtag dann schließlich in namentlicher Abstimmung mit den Stim-

men der CDU- und FDP-Abgeordneten die Schließung der Amtsgerichte

Bad Arolsen, Rotenburg an der Fulda, Nidda, Schlüchtern und Usingen

sowie der Arbeitsgerichte Hanau, Bad Hersfeld, Limburg, Marburg und

Wetzlar.

. Der Landesrechnungshof hat im vergangenen Dezember die Bibliothe-

ken der ordentlichen Justiz geprüft und erhebliches Einsparungspoten-

zial erkannt, nachdem doch fast alle Medien auch online zur Verfügung

stehen. So soll es doch tatsächlich in Frankfurt und Kassel mehrere

juristische Bibliotheken in ein und derselben Stadt geben! Da die Lan-

desregierung inzwischen die Empfehlungen des Rechnungshofs zur

Schließung kleiner Gerichte fast komplett umgesetzt hat, ist auch hier

wahrscheinlich zunächst mit Beschwichtigung, später aber sicher mit

entsprechenden Maßnahmen zu rechnen.

. Die gemeinsame IT-Behörde, die unser Justiznetz verwalten soll,

wird jetzt wohl durch ein Gesetz eingeführt, dessen Entwurf derzeit im

Anhörungsverfahren ist. Auch hierzu wurde wieder eine gemeinsame

Stellungnahme aller Richterorganisationen abgegeben (s. S.43).

In der Behörde wird es eine mit den Bezirksrichterräten besetzte Kon-

trollkommission geben, die aufpassen soll, dass keine unberechtigten

Zugriffe auf die Gerichtsdaten erfolgen. Ein Paragraf dieses Gesetzes

enthält nun auch die Einführung des hypertrophen Gläserne-Richter-

Statistik-Programms Davin§y. Dies ist besonders pikant, weil die Be-

zirksrichterräte seit eineinhalb Jahren die Zustimmung zur Einführung

dieses Programms hartnäckig verweigern und das Ministerium ständig

den unhaltbaren Standpunkt vertritt, es handele sich nicht um eine mit-

bestimmungspflichtige Maßnahme. Nun erfolgt die Einführung mitbe-

stimmungsfrei per Gesetz. Positiv ist immerhin, dass das Ministerium

jetzt zum ersten Mal eine Beteiligung der Bezirksrichterräte und ggf.

eine Vereinbarung angeboten hat.

. Und schließlich noch das Neuste: Inzwischen drohen weitere mas-

sive Personalreduzierungen in nahezu allen Bereichen der Justiz. Auch

hierzu gibt es natürlich schon eine gemeinsame Stellungnahme. In

welchem Umfang diese verwirklicht werden, bleibt abzuwarten und

mit entsprechenden Maßnahmen zu begleiten.

Aus der Arbeit des Landesbezirksfachausschusses:

. Anfang März 2011 fand in der ver.di-Bildungsstätte wieder die tradi-

tionelle Mitgliederversammlung der in ver.di organisierten Richterinnen

und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte statt, die dieses Mal

unter keinem guten Stern stand. Wir hatten uns vorgenommen, am

Freitagnachmittag mit einer Referentin der Friedrich-Ebert-Stiftung über

Möglichkeiten der Motivierung und Mobilisierung von Kolleginnen und

Kollegen zu diskutieren. Leider musste sie zwei Tage vor der Tagung

wegen akuter Erkrankung absagen, und es gelang uns nicht, noch kurz-

fristig eine geeignete Ersatzperson zu finden. Hinzu kam, dass einige

angemeldete Teilnehmerinnen und Teilnehmer wegen des Streiks der

GdL und eines kilometerlangen Staus auf der Autobahn zwischen Frank-

furt und Gießen die Tagungsstätte erst mit mehrstündiger Verspätung

verdikt 2.11 , Seite 41

[ A U S D E R J U S T I Z ]

Georg Schäfer

Länderbericht aus Hessen mit einer Vision für 2015

verdikt 2.2011_1_c 27.10.2011 12:01 Uhr Seite 41

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verdikt 2.11 , Seite 42

erreichten. Wir machten dann aus der Not eine Tugend und riefen alle

eigenen Kenntnisse über die Fortbildungsarbeit mit Metaplan-Karten

u.ä. in Erinnerung und bestritten so einen überaus produktiven Nach-

mittag, der von der Analyse der Situation bis hin zu ganz konkreten

Arbeitsaufträgen reichte, die in den nächsten Monaten umgesetzt wer-

den sollen.

. Am Samstagvormittag hatten wir den Justizstaatssekretär Rudolf

Kriszeleit zu Gast, der mit uns insbesondere über das Thema „Der gläser-

ne Richter“ diskutierte. Rainer Bram, Vorsitzender des Bezirksrichterrats

der Hessischen Arbeitsgerichtsbarkeit, hatte zunächst mit einem Refe-

rat in die Problematik eingeführt, so dass die Diskussion dann sehr

fundiert geführt werden konnte. Kopfschütteln rief die Haltung des

prinzipiell immer nach Ausgleich und konsensualen Lösungen suchen-

den Staatssekretärs hervor, für die Einführung des Programms Davin§y

sei die Mitwirkung der Bezirksrichterräte nicht erforderlich, da er sein

Wort gegeben habe, dass eine Verhaltens- und Leistungskontrolle der

Richterinnen und Richter nicht beabsichtigt sei. Alle Hinweise auf gesi-

cherte Rechtsprechung sowohl im Arbeits- als auch im Verwaltungs-

recht führten hier kaum weiter.

. Intern brachte die Mitgliederversammlung, an der wieder rund 30

Kolleginnen und Kollegen sowie zahlreiche Gäste teilnahmen, eine Än-

derung bei der Besetzung der Sprecherposition. Zum Nachfolger von

Georg Schäfer, der nicht mehr kandidierte, wählten die Anwesenden

Jens-Peter Hoth, Richter am Sozialgericht in Wiesbaden.

Frankfurt am Main im September 2011 ;

rend der Wartezeiten deutlich zuge-

nommen.

– Durch die weitgehende Abschaffung

der Printmedien werden in der Ar-

beitsgerichtsbarkeit unter Gegen-

rechnung der Druckkosten (Laser-

patronen), dem Mehrverbrauch an

Druckerpapier (2,57 Tonnen p.a.)

und der Wartezeit an dem Zentral-

drucker (durchschnittlich täglich

47 Minuten je Richter/in) EUR 55,14

p.a. eingespart.

– In einer von der Landesregierung

gelobten Aktion der Arbeitsrichter/

innen haben diese auf ihr persönli-

ches dtv-Exemplar „Arbeitsgesetze“

verzichtet, so dass das Einspar-

volumen auf EUR 312,57 angehoben

werden konnte. ;

– Der Restbestand der LAG-Bibliothek

von 11 Büchern kommt in den bis-

herigen Kopiererraum. In den ande-

ren Arbeitsgerichten werden keine

Bibliotheken mehr benötigt.

– In der bisherigen LAG-Bibliothek

steht der zentrale Drucker (das

HMdJIE hat die Abschaffung der

Einzelplatzdrucker ja wohl nur zu-

rückgestellt), an den die Richter/

innen ihre Druckaufträge bzgl. der

Literaturrecherchen senden und

dann dort abholen.

– Zur Überbrückung der Wartezeiten

vor dem Zentraldrucker werden War-

tenummern vergeben und wird ein

Stehcafé eingerichtet. Die Qualität

der Fallbearbeitung hat durch die

verbesserte Kommunikation wäh-

Vision für 2015

Der Bezirksrichterrat der Hessischen Arbeitsgerichtsbarkeit beendete sein dies-

jähriges „Osterinfo“, das allen Richterinnen und Richtern dieses Bereichs per

E-Mail zuging, mit folgender „Vision für 2015“:

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verdikt 2.11 , Seite 43

. Das EDV-Netz der hessischen Justiz wird von der Hessischen Zentra-

le für Datenverarbeitung (HZD), einer Oberbehörde der Landesfinanz-

verwaltung, betrieben und administriert. Seit Jahren weist die Richter-

schaft immer wieder darauf hin, dass die HZD auf alle richterlichen

Daten zugreifen kann. Die HZD und damit der Hessische Minister der

Finanzen haben die Möglichkeit zur unzulässigen Beobachtung und

zur unzulässigen inhaltlichen Kontrolle richterlicher Arbeit. Das Hessi-

sche Ministerium der Justiz, für Integration und Europa (HMdJIE) hat

Zugriffsmöglichkeiten immer wieder und vor allem auch in den letzten

Monaten vehement bestritten. Jetzt legt es den Entwurf für ein Gesetz

zur Errichtung der Informationstechnik-Stelle (IT-Stelle) der hessischen

Justiz und zur Regelung justizorganisatorischer Angelegenheiten sowie

zur Änderung von Rechtsvorschriften vor. Darin räumt das Justizminis-

terium erstmals die Möglichkeit unbefugten Zugriffs auf richterliche

Daten ein, denn der Gesetzentwurf sieht vor, eine IT-Kontrollkommis-

sion zu schaffen, die an „… Überprüfungen zum Schutz der richterlichen

Unabhängigkeit vor unbefugten Zugriffen auf richterliche Daten durch

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Hessischen Zentrale für Daten-

verarbeitung …“ mitwirken soll.

. Angeblich will das HMdJIE dem Urteil des Dienstgerichtshofs beim

Oberlandesgericht Frankfurt am Main vom 20. April 2010 – DGH 4/08 –

Rechnung tragen, indem es „die Zugriffsrechte in Bezug auf richterliche

Daten festlegen und Vorkehrungen zur Sicherung der Zweckbindung

und zum Schutz vor unbefugter Einsichtnahme“ trifft. Nachdem nun

allerdings beabsichtigt ist, die IT-Stelle, die bisher beim OLG Frankfurt

am Main angesiedelt ist, direkt dem HMdJIE zu unterstellen, müsste diese

Kontrollkommission nicht nur die HZD, sondern auch die IT-Stelle selbst

kontrollieren. Letzteres ist allerdings in dem Gesetzentwurf nicht vorge-

sehen. Über die Auseinandersetzung um die Administration richterlicher

Daten durch die HZD darf nämlich auch nicht übersehen werden, dass

bei der IT-Stelle über die Zukunft des richterlichen Arbeitsplatzes kom-

mender Richtergenerationen entschieden wird. So sollen z.B. sämtliche

Fachanwendungen für alle Gerichtsbarkeiten dort entwickelt werden.

. Die geplante Übertragung der Kontrolle der Tätigkeit der HZD auf

Einhaltung aller Bestimmungen, die der Gewährleistung der IT-Sicher-

heit der Daten der hessischen Justiz dienen, auf die zu errichtende IT-

Stelle (§ 2 Satz 2 des Gesetzentwurfs) schränkt die Einflussmöglichkei-

ten und den Umfang der Fachaufsicht des HMdJIE nicht ein. Gleiches

gilt für die vorgesehene Mitwirkung einer einzurichtenden IT-Kontroll-

kommission bei den in § 3 Satz 1 des Gesetzentwurfs nur vage beschrie-

benen Aufgaben. Die Mitwirkung beschränkt sich danach auf Überprü-

fungen zum Schutz der richterlichen Unabhängigkeit vor unbefugten

Zugriffen auf richterliche Daten durch Mitarbeiterinnen und Mitarbei-

ter der HZD, soweit die Überprüfungen im Rahmen der Fachaufsicht

nach § 2 Satz 2 des Gesetzentwurfs erfolgen sollen. Eine IT-Kontroll-

kommission ist im Übrigen ziemlich bedeutungslos, solange sie nur

mitwirkt und ihre Entschließungen das HMdJIE nicht binden.

. Unter dem Vorwand, die Arbeit in den Gerichten und den Staatsan-

waltschaften transparent darzustellen, beabsichtigt das HMdJIE, mit § 4

des Gesetzentwurfs ein so genanntes Visualisierungsprogramm unter

dem Namen „DAVIN§Y“ einzuführen. Das ist die positive Formulierung

der vorgesehenen „Aufbereitung für Vergleichszwecke“, eröffnet aber in

Wirklichkeit die Möglichkeit zu einem ausschließlich auf quantitative

Erledigungsleistungen fixierten Benchmarking. Die Qualität der richter-

lichen Entscheidung spielt danach keine Rolle mehr. Im richterlichen

Bereich ist Benchmarking unzulässig.

. Aus all diesen Gründen lehnen die im Briefkopf genannten Organi-

sationen den Gesetzentwurf ab. Sie haben kein Verständnis dafür, dass

die Entscheidung des Dienstgerichts des Bundes in der so genannten

Netzklage nicht abgewartet wird.

GEMEINSAME ERKLÄRUNG DES DEUTSCHEN RICHTERBUNDES (LV HESSEN), DER NEUEN RICHTERVEREINIGUNG (LV HESSEN), DER HESSISCHEN RICHTERINNEN UND RICHTER,

STAATSANWÄLTINNEN UND STAATS-ANWÄLTE IN VER.DI, DER VEREINIGUNG HESSISCHER VERWALTUNGSRICHTERINNEN UND VERWALTUNGSRICHTER (VHV) UND DES VERBANDES DER

RICHTERINNEN UND RICHTER AN DEN GERICHTEN FÜR ARBEITSSACHEN IN HESSEN (VRA-HESSEN)

zum Entwurf eines Gesetzes zur Errichtung der Informationstechnik-Stelle (IT-Stelle) der hessischen Justiz und zur Regelung justizorganisa-torischer Angelegenheiten sowie zur Änderung von Rechtsvorschriften

Frankfurt am Main, den 09. Mai 2011

gez. Dr. Goedel gez. Schwamb gez. Schäfer gez. Domann-Hessenauer gez. Dr. Horcher

DRB NRV ver.di VhV VRA ;

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Page 44: November 2011 10. Jahrgang 2.11 verdikt+file++52243a3a890e... · tet, und von Ingo Müller (S. 21), in dem aufge-zeigt wird, wie sehr die Europäische Menschen-rechtskonvention auch

verdikt 2.11 , Seite 44

. Am 3. Mai 2011 traf sich die Landesbezirksfachgruppe mit dem nieder-

sächsischen Justizminister zu einem Erfahrungsaustausch über Themen

des richterlichen Dienstes, des Justizvollzuges, des ambulanten Justiz-

sozialdienstes und der allgemeinen Justizverwaltung. Ausführlich be-

richtet Heft 1/11 des bund + länder journals.

Richterdienst. Unsere Schwerpunkte waren die R-Besoldung und die Sicherung der

Personalausstattung in der Sozialgerichtsbarkeit.

. In Niedersachsen konnte die Übernahme des Tarifergebnisses erreicht

werden. So hat der von ver.di erzielte Verhandlungserfolg auch im Be-

reich der R-Besoldung zu einer spürbaren Besoldungserhöhung geführt.

Skeptisch beurteilen wir das von Herrn Busemann verfolgte Stellen-

hebungskonzept, das im Wesentlichen die Senkung der erforderlichen

Planstellen für eine weitere Aufsichtführende Richterstelle auf 6 vorsieht.

Zurzeit sind 8 Planstellen nötig. Solche Stellenhebungskonzepte lenken

von der Forderung aller Richterorganisationen nach einer selbstverwal-

teten Justiz und einer amtsangemessenen Besoldung ab, worauf schon

Wolfgang Helbig im Zusammenhang mit der Dienstrechtsreform in Bay-

ern hinwies (verdikt 2.10). Der Kollege Dr. Michael Schwickert (Direktor

des Amtsgerichts Lingen/Ems) hat in der Arbeitsgruppe Amtsgerichte

auf unser Konzept einer selbstverwalteten Justiz mit einer amtsan-

gemessenen einheitlichen Besoldung aller Richterämter hingewiesen.

Demgegenüber verfestigen die vorgesehenen geringfügigen Stellen-

hebungen die vorhandenen hierarchischen Strukturen und erhöhen

über Beförderungen sowie Beförderungserwartungen den Einfluss der

Justizverwaltung auf die Richterschaft. Es bleibt abzuwarten, in welchem

Umfang das Stellenhebungskonzept angesichts der Sparanstrengun-

gen des Finanzministeriums bei den Beratungen des Doppelhaushalts

2012/2013 beschlossen wird.

. Angesichts des Doppelhaushalts kommt der Sicherung des Personal-

einsatzes in der Sozialgerichtsbarkeit eine besondere Bedeutung zu.

Denn fast ein Drittel der dort tätigen Richterinnen und Richter sind im

Abordnungswege, auf zeitlich befristet verlagerten Stellen und auf

Stellen mit kw-Vermerken tätig.

Justizvollzug. Thematisiert wurde insbesondere die Sonderregelung in § 47 des

Tarifvertrages für den öffentlichen Dienst der Länder über den Eintritt

in den Ruhestand zu einem Zeitpunkt, der für vergleichbare Beamten

gilt. Zur Absicherung des Ruhestandes sind die Tarifbeschäftigten zu

finanziellen Sonderopfern gezwungen.

Ambulanter Justizsozialdienst. Zum 1. Januar 2009 wurden die Bewährungs-, die Gerichts- und die

Aussteigerhilfe, die bei den Landgerichten, den Staatsanwaltschaften

und dem Justizministerium angesiedelt waren, in dem Ambulanten Jus-

tizsozialdienst Niedersachsen (AJSD) zusammengefasst. Unbefriedigend

ist insbesondere die Belastung durch hohe Fallzahlen und den Wegfall

von Unterstützungs- und Serviceleistungen, die früher die Landgerichte

erbrachten. Des Weiteren können Aufgaben im Zusammenhang mit der

Einführung der elektronischen Überwachung ehemaliger Inhaftierter

hinzukommen. Eine Personalverstärkung ist deshalb unerlässlich.

Allgemeine Justizverwaltung. Im Vordergrund standen unbefriedigende Qualifizierungs- und Ent-

wicklungsperspektiven von Tarifbeschäftigten. Durch die Umstellung

auf die Beamtenausbildung in der mittleren Beschäftigungsebene wur-

de für die Tarifbeschäftigten das Berufsbild geschlossen. Erforderlich

ist die Entwicklung eines Qualifizierungs- und Aufstiegsmodells, das

den Tarifbeschäftigten Aufstiegsmöglichkeiten bis zur Entgeltgruppe

E 11 eröffnet.

. Das Gespräch verlief in angenehmer Atmosphäre und soll fortgesetzt

werden. Alle Teilnehmer empfanden die gemeinsame Diskussion von

Problemen aus ihren Berufsfeldern als bereichernd, auch zum besseren

gegenseitigen Verständnis. Auch das ist ein nicht gering zu schätzender

Vorteil der Organisation aller Justizbeschäftigten in einer Gewerkschaft. ;

Karl Schulte | Vors. des Hauptrichterrats der nds. Sozialgerichtsbarkeit

ver.di beim niedersächsischen Justizminister Busemann

1 Vortrag am 23. 11. 2010 im Audienzsaal des Rathauses zu Lübeck, Gustav Radbruch gewidmet

anlässlich des 61. Todestages. Die Vortragsform wurde weitgehend beibehalten.

Hans-Ernst Böttcher war von 1991 bis 2009 Präsident des Landgerichts Lübeck.

Justizminister Busemann (5. v, li.) mit der ver.di-Fachgruppe

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Page 45: November 2011 10. Jahrgang 2.11 verdikt+file++52243a3a890e... · tet, und von Ingo Müller (S. 21), in dem aufge-zeigt wird, wie sehr die Europäische Menschen-rechtskonvention auch

. Das Stellenhebungskonzept des Nieder-

sächsischen Richterbundes ist nicht geeignet,

die strukturellen Ungerechtigkeiten zu beseiti-

gen. Es bevorzugt überdies – worauf der Direk-

tor des Amtsgerichts Cloppenburg in seiner

Stellungnahme vom 10.03.2011 hingewiesen

hat – ohne erkennbaren Grund die kleinen

Amtsgerichte.

. Wenn überhaupt erscheint daher, soweit

es die Amtsgerichte betrifft und soweit die

verfassungsrechtlichen Bedenken ausgeräumt

werden können, das bayrische Stellenhebungs-

konzept vorzugswürdig, das für Amtsgerichte

mit mehr als 7 Planstellen eine dritte R 2-Stelle

und für große Amtsgerichte (ab 20 Planstellen)

die Anhebung der Direktorenbesoldung auf R 3

vorsieht.

Hannover, August 2011 ;

verdikt 2.11 , Seite 45

Stellungnahme. Aus gewerkschaftlicher Sicht werden die

Überlegungen zu Stellenhebungen im Bereich

der R-Besoldung skeptisch beurteilt. Ich möch-

te das im Folgenden kurz umreißen.

– Zu dem Konzept der Gewerkschaft verdi

für eine Stärkung der Selbstverwaltung in

der Justiz gehört die Überlegung, dass alle

Richterämter gleichwertig sind und daher

gleich besoldet werden sollten.

– Stellenhebungen verstärken die vorhande-

nen hierarchischen Strukturen und wider-

sprechen daher den gewerkschaftlichen

Vorstellungen von einer Justizreform.

– Stellenhebungen bedeuten etwas mehr

Geld für Wenige. Im Hinblick auf die da-

raus folgenden Beförderungen und Beför-

derungserwartungen erhöhen sie bei den

Amtsgerichten zugleich den Einfluss der

Justizverwaltung auf die Richterschaft.

Nicht zuletzt deswegen ergeben sich ver-

fassungsrechtliche Bedenken gegen die

beabsichtigten Stellenhebungen.

– Stellenhebungskonzepte lenken von der

Forderung aller Richterverbände nach

einer amtsangemessenen Besoldung von

Richtern und Staatsanwälten ab.

– Vorhandene Mittel zur Finanzierung von

Stellenhebungen sollten besser allen Rich-

tern und Staatsanwälten zugute kommen.

– Keinesfalls dürfen Stellenhebungen durch

Einsparungen in anderen Dienstbereichen

der Justiz finanziert werden.

. Aus amtsgerichtlicher Perspektive könnten

Stellenhebungen bei den Amtsgerichten allen-

falls einen positiven Aspekt haben: Sie bieten

die Möglichkeit, bestehende Unstimmigkeiten

und Ungerechtigkeiten in den Besoldungsstruk-

turen von Landgerichten und Amtsgerichten

zu beseitigen.

. Während bei den Landgerichten eine R 2-

Stelle auf etwa zwei R 1-Stellen kommen, lau-

tet das Verhältnis bei den Amtsgerichten in

Niedersachsen etwa 1 zu 6,5.

Dieser große Unterschied ist nicht (mehr)

gerechtfertigt:

– Landgerichtliche Zivilsachen werden in der

Regel und nicht mehr als Ausnahme von

Einzelrichtern entschieden.

– Kleine Strafkammern unterscheiden sich

nicht wesentlich von Schöffengerichten.

Wenn überhaupt, dann dürfte der Vorsitz

in den erstinstanzlichen Schöffengerichten

das anspruchsvollere Richteramt darstellen.

– Im Bereich der Familiensachen, der Miet-

und WEG-Verfahren sowie der Landwirt-

schaftsgerichte gibt es auch beim Amts-

gericht keine Streitwertobergrenzen.

Dr. Michael Schwickert | Direktor des Amtsgerichts Lingen (Ems), für die ver.di-Fachgruppe Landesbezirk Niedersachsen-Bremen

Überlegungen zur Änderung der R- BesoldungsstrukturKritische Thesen zum niedersächsischen Stellenhebungskonzept

. In der nds./ brem. Sozialgerichtsbarkeit gibt es seit Mitte des Jahres

das Angebot, sich durch eine andere Richterin oder einen anderen Rich-

ter – hauptsächlich in der Sitzung – beraten zu lassen. Diese Beratung,

die von ausgebildeten Intervisorinnen/ Intervisoren durchgeführt wird,

zielt darauf, allgemeine Verhaltensweisen in Sitzungen zu erkennen und

besser zu steuern, wie z.b. verbale und non- verbale Kommunikation,

aber auch andere Aspekte der Verhandlungsführung zu „spiegeln“. Ganz

wesentlich ist die Vertraulichkeit der Intervision, und zwar sowohl des

Inhalts als auch der Tatsache, dass sie überhaupt stattgefunden hat.

Die Intervision ist in der nds. Sozialgerichtsbarleit nach längerer Dis-

kussion in eigener Verantwortung der Richterinnen und Richter auf

Initiative des Hauptrichterrats (HRR) und der Richterräte – und nicht,

wie in anderen Gerichtszweigen, auf Veranlassung durch die jeweilige

Gerichtsverwaltung – eingeführt worden. Das anliegende Konzept, das

allerdings mit dem Präsidenten des Landessozialgerichts abgestimmt

wurde, gibt Auskunft über die wesentlichen Grundlagen der Intervision.

Lioba Huss | Richterin am LSG und Mitglied des HRR

Intervision in der Sozialgerichtsbarkeit

verdikt 2.2011_1_c 27.10.2011 12:01 Uhr Seite 45

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verdikt 2.11 , Seite 46

Einleitung

. Die kollegiale Beratung (Intervision) wird in Niedersachsen bereits

in der ordentlichen Gerichtsbarkeit, bei der Generalstaatsanwaltschaft

Braunschweig und beim Landesarbeitsgericht angeboten. Sie ist Teil des

niedersächsischen Personalentwicklungskonzeptes für Proberichterinnen

und Proberichter, das zum 1. März 2009 in Kraft getreten ist. Die Richter-

räte der niedersächsischen und der bremischen Sozialgerichtsbarkeit

beschäftigen sich seit längerer Zeit mit diesem Instrument der Quali-

tätssicherung. Nach einer Übereinkunft zwischen dem Hauptrichterrat

für die Gerichte der nds. Sozialgerichtsbarkeit und dem Präsidenten

des LSG Niedersachsen-Bremen soll die Intervision in eigener Verant-

wortung der Richterinnen und Richter in der Gerichtsbarkeit eingeführt

werden. Einige Kolleginnen und Kollegen verfügen bereits über eine

„Grundlagenausbildung“ zum Intervisor bzw. zur Intervisorin. Unab-

hängig von der Notwendigkeit weiterer, vertiefender Fortbildung ist es

deshalb sinnvoll, die Intervision mit Unterstützung des Präsidenten des

LSG nun an den Sozialgerichten, auch dem Sozialgericht Bremen und

dem Landessozialgericht zu etablieren. Dieses vom Hauptrichterrat

mit den Intervisor_innen und dem Präsidenten des LSG abgestimmte

Konzept soll dazu dienen, das Ziel, die Grundsätze, Methoden und den

äußeren Rahmen der Intervision darzustellen.

1. Ziel

. Intervision ist eine zielgerichtete Beratung unter gleichrangigen

Kolleg_innen zur Verbesserung des professionellen Handelns und zur

beruflichen Entlastung, bei der individuelle Unterstützung angeboten

wird. Sie soll im richterlichen Bereich dazu dienen, die Qualität der rich-

terlichen Arbeit – insbesondere die gute Kommunikation im Gerichts-

saal und die Kunst der Verhandlungsführung – in eigener Verantwortung

der Richterinnen und Richter nachhaltig zu sichern und zu verbessern.

Intervision bietet die Chance, unter Wahrung der richterlichen Unab-

hängigkeit einen Austausch von Wissen und Erfahrungen im Kollegium

zu ermöglichen. Sie soll keine rechtliche Beratung sein und zielt insbe-

sondere nicht darauf, rechtliche Fragen – auch keine prozessualen

Rechtsfragen – zu erörtern.

2. Grundsätze

. Intervision ist freiwillig, dies betrifft sowohl die Inanspruchnahme

der Intervision als auch die Tätigkeit als Intervisor_in. Dazu gehört auch

die freie Auswahl des Intervisors/ der Intervisorin. Sie ist außerdem ver-

traulich. Der Intervisor/ die Intervisorin unterliegt der Schweigepflicht.

Der/die Dienstvorgesetzte wird von dem Intervisor/der Intervisorin

weder über die Inanspruchnahme noch über den Inhalt der kollegialen

Beratung informiert. Sowohl der Inhalt der Intervision als auch die Tat-

sache, dass sie stattgefunden hat, taucht in keiner Personalakte oder

Beurteilung auf. Eine Intervision scheidet aus, wenn der Intervisor/ die

Intervisorin in anderer Funktion an einer dienstlichen Beurteilung des

Richters/der Richterin mitzuwirken hat.

3. Methoden

. Es kommen im Wesentlichen zwei Beratungsvarianten in Betracht:

a) Gruppenintervision findet in einer Gruppe gleichrangiger Kolleg_innen

statt, wobei die Gruppenmitglieder anhand fester Strukturen und

Regeln von Einzelnen eingebrachte Problemstellungen bearbeiten

und Lösungsvorschläge entwickeln. Dies fördert Offenheit und Ver-

ständnis und verbessert die kollegiale Zusammenarbeit und das

„Betriebsklima“.

b) Einzelintervision mit SitzungsteilnahmeDer Intervisor/die Intervisorin nimmt nach Absprache an einer Sit-

zung der Kollegin/des Kollegen in einer beobachtenden Rolle teil

und gibt nach Abschluss ein gezieltes Feedback über das konkrete

Verhalten in der Sitzung. Das Feedbackgespräch beinhaltet die Wür-

digung des Sitzungsablaufs, von kritischen Situationen und Stärken

und Schwächen. Verhaltensalternativen und Handlungsoptionen

werden gemeinsam erarbeitet.

4. Ablauf der Einzelintervision mit Sitzungsteilnahme

. Der Ablauf der Einzelintervision mit Sitzungsteilnahme soll wie

folgt gestaltet werden:

– Abstimmung eines Termins zur Vorbesprechung mit dem Intervisor/

der Intervisorin

– Vorbesprechung, die unter anderem dazu dient, die Kriterien darzu-

legen, anhand derer das Verhalten in der Sitzung beobachtet wird.

– Sitzungsteilnahme

– Zeitnahes Feedbackgespräch, ggf Verabredung einer weiteren Inter-

vision

5. Statistik / Erfahrungsaustausch

. Die Intervisoren führen eine Statistik über die Zahl der durchgeführ-

ten Beratungen, die sie dem Präsidenten des SG/ des LSG auf dessen

Anfrage vorlegen. Die Statistik enthält keine weiteren Daten.

. Einmal jährlich soll ein fachlich moderierter Erfahrungsaustausch

aller Intervisor_innen stattfinden. Dabei können auch interessierte

Richter_innen, die an einer kollegialen Beratung teilgenommen haben,

über ihre Erfahrungen mit der Intervision berichten. Gegenstand des

Erfahrungsaustausches sollen auch Verbesserungsmöglichkeiten für

das Konzept, der Fortbildungsbedarf, ggf auch der Bedarf an weiteren

Intervisor_innen sein. Der Erfahrungsaustausch wird von hierfür aus

der Gruppe der Intervisor_innen ausgewählten Richter_innen geplant

und organisiert. ;

Konzept für die Durchführung der kollegialen Beratung (Intervision) bei den Gerichten der niedersächsischen und bremischen Sozialgerichtsbarkeit

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Page 47: November 2011 10. Jahrgang 2.11 verdikt+file++52243a3a890e... · tet, und von Ingo Müller (S. 21), in dem aufge-zeigt wird, wie sehr die Europäische Menschen-rechtskonvention auch

1982/83 Anlass gegeben, ihn jedenfalls einmal

beim Namen zu nennen. Ich bekenne: Rinck

war mein Chef, als ich 1980 bis 1983 als Wissen-

schaftlicher Mitarbeiter in Karlsruhe war …,

und an die falsche Entscheidung des Senats

denke ich noch heute.

. Aber ob nun genannt, ob einigermaßen voll-

ständig gewürdigt oder nicht: So leben sie alle

auf, und mit ihnen die Rechtsprechung „ihrer“

Jahre, das Auf und Ab der Senate, das Verhält-

nis zwischen ihnen. Hier kann man vielleicht

sagen, dass Lamprecht die Konflikte zwischen

den Senaten eher etwas herunterspielt. Auch

diejenigen zwischen den z.T. doch sehr kon-

trären Persönlichkeiten in den Senaten. Aber

„Halt! Halt!“ (So wollte es Adolf Arndt Theo

Rasehorn im Vorwort zu dessen kritischem

Klassiker „Im Paragraphenturm“ zurufen, ehe er

dann sofort revozierte: Nein, der hat ja Recht!).

Auf Lamprecht und „Ich gehe bis nach Karls-

ruhe“ gemünzt soll das heißen: Nein, er be-

schreibt sie doch, die Risse, die durch das

Gericht und durch die Senate gehen. Besonders

krass und plastisch wird das bei der Schilderung

der Diskussion um die Vergangenheit der „Grau-

en Eminenz“ des Zweiten Senats, des Bundes-

richters Willi Geiger. Er war NS-Staatsanwalt

gewesen war und hatte zu Zeiten der Reichs-

kulturkammer eine ideologietriefende Disser-

tation über die Stellung des Schriftleiters ge-

schrieben. Von einem ehemals Verfolgten war

aus Israel die kritische Anfrage gekommen, ob

Geiger als Verfassungsrichter in der neuen De-

mokratie geeignet sei. Präsident Gebhard Müller

hatte eine beschönigende Antwort gegeben

hatte, die auch noch den Eindruck erwecken

konnte, Müller habe damit für „das Gericht“

oder gar für „die Richter“ gesprochen. Da fand

der Senatskollege Geller, wie Lamprecht uns in

Erinnerung ruft, nicht nur kritische Worte zu

Geiger. Sondern er kritisierte auch Müller, was

dessen behäbig-patriarchalisch-beschönigende,

die selbstverwaltete Struktur und die Geschäfts-

ordnung des Gerichts verkennende Antwort

verdikt 2.11 , Seite 47

. Ich habe, glaube ich, noch nie ein juristi-

sches Buch in einem Zuge durchgelesen. Das

hat sich jetzt geändert: Am vergangenen Sams-

tag kam spätvormittags per Post das Rezen-

sionsexemplar vom Verlag, kurz vor Mitternacht

war ich durch. Ist „Ich gehe bis nach Karlsruhe“

ein juristisches Buch? Ja, unbedingt! Oder sollte

es ein Hindernis für den juristischen Charakter

eines Buches sein, dass es flüssig und für jeder-

mann (und jede Frau) verständlich geschrieben

ist? Ein Volksbuch ist es, dem ich die allergrößte

Verbreitung wünsche. Gustav Radbruch, der mit

seinem Freund Hermann Heller zusammen so

viel von der Volkshochschule und vom Rechts-

kundeunterricht hielt, hätte seine Freude.

. Was fasziniert so an Rolf Lamprechts Ge-

burtstagsgeschenk für das Bundesverfassungs-

gericht zum 60.? Die verständliche Sprache

hatte ich schon gerühmt. Dazu trägt der lako-

nische Stil bei, manchmal unvollständige Sätze,

fast im Stakkato. Wie Uwe Wesel oder – im

rein Literarischen – Alfred Kerr.

. Aber das Entscheidende ist natürlich der

Inhalt. Lamprecht schafft es, die Materialfülle

von 60 Jahren BVerfG und 125 Bänden BVerfGE

zu bändigen. Er schafft das dank einer genialen

Struktur, die er dem Band gegeben hat: Er schil-

dert die Geschichte des Gerichts und seiner

Rechtsprechung, seine Stärken und (ja, auch!)

Schwächen, seinen Umgang mit den anderen

Staatsgewalten (früh geprägt im – siegreich be-

endeten – „Statusstreit“), indem er die gesam-

te Zeit in die durch die jeweiligen Präsidenten,

einschließlich der bisher einzigen Präsidentin

Jutta Limbach, geprägten (oder auch nicht

geprägten) Zeitabschnitte aufteilt.

. Dass ihm keiner mit dem Einwand komme:

Die Präsidenten oder die Präsidenten haben

doch nun bei den VerfassungsrichterInnen

überhaupt keine Macht; und schon deswegen

scheide eine Epocheneinteilung nach diesem

Muster aus! Richtig, sagt auch Lamprecht.

Aber der Erfolg gibt ihm Recht. So kommt hilf-

reiche Struktur in die Jahresmasse. Und warum

hätte z.B. eine – blasse und doch auch irgend-

wie zufällige – Einteilung nach Jahrzehnten

besser und hilfreicher sein sollen?

. So leben sie also wieder auf, die Höpker-

Aschoff, Wintrich, Müller, Benda (welch ein

Generationensprung zwischen diesen beiden

Christdemokraten und Vollblutpolitikern!),

Zeidler, und aus der frischeren Erinnerung,

wenn nicht der Gegenwart tauchen die Herzog,

Limbach, Papier, Voßkuhle auf. Voßkuhle ist

es wohl auch, der, das Haupt gebeugt, sich auf

dem Titelbild das Barett ab- (oder auf- ?) setzt.

Mit den Präsidenten treten auch die Vizepräsi-

denten (und jeweils Vorsitzenden des anderen

Senats) wieder ins Licht, freilich vom Autor –

nach Sympathie, nach Fleiß, nach verfassungs-

rechtlichen Verdiensten?) in deutlich unter-

schiedlicherem Umfang untereinander por-

trätiert als die Präsidenten, und erst recht im

Verhältnis zu diesen. Ist es da ein Nachteil, dass

viele der Richterinnen und Richter nur, wenn

überhaupt, im Verhältnis kurz erwähnt werden?

So lesen wir über die (sozialdemokratischen

oder jedenfalls auf dieses „Ticket“ gewählten)

Richter Grimm, Dieterich und Kühling und die

Richterin Seibert nur, sozusagen im Viererblock,

wie wichtig sie jeweils und alle zusammen für

die freiheitssichernde Rechtsprechung des

Gerichts (hier: des Ersten Senats) waren. Oder:

Über den alten Recken Hans-Justus Rinck, der

immerhin zunächst zehn Jahre (von 1956 bis

1966) Wissenschaftlicher Mitarbeiter (bei Ger-

hard Leibholz, wie dessen Senatskollege und

Vizepräsident Rudolf Katz aus der Emigration

zurückgekommen; über beide schreibt Lamp-

recht ausführlich, lebendig und treffend) und

dann 17 Jahre (von 1969 bis 1986) selbst Verfas-

sungsrichter war, ist gar nichts zu lesen.

Dabei hätte doch allein seine abweichende

Meinung zum allzu willigen Akzeptieren der

problematischen (um nicht zu sagen: verfas-

sungswidrigen) Bundestagsauflösung von

[ R E Z E N S I O N E N ]

Hans-Ernst Böttcher

Ich gehe bis nach Karlsruhe – Eine Geschichte des BundesverfassungsgerichtsRolf Lamprecht, Deutsche Verlags-Anstalt München 2011, 352 Seiten, 19,99 ¤, ISBN 978-3-421-04515-7

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Page 48: November 2011 10. Jahrgang 2.11 verdikt+file++52243a3a890e... · tet, und von Ingo Müller (S. 21), in dem aufge-zeigt wird, wie sehr die Europäische Menschen-rechtskonvention auch

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anging. Müller habe – so Geller – (natürlich)

nicht, ohne dass er einzelne oder das Plenum

konsultiert hatte für (die) Richter des Gerichts

sprechen können und schon gar nicht für ihn,

Geller, gesprochen.

. Vergangenheit und Gegenwart: Hätte bei

dem auf mehrere Stellen des Buches verteilten

Lob des Richters Hoffmann-Riem vielleicht kri-

tisch angemerkt (oder angefragt) werden sollen,

dass (ob nicht) die von ihm als Berichterstatter

geprägte, vordergründig grundrechtsfreundliche

und seiner Meinung nach freiheitsbewahrende

Rechtsprechung zur Meinungsfreiheit und zum

Versammlungsrecht der Alt- und Neonazis die-

se sich ins Fäustchen lachen lässt und die über-

zeugten Demokraten, die sich in den Städten

der Aufzüge der Rechtsradikalen (letztere dabei

unter massivem Polizeischutz!) erwehren müs-

sen, an der Austarierung des Rechtsstaats und

manchmal auch der Waage der Justitia zweifeln

lässt? Hier wird sich wohl noch erweisen, ob

Hoffmann-Riem wirklich, wie Lamprecht es

sieht, dem verfassungsrichterlichen Rang nach

in eine Reihe mit Konrad Hesse und Dieter

Grimm gehört.

. Aber was wäre das für ein Buch, wenn es

nicht (auch) Fragen hinterließe!

. Was ich mir noch gewünscht hätte: Gerade

weil das Buch Persönlichkeiten so stark heraus-

stellt, hätten einige Fotos dem Band gut ge-

tan. Dann hätten die so hingebungsvoll von

Lamprecht gezeichneten Portraits noch an

Anschauung gewonnen. Auch für die schon

klassisch gewordenen ironischen Worte vom

Gruppenbild mit Dame (als das ganze Gericht

noch nur ein einziges weibliches Mitglied auf-

zuweisen hatte) und Schneewittchensenat (als

es dann jedenfalls eine Dame pro Senat war)

hätte die – wie man heute sagt – Visualisierung

einen (weiteren) Vorteil geboten.

. Alles in allem: Eine Liebeserklärung des

Autors an das Gericht, das er verehrt und an

dem er leidet. Wie das bei einer großen Liebe

so ist: Sie ist unvollkommen. ;

. Für jemanden, der sich als Anwalt, Publizist

und Menschenrechtsaktivist der politischen

Prosa verschrieben hat und zu dessen treuesten

Lesern, über vier Jahrzehnte hinweg, die Inqui-

sitoren des Verfassungsschutzes gehören, ist

es eher ungewöhnlich, einen Lyrik-Band zu be-

sprechen. Und tatsächlich hat sich anlässlich

meiner Einführung in einen Leseabend mit dem

Autor Rudolph Bauer die taz darob zunächst ge-

wundert, sodann aber messerscharf geschlos-

sen, bei dem Band „Schutzschirmsprache. Po-

litische Lyrik und Cartoons“ könne es wohl

kaum um „gefühlige Belanglosigkeiten“ gehen,

sondern ich interessierte mich für „Schutz-

schirmsprache“ offenbar deshalb, „weil diese

eminent politisch ist“. Hier liegt die taz-Kritik

mit dem Titel „Verdichtete Weltsichten“ durch-

aus richtig.

. „Wann zuletzt ist in Deutschland ein Buch

mit politischen Gedichten und Cartoons er-

schienen?“ Diese Frage lesen wir in der Einlei-

tung des Buches, dessen Titelbild stark an die

deutsche Flagge erinnert – offenbar das Politi-

sche symbolisierend, aber kritisch gewendet

und sinnverkehrt, denn hier werden die Flag-

gen-Elemente kurioserweise rückwärts gelesen:

1 aus Ossietzky Heft 2 / 2011

gold-rot-schwarz … Dazu passt, allerdings

wieder in der richtigen Reihenfolge, Rudolph

Bauers Vers:

schwarzer balken

lastet gewitterwolkendunkelschwer

über dem rot brennender herzen

über dem licht wie pf irsichgold

. Und wir lesen weiter zu Beginn des Buches

– ein wenig martialisch – von einem „literari-

schen Minenfeld“, das der engagierte Bremer

Sozialwissenschaftler und Bildende Künstler als

Lyriker mit diesem Buch betrete; das mündet

dann in die Frage: „Kann und darf Lyrik heute

politisch sein?“ Ja, was denn sonst und warum

denn nicht? Wenn nicht heute, wann denn

dann – in Zeiten von Krieg und Terror, Folter

und Elend, Menschen- und Völkerrechtsverlet-

zungen, Finanzkrise und Bankenrettungsschir-

men, Armut und sozialer Kälte; in Zeiten von

ausufernder Überwachung und Kontrolle, von

Vorratsdatenspeicherung, GoogleStreetView

und Zensus 2011, aber auch in Zeiten von Stutt-

gart21- und Antiatomprotesten, neuen Protest-

bewegungen und Kampf für mehr Bürgerbe-

teiligung.

. Die Probleme und damit die Themen gehen

nicht aus und harren auch der künstlerischen,

der lyrischen und bildlichen Aufarbeitung und

Umsetzung – so durch Rudolph Bauer, der mit

seinen aufrüttelnden und aufklärenden, mitun-

ter pathetischen Versen nicht nur politische

Rolf GössnerA

Schutzschirmsprache. Politische Lyrik und CartoonsRudolph Bauer u. Lothar Bührmann, Sujet-Verlag (www.anares-buecher.de), 112 S., 36 Abb., 14,80 ¤

Cartoon: Lothar Bührmann

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1 Stella Polaris ist Justizkorrespondentin und berichtet für verdikt aus dem hohen Norden

Ansichten liefert, sondern auch neue Einsichten vermittelt und der so

mittels lyrischer Verdichtung zu einer Art Welterklärer wird. Und Lothar

Bührmann illustriert als kritischer Cartoonist die Bauer’schen Gedichte

kongenial und nicht selten in stilistischem Kontrast dazu – mit spitzer

Feder, wenigen Strichen und Symbolen: geradezu minimalistisch und

karg, dafür mit viel politgrafischer Ironie und Hintersinn.

. Zurück zur Einleitung des Buches, in der auch die bange Frage gestellt

wird: Handelt es sich bei politischer Lyrik „noch um Lyrik von literari-

schem Rang“? Ich denke, das kommt drauf an und ist wohl schwer zu

beantworten, weshalb ich die Beurteilung Berufeneren überlassen möch-

te. Sicher: Manche werden diese radikale Abkehr von alter Innerlichkeit,

Subjektivität und privater Verstörung beklagen und womöglich das

„Lyrische Ich“ vermissen, das hier einem imaginären „politischen Wir“

weichen mußte.

. „Lyrische Ergüsse“ und „deutsche Innerlichkeit“, so der Rezensent

Arn Strohmeyer, seien dem Autor Rudolph Bauer ebenso fremd wie

„dunkle und undurchlässige Sprachlabyrinthe und kryptische Wortge-

flechte, wie sie moderne Lyriker lieben“. Bauer schreibe politische Lyrik,

„unbotmäßige, aufsässige Verse sozusagen – und das mit einer äußerst

realistischen Sprache, die kein Blatt vor den Mund nimmt und dennoch

durchaus poetisch ist“. Wobei, so wäre zu ergänzen, sich mancher die-

ser Lyrikverse auch als Prosa lesen ließe, weshalb bereits der Streit ent-

brannte, ob es sich überhaupt um „Lyrik“ handele. Und so bezeichnen

Andere Bauers Politlyrik als drastisch und kompromisslos, gar als

„Flugblattagitation“, wie etwa die Kreiszeitung aus Syke: „Da kämpft

einer mit dem Säbel für eine bessere Welt.“ So unterschiedlich können

Rudolph Bauers Verse wahrgenommen werden.

Schutzschirmsprache

Die kredite sind notleidend

die banken sind notleidend

finanz- und realwirtschaft

sind notleidend

die regierenden spannen schirme

schutzschirme für die

die da notleidend sind

nicht aber für jene in Not

armut bekämpfen die herren

und erbittert die armen und ohne er folg

denn nicht fürs system

relevant sind die armen.“

;

. Am 11. Oktober 1987 starb der Schleswig-Holsteinische Ministerprä-

sident Uwe Barschel unter bis heute nicht geklärten Umständen in der

Badewanne seines Zimmers im Hotel Beau Rivage in Genf. Oder besser:

Dort wurde er tot aufgefunden.

. 2007, zum 20. Todestag, hatte der damals noch im Dienst stehende

Leitende Oberstaatsanwalt in Lübeck, Heinrich (genannt Heiner) Wille

– Zeit seines Berufslebens übrigens ötv- und bis heute ver.di-Kollege –

seine Sicht der Dinge zu diesem Fall und zu den Justizauseinanderset-

zungen in Schleswig-Holstein hierzu in einem Buch im Spiegel-Verlag

veröffentlichen wollen. Der damals amtierende Generalstaatsanwalt

Rex in Schleswig verbot ihm dies – mit unhaltbarer Begründung, wie

später verwaltungsgerichtlich festgestellt wurde. Aber da waren das

Jubiläum und das große Medieninteresse vorbei. Nun hat Wille das Werk

im Schweizer Rotpunktverlag veröffentlicht und erreicht über die Leser

hinaus bei Lesungen und in Talkshows durchaus (s)ein Publikum. Vom

„Spiegel” geblieben ist ihm dessen ehemaliger Chefredakteur Stefan

Aust als Vorwort-Autor.

Der „Fall Barschel“ - Was war da gelaufen und wie?. In Genf war, unter Leitung einer wohl ziemlich unerfahrenen Unter-

suchungsrichterin, am Anfang wahrscheinlich nicht gerade präzise und

zielstrebig ermittelt worden. In Deutschland ermittelte die für zuständig

bestimmte unter Willes Leitung stehende StA Lübeck dann lange und in

viele Richtungen, auch in Geheimdienst- und Waffenhändlermilieus, weil

Anhaltspunkte dafür vorhanden waren (u.a. aus DDR-Reisen Barschels

und aus beruflichen Netzen seines Bruders, ferner aus der mutmaßlichen

Anwesenheit von Personen aus den genannten Milieus in Genf rund um

den Zeitpunkt des Aufenthalts Barschels‘), dass man dort womöglich

den Schlüssel für eine Straftat und womöglich auch Spuren, Beweismittel

und womöglich auch den oder die Täter finden werde. Strafprozessual

lief das auf die Streitfrage hinaus, ob ab einem Zeitpunkt x in einer Er-

mittlungssache wegen eines Tötungsverdachts gegen Unbekannt noch

unter staatsanwaltlichen Kriterien eine weitere Pflicht zu Ermittlungen

besteht (bzw. ob sich solche jedenfalls noch rechtfertigen ließen) oder

ob hier schon die Grenze zu reinen Mutmaßungen, Spekulationen und

Ermittlungen ins Blaue hinein überschritten war (bzw. ob hier vielleicht

noch Recherchefelder für die „Dienste“ lagen, nicht aber für eine Staats-

anwaltschaft).

. Am Ende war Willes damaliger Dienstvorgesetzter (und Genosse aus

gemeinsamen ASJ-Zeiten) GenStA Prof. Dr. Heribert Ostendorf, der Wille

schon enger an die Leine der Dienstaufsicht genommen hatte, als es die-

sem lieb war (insbesondere hinsichtlich der Medienarbeit), der Meinung,

die Akten sollten geschlossen werden. Der Konflikt mit Wille brachte

den Generalstaatsanwalt, der sich von Justizminister Gerd Walter (eben-

falls SPD) nicht hinreichend gedeckt sah, im April 1997 zum „Rücktritt“

(richtiger: Er ließ die Ministerpräsidentin Heide Simonis wissen, es be-

stehe wohl nicht mehr das gebotene Vertrauensverhältnis zwischen ihm

Stella PolarisA

Heiner gegen den Rest der WeltHeinrich Wille: Ein Mord der keiner sein durfte

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. Daß nicht alles so uneben sei, was im Morgenlande geschieht, das

haben wir schon einmal gehört. Auch folgende Begebenheit soll sich

daselbst zutragen haben: Ein reicher Mann hatte eine beträchtliche

Geldsumme, welche in ein Tuch eingenähet war, aus Unvorsichtigkeit

verloren. Er machte daher seinen Verlust bekannt, und bot, wie man zu

thun pflegt, dem ehrlichen Finder eine Belohnung, und zwar von hundert

Thalern an. Da kam bald ein guter und ehrlicher Mann dahergegangen.

„Dein Geld habe ich gefunden. Dies wird’s wohl sein! So nimm dein Ei-

genthum zurück!“ So sprach er mit dem heiter’n Blick eines ehrlichen

Mannes und eines guten Gewissens, und das war schön. Der andere

machte auch ein fröhliches Gesicht, aber nur, weil er sein verloren ge-

schätztes Geld wieder hatte. Denn wie es um seine Ehrlichkeit aussah,

das wird sich bald zeigen. Er zählte das Geld, und dachte unterdessen

geschwinde nach, wie er den treuen Finder um seine versprochene Be-

lohnung bringen könnte. „Guter Freund,“ sprach er hierauf, „es waren

eigentlich 800 Tlr. in dem Tuch eingenähet. Ich finde aber nur noch 700 Tlr.

Ihr werdet also wohl eine Naht aufgetrennt und Eure 100 Tlr. Belohnung

verdikt 2.11 , Seite 50

und dem Minister). Der neue Generalstaatsanwalt Erhard Rex ließ Wille,

wenn auch mit strengerer Berichtspflicht, als er es zuvor je hingenommen

hatte, noch einige Zeit gewähren , dann stellte die Lübecker Behörde

schließlich im Juni 1998 das Ermittlungsverfahren ein. Die hierzu von

Heinrich Wille gezeichnete, im Buch abgedruckte Presseerklärung beginnt:

„Die Staatsanwaltschaft Lübeck hat heute das Ermittlungsverfahren we-

gen Verdachts des Mordes an Dr. Dr. Uwe Barschel entsprechend ihrer

bereits vorher angekündigten Absicht eingestellt. Maßgeblicher Grund

dafür ist, dass die vorhandenen Spuren abgearbeitet sind. Ermittlungs-

ansätze, die weitere Erkenntnisse über Tatablauf oder Tatverdächtige er-

bringen könnten, sind derzeit nicht mehr erkennbar. Nach wie vor liegen

zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für ein Kapitalverbrechen vor.

Daneben bleibt die Möglichkeit offen, dass es sich um Selbsttötung han-

deln kann.“ Und die Erklärung endet nach Würdigung der Beweisergebnis-

se, insbesondere der am Sterbeort gefundenen Spuren: „Eine abschließende

Interpretation, ob etwa ein Tatverdächtiger oder ein Sterbehelfer zugegen

war, ist nicht möglich.“

. Viel weiter ist man heute auch nicht. Das Neueste zu dem Fall – etwa

zeitgleich mit Erscheinen des Buches aufgekommen – ist, dass ein asser-

viertes Haar, das auf Barschels Bett gefunden worden war und von dem

jetzt eine DNA-Probe genommen werden sollte, auf dem Wege von der

StA Lübeck zum LKA in Kiel verschwunden ist – wenn es denn überhaupt

bei Absendung noch in dem verschlossenen Plastikbeutel war, in dem

es laut Akten sein sollte …

Die Weltsicht eines Oberstaatsanwalts. Das Buch des Lübecker „Chefermittlers“, wie er sich durchaus immer

gern nennen ließ, liest sich flott. Es schildert nicht nur das Barschel-Ver-

fahren, sondern auch Willes beruflichen und politischen Werdegang,

frühe Begegnungen mit dem jüngeren Barschel im überschaubaren

Schleswig-Holstein, später den Behördenalltag in der StA Lübeck und

den – von vielen als eigenwillig und medienorientiert angesehenen –

Leitungsstil des Autors (den er durchaus auch so schildert, dass man es

als Bestätigung dieser Wertung auffassen könnte), auch die Sicht Willes

auf andere spektakuläre und tragische Verfahren wie insbesondere das-

jenige um den ebenfalls bis heute unaufgeklärten Brand im Asylbewerber-

heim in der Lübecker Hafenstraße, bei dem 10 Bewohner starben und

mehr als 30, z.T. schwer verletzt wurden. Auch dieses Verfahren litt unter

Fehlern und Unterlassungen im frühesten Stadium der Ermittlungen, die

sich – eine alte Staatsanwalts- und Strafrichtererfahrung – nie wieder

einholen lassen; diesmal allerdings waren die Fehler in Lübeck gesche-

hen.

. Der Leser wundert sich gelegentlich, dass der Autor, der immer gern

den Mangel im Hause und die fehlende Unterstützung durch andere

(z.B. das Ministerium und die Behörde des Generalstaatsanwalts) beklagt,

sich nicht auch einmal fragt, ob die Ursachen – jedenfalls auch – im ei-

genen Hause liegen könnten. Der in Fragen der Behördenleitung und der

horizontalen und vertikalen Beziehungen zwischen Behörden Erfahrene

wird sich auch wundern, mit welcher Unbefangenheit (um nicht zu sagen:

Naivität oder Lust an der Provokation) Heinrich Wille mit einer Art ptole-

mäischem Weltbild an die Dinge herangeht und sich dann wundert, wenn

er (gelegentlich) aneckt. Anders gesagt: Er hat – seiner Darstellung nach

und wohl auch objektiv– noch ganz schön machen können, was er wollte.

Wobei er von anderen höchste Loyalität erwartete, die diese bei ihm – zu

Recht oder zu Unrecht – manchmal vermissten. Ganz erstaunlich: Mit

der Polizei und insbesondere ihrer Führung in Lübeck, die er in hohen

Tönen lobt, scheint er selten oder nie Schwierigkeiten und/oder Grund

zum Klagen gehabt zu haben.

Was bleibt?. Über die Frage, wo ein gewissenhafter Staatsanwalt und Behörden-

leiter noch Anlass für Ermittlungen zu sehen hat und wo nicht mehr, wird

man füglich streiten können, auch nach Lektüre dieser Fallstudie aus

der Sicht eines an leitender Stelle Beteiligten.

. Am interessantesten erscheint mir das Buch, wenn ich es sozusagen

als ethnologische Studie aus dem sozialdemokratischen Milieu in Schles-

wig-Holstein mit all seinen Facetten und Schattierungen betrachte, das

teils – ich möchte sagen, naturgemäß – im Konflikt, teils aber erstaun-

licherweise auch in Symbiose mit der vor 1988 und wieder seit 2005 regie-

renden CDU steht. Der Zufall hat es gewollt, dass ein in der Wolle gefärbter

Sozialdemokrat, jetzt fast Seite an Seite mit der Witwe Freya Barschel

(geb. von Bismarck) und dem Anwalt der Familie, um die Wahrheit im

Falle Barschel (oder um Publizität für „seinen“ Fall?) kämpft und sich

dabei mit fast all denjenigen zerstritten hat, mit denen er einst ange-

treten ist, um das zu beenden, was die CDU oder jedenfalls Teile von ihr

nach wie vor annehmen, dass nämlich der Staat (jedenfalls dieses Land

Schleswig-Holstein) eigentlich ihnen gehört (oder: anvertraut ist) und

dass es blanke Usurpation ist, wenn die SPD Regierungsmacht oder auch

nur Pluralität in der Justiz beansprucht.

Heinrich Wille: Ein Mord der keiner sein durfte, Rotpunktverlag Zürich

2011, 384 Seiten, 24.- ¤, ISBN 978-3-85869-462-1 ; ;

[ R E C H T L I T E R A R I S C H ]

Johann Peter Hebel

Der kluge Richter

verdikt 2.2011_1_c 27.10.2011 12:01 Uhr Seite 50

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verdikt 2.11 , Seite 51

Impressum

Herausgeberver.di

Landesbezirksverwaltung

Niedersachsen/Bremen

Goseriede 10

30159 Hannover

T 05 11..1 24 00-0

FachgruppenNiedersachsen/Bremen

Hamburg

Schleswig-Holstein/

Mecklenburg-Vorpommern

Berlin/Brandenburg

Bayern/Sachsen-Anhalt

Nordrhein-Westfalen

Hessen

Presserechtlich verantwortlichMartina Dierßen

[email protected]

RedaktionDr. Bernd Asbrock

Martin Bender

Hans-Ernst Böttcher

Uwe Boysen

Dr. Helmut Kramer

Klaus Thommes

[email protected]

http://verdikt.verdi.de

Art Direction/Layoutblock\m Büro für Gestaltung. Hannover

Produktionslayout und Druckakzent-druck gGmbH Hannover

Auflage 3.400 Stück

PapierRecyclingpapier aus 100% wiederaufberei-

teten und de-inkten Fasern

. Für diejenigen unter unseren Leserinnen

und Lesern, die sich mit der Zeitgeschichte des

Rechts und der Justiz befassen (und das sollen

ja nicht wenige sein), können wir gleich zwei

immer gute Adressen benennen, die sich zu-

dem vorzüglich ergänzen:

Unter www.forum-justizgeschichte.de finden

Sie u. a. zum Newsletter des Forums, von des-

sen diesjähriger Tagung wir den Beitrag von

Ingo Müller in diesem Heft abdrucken. Der

nächste Newsletter des Vereins erscheint vo-

raussichtlich im Dezember 2011.

. Helmut Kramer unterrichtet unter

www.justizgeschichte-aktuell.de über seine

zeitgeschichtlichen Forschungen und ge-

schichts- und rechtspolitischen Aktivitäten

und weit darüber hinaus. Hier finden Sie u.a.

auch ein detailliertes Schriftenverzeichnis

unseres Redaktionsmitgliedes, das manchen

[ R E C H T S - L I N K S ]

ungehobenen Schatz, auch aus unserer Vor-

gängerzeitschrift „ötv inder Rechtspflege“

(ötvR) enthält.

. Schon im vorigen Heft 1.11 hatten wir

(unter Hinweis auf die Website des Hambur-

ger Richtervereins) gesagt: „Warum nicht ein-

mal die Konkurrenz loben?“. Das setzen wir

fort:

. Die Mitgliederzeitschrift des Landesverban-

des Brandenburg des Deutschen Richterbun-

des erscheint jetzt – ganz modern – nur noch

elektronisch:

www.drb-brandenburg.de/Informationsblatt.Im „Info Extra 2011“ finden Sie dort auf S. 21 f.f

einen ausgezeichneten Aufsatz von Christoph

Clavée mit dem Titel „Mehr Autonomie wagen“,

der klar und dabei „basisnah“ gehalten ist.

HEB

schon herausgenommen haben. Da habt Ihr

wohl daran gethan. Ich danke Euch.“ Das war

nicht schön. Aber wir sind auch noch nicht am

Ende. Ehrlich währt am längsten und Unrecht

schlägt seinen eigenen Herrn. Der ehrliche Fin-

der, dem es weniger um die 100 Tlr. als um seine

unbescholtene Rechtschaffenheit zu thun war,

versicherte, daß er das Päcklein so gefunden

habe, wie er es bringe, und es so bringe, wie

er’s gefunden habe.

. Am Ende kamen sie vor den Richter. Beide

bestunden auch hier noch auf ihrer Behauptung,

der eine, daß 800 Tlr. seien eingenäht gewesen,

der andere, daß er von dem Gefundenen nichts

genommen und das Päcklein nicht versehrt ha-

be. Da war guter Rath theuer. Aber der kluge

Richter, der die Ehrlichkeit des einen und die

schlechte Gesinnung des andern zum voraus

zu kennen schien, griff die Sache so an: Er ließ

sich von beiden über das, was sie aussagten, ei-

ne feste und feierliche Versicherung geben, und

that hierauf folgenden Ausspruch: „Demnach,

und, wenn der eine von Euch 800 Tlr. verloren,

der andere aber nur ein Päcklein mit 700 Tlr. ge-

funden hat, so kann auch das Geld des Letzten

nicht das nämliche sein, auf welches der Erstere

ein Recht hat. Du, ehrlicher Freund, nimmst

also das Geld, welches du gefunden hast, wieder

zurück, und behältst es in guter Verwahrung,

bis der kommt, welcher nur 700 Tlr. verloren

hat. Und dir da weiß ich keinen Rath, als du

geduldest dich, bis derjenige sich meldet, der

deine 800 Tlr. findet.“ So sprach der Richter,

und dabei blieb es. ;

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10. Jahrgang

41113212933

45

November 2011

verdiktMitteilungen der Fachgruppen Richterinnen und Richter,Staatsanwältinnen und Staatsanwälte in ver.di

2.11

Kriegsjustiz durch die Hintertür§ 80 WDO muss nach wie vor abgeschafft werdenJustiz in Frankreich: Chronik einer vorhersehbaren KriseDie EMRK, nur ein einfaches Gesetz? – 60 Jahre Widerstand gegen die Nürnberger PrinzipienDer lange Marsch – oder: Neues von der UnabhängigkeitsbewegungBerlin und Brandenburg verabschieden neue Richtergesetze – Legen sie die Axt an dierichterliche Unabhängigkeit?Intervision in der Sozialgerichtsbarkeit – Konzept für die Durchführung der kollegialenBeratung bei den Gerichten der nds.-brem. Sozialgerichtsbarkeit