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10. Jahrgang
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45
November 2011
verdiktMitteilungen der Fachgruppen Richterinnen und Richter,Staatsanwältinnen und Staatsanwälte in ver.di
2.11
Kriegsjustiz durch die Hintertür§ 80 WDO muss nach wie vor abgeschafft werdenJustiz in Frankreich: Chronik einer vorhersehbaren KriseDie EMRK, nur ein einfaches Gesetz? – 60 Jahre Widerstand gegen die Nürnberger PrinzipienDer lange Marsch – oder: Neues von der UnabhängigkeitsbewegungBerlin und Brandenburg verabschieden neue Richtergesetze – Legen sie die Axt an dierichterliche Unabhängigkeit?Intervision in der Sozialgerichtsbarkeit – Konzept für die Durchführung der kollegialenBeratung bei den Gerichten der nds.-brem. Sozialgerichtsbarkeit
verdikt 2.11 , Seite 2
B R E N N P U N K T
I N T E R N AT I O N A L E S
I N E I G E N E R S A C H E
D I E M E I N U N G
R E C H T S P O L I T I K
R E C H T S P R E C H U N G
J U S T I Z P O L I T I S C H E S
A U S D E R J U S T I Z
R E Z E N S I O N E N
R E C H T L I T E R A R I S C H
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Editorial
Kriegsjustiz – früher und heuteKriegsjustiz durch die Hintertür | Helmut Kramer
„Bis zur Narbe“ – Eine Erzählung über ein Opfer der NS-Militärjustiz von Hans Hesse | Peter Kalmbach
§ 80 WDO muss nach wie vor abgeschafft werden | Bernd Asbrock
Justiz in Frankreich: Chronik einer vorhersehbaren Krise und einer Mobilisierung wie noch nie | Simone Gaboriau
Richterinnen des Obersten Gerichtshofs Kasachstan zu Besuch beim ver.di-Landesbezirk Nds./Bremen | Martina Dierßen
Martin Bender i. R. | Klaus Thommes
Aufstand der Präsidenten | Bernd Asbrock
Die EMRK, nur ein einfaches Gesetz? – 60 Jahre Widerstand gegen die Nürnberger Prinzipien | Ingo Müller
Meinungsaustausch im BMJ | Georg Schäfer
Wer wird Präsident? Das Urteil des BVerwG vom 04.11.2010 zum Konkurrentenstreit | Karl Otte
Missbrauch der Justiz – Ein Leitartikel | Christian Bommarius
So sieht eben bei uns Gewaltenteilung aus – Ein Leserbrief | Georg Schäfer
Der lange Marsch – oder: Neues von der Unabhängigkeitsbewegung | Hans-Ernst Böttcher
ver.di fordert: Selbstverwaltung der Justiz auch in Deutschland – Antrag zum ver.di Bundeskongress in Leipzig
Berlin und Brandenburg verabschieden neue Richtergesetze –
Legen sie die Axt an die richterliche Unabhängigkeit? | Percy MacLean
„ … der Entwurf ist keinesfalls verabschiedungsreif“ –
ver.di Stellungnahme zum Entwurf eines Mediationsgesetzes vom 15.05.2011
„Was gleicht wohl auf Erden dem Jägervergnügen …“ – Zur Jagd auf Stasi-Richter in Brandenburg |
Sabine Stachwitz
Länderbericht aus Hessen mit einer Vision für 2015 | Georg Schäfer
Gemeinsame Verbändeerklärung zum hess. IT-Konzept v. 09.05.2011ver.di beim nds. Justizminister Busemann | Karl Schulte
Überlegungen zur Änderung der R - Besoldungsstruktur – Kritische Thesen zum niedersächsischen
Stellenhebungskonzept | Michael Schwickert
Intervision in der Sozialgerichtsbarkeit | Lioba Huss
Konzept für die Durchführung der kollegialen Beratung (Intervision) bei den Gerichten der niedersächsischen und bremischen Sozialgerichtsbarkeit
Rolf Lamprecht – Ich gehe bis nach Karlsruhe –
Eine Geschichte des Bundesverfassungsgerichts | Hans-Ernst Böttcher
Rudolph Bauer u.Lothar Bührmann – Schutzschirmsprache. Politische Lyrik und Cartoons | Rolf Gössner
Heiner Wille – Heiner gegen den Rest der Welt – Ein Mord der keiner sein durfte | Stella Polaris
Der kluge Richter | Johann Peter Hebel
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verdikt 2.11 , Seite 3
[ E D I TO R I A L ]
Liebe Leserinnen und Leser,
. Manche mag das ermüden, manche mögen
das als zu rückwärts gewandt ansehen. Aber
der lange Schatten des Unrechts, das in jenen
Jahren geschah, reicht weit in die Bundesrepu-
blik hinein, auch wenn die Verantwortlichen
inzwischen fast alle tot sind und – theologisch
gesprochen – vor einem anderen Richter ge-
standen haben. Wie weit die Aktualität einer
solchen Rückschau geht, zeigen besonders
deutlich die Beiträge von Helmut Kramer (S. 4),
der eine Renaissance der Kriegsjustiz befürch-
tet, und von Ingo Müller (S. 21), in dem aufge-
zeigt wird, wie sehr die Europäische Menschen-
rechtskonvention auch mit der deutschen
Nazivergangenheit zu tun hat und wie sehr
sie – auch deshalb – von deutschen Juristen
(und das nicht nur in der Nachkriegszeit) ab-
gelehnt wurde (und wird), besonders klar er-
kennbar am Problem der Sicherungsverwah-
rung, das wir schon vor der bahnbrechenden
Entscheidung des BVerfG im letzten Heft
behandelt haben.
. Ein anderes Thema aus dem letzten Heft
greifen wir erneut auf: Es geht um die Entwick-
lungen in der französischen Justiz, die Simone
Gaborieau (S. 13) vorliegend einer vertiefenden
Analyse unterzieht. Auch wenn wir uns von
solchen Verhältnissen noch weit entfernt se-
hen, so sind Fragen wie diejenige nach dem
Richterbild und dem politischen Umfeld, in dem
wir agieren, auch für uns aktuell. Außerdem
scheint es mir so, als ob wir uns in manchen
Bereichen der ausgezehrten französischen
Justiz durchaus annähern, ein Faktum, das
uns Anlass zur Beunruhigung und zur Wach-
samkeit geben muss.
Uwe Boysen
für die Redaktion
verdikt hat es sich ebenso wie sein Vorläufer ‚ötv in der Rechtspflege‘ seit jeher zur Aufgabegemacht, die verheerenden Auswirkungen der deutschen Justiz in den Jahren zwischen 1933und 1945 zu thematisieren.
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. Kaum haben sich kurz vor der Bundestagswahl die Unionsparteien
und in ihrem Schlepptau SPD und FDP auf öffentlichen Druck dazu durch-
gerungen, ebenso wie die Linkspartei das Unrecht der Wehrmachtsjus-
tiz beim Namen zu nennen und die „Kriegsverräter“ zu rehabilitierenA,
wird der Versuch unternommen, wieder eine eigene Militärgerichtsbar-
keit einzuführen, oder, was im Ergebnis auf dasselbe hinausläuft, Sol-
daten Straffreiheit für leichtfertig angerichtete „Kollateralschäden“ zu
garantieren.
. Angesichts schlimmer Erfahrungen im Kaiserreich war die Militärjus-
tiz 1919 und, nach ihrer Wiedererrichtung durch die Nazis, im Jahre 1946
erneut abgeschafft worden. Der im Rahmen der Wiederaufrüstung der
Bundesrepublik 1956 ins Grundgesetz eingefügte Art. 96 hatte zwar die
theoretische Möglichkeit einer Wehrstrafgerichtsbarkeit eröffnet. We-
gen des zu erwartenden öffentlichen Widerstandes scheute man aber
schon die bloße Diskussion darüber. Dennoch machten sich bald nach
Gründung der Bundeswehr Juristen im Bundesjustiz- und Bundesver-
teidigungsministerium in aller Heimlichkeit an die Planung einer eigen-
ständigen Militärjustiz. In den Schubladen wurden bis zum Jahre 1975
fertig erarbeitete GesetzentwürfeB bereitgelegt, die für Deserteure und
andere Beschuldigte einen drastisch verkürzten Rechtsschutz vorsahen,
außerdem Eingriffsrechte des jeweils kommandierenden Generals als
„Gerichtsherr“ unseligen Angedenkens sowie die Aufstellung von Sonder-
einheiten, vergleichbar den Bewährungskompanien der Wehrmacht.
Ebenso vor der Öffentlichkeit verborgen, selbst unter Kollegen verheim-
licht, ließen sich die als künftige Militärrichter bereits vorgesehenen
Juristen nach Sardinien und Kreta fliegen, um dort in simulierten
Gerichtsverhandlungen mit Staatsanwälten, Richtern und Angeklagten
ihre künftige Tätigkeit einzuüben. Neben Schreibkräften hatten sie auch
Bücherkisten mit juristischen Kommentaren und Lexika in Polnisch,
Russisch und Tschechisch dabei, dazu Roben (mit dem „Tätigkeitsab-
zeichen“ einer vom Schwert gekreuzten Waage), unter denen der Kampf-
anzug getragen wurde. Als der Skandal durch eine „Panne“ (im Haus-
haltsplan der Bundesregierung von 1984 wurde ein verkappter PostenC
entdeckt) und durch das Buch „Kampfanzug unter der Robe“ von Ulrich
VultejusD ans Tageslicht kam, musste die Planung abgebrochen werden.
Strafrechtliche Privilegierung von Soldaten?. Dass die alte Forderung nach einer Sondergerichtsbarkeit fürs Mili-
tär heute wieder aufkommt, ist kein Zufall in einer Zeit, da in den be-
setzten Ländern zunehmend unbeteiligte Zivilisten Opfer von Bomben-
angriffen und anderen militärischen Exzessen werden. Diese Gefahr
hat im Zuge einer Waffenentwicklung zugenommen, die darauf gerich-
tet ist, die Zahl der eigenen Opfer zu minimieren und zugleich die des
Gegners zu maximieren. Seit sich im Rahmen der Entstehung eines
Völkerrechts ein differenziertes Bewusstsein für Recht und Unrecht im
Krieg entwickelt hat, darf es im Krieg keine rechtsfreien Räume geben.
In einem bewaffneten Konflikt hat die Bundeswehr die Strafgesetze und
das humanitäre Völkerrecht (die Genfer Konventionen) zu beachten.
Zugleich zeigt sich das Bestreben der militärischen Akteure, sich den
durch das Recht gesetzten Einschränkungen zu entziehen. Man möchte
der Gefahr einen Riegel vorschieben, dass militärisches Unrecht aufge-
klärt und gar von unbefangenen Juristen geprüft wird, das die Politik
lieber unter den Teppich gekehrt sehen möchte. Der Bundeswehrver-
band unter dem Vorsitz von Oberst Ulrich Kirsch beklagte die „Rechts-
unsicherheit“ der Soldaten und forderte für sie „einen ganz anderen
Rechtsstatus“. Und unverhohlen rief der frühere Verteidigungsminister
Franz Josef Jung mit der plumpen Forderung, „Soldaten sollten nicht mit
staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen konfrontiert werden“, nach einer
Justiz mit bloßer Feigenblattfunktion, denn, so Jung weiter, ein Straf-
verfahren gegen Oberst Georg Klein mit dem Ziel der Aufklärung des
Massakers bei Kundus hätte „katastrophale Folgen“ für die Bundeswehr.
. Wenn die Militärbürokraten in der Politik „Rechtssicherheit“ und
„Handlungssicherheit“ verlangen, geht es ihnen unmißverständlich um
die Ausstellung eines Freibriefs. In der Debatte über die grausame Ver-
folgung von Deserteuren, „Wehrkraftzersetzern“ und „Kriegsverrätern“
durch die Wehrmachtsjustiz zwecks Aufrechterhaltung der „Mannes-
zucht“ beschäftigten sich die Medien und selbst die meisten Historiker
nur am Rande mit einer anderen wichtigen, völkerrechtlich auch wäh-
rend des Zweiten Weltkriegs unbestrittenen Funktion einer Militärjus-
tiz: der Aufgabe, militärische Übergriffe gegen die Zivilbevölkerung
okkupierter Länder zu legitimieren.
. Nach dem von hohen Militärjuristen der NS-Zeit formulierten „Bar-
barossa“-Kriegsgerichtsbarkeitserlass sollte sich die Wehrmachtsjustiz
einfach gar nicht um solche Übergriffe kümmern. Diese Abstinenz der
Wehrmachtsjustiz war eine wesentliche Voraussetzung für den millio-
nenfachen Massenmord an der jüdischen und übrigen Zivilbevölkerung
in Polen und der Sowjetunion sowie für die Ausrottung ganzer Dörfer
auch in Griechenland und Italien. Gewiß darf man den NS-Vernichtungs-
krieg nicht mit den „humanitären“ Militärinterventionen von heute
vergleichen. Wie wir aber nicht nur am Beispiel der vielen von US-Militärs
in Vietnam an Zivilisten verübten Massakern wissen, besteht die allzu
oft von der Justiz gedeckte Anfälligkeit von Soldaten für Gewaltexzesse
unabhängig von ideologischen VoreinstellungenE.
[ B R E N N P U N K T : K R I E G S J U S T I Z – F R Ü H E R U N D H E U T E ]
Helmut Kramer
Kriegsjustiz durch die Hintertür
1 zu dem durch das Gesetz vom 08.09.2009 beendeten Konflikt um die Aufhebung der Todes-
urteile gegen die sog. Kriegsverräter, vgl. Helmut Kramer: Der Streit um die Kriegsverräter.
Geschichtsfälschung im Dienst der Politik, in: Blätter für deutsche und internationale Politik,
Heft 3/2009, S. 109 – 119.
2 darunter eine Wehrstrafgerichtsordnung, die spätestens im Kriegsfall, dann gegebenenfalls
durch das Notparlament nach Artikel 53 a, 115 e Grundgesetz, verabschiedet werden sollte.
3 Erst auf Nachfrage eines Bundestagsabgeordneten ergab sich, dass es sich um Kosten für den
Ersatz von durch Mottenfraß beschädigte Roben handelte.
4 vgl. Ulrich Vultejus: Kampfanzug unter der Robe. Kriegsgerichtsbarkeit des Dritten Weltkriegs.
Hamburg 1984, S. 7 – 44.
5 vgl. Sönke Neitzel und Harald Welzer: Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben,
Frankfurt 2011
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verdikt 2.11 , Seite 5
pelten örtlichen zentralen gerichtlichen Zuständigkeiten. Ein Gesetz-
entwurfH sieht dazu eine Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes
(§ 143 GVG) und der Strafprozessordnung (Einfügung eines § 11 a StPO)
vor. Nach der jetzigen Rechtslage ist für nach im Auslandseinsatz be-
gangenen Taten von Soldaten die für den inländischen Einheitsstandort
zuständige Staatsanwaltschaft bzw. das Gericht am Standort zuständig.
Waren mehrere Soldaten mit verschiedenen Stammeinheiten beteiligt,
bestimmte die Staatsanwaltschaft Potsdam die zuständige Staatsan-
waltschaft. Begründet wird die nun angestrebte Zuständigkeit einer
einzigen Staatsanwaltschaft u. a. mit der Möglichkeit von Kompetenz-
konflikten bei Beteiligung mehrerer verschiedenen Heimatkasernen
zugehöriger Soldaten. Hier hat es jedoch, wie bei vielen anderen Straf-
verfahren mit mehreren Beteiligten, schon bisher keine Schwierigkeiten
gegeben. Nach Maßgabe, wer in erster Linie als Täter in Frage kommt –
z. B. der den Einsatzbefehl erteilende Offizier – wurde die Staatsan-
waltschaft dann durch die als erste Anlaufstelle fungierende Staatsan-
waltschaft Potsdam bestimmtI. So wurde für die strafrechtlichen Er-
mittlungen wegen der Bombardierung der Tanklastzüge bei Kundus
anfangs die Staatsanwaltschaft Dresden zuständig. Dresden ist näm-
lich der Sitz der Stammeinheit des Oberst Georg Klein.
. Umso mehr erfordern die anderen zugunsten einer einzigen Zustän-
digkeit ins Feld geführten Argumente besondere Aufmerksamkeit. Dis-
kussionswürdig erscheint auf den ersten Blick der Spezialisierungseffekt.
Verwiesen wird auf das Erfordernis „besonderer Kenntnisse, etwa zu den
rechtlichen und konkreten Rahmenbedingungen“ der Auslandseinsätze,
insbesondere Kenntnisse der „konkreten militärischen Abläufe“. In der
Tat hat man mit Rücksicht auf das Spezialisierungserfordernis schon
. Viele heutige Juristen würden sich wohl eine generelle Anweisung
zur Niederschlagung von Verfahren wegen Ausschreitungen gegen die
Zivilbevölkerung verbitten. Die historische Willfährigkeit der Wehr-
machtsrichter lenkt jedoch den Blick auf Gefahren, in denen jede eigens
für den Militärbereich eingerichtete Sondergerichtsbarkeit und auch
jede auf Militärsachen spezialisierte Staatsanwaltschaft steht: dass
nämlich der rechtliche Opferschutz vernachlässigt wird und Übergriffe
gegen die Zivilbevölkerung ungeahndet bleiben. …
. Solange die Tötung von Zivilisten und andere in Afghanistan ange-
richtete „Kollateralschäden“ im Halbdunkel blieben, war das Bedürfnis
nach einem rechtsfreien Raum für Soldaten und Offiziere wenig aktuell.
Das änderte sich mit der Bombardierung der beiden Tanklastzüge bei
Kundus am 4. September 2009. Damit wurde erstmals einer breiten
Öffentlichkeit bewusst, dass Zivilisten als Kriegsopfer des Schutzes
durch die Justiz bedürfen. …
Militärjustiz durch die Hintertür. Was nach den Erfahrungen der Bundeswehr bis vor kurzem noch als
Tabu galt, wird jetzt vom Bundeswehrverband mit Nachdruck gefordert:
die Wiedereinrichtung einer Militärjustiz. Denn es könne nicht sein,
dass einem Soldaten wegen ziviler Opfer in Afghanistan der Prozess
gemacht werdeF. Nach der Erschießung eines afghanischen Jugendlichen
im Jahre 2006 dachte man sogar an eine „Militärgerichtsbarkeit mit
Staatsanwälten, die mit in den Einsatz entsandt werden“G, sozusagen
eine embedded justice.
. Angesichts der Vergangenheit der deutschen Militärjustiz werden
solche frommen Wünsche nach einer förmlichen Rückkehr zu einer
Militärjustiz mit fest in die militärischen Strukturen eingebundenem
Personal zwar nicht alsbald durchsetzbar sein. Doch sind längst Lösun-
gen im Gespräch, die darauf hinauslaufen, dass sich mit der weniger
rechtlich als politisch heiklen Materie nur „zuverlässige“ Juristen be-
schäftigen. Man will eine Justizpraxis erreichen, die sicherstellt, dass
die Auslandsaktivitäten der Bundeswehr vom Recht möglichst unge-
stört bleiben. Der Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung sah die
Einrichtung einer „zentralen Zuständigkeit der Justiz“ für Bundeswehr-
strafsachen vor. Die früheren Pläne für eine mit ausgewählten Richtern
mit einer eigenen Laufbahn besetzte Sondergerichtsbarkeit für Bundes-
wehrsachen hat man zwar nicht wieder aufgegriffen. Die rechtlichen
und verfassungsrechtlichen Voraussetzungen wären nicht herzustellen
gewesen. Stattdessen favorisiert das Bundesjustizministerium nun die
Einrichtung einer „Schwerpunktstaatsanwaltschaft“ mit daran gekop-
Verhandlung vor einem Kriegsgericht –
von einem Zuschauer heimlich über die Schulter
aufgenommen, Foto: Privatbesitz
6 Tageszeitung v. 12.09.2009
7 vgl. Per Kornelius, in: Süddeutsche Zeitung vom 21.07.09.
8 Referentenentwurf des Bundesjustizministerium vom 28.04.2010
9 Die Staatsanwaltschaft Potsdam ist dem Einsatzführungskommando der Bundeswehr
benachbart.
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gigkeit gilt nämlich nur für Richter, nicht für Staatsanwälte. Die Vor-
stellung, die Staatsanwaltschaft sei „die objektivste Behörde der Welt“AD,
entspricht einem frommen Wunsch. Mit der Verdichtung des Verbin-
dungsstranges zu den vorgesetzten Behörden erhält das Weisungsrecht
der Exekutive, von dem die meisten Staatsanwälte im konkreten Fall
nur hinter vorgehaltener Hand sprechen, eine noch größere Bedeutung.
Gerade weil Staatsanwälte und Justizminister von ihrem Weisungsrecht
nur selten ausdrücklich Gebrauch machen und sich, selbst bei ausdrück-
licher Bitte eines Staatsanwaltes um Klarstellung, nur selten dazu be-
kennen, gewinnt das insgeheime Hineinreden in Entscheidungen der
Staatsanwaltschaft an Wirksamkeit. So gern die Objektivität von Ent-
scheidungen der Staatsanwaltschaften suggeriert wird, zeigt gerade
das strafrechtlich sanktionierte Verbot der Erwähnung erteilter Weisun-
genAE, wie unverzichtbar Machtpolitikern das Weisungsrecht ist. Nur
selten und auch dann nur, wenn sich die Weisungsgeber ausnahms-
weise öffentlich in die Defensive gedrängt sehen, bekennen sich Vor-
gesetzte zu ihrer Einmischung und räumen ein, dass es ihnen dabei
nicht um korrekte Rechtsanwendung geht, sondern um „das Kräfte-
verhältnis der politischen Strategien, Erwünschtheiten (und) Verträg-
lichkeiten“AF.
. In diesem Sinne lässt der in der Begründung des Gesetzentwurfs
enthaltene Hinweis auf die angeblich von der Spezialisierung erhoffte
„Verbesserung der Entscheidungsqualität“ aufhorchen. Wenn Juristen
sich überwiegend nur mit einem einzigen Rechtsbereich befassen, gar
in enger Tuchfühlung mit dem Dienstherren der Beschuldigten, kann
das eher zu einer Blickverengung durch Betriebsblindheit führen. Auch
erleichtert eine solche Verfahrenskonzentration die zentrale Steuerung
sämtlicher Verfahren eines politisch sensiblen Bereichs. So hat die Kon-
zentration der Staatsschutzverfahren während des Kalten Krieges auf
wenige Gerichte dazu geführt, dass die Justiz jahrelang voll den an sie
gestellten Verhaltenserwartungen entsprach. Dementsprechend hatte
der damalige Vertreter des Bundesjustizministeriums Ministerialrat
Hans Rotberg die Konzentration der Staatsschutzsachen in der Zeit des
Kalten Krieges auf wenige Staatsanwaltschaften und Gerichte damit
begründet, dass dadurch die Rechtsprechung in diesem „Sonderbereich
besonders zuverlässig“ wurde. Auch könnten die damit befassten Ju-
risten so „bei einer besonders sachkundigen Stelle“ Erfahrungen sam-
meln, um (...) „bessere Maßstäbe“ zu gewinnen. Schließlich sei es auf
diese Weise möglich, „besonders hochwertige Richter für die Aufgabe
zu finden, die nicht jedem liege“AG. Nicht anders würde eine Verfah-
renskonzentration im Bereich der genannten Bundeswehrsachen den
zu einigen wenigen anderen Strafrechtsbereichen Schwerpunktstaats-
anwaltschaften eingerichtet, bislang jedoch nur auf Länderebene, auch
nur für Wirtschafts- und Korruptionsdelikte und für die Bearbeitung von
NS-Gewaltverbrechen. Eine Konzentration auch dieser Verfahren in den
Händen einer einzelnen Staatsanwaltschaft mit entsprechender zentra-
ler Gerichtszuständigkeit ist angesichts der begrenzten Gesetzgebungs-
kompetenz des Bundes bislang aber nicht einmal erwogen worden.
Aber auch bei den Bundeswehrsachen würde ein solcher Eingriff in die
föderale Struktur der Bundeswehr voraussetzen, dass der „Eingriff zur
Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen
Interesse erforderlich“ istAJ. Entsprechende massive verfassungsrecht-
liche Bedenken gegen die beabsichtigte Gesetzesänderungen haben
deshalb der Deutsche RichterbundAA, die Neue RichtervereinigungAB und
der Deutsche AnwaltvereinAC geäußert. Wenn sich trotzdem die 81. Kon-
ferenz der Justizministerinnen und Justizminister vom 23./24. Juni 2010
für die Einrichtung einer „zentralen Zuständigkeit“ für die genannten
Bundeswehrsachen ausgesprochen hat, werden dafür eher militärpoli-
tische Erwägungen den Ausschlag gegeben haben.
. Im Zusammenhang mit der durch eine Verfahrenskonzentration er-
möglichten besonderen Sachkunde wird auf die durch die Neuregelung
erreichte „zügige Erledigung“ der Strafverfahren verwiesen. Damit wer-
de die mit jedem schwebenden Verfahren verbundene psychologische
Belastung der betroffenen Soldaten verkürzt – ein Argument, das aber
nicht minder für viele andere in verantwortungsvollen und psychisch
angespannten Berufen stehende Bürger gilt. An die Einrichtung von
Schwerpunktstaatsanwaltschaften für Verfahren z. B. gegen Ärzte, Bus-
fahrer, Lokomotivführer, Politiker und ähnlich vor psychischen Belastun-
gen zu bewahrenden Bürger hat aber noch niemand ernsthaft gedacht.
Überdies wäre eine einzige für alle diese Bundeswehrsachen zuständige
Staatsanwaltschaft einer einzigen Landesjustizverwaltung untergeord-
net. Wenn sich der Referentenentwurf gerade für Leipzig (Bundesland
Sachsen) und nicht für Potsdam (Brandenburg) entschieden hat, ist das
nur auf den ersten Blick unverfänglich. Die Gesetzesbegründung ver-
weist darauf, dass Leipzig Sitz des Bundesverwaltungsgerichts ist, auch
des 5. Strafsenats des BGH und der diesem Senat zugeordneten Dienst-
stelle des Generalbundesanwalts.
Die unsichtbare Hand des Weisungsrechts der Exekutive. Die Zusammenziehung aller Auslandsmilitärstrafsachen bei einer
einzigen Behörde bringt Gefahren mit sich, die nicht übersehen werden
dürfen. Der verfassungsrechtliche Grundsatz der richterlichen Unabhän-
10 vgl. Art. 72 Abs. 1 und 2, Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG
11 vgl. Stellungnahme des DRiB Nr. 15/10, Mai 2010
12 http: //www.nrv-net (03.06.2010)
13 vgl. Stellungnahme des DAV Nr. 122/2010, April 2010
14 Staatsanwälte, die sich auf diesen von Franz von Liszt. (Deutsche Juristenzeitung 1901, S. 180)
geprägten Spruch berufen, übersehen, dass von Liszt damit gerade auf die Verfehltheit dieser
Funktionsbeschreibung der Staatsanwaltschaft aufmerksam machen wollte, mit Hinweis auf
den noch heute gültigen § 147 GVG: “Die Beamten der Staatsanwaltschaft sind verpflichtet,
den dienstlichen Anweisungen ihrer Vorgesetzten nachzukommen”.
15 § 353 b StGB: Verletzung des Dienstgeheimnisses
16 so der Münchener Generalstaatsanwalt Hermann Froschauer vor dem Untersuchungsaus-
schuss des Bayerischen Landtages, zitiert nach Winfried Meier, in: Betrifft Justiz 2003, S. 8.
17 nach Alexander von Brünnek: Politische Justiz gegen Kommunisten in der Bundesrepublik
Deutschland 1949 – 1968, Frankfurt 1978, S. 225.
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Zugriff der dann in der Hand eines einzigen Justizministeriums liegen-
den Exekutive auf die einzelnen Verfahren begünstigen und zugleich
die Besetzung der entsprechenden Behörde mit solchen Staatsanwäl-
ten erleichtern, die das erwünschte System von Verfahrenserledigung
bejahen.
Garantierter Täterschutz bei perfekter Schutzlosigkeit der Opfer. Wie sehr den Militärpolitikern an einer vom Recht ungestörten Durch-
führung von Militäraktionen liegt, haben zwei Disziplinarverfahren
gezeigt: Die Verfahren gegen den Major Florian Pfaff und den Oberst-
leutnant Jürgen Rose. Florian Pfaff hatte die Beteiligung an dem völker-
rechtswidrigen Irak-Krieg verweigert und war deshalb unter Degradie-
rung zum Hauptmann und letztlich sogar mit dem Ziel der Entlassung
aus der Bundeswehr disziplinarisch gemaßregelt worden. Jürgen Rose
hatte in einem Zeitschriftenartikel die Unterstützung des Angriffskrieges
gegen den Irak-Krieg als völker- und verfassungswidrig kritisiert. Wäh-
rend das in der Berufungsinstanz mit dem Fall Florian Pfaff befasste
Bundesverwaltungsgericht die Befehlsverweigerung Pfaffs als rechtmäßig
ansah und die Disziplinarmaßnahmen aufhobAH, endete das Disziplinar-
verfahren gegen Jürgen Rose in beiden Instanzen des Truppendienstge-
richts mit einer Bestätigung der gegen ihn verhängten Disziplinarbuße
von 750,00 ¤ AI. Zwischen beiden Verfahren gibt es allerdings einen
bemerkenswerten Unterschied: Während die Richter des Bundesver-
waltungsgerichts der allgemeinen Gerichtsbarkeit zugehören, sind die
Truppendienstgerichte als Sondergerichtsbarkeit fest in die Organisati-
onsstruktur der Bundeswehr eingebunden. Gegen ihre Entscheidungen
gibt es keine weiteren Rechtsmittel, auch nicht zum BVerwG. So be-
leuchtet der unterschiedliche Ausgang der beiden inhaltlich ähnlichen
Verfahren die Gefahren einer Verfahrensspezialisierung auf Bundes-
wehrsachen. …
. Jede auf angeblich besondere militärische Erfordernisse zugeschnit-
tene Justiz ist in der Gefahr, unter ausdrücklicher oder insgeheimer
Berufung auf außerrechtliche Werte wie „Handlungssicherheit“, Auf-
rechterhaltung der „Kampfkraft der Truppe“ oder allgemein „Funktions-
fähigkeit der Bundeswehr“ fragwürdige Militäraktionen juristisch
abzuschirmen. Das beweist auch außerhalb der deutschen Militärjustiz-
geschichte von 1933 – 1945 die Justizgeschichte aller Länder, von den
Landesverratsprozessen gegen Pazifisten in der Weimarer RepublikBJ
bis zu der weitgehenden Niederschlagung der Verfahren gegen die im
Vietnam-Krieg an den Massakern von My Lai und anderen Massenmor-
den in Vietnam beteiligten MilitärsBA.
. Das Interesse der Politik an einer willfährigen Staatsanwaltschaft
geht noch über das Interesse an der personellen Besetzung der Gerichte
hinaus: Gegen gerichtliche Entscheidungen gibt es vielfältige Rechts-
mittel. Von der vorgesetzten Behörde angeordnete oder mitgetragene
Verfahrenseinstellungen durch die Staatsanwaltschaft sind aber prak-
tisch unanfechtbarBB.
. Während die von den Militärs so vehement geforderte „Rechtssicher-
heit“ für die Soldaten schon jetzt nichts zu wünschen übrig lässt, hat
das Bedürfnis an einem effektiven rechtlichen Opferschutz heute stark
zugenommen. In einer Zeit, in der die distanzgerichtete moderne Waffen-
technik die Gefährdung der eigenen Soldaten stark verringert hat, werden
immer mehr Opfer unter der Zivilbevölkerung in Kauf genommenBC.
. Leider ist der Funktionswandel der Militärjustiz unter den Bedingun-
gen moderner Kriegsführung von den Verantwortlichen bislang nicht
zur Kenntnis genommen worden. Der verbesserte Eigenschutz der Sol-
daten hat mit der dadurch verringerten Versuchung zu einer „Flucht
vor dem Feind“ die Aufgabe, die „Kampfmoral“ durch Strafandrohungen
zu sichern, hinter der Aufgabe zurücktreten lassen, das zum Schutz der
Zivilbevölkerung geschaffene Kriegsvölkerrecht durchzusetzen. Bedauer-
licherweise ist in dem Gesetzentwurf des Bundesjustizministeriums
und in den rechtspolitischen Forderungen der Militärpolitiker von einem
zu verbessernden OpferschutzBD nicht die RedeBE. Anstatt das Völkerstraf-
recht weiter aufzuweichen, sollten die Möglichkeiten des auf Straftaten
gewöhnlicher Art zugeschnitten Klageerzwingungsverfahrens (§ 172 StPO)
in Bezug auf Kriegsverbrechen, überhaupt auf Massenverbrechen, aus-
gedehnt werden, ebenso wie der Gesetzgeber durch den Erlass des Völ-
kerstrafgesetzbuchs gemeint hat, den Besonderheiten des Krieges
Rechnung tragen zu müssen.
. Die Konzentration politisch heikler Strafverfahren auf eine einzige
Behörde ist auch in personalpolitischer Hinsicht nicht unbedenklich.
Die hohe Kunst, mittels rechtsmethodologischer Kunstgriffe unter
stillschweigender Berücksichtigung „militärischer Notwendigkeiten“
höheren Orts unerwünschte Strafverfahren geräuschlos zu Ende zu
bringen, kann bei einer Spezialisierung auf Strafverfahren in politisch
heiklen Strafrechtsbereichen besonders perfekt eingeübt werden. Um-
gekehrt werden ihr Tun selbstkritisch reflektierende Juristen, die sich
nicht im Sinne bestimmter Verhaltenserwartungen instrumentieren
lassen, gar das Völkerrecht ernst nehmen, es in einer solchen in die
Militärpolitik integrierten Behörde nicht leicht haben. Schon jetzt wer-
18 vgl. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 21.06.2005, NJW 2006, S. 77 – 108; Jürgen Rose:
Ernstfall Angriffskrieg. Frieden schaffen mit aller Gewalt?, Hannover 2009, S. 132 – 142.
19 vgl. Jürgen Rose, ebd., S. 142 – 148.
20 vgl. Ingo Müller, Landesverratsprozesse und Beleidigungsverfahren gegen Pazifisten in der
Weimarer Republik, in: Helmut Kramer und Wolfram Wette: Recht ist, was den Waffen nützt.
Justiz und Pazifismus im 20. Jahrhundert, Berlin 2004, S. 143 – 159.
21 vgl. Bernd Greiner: Krieg ohne Fronten. Die USA in Vietnam, Hamburg 2007, S. 439 – 510.
22 das der durch eine Straftat verletzten Person zustehende Recht auf ein Klageerzwingungs-
verfahren (§ 172 StPO) ist an so viele Kautelen geknüpft, dass es nur äußerst selten zu einer
Anklageerhebung führt.
23 nach dem Jahresbericht 2010 der Menschenrechtsorganisation „Afghanistan Rights Monitor“
(ARM) waren im Jahre 2010 mindestens 2.124 Ziviltote (also täglich 6 – 7) zu beklagen, wovon
63 % auf Kosten des afghanischen Widerstandes gehen, während 21 % den Besatzungstruppen
zugerechnet werden. In den zehn Jahren des Krieges am Hindukusch sind in den Reihen der
Besatzungstruppen etwa 2.300 Soldaten, davon 49 Bundeswehrsoldaten gefallen.
24 der strafrechtlichen Schutzlosigkeit der Zivilbevölkerung entspricht die faktische Aberkennung
von Entschädigungsansprüchen im Zivilrecht. Völkerrechtswissenschaftler haben für Kriegs-
opfer ein Ausnahmerecht geschaffen, das ihnen Entschädigungsansprüche nur auf dem Pa-
pier gewährt. Vgl. Helmut Kramer: Entschädigung der Opfer würde den Krieg verteuern, in:
Die Opfer der Kriege. Sonderheft Ossietzky. Zweiwochenschrift für Politik/Kultur/Wirtschaft,
hg. von Eckart Spoo u. a. Januar 2007, S. 16 – 18.
25 die Militärjuristin Karen-Birgit Sprung, in: Brauchen wir in Deutschland eine Militärjustiz?
Baden-Baden 2008, lässt diesen Aspekt völlig unbeachtet.
verdikt 2.2011_1_c 27.10.2011 12:00 Uhr Seite 7
verdikt 2.11 , Seite 8
den gesetzestreue, standhaft bleibende Staats-
anwälte zurückgepfiffen, um den Politikern
wirtschaftlich oder sonst nahestehende Straf-
täter vor Strafe zu schützen. Gegebenenfalls
werden sie auf einen anderen Posten versetzt,
wie dies dem Staatsanwalt Winfried Maier wäh-
rend des von ihm geführten Verfahrens der
Staatsanwaltschaft Augsburg gegen den Waf-
fenhändler Karlheinz Schreiber, Max Strauß,
Ex-Staatssekretär Holger Pfahls und zwei
Thyssen-Manager widerfuhrBF.
Der juristische Umgang mit dem Massakerbei Kundus in Afghanistan . Aus der Sicht derjenigen Militärpolitiker, die
sich eine Justiz wünschen, die noch so fragwür-
dige Militäraktionen unkritisch absegnet, hat
leider schon die vorhandene Organisations-
struktur der Justiz kaum zu wünschen übrig
gelassen. Das zeigt gerade der Fall, der das
Rechtsgewissen und die juristische Redlichkeit
besonders hätte herausfordern müssen: das
auf Befehl des Oberst Georg Klein angerichtete
Blutbad bei Kundus in Afghanistan. Hier ermög-
lichte ein den meisten Bundesbürgern unbe-
kanntes Gesetz, das erst im Jahre 2002 in Kraft
getretene Völkerstrafgesetzbuch (VStGB), der-
artige Verfahren von vornherein auf eine solche
Ebene zu hieven, wo die Rücksichtnahme auf
„Bündnisverpflichtungen“ und andere militär-
politische Belange sichergestellt ist. Deshalb
hat die Staatsanwaltschaft Dresden, nach wo-
chenlangem Zögern, ob sie für das Massaker
bei Kundus überhaupt ein Aktenzeichen ver-
geben sollte oder nicht, das Verfahren gegen
Oberst Klein an den Generalbundesanwalt
(GBA) in Karlsruhe abgegeben. Dieser ist bei
Verdacht eines Verstoßes gegen das Völkerstraf-
recht im Rahmen eines bewaffneten Konflikts
an erster Stelle zuständigBG.
. Inzwischen hat der GBA das Verfahren gegen
Oberst Klein eingestelltBH, mit der Begründung,
die Bombardierung der Tanklastzüge verstoße
weder gegen nationales noch internationales
Recht und erfülle auch nicht den Verdacht ver-
botener Methoden der Kriegsführung. Man sei
zu der Einschätzung gelangt, dass Oberst Klein
„nach Ausschöpfung aller Erkenntnismöglich-
keiten“ davon ausgehen durfte, dass sich zur
fraglichen Zeit keine Zivilisten am Einsatzort
befanden. Allerdings hat der GBA sich einer
Überprüfung auf juristische Korrektheit der
Entscheidung dadurch entzogen, dass er das
zugrundeliegende Tatsachenmaterial in Über-
einstimmung mit dem Bundesverteidigungs-
ministerium als Verschlusssache geheim hält. …
Freibrief zum Töten. Wer sich ein vollständiges Bild von einer
„Militärjustiz durch die Hintertür“ machen will,
muss, bevor er Schuldzuweisungen trifft, das
komplizierte Gesamtgefüge der an der Straf-
verfolgung beteiligten Institutionen und ge-
setzlichen Normen in den Blick nehmen. Die
Politiker, die an vom Recht unbehelligter Durch-
führung von Angriffskriegen und anderen dem
Völkerrecht zuwiderlaufenden Militäraktionen
interessiert sind, haben auf vielen Ebenen und
Stufen wirksame Sicherungen eingebaut, die
eine effektive Verfolgung von Kriegsverbrechen
nahezu unmöglich machen.
. Der Versuch, die juristische Überprüfung
von Kriegsverbrechen zu vereiteln, beginnt oft
noch bevor sich Polizei oder Justiz mit dem Tat-
geschehen befassen können: mit der faktischen
Beseitigung oder Veränderung der Spuren, so
wie dies im Fall Kundus geschehen ist. In an-
deren Fällen gibt es verfälschte Sachberichte
und andere Mittel der Desinformation.
. Gewissermaßen am oberen Ende der juris-
tischen Stufenleiter lassen sich Völkerrechts-
wissenschaftler und andere Juristen im Dienst
der Militärpolitik instrumentalisieren, indem
sie Hilfestellung bei einer täterfreundlichen
Normierung des Völkerrechts leisten. Ein ein-
drucksvolles Beispiel für eine Juristenkunst, die
auf den ersten Blick eine rigorose Verfolgung
von Kriegsverbrechen verspricht, bei näherem
Besehen aber Kriegsverbrecher effektiv vor
Strafe schützt, ist das von den Massenmedien
hoch gelobte Völkerstrafgesetzbuch (VStGB).
Seine Paragraphen haben das bislang für alle
Bürger ohne Privilegierung einer Berufsgruppe
geltende allgemeine Strafrecht als Spezialnorm
weitgehend verdrängt. Von den Massenmedien
als großer Rechtsfortschritt gerühmt, scheint
es eine scharfe Waffe gegen Kriegsverbrechen
zu sein, vor allem wegen seiner hohen Straf-
drohungen bis zur lebenslangen Freiheitsstrafe.
Bei näherem Besehen knüpft es eine Verurtei-
lung wegen der Tötung von unbeteiligten Zivil-
personen an eine Fülle von Voraussetzungen,
die die Verantwortlichen selbst bei grob fahr-
lässig angerichteten Massentötungen straffrei
lassen.
. Der Ausgang des Ermittlungsverfahrens
gegen Oberst Klein ist ein Paradebeispiel für
die Wirkungslosigkeit des Kriegsvölkerstraf-
rechts. Nach § 11 Abs. 1 Nr. 1 VStGB muss der
Angriff „gegen die Zivilbevölkerung als solche“
gerichtet sein. Nach § 11 Abs. 1 Nr. 3 muss der
Täter „als sicher erwarten, dass der Angriff die
Tötung oder Verletzung von Zivilpersonen (...)
verursachen wird“. Danach genügt es nicht,
dass der Soldat bei dem Waffeneinsatz mit
dem Tod vieler Zivilisten gerechnet hat. Selbst
wenn sich ihm das Vorhandensein und die
Folge der Tötung vieler Zivilisten aufdrängen
müssen, handelt er nach § 11 Abs. 1 Nr. 3 VStGB
auch bei gröbster Fahrlässigkeit nicht rechts-
widrig. Es reicht nicht einmal aus, dass er sich
sagt, auch das sollte mir recht sein. Und auch
dann setzt er sich einer Bestrafung nur dann
aus, wenn „die Tötung oder Verletzung von
Zivilpersonen ‚außer Verhältnis zu dem insge-
samt erwarteten konkreten und unmittelbaren
militärischen Vorteil’ stehen würde“.
. Ebenso gut hätte der Gesetzgeber des VStGB
sagen können: „Den Soldaten, der eine größere
Menschenmenge bombardiert, ohne zu wissen,
wer sich darunter befindet, trifft keine straf-
rechtliche Schuld.“ Mit diesem auf die Konfe-
renz vieler Staaten in Kampala zurückgehenden
Gesetzbuch hat man einen Freibrief für die An-
richtung von „Kollateralschäden“ jedweder Art
ausgestellt.
26 vgl. Winfried Maier, BJ Nr. 73 S. 8 und Michael Stiller, a.a.O.
S. 10-12; weitere Fälle solcher Eingriffe von hoher Hand insbe-
sondere in Strafverfahren wegen verbotener Waffengeschäfte,
Großbetrügereien von Wirtschaftskriminellen, Steuerstrafverfah-
ren und dergleichen bei Helmut Kramer, in: „Rechtsstaat“, in:
Gabriele Gillen und Walter van Rossum (Hg.): Schwarzbuch
Deutschland. Das Handbuch der vermissten Informationen,
Reinbek 2009, S. 477 – 482, 631 – 633.
27 vgl. §§ 143 Abs. 1, 120 Abs. 1 Nr. 8 GVG.
28 Bescheid des Generalbundesanwalts v. 19.04.2010 in: 8/10,
http // www.generalbundesanwalt (05.06.2010); vgl. auch FAZ
v. 17.04.2010, s.a. die IALANA-Stellungnahme in verdikt 1.10 S. 16
verdikt 2.2011_1_c 27.10.2011 12:00 Uhr Seite 8
. Die Erzählung „Bis zur Narbe“ des in Bremen geborenen Historikers
Hans Hesse ist ein vielseitiges und gelungenes Buch, das die Hinmor-
dung des Studenten Kurt Elvers im Februar 1945 sowie die sich anschlie-
ßenden Gegebenheiten bis in die Gegenwart thematisiert und dabei
Wissenschaft und Literatur verbindet, ohne dass diese aber verschwim-
men und sich dadurch wechselseitig entwerten würden.
. Kurt Elvers hatte sich nach einer Verwundung als Soldat der Wehr-
macht an der Nordischen Kunsthochschule in Bremen eingeschrieben.
Nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 wurde er
aufgrund einer darauf bezogenen Äußerung von einem Kommilitonen
denunziert und im August 1944 verhaftet. Elvers gehörte als freigestellter
Soldat dem sog. Beurlaubtenstand an und unterstand somit – zumindest
grundsätzlich – der Gerichtsbarkeit der Wehrmacht. Die Wehrmachtjus-
tiz, im Januar 1934 als eigenständiger Justizzweig entstanden, hatte ihr
Gefüge just ab diesem Zeitraum zugunsten einer stärkeren Kooperation
Unabhängige oder gesteuerte Justiz. Welch großen Wert die Zweite Gewalt auf
eine willfährige Dritte Gewalt gerade in Bundes-
wehrsachen legt, ist am Beispiel der für Diszi-
plinarverfahren gegen Soldaten zuständigen
Wehrdienstsenate des BVerwG offenkundig
geworden. Wenn – wie es im Fall des Massakers
bei Kundus hätte geschehen müssen – die
Dienstaufsicht nicht darum herumkommt, ein
Disziplinarverfahren einzuleiten, etwa wegen
Missachtung der ISAF-Regeln, wird in letzter
Instanz einer der beiden Leipziger Senate damit
befaßt werden.
. Nach dem Grundgesetz sind Richter unab-
hängig und nicht an Weisungen gebunden.
Doch gerade im Fall der Leipziger Wehrdienst-
senate ist die richterliche Unabhängigkeit in
Frage gestellt. Eine auf den ersten Blick unauf-
fällige, aber eindeutig verfassungswidrige Vor-
schrift (§ 80 II der Wehrdisziplinarordnung)
ermöglicht es nämlich, diese Senate mit der
Bundesregierung genehmen Juristen zu beset-
zen: Das Präsidium des BVerwG darf die Wehr-
dienstsenate nur mit solchen Richtern besetzen,
die das Bundesjustizministerium speziell für
diese Aufgabe bestimmt hat.
. Als würde dieser Eingriff in die Unabhängig-
keit nicht genügen, hat nach einer in keinem
Gesetzblatt stehenden Vereinbarung zwischen
Justiz- und Verteidigungsministerium vom
. Auch dafür, dass Ermittlungsverfahren we-
gen Kriegsverbrechen einer „verlässlichen“ Stel-
le, nämlich der dem Bundesjustizministerium
untergeordneten GBA, vorbehalten bleiben, hat
der Gesetzgeber Vorsorge getroffen. Nach § 120
Abs. 1 Nr. 8 GVG sind für Straftaten nach dem
Völkerstrafgesetzbuch nicht die sonst für Tö-
tungsdelikte zuständigen Landgerichte, son-
dern allein die Oberlandesgerichte zuständig.
Und nach § 142 a GVG übt der GBA in den zur
Zuständigkeit von Oberlandesgerichten im
ersten Rechtszug gehörenden Strafsachen das
Amt der Staatsanwaltschaft auch bei diesen
Gerichten aus. In der Tat ist für die Anhänger
einer „Kriegsjustiz durch die Hintertür“ die
Bearbeitung durch die GBA die optimale Rege-
lung: Sie untersteht dem Bundesjustizminis-
terium, das wiederum im ständigen Kontakt
mit dem Verteidigungsressort steht. Auch von
der Personalauswahl her können diejenigen,
die militärpolitisch heikle Verfahren handver-
lesenen Juristen anvertraut sehen möchten,
zufrieden sein: Die Bundesanwaltschaft ist
mit vom Bundesjustizministerium ernannten
Juristen besetzt, die absolute Loyalität gegen-
über der Bundesregierung garantieren. Damit
kann die erwünschte Steuerung der Recht-
sprechung eher noch besser erreicht werden
als mit einer Sondergerichtsbarkeit für die
Bundeswehr.
verdikt 2.11 , Seite 9
Peter Kalmbach | Rechtsanwalt in Bremen
„Bis zur Narbe“ – Eine Erzählung über einOpfer der NS-Militärjustiz von Hans Hesse
21. Oktober 1970 das Verteidigungsministerium,
also eine Prozesspartei, das Recht, die Richter
für die Wehrdienstsenate mit auszusuchen.
Diese Senate sollen als Werkzeug des Ministe-
riums dienen – das hat im September 2009 der
damalige Minister Franz Josef Jung bewiesen.
Kaum war die Möglichkeit eines Disziplinar-
verfahrens gegen Oberst Klein, den Verant-
wortlichen des Bombardements bei Kundus,
an den Horizont gerückt, lehnte Jung einen
bereits vom Präsidium des BVerwG in den für
Klein zuständigen Senat gewählten Richter
ab, dem der Makel anhaftete, nie in der Bun-
deswehr gedient zu haben: einen veritablen
Wehrdienstverweigerer. Man verständigte sich
dann auf einen anderen, dem Verteidigungs-
ministerium genehmen Juristen. Inzwischen
haben die Präsidenten des BVerwG und aller
Oberverwaltungsgerichte einhellig protestiert
und die Streichung des § 80 II der Wehrdiszipli-
narordnung gefordert (dazu auch der Beitrag
von Asbrock auf S. 11 in diesem Heft).
Hinweis der Redaktion:Gekürzte Fassung eines Beitrags aus dem
Sammelband „Mit reinem Gewissen – Wehr-
machtrichter in der Bundesrepublik und ihre
Opfer“, hrsg. von Joachim Perels u. Wolfram
Wette im Aufbau Verlag. Das Buch im Okto-
ber 2011 erschienen. ;
verdikt 2.2011_1_c 27.10.2011 12:00 Uhr Seite 9
verdikt 2.11 , Seite 10
die Stationen des weiteren Geschehens wieder, wobei Hesse, basierend
auf gesichteten Ermittlungs- und Entnazifizierungsakten, weitere Be-
teiligte zu Wort kommen lässt. Die Gruppe der Täter ist weitläufig:
Denunzianten, Zeugen, ein Gerichtsoffizier, Angehörige des Kriegsge-
richts sowie ein Militärjurist stellen sich nach dem Zusammenbruch
des „Dritten Reiches“ auf die Seite der Ahnungslosen. Angesprochen
auf die gerichtlich angeordnete Tötung Elvers’ fällt kein Wort der Reue.
Hingegen greifen übliche Erklärungsmuster Platz: Erinnerungslücken,
die Berufung auf Dienstpflichten und auf angebliche Kriegsnotwendig-
keiten sowie die Beteuerung, man selbst habe doch stets das Beste ge-
wollt, nur nicht gekonnt. Der öffentliche Kläger der Entnazifizierungs-
behörde bedauert das Schicksal des Jungen, offenbart indes auch die
um sich greifende Bürokratisierung und Ausdünnung des Verfahrens
sowie den bald nach der Befreiung einsetzenden Interessenverlust an
der Aufarbeitung des Terrorregimes. Zwar ereilt den Hauptdenunzian-
ten eine Verurteilung zu Arbeitslager, durch Rechtsmittel und Verzöge-
rungen kann er sich der Gerechtigkeit jedoch entziehen und kommt
schließlich in den Genuss der in der beginnenden Adenauer-Ära um
sich greifenden Amnestien.
. Im zweiten – dokumentarischen – Teil greift Hesse insbesondere den
nach Kriegsende folgenden Abschnitt der Geschichte auf und skizziert
noch einmal anschaulich die sich über Jahre hinziehende Justizposse, die
den Tätern Schutz gewährt, während die Eltern des Ermordeten erleben,
wie alle Anstrengungen, die an der Verurteilung des Sohnes Beteiligten
zur Rechenschaft zu ziehen, ergebnislos enden.
. „Bis zur Narbe“ ist ein ausgesprochen gelungenes literarisch-wissen-
schaftliches Erinnerungswerk über einen von 20.000 bis 30.000 durch
die Wehrmachtjustiz zum Tode Verurteilten und Hingerichteten. Die
eindrucksvolle Mischung von Fakten und fiktiven Elementen lässt die
Brutalität des NS-Justizsystems und die funktionierende Einheit von
Denunzianten und Ausführenden, die beide dem Regime nützen, in be-
klemmender Weise deutlich werden. Rechtsgeschichtliche Vorkenntnis
erfordert „Bis zur Narbe“ nicht und richtet sich so an einen weitläufigen
Leserkreis. Es scheint gut geeignet – auch auszugsweise – Verwendung
in gymnasialen Oberstufenkursen zu finden. Für die NS-Justiz-Forschung
ist das Buch eine Bereicherung und beleuchtet besonders eindrucksvoll
die menschlichen Seiten auf Opfer- wie auf Täterseite. Wie makaber der
jahrzehntelange Umgang in der Bundesrepublik mit Opfern und Tätern
war, lässt Hesse in den letzten Zeilen dann noch einmal deutlich werden:
Die fünf am Kriegsgericht Verden tätig gewesenen Wehrmachtjuristen
fanden alle nach 1945 wieder Verwendung als Richter.
Hans Hesse: Bis zur Narbe, Eine Erzählung, Bremen 2011,
herausgegeben von der Hochschule für Künste Bremen, 228 Seiten. ;
mit dem SS-Apparat und dem Reichsjustizministerium sowie einer noch
radikaleren Spruchpraxis verändert. So war es die Gestapo, die zunächst
die Ermittlungen gegen Elvers durchführte und ihre Ergebnisse an die
Juristen der Wehrmacht lieferte. Die Elvers vorgeworfene Bemerkung,
ein geglücktes Attentat auf den Diktator hätte zur Beendigung des Krie-
ges geführt, galt als „Zersetzung der Wehrkraft“. Hinzu kamen weitere
im Vorhinein gefallene Sätze, die Kritik gegenüber der NS-Herrschaft
erkennen ließen. Die Normierung der Wehrkraftzersetzung war mit Kriegs-
beginn in Kraft getreten und legte die Todesstrafe bei jeder Handlung
oder Äußerung fest, die vom NS-System als kritisch bewertet wurde.A
Gemäß eines „Führer-Befehls“ hatte die Militärgerichtsbarkeit nun-
mehr – ab September 1944 – vom Reichsjustizministerium eine Erlaub-
nis einzuholen, ob sie selbst ein solches Verfahren durchführen dürfe
oder ob dies vor einem – zivilen – Sondergericht zu geschehen habe.B
Im Oktober 1944 wurde schließlich der Prozess vor dem Kriegsgericht
der Division Nr. 180 in Verden/Aller geführt und Elvers durch mehrere Zeu-
gen schwer belastet. Die Eruption der Gewaltbereitschaft seitens des
im Todeskampf befindlichen Regimes und seiner Justizinstitutionen
riss den jungen Kurt Elvers in den Abgrund: Das Urteil lautete auf die
Regelstrafe – Tod.
. Mit der Füsilierung des Verurteilten beginnt der erste Teil der Erzäh-
lung. Aus der Verknüpfung einer Anleitung für Gerichtsoffiziere zwecks
Durchführungen von Erschießungen sowie Auszügen aus den Tagebü-
chern Ernst Jüngers, der einer Exekution beiwohnte, rekonstruiert Hesse
die letzten Augenblicke Kurt Elvers’. Die Ausführungen Jüngers, die im
Original einen beinahe obszönen Ton anschlagen, lesen sich hier, ver-
bunden mit dem mitleidslosen Hinrichtungsleitfaden, derart klar, dass
sich das erschreckende Ende des denunzierten Studenten vor dem geis-
tigen Auge des Lesers wie ein schriftliches Denkmal abzeichnet. Die
folgenden Abschnitte dieses – literarisch geprägten – ersten Teils geben
Gedenktafel am Hinrichtungsplatz Hamburg-Höltigbaum
Quelle: Hans Hesse
1 Vgl. Verordnung über das Sonderstrafrecht im Kriege und bei besonderem Einsatz, RGBl. 1939 I,
S. 1455.
2 Vgl. dazu Führer-Erlass vom 20.9.1944 betr. Verfolgung politischer Straftaten, abgedruckt bei:
Martin Moll, „Führer-Erlasse“ 1939-1945, Stuttgart 1997, S. 458.
verdikt 2.2011_1_c 27.10.2011 12:00 Uhr Seite 10
verdikt 2.11 , Seite 11
. Wir erinnern uns – 2 Jahre ist es her, dass
es hieß: „ver.di-Richter decken Eingriff in die
Unabhängigkeit der Justiz auf!“
. Mit Schreiben vom 29. September 2009 bat
der ver.di-Bundesvorsitzende Frank Bsirske
den damaligen Bundesverteidigungsminister
Franz-Josef Jung um Stellungnahme zu einem
kaum glaublichen Vorgang. Der Bundesfach-
ausschuss Richterinnen und Richter, Staats-
anwältinnen und Staatsanwälte in ver.di hatte
in Erfahrung gebracht, dass das Verteidigungs-
ministerium im Mai 2009 erfolgreich der Zu-
weisung eines „ungedienten“ Richters zum
Wehrdienstsenat des BVerwG widersprochen
hatte.
. Normalerweise ist es das verfassungsrecht-
lich garantierte Recht eines jeden Gerichts,
die Geschäftsverteilung und die Besetzung
der Spruchkammern in voller Unabhängigkeit
selbst zu regeln. Deshalb ist es höchst bedenk-
lich, wenn § 80 Abs. 2 der Wehrdisziplinarord-
nung (WDO) festlegt, dass „bei den Wehrdienst-
senaten … nur Richter mitwirken (dürfen), die
vom Bundesministerium der Justiz hierfür
bestimmt sind“. Damit nicht genug: Darüber
hinaus existiert ein bis dahin nicht bekanntes
Ressortabkommen aus dem Jahr 1970 zwischen
dem BMJ und dem BMVg, wonach der Verteidi-
gungsminister zu beteiligen ist und dieser – wie
im konkreten Fall des ungedienten Richters
durch den Minister Jung geschehen – sein Veto
gegen die Zuteilung des Bundesrichters zum
Wehrdienstsenat einlegen kann.
. Die ver.di-Richterinnen und -richter mach-
ten deutlich, dass sie in dieser Vorgehensweise
einen ungeheuerlichen Eingriff des Bundesver-
teidigungsministers als Teil der Exekutive in
die verfassungsrechtlich garantierte Unabhän-
gigkeit des BVerwG sehen. In der Konsequenz
hat das Ministerium – dazu noch als Prozess-
partei! – direkten Einfluss auf die Besetzung
des 2. Wehrdienstsenats genommen.
. In dem verdi – Schreiben, von dem eine
Durchschrift an die SPD-Bundesjustizministe-
rin Brigitte Zypries und an die Präsidentin des
BVerwG geschickt wurde, heißt es u.a.:
. Gemäß § 80 Abs. 2 der Wehrdisziplinarord-
nung (WDO) dürfen „bei den Wehrdienstsenaten
... nur Richter mitwirken, die vom Bundesminis-
terium der Justiz hierfür bestimmt sind“; diese
„Bestimmung bei der Übertragung des Richter-
amtes wird beim Bundesverwaltungsgericht
getroffen“. Entsprechend legte die Präsidialver-
waltung des BVerwG vor ca. 2 Monaten den
Beschluss des Gerichtspräsidiums über die
erfolgte Zuteilung des neu gewählten Bundes-
richters Dr. W. zum 2. Wehrdienstsenat zwecks
Vornahme der förmlichen „Bestimmung“ dem
Bundesjustizministerium vor. Dieses teilte Ihrem
Hause mit, es werde nun die in § 80 Abs. 2 WDO
vorgesehene förmliche „Bestimmung“ des neu
gewählten Bundesrichters Dr. W. – in Überein-
stimmung mit dem Gerichtspräsidium – vor-
nehmen. Entsprechend einem „geheimen“, uns
im Einzelnen nicht bekannten, Ressortabkom-
men aus dem Jahre 1969/1970 wurde hierzu Ihr
Einvernehmen erbeten. Daraufhin teilten Sie
dem Bundesjustizministerium mit, Sie würden
gegen die vorgesehene Zuweisung des neu ge-
wählten Bundesrichters Dr. W. Ihr Veto einlegen.
Als Begründung sollen Sie angegeben haben, der
neu gewählte Bundesrichter Dr. W. habe „in der
Bundeswehr nicht gedient“ und dürfe deshalb in
einem Wehrdienstsenat keine richterlichen Auf-
gaben und Pflichten wahrnehmen.
. … Der ohnehin verfassungsrechtlich äußerst
umstrittene § 80 Abs. 2 WDO sieht ein Mitwir-
kungs- oder Veto-Recht des Bundesverteidigungs-
ministers gegen die vom Präsidium vorgenom-
mene Geschäftsverteilung des BVerwG nicht vor.
Die gerichtsinterne Geschäftsverteilung, welche
die Zuweisung der Sachgebiete sowie die der
Richterinnen und Richter an die einzelnen Senate
umfasst, steht allein dem Präsidium des BVerwG
zu. Nur so kann die im Grundgesetz gewährleistete
richterliche Unabhängigkeit von der Exekutive
gewährleistet werden.
. Die Wehrdienstsenate des BVerwG entscheiden
bekanntlich letztinstanzlich nach der Wehrdiszi-
plinarordnung in den Disziplinarverfahren ge-
gen Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr.
Andererseits haben sie auch erst- und letztin-
stanzlich nach der Wehrbeschwerdeordnung in
den Beschwerdeverfahren der Soldatinnen und
Soldaten gegen Maßnahmen oder Entscheidun-
gen des Bundesverteidigungsministers, der In-
spekteure des Heeres, der Luftwaffe und der
Marine zu befinden. In beiden Bereichen ist es
somit Aufgabe der Wehrdienstsenate, Entschei-
dungen aus dem Ressortbereich des Bundesver-
teidigungsministeriums gerichtlich zu überprüfen.
Umso gravierender erscheint … ein „Übergriff“
des Bundesministers der Verteidigung auf die
„Richterbank“. … wo kommen wir hin, wenn
Bundesminister darüber entscheiden, vor wel-
chen Richtern sie gerne Angelegenheiten aus
ihrem Ressortbereich entschieden sehen wollen?
Das Vertrauen der Rechtsschutzsuchenden und
der Öffentlichkeit in die Unabhängigkeit des
angerufenen Gerichts könnte schwerwiegenden
Schaden nehmen.
. … Seine besondere Brisanz erhält der von uns
angesprochene Vorgang angesichts der aktuellen
Kontroverse um den von einem Oberst der Bun-
deswehr veranlassten militärischen Luftangriff
in Afghanistan auf den bei Kundus stecken
gebliebenen und zuvor offenbar entführten
Tanklastzug, in dessen Verlauf eine Vielzahl von
Personen, möglicherweise auch Zivilpersonen,
getötet wurden. An diesem Beispiel lässt sich die
Tragweite des Zugriffs Ihres Hauses verdeutlichen.
In prozessrechtlicher Hinsicht könnte die Einfluss-
nahme auf die Zusammensetzung der Richter-
bank in den Wehrdienstsenaten gravierende
Folgen haben. Der 2. Wehrdienstsenat wäre für
ein etwaiges gerichtliches Disziplinarverfahren
gegen den Bundeswehroberst oder andere Ver-
antwortliche letztinstanzlich zuständig. Der 1.
Wehrdienstsenat hätte über etwaige Beschwer-
deverfahren gegen zuständige Bundeswehr-Vor-
gesetzte (z.B.Einsatzführungskommando) oder
gegen Sie als obersten Dienstvorgesetzten zu
entscheiden. Konsequenz wäre, dass die Verfah-
rensbeteiligten in jedem einzelnen Verfahren mit
Erfolg geltend machen könnten, die Richterbank
sei aufgrund dieses Eingriffs in die gerichtliche
Unabhängigkeit fehlerhaft besetzt …
. Darüber hinaus ist die grundsätzliche Frage
aufgeworfen, inwieweit die gegenwärtige Rege-
lung des § 80 Abs. 2 WDO nicht ohnehin verfas-
sungsrechtlich verfehlt – wenn nicht sogar ver-
fassungswidrig - ist (vgl. u.a. Brunn in: Betrifft
Bernd Asbrock
§ 80 WDO muss nach wie vor abgeschafft werdenEine Zwischenbilanz
verdikt 2.2011_1_c 27.10.2011 12:00 Uhr Seite 11
. Wegen der in Berlin laufenden Koalitionsver-
handlungen richtete ver.di unter dem 14.10.2009
entsprechende Schreiben an den CDU-Bundes-
innenminister Wolfgang Schäuble und an die
stv. Vorsitzende der FDP-Fraktion im Deutschen
Bundestag Frau Leutheusser-Schnarrenberger,
jeweils mit dem Appell, im Rahmen der Koaliti-
onsverhandlungen ihren Einfluss geltend zu
machen, um die anachronistische, in höchstem
Maße fragwürdige Regelung abzuschaffen.
. Während es nicht überraschte, dass der da-
mals noch amtierende Bundesverteidigungs-
minister Jung in seinem Antwortschreiben an
ver.di vom 24.10.2009 die Vorwürfe zurückwies
und versicherte, in Übereinstimmung mit dem
BMJ laufe „das geltende Verfahren … auf gesetz-
lich einwandfreier Grundlage“ ab, konnte man
doch nach dem Regierungswechsel in Berlin
zuversichtlich sein, dass die neue Bundesjus-
tizministerin Leutheusser-Schnarrenberger
initiativ werden würde, hatte sie doch noch
als MdB und rechtspolitische Sprecherin der
FDP-Fraktion in ihrem Antwortschreiben an
ver.di vom 26.10.2009 die Bedenken gegen-
über der Regelung des § 80 Abs. 2 Wehrdiszipli-
narordnung geteilt und versprochen, sich „in
der neuen Wahlperiode für eine entsprechende
Änderung der Wehrdisziplinarordnung einzu-
setzen“.
. Daraus wurde allerdings bislang nichts.
Ein zwischenzeitlich im Januar 2010 vorgeleg-
ter Gesetzentwurf der Fraktion DIE LINKE mit
dem Ziel, § 80 Abs. 2 WDO zu streichen (Drs.
17/572), fand keine Mehrheit.
Mit Beschluss vom 20.01.2011, dem sich der
Rechtsausschuss anschloss, empfahl der feder-
führende Verteidigungsausschuss mit den
verdikt 2.11 , Seite 12
Justiz 2005, S. 32 ff mit weiteren Nachweisen).
Nach uns vorliegenden Informationen hatte sich
deshalb die Präsidialverwaltung des Bundesver-
waltungsgerichts wiederholt für die ersatzlose
Aufhebung der umstrittenen Regelung und des
„geheimen“ Ressortabkommens zwischen Ihnen
und dem Bundesjustizministerium ausgespro-
chen. Das Bundesjustizministerium soll sich dem
Vorschlag des BVerwG angeschlossen haben. Im
Rahmen der Ressortabstimmung sei die Initiative
jedoch an Ihrem Ministerium gescheitert. Ihr
Haus soll sich – uns unverständlich – strikt gegen
die Aufhebung des § 80 Abs. 2 WDO positioniert
haben.
. Aus oben erwähnten verfassungsrechtlichen
Bedenken ersuchen wir Sie, eine Aufhebung des
jetzigen § 80 Abs. 2 WDO zu unterstützen …
(Der volle Wortlaut des Schreibens ist unter
http://richter-staatsanwaelte.verdi.de abrufbar).
. Das Echo auf den ver.di Vorstoß war groß.
Die überörtliche Presse (FR, taz) berichtete
mehrfach über diesen Vorgang und weitere
Verbände schlossen sich der Kritik an, so der
Bund deutscher Verwaltungsrichterinnen und
Verwaltungsrichter (BDVR) und die Neue Rich-
tervereinigung (NRV).
. Auch die Präsidentin des Bundesverwal-
tungsgerichts sowie sämtliche Präsidentinnen
und Präsidenten der deutschen Oberverwal-
tungsgerichte haben ein Ende der Einflussnah-
me des Bundesverteidigungsministeriums auf
die Besetzung der Wehrdienstsenate gefordert
und sprachen sich ebenfalls für die Abschaffung
des § 80 Abs.2 WDO aus.
Stimmen der Fraktionen der CDU/ CSU, SPD
und FDP gegen die Stimmen der Fraktionen
DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN dem
Bundestag, den Gesetzentwurf abzulehnen
(BT-Drucksache 17/4488).
. Eine weitere Beratung im Bundestag, deren
Ergebnis vorbestimmt erscheint, ist bislang
noch nicht erfolgt.
. Jüngst hat ver.di noch einmal schriftlich
bei der Bundesjustizministerin ebenso wie der
Bundesfachausschuss anlässlich des Gesprächs
am 4.5.2011 im BMJ (siehe Bericht von Georg
Schäfer S. 24/25 in diesem Heft) nach dem
Stand der Sache gefragt. Die Antworten waren
nicht ermutigend: Der Sachstand sei unverän-
dert. Offenbar wird dort (wiederum aufgrund
des Widerstands des Verteidigungsministeri-
ums?) kein Anlass gesehen, die geltenden Rege-
lungen und Verfahrensabsprachen zu ändern.
Es scheint auch nicht beabsichtigt zu sein,
wenigstens die ressortübergreifende Absprache
mit dem Verteidigungsministerium aufzukün-
digen. Dieser Stillstand ist höchst bedauerlich.
. Die Notwendigkeit der Abschaffung des § 80
Abs .2 WDO wird auch nicht deshalb in Frage
gestellt, weil es in den vergangenen zwei Jahren
bei den zwischenzeitlich erfolgten drei Neube-
setzungen in den beiden Wehrdienstsenaten –
soweit bekannt – keinen weiteren Fall einer
entsprechenden Einflussnahme des BMVg
oder auch des BMJ auf die Besetzung und kei-
ne Richterablehnungen durch Prozessparteien
mit der Begründung gegeben hat, das derzei-
tige Besetzungsverfahren sei wegen der Ein-
griffsbefugnisse der ministeriellen Exekutive
in das Selbstverwaltungsrecht des Präsidiums
verfassungswidrig. ;
Im Übrigen ist die Militärjustiz in allen Fällen von Übel:nicht nur, weil sie vom Militär kommt, sondern weilsie sich als Justiz gibt, was sie niemals sein kann.
Kurt Tucholsky
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. Nachdem der Präsident der Republik Nico-
las Sarkozy, auf Grund der Vorfälle von Nantes
den nach seiner Meinung Verantwortlichen mit
„Sanktionen“ wegen ihres „Fehlverhaltens“ ge-
droht hatte, anstatt als Garant ihrer Unabhän-
gigkeit aufzutreten, kam es zu einer bisher nie
da gewesenen Streikbewegung innerhalb der
Justiz, die im Februar das ganze Land erfasste.
Sehr schnell konnte eine Zusage dahin erreicht
werden, dass es zu keinen Disziplinarmaßnah-
men gegen die beteiligten Richter und Beamten
kommen werde. Tatsächlich ließ sich auch nach
gründlichen Untersuchungen kein Fehlverhalten
der Beteiligten feststellen, stattdessen jedoch
die mangelhafte Ausstattung der Justiz, die dem
Justizministerium auch mehrfach angezeigt
worden war. Darüber hinaus traten die großen
Schwierigkeiten klar zu Tage, denen sich die
französische Justiz insgesamt gegenübersieht.
. Die Regierung will diese Realitäten nicht zur
Kenntnis nehmen und versucht alles, um eine
realistische Bestandsaufnahme des Zustands
der Justiz zu hintertreiben. Auch deshalb ist
die Protestbewegung innerhalb der Justiz, an
der sich alle Bediensteten beteiligen, mit der
Forderung nach einem Notfallplan für die Jus-
tiz fortgesetzt worden.
Eine in Kauf genommene Krise
. Die Beschädigung der Justiz ist ungeheuer-
lich. Man kann sich dabei des Eindrucks nicht
mehr erwehren, dass von den Verantwortlichen
alles getan worden ist, um einen solch katastro-
phalen Zustand herbeizuführen. Oder aber:
Welche Inkompetenz!
wachsenden – unterschiedlichen Aufgaben zu
erfüllen. Besonders deutlich wird diese Inflati-
on im Strafrecht, wo sich die Politik der Justiz
zur Durchsetzung ihres Repressionsprinzips
bedienen will. Natürlich unterliegt nicht nur
die Justiz den staatlichen Einsparbemühungen.
Aber nach einem ohnehin schon harten Ein-
sparkurs, der immer wieder, jedoch vergeblich,
angeprangert wurde, hat die finanzielle Aus-
trocknung der Justiz nunmehr fast zu ihrer
Erstickung geführt.
Ein Klima, das durch Aggressivität und Dro-hung mit Sanktionen gekennzeichnet ist
. Immer wieder stellen die regierenden Poli-
tiker, allen voran Staatspräsident Nicolas Sar-
kozy, namentlich diejenigen Richter an den
Pranger, die es wagen, eine Entscheidung im
Sinne der Grundrechte zu treffen. Dabei wird
rhetorisch stets die Einleitung von Disziplinar-
verfahren angedroht wie auch im Fall von Nan-
tes, der zum Auslöser der Streikbewegung des
Frühjahres wurde. Dieses aggressive Auftreten
gegenüber der Richterschaft ist keine Eintags-
fliege, sondern hat strukturelle Gründe. Die
Absicht ist, die Justiz unter Druck zu setzen
und ihre Existenz insgesamt in Frage zu stellen.
. Der letzte Bericht der europäischen Kom-
mission zur Beurteilung der Wirksamkeit der
Justiz (CEPEJ 2010) ist überdeutlichA: Frank-
reich nimmt unter den 43 Ländern des Europa-
rats bei der Vergabe von Haushaltsmitteln für
die Justiz im Verhältnis zum Bruttoinlandspro-
dukt pro Kopf Platz 37 ein. Bei 15 wirtschaftlich
miteinander vergleichbaren Ländern ist es
1 Bericht S. 128
. Zum einen haben wir es mit einem politi-
schen Diskurs zu tun, der jede nur etwas spek-
takuläre Straftat – und sei sie noch so unbedeu-
tend (das, was so in der Lokalzeitung unter
„Vermischtes“ auftaucht) nutzt, um Emotionen
der Öffentlichkeit zu schüren und dabei auf
Lösungen verfällt, die man nur als repressive
Täuschung der Öffentlichkeit bezeichnen kann,
nach dem Motto: für jede solche Straftat ein
neues Gesetz, während man gleichzeitig nach
sog. Schuldigen innerhalb der Justiz sucht.
Auf der anderen Seite werden die Mittel für die
Justiz immer mehr verknappt, was es unmög-
lich macht, mit der Überlastung fertig zu wer-
den, die gerade durch diese Art von Sicherheits-
politik verursacht worden ist. So sind seit 2002
nicht weniger als 35 Sicherheitsgesetze verab-
schiedet worden, von denen sich allein ca. 10
mit dem Problem von Rückfalltätern beschäf-
tigen. Und diese Einschnürung der Justiz erfolgt
natürlich, ohne einen Gedanken auf ihre Unab-
hängigkeit zu verschwenden. Erhöhung des
öffentlichen Drucks, Verknappung der Ressour-
cen und Schuldzuweisungen durch die Politik:
Das Ergebnis konnte nur eine Justizkrise sein,
die ihres gleichen sucht.
Eine unterdrückte und erstickende Justiz
. In den letzten Jahren haben die verschiede-
nen Regierungen immer wieder Druck auf die
Justiz ausgeübt, ohne ihren verfassungsrecht-
lich garantierten Platz im Herzen der Republik
zu respektieren. Zudem ist die Justiz auf Grund
des anhaltenden Ressourcenmangels nicht
mehr in der Lage, all ihre – auf Grund der Ge-
setzesflut und der Definition neuer „Ziele“ stets
[ I N T E R N AT I O N A L E S ]
Seit Anfang 2011 befindet sich die französische Justiz im Ausnahmezustand.Wir haben in verdikt Heft 1.11 darüber berichtet. In dem folgenden – vonder Redaktion leicht gekürzten – Beitrag geht unsere französische Gast-autorin Simone Gaboriau diesmal den Ursachen der Krise näher nach.Der Aufsatz ist ursprünglich für die Zeitschrift unserer italienischen
Simone Gaboriau
Justiz in Frankreich: Chronik einer vorhersehbaren Krise und einer Mobilisierung wie noch nie
Schwestergewerkschaft Magistratura Democratica Questione Giustiziageschrieben und enthält daher auch Querverweise auf Italien.
(Übersetzung und redaktionelle Überarbeitung: Uwe Boysen und Hans-Ernst
Böttcher)
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Platz 14. Für seine Justiz gibt Frankreich 57,70 ¤ pro Einwohner jährlich
aus. Im Vergleich zu Italien (71,80 ¤) oder Spanien (86,30 ¤) ist das schon
sehr gering. Auch zählt Frankreich zu den europäischen Ländern mit dem
geringsten ‚Anteil von Berufsrichtern. Dazu enthält der Bericht ebenfalls
aufschlussreiche Fakten: In den Justizsystemen, in denen Richter einen
bedeutenden Platz einnehmen, findet man eine geringe Richterdichte
in Ländern wie Armenien, Aserbaidschan und Frankreich: 9,1 Richter auf
100.000 Einwohner bei einem europäischen Durchschnitt von 20,6. Für
die Ressourcenknappheit im Bereich des Justizpersonals ist auch ein an-
deres Faktum bezeichnend: Im nicht richterlichen Dienst nimmt Frank-
reich mit 29,1 Personen auf 100.000 Einwohner bei einem europäischen
Durchschnitt von 67,5 gleichfalls einen hinteren Platz ein. In Italien sind
es 42,6 Personen.
. Auch wenn diese Zahlen das Elend der französischen Justiz schon
eindrucksvoll belegen, so muss man doch wissen, dass sie aus dem
Jahr 2008 stammen und dass sich die Lage seither höchstwahrschein-
lich noch verschlimmert hat. Inzwischen ist es nämlich im Rahmen der
von Nicolas Sarkozy angestoßenen allgemeinen Überprüfung staatli-
cher Ausgaben („révision générale des politiques publiques = RGPP) zu
schweren Haushaltseinschnitten gekommen. Erstmals sind dabei 2011
auch 76 Richterstellen gestrichen worden.
. 2011 beläuft sich der Justizhaushalt auf 7,128 Milliarden ¤, wobei sich
die Regierung selbst für die Überschreitung der symbolischen 7-Milliar-
den-Grenze beglückwünschte. Dabei wächst aber der Anteil des Straf-
vollzuges zum Nachteil der übrigen Justizdienstleistungen, d. h. zum
Schaden einer funktionierenden Justiz insgesamt. In acht Jahren hat
sich der Anteil der Ausgaben für den Strafvollzug im Justizhaushalt von
28 % auf fast 40 % erhöht, was die Prioritätensetzung der Regierung
auf Repression sehr deutlich zeigt. Dabei ist die Notwendigkeit unbe-
streitbar, die französischen Gefängnisse an die europäischen Standards
anzupassen; denn sie sind, um die Formulierung eines Berichts des fran-
zösischen Senats aufzugreifen, „die Schande der Republik“. Kritikwürdig
ist aber die Logik, ständig weitere Haftplätze zu schaffen. Hierhin gehen
die aller meisten Haushaltsmittel, während diejenigen für Resozialisie-
rung oder die Bewährungsaufsicht kaum ins Gewicht fallen.B
Die Folgen des strafrechtlichen Populismus
. Warum diese Begrifflichkeit? Bekanntermaßen ist Populismus eine
politische Einstellung, bei der sich dessen Protagonisten vorgeblich auf
das Volk stützen und gegen die politischen Eliten Front machen. Gefüh-
le werden dabei über die Vernunft gestellt. Die regierenden, allen voran
Nicolas Sarkozy, nutzen das Bedürfnis der Bevölkerung nach Sicherheit
aus und hämmern ihr in weit verbreiteten öffentlichen Reden ausschließ-
lich strafrechtliche Antworten ein, ohne auch nur einen Gedanken auf
die Einhaltung fundamentaler Rechtssätze zu vergeuden. Schon die
kleinste Abweichung von dieser Linie wird als Missachtung des Opfers
2 Bericht des (frz.) Rates für Wirtschaft, Soziales und Umweltfragen „Die Bedingungen für die
Wiedereingliederung der Strafgefangenen in Frankreich“, 2006; Bericht des (frz.) Rechnungs-
hofes „Der Strafvollzug“, 2010
3 D. Salas, La volonté de punir. Essai sur le populisme pénal, Paris, Hachette, 2005.
4 Nicolas Sarkozy am 24. August 2007.
5 Nicolas Sarkozy am 23. Februar 2008 auf der Landwirtschaftsausstellung.
6 Nicolas Sarkozy am 20. September 2006.
7 Nicolas Sarkozy am 3. Februar 2011.
einer Straftat gewertet, dessen Leiden man instrumentalisiert, oder wie
Mireille Delmas-Marty es ausdrückt: „Er spielt mit den Emotionen und
drängt uns in die Rolle der Verteidiger von Schwerverbrechern.“ So sieht
er aus, der strafrechtliche Populismus.C
. Einige Bemerkungen des Präsidenten mögen als Illustration des Ge-
sagten dienen: „Man spricht von den Tätern. Ich möchte, dass man von
den Opfern spricht.“D „Die Pflicht zur Vorsorge wird auf die Natur bezo-
gen. Sie muss auch auf die Opfer bezogen werden.“E „Ich würde mich
freuen, wenn mir jemand erklären könnte, wie man einen Täter davor
bewahrt, rückfällig zu werden, wenn man nicht den Mut hat, ihn ins
Gefängnis zu stecken.“F Und zu dem Verbrechen, das Ausgangspunkt
für die Streikbewegung der Justiz warG, erklärte er: „Unsere Pflicht ist
es, die Gesellschaft vor solchen Scheusalen zu schützen. Ich sage Scheu-
sale, weil ich glaube, dass es einen Augenblick gibt, in dem man Worte
benutzen muss, die der Situation angemessen sind, anstatt die Augen
vor der Realität zu verschließen.“ So bezeichnete er also denjenigen,
den er als vermutlich Schuldigen ausgemacht hatte.
. Der aktuelle politische Kontext: Wir befinden uns im Vorfeld der
Präsidentenwahl 2012. Sarkozys Umfragewerte sind im Keller, die rechts-
radikale Partei Front National (FN) hat gewisse Erfolge bei den letzten
Kommunal- und Regionalwahlen erzielt. Das führt dazu, dass sich diese
Rhetorik noch verschärft.
Eine beispiellose Überbelegung der Gefängnisse
. Am 1. März 2011 war eine Rekordmarke erreicht: 70.198 zu Freiheits-
strafen verurteilte Täter bei 56.518 verfügbaren Haftplätzen. Die tatsäch-
liche Zahl der Einsitzenden betrug 62.685 (6.877 Verurteilte standen
unter elektronischer Aufsicht; 636 waren außerhalb von Haftanstalten
untergebracht.). Zum Vergleich: Am 1. Februar 2002 betrug die Population
der französischen Haftanstalten insgesamt 50.310 Häftlinge.
. Während sich die Gefangenenzahlen vom Ende des 19. Jahrhunderts
bis in die 1970er Jahre kaum veränderten, hat es in Frankreich noch nie
so viele Gefangene gegeben wie jetzt. Die Zahl von 60.000 Inhaftierten,
die nach der Befreiung am Ende des 2. Weltkriegs erhoben wurde und
die zu einem Drittel auf Häftlinge zurückzuführen war, denen Kollabo-
ration vorgeworfen wurde, hielt man lange für nie wieder erreichbar.
Seit einigen Jahren stimmt das aber nun nicht mehr.
. Stellen wir einmal einen europäischen Vergleich auf der Grundlage
statistischer Erhebungen des Europarates an: Am 01. September 2008
hatte Frankreich eine Haftquote von 104,1 und lag damit unter den Län-
dern der Europäischen Union an 12. Stelle, wenn man eine höhere Haft-
quote mit höheren Rangplätzen bewertet. Italien lag mit 96 Gefangenen
auf dem 7. Platz. Im Übrigen betrug die Belegungsquote, bezogen auf
100.000 Einwohner 131,1 und war damit deutlich höher als in der Euro-
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päischen Union insgesamt. Frankreich landete damit an 24. Stelle im Ver-
gleich der 27 EU-Staaten, gleich hinter Italien mit einer Quote von 129,9.
Die Ergebnisse der Politik „Repression um jeden Preis“
. Die Verwüstungen, die die Ideologie der „zero tolerance“ und eine
ausschließlich auf Wegsperren ausgerichtete Kriminalpolitik mit ihren
Schlagworten von der Notwendigkeit zeitnaher, systematischer und
immer schärferer Bestrafung angerichtet haben, gefährden das gesam-
te strafrechtliche Sanktionensystem. Dieses Sicherheitsdenken bildet
nunmehr das Zentrum der gesamten populistischen Kriminalpolitik
Nicolas Sarkozys und seiner Regierung. Das lässt sich an der Abfolge
einer Vielzahl von Gesetzen zeigen. Mit ihnen wurden Strafandrohungen
in vielen Bereichen verschärft, u. a. bei Rückfalltätern. Außerdem wur-
den verschiedene Maßnahmen zur Überwachung von Strafgefangenen
nach Verbüßung ihrer Strafe eingeführt. Das G. vom 10. August 2007,
das sog. Strafrahmengesetz, schreibt Mindeststrafen für Rückfalltäter
vor (und zwar auch für Minderjährige) und ist bezeichnend für die von
Nicolas Sarkozy verfolgte Kriminalpolitik. Immerhin war es das erste
Strafgesetz, das in seiner 5jährigen Amtszeit verabschiedet wurde.
Schon unter Jacques Chirac hatte er seit 2002 – damals noch vergeblich –
versucht, dieses Konzept innerhalb mehrerer Regierungen durchzusetzen,
wenngleich auch diese schon beklagenswerte Eingriffe am System des
französischen Strafrechts vorgenommen hatten. Im Gefolge dieses
Gesetzes wurde die Repression gegen Rückfalltäter verschärft und die
gegen sie ausgesprochenen Strafen wurden höher, so dass sich die Zahl
der Verurteilten in den letzten 5 Jahren um mehr als ein Viertel erhöht
hat, ohne dass sich das Gesetz positiv auf die Rückfallquote ausgewirkt
hätte.
. So stieg die Zahl der Verurteilten bis zum 1. Januar 2010 auf 235.000
an, von denen 174.000 sich in „offenen Milieus“ befanden. So wurden
insbesondere die Beamten der Bewährungs- und Gerichtshilfe nach dem
tragischen Gewaltverbrechen zur Zielscheibe der Regierungskritik.
Richtig: Der Täter hätte nach der kurz vor der neuerlichen Tat ausgespro-
chenen Verurteilung zu einer Haftstrafe von den Sozialen Diensten der
Justiz überwacht werden müssen; denn er war außerdem zu einer Be-
währungsstrafe verurteilt worden.
Die Flucht nach vorn
. Die ständig steigenden Gefangenenzahlen setzten auch eine andere
bestürzende Spirale in Gang, die Erweiterung von Haftplätzen. So sa-
gen die Hochrechnungen der Strafvollzugsverwaltung für die nächsten
Jahre eine weitere Erhöhung der Gefangenenzahlen voraus. Bis 2012 ist
von 72.800 die Rede. Am Ende des jetzigen Ausbauprogramms werden
dem 64.500 Haftplätze gegenüberstehen. Aus Haushaltsgründen will
man es dabei bewenden lassen. Wenn man nun – die unvermeidliche
Konsequenz einer solchen Gesetzgebung - trotz der Repressionspolitik
die Zahl der „Eingänge“ in die Gefängnisse nicht senken konnte, so die
Überlegung der Regierung, könnte man doch versuchen, die Zahl der
Entlassungen zu erhöhen. So kam es zur Verabschiedung des Strafvoll-
zugsgesetzes vom 29. November 2009, in dessen Begründung man sich
darauf berief, eine Anpassung an europarechtliche Normen vorzunehmen.
Dieses Gesetz hat die praktische Gestaltung des Strafvollzuges völlig
auf den Kopf gestellt. Soweit es eine individualisierte Strafzumessung
und entsprechende Vollzugspläne fordert und die Überbelegung der
Gefängnisse bekämpft, kann man seiner Zielsetzung nur zustimmen.
So hat es die Möglichkeit, eine Reststrafe außerhalb des Gefängnisses
zu verbüßen, für Strafandrohungen von bis zu zwei Jahren (zuvor nur
bis zu einem Jahr) geschaffen und außerdem für die letzten 4 Monate
des Strafvollzugs die regelmäßige elektronische Überwachung in Frei-
heit eingeführt. Aber die zur Durchsetzung dieser Ziele notwendigen
1.000 Stellen, sowohl für Vollstreckungsrichter als auch für Mitarbeiter
in den Gerichten und im Vollzug sind tragischerweise auf der Strecke
geblieben. Auch mussten Prioritäten gesetzt werden, um gewisse Qua-
litätsstandards aufrecht zu erhalten, was wiederum zu Verzögerungen
bei anderen Maßnahmen geführt hat. Genau auf Grund einer solchen
Entscheidung wurde auch der Verdächtige von Nantes gerade nicht
überwacht.
Eine ernste moralische Krise
. Die allgemeine Überprüfung staatlicher Ausgabenpolitik (RGGP, s.o.)
führt nicht nur zu heftigen Einschnitten in der öffentlichen Verwaltung,
sondern verfolgt auch eine Managementphilosophie des „new public
management“, wonach sich die öffentliche Hand an den Prinzipien der
Privatwirtschaft zu orientieren hat. Auch das ist der Justiz nicht erspart
geblieben. Entsprechend werden auch für Richter die Pensen jedenfalls
faktisch hochgeschraubt und die Kriterien hierfür werden autoritativ
und einseitig bestimmt mit der Folge, dass man für den einzelnen Fall
nicht mehr die Sorgfalt aufwenden kann, die für qualitativ hochwertige
Entscheidungen nötig wäre, und dass man sich immer mehr auf Stan-
dardformeln zurückzieht. Diese Einengung richterlicher Spielräume ist
oft mit der Androhung von Disziplinarmaßnahmen verbunden und
dokumentiert die undemokratische Organisation der Rechtspflege, in
der die Hierarchiespitze ungeahnte Macht besitzt. Die Frage ist nicht
mehr, ob richtig entschieden worden ist, sondern nur noch, ob man
den vorhandenen Aktenberg abgearbeitet hat. Es geht ausschließlich
noch um vermeintlich messbare, nämlich quantitative „Leistung“ und
nicht mehr um die Qualität richterlicher Arbeit. Diese wird vielmehr
auf eine Art Magie verengt. So birgt das Übergewicht der Justizverwal-
tung die Gefahr, dass die Justiz ihre humanistischen Ideale einbüßt
und ihre demokratischen Werte verliert. Sich dieser Herausforderung
stellen zu müssen, ohne eine Möglichkeit zu haben, diese Tendenzen
wirksam zu bekämpfen, beunruhigt die Richter, die das Gefühl haben,
dass dadurch die Seele der Justiz verloren geht – und damit auch ihre
eigene.
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. Die Besorgnis verschärft sich noch durch
das oben beschriebene aggressive Klima. In
zwei Fällen kam es so weit, dass erst der als
sehr moderat geltende Verfassungsrat (frz.
Conseil Constitutionnel; eine Institution, die
mehr und mehr den Rang eines Verfassungs-
gerichts erlangt. Anm. der Übersetzer) dienst-
rechtliche Disziplinierungsversuche ent-
schärfte.
. So erklärte er 2007 ein Gesetz für verfas-
sungswidrigH, wonach gegen Richter bei Aus-
übung ihrer Rechtsprechungstätigkeit Diszi-
plinarmaßnahmen sollten verhängt werden
können, ohne dass auch nur eine rechtskräftige
gerichtliche Entscheidung in der Sache vorlag,
die einen vorwerfbaren Gesetzesverstoß fest-
gestellt hätte.
. 2010 kassierte er sodann ein GesetzI, wo-
nach der Oberste Richterrat (CSM) über Dienst-
aufsichtsbeschwerden gegenüber Richtern ent-
scheiden sollte, obwohl sie weiterhin mit der
Sache befasst waren, in der die vorgeblichen
Rechtsverstöße stattgefunden haben sollten.
. Schließlich sind auch die Parameter der
richterlichen Verantwortlichkeit in Bewegung
geraten, und zwar vor allem bei der Frage nach
Sinn und Zweck des Strafens. Der schon oben
beschriebene Kontext einer nur noch auf Sicher-
heit verengten Kriminalpolitik vernebelt wich-
tige Bezüge: Es geht nicht mehr bloß um eine
gerechte Strafe, sondern um einen gewisser-
maßen absoluten Schutz vor Straftaten. Die
Gewichte verschieben sich von der Prüfung
einer persönlichen Schuld des Täters hin zur
Betonung seiner Gefährlichkeit für die Gesell-
schaft, und dadurch werden die Ergebnisse
mehr oder weniger zufällig und die Entschei-
dungsfindung wird für die Richter noch kom-
plexer; denn wie soll man tatsächlich mit einer
gewissen Zuverlässigkeit voraussagen, ob die
Gefahr eines Rückfalls besteht und sich gleich-
zeitig noch an die in der Europäischen Men-
schenrechtskonvention verankerten Garantien
halten?
. Diejenigen Richter, die sich dieser Gefahr
bewusst sind und gleichzeitig wissen, dass es
auf dieser Welt kein Null-Risiko gibt, fragen
sich, wenn sie vor ihrer Verantwortlichkeit nicht
fliehen, betroffen nach deren Ausmaß.
Eine historische Bewegung
. Nicht nur die Richter haben sich der be-
schriebenen Streikbewegung angeschlossen,
sondern alle am Justizsystem Beteiligten, so
die besonders in die Kritik geratenen Vollzugs-
beamten, die Vertreter der Jugendgerichtshil-
fe, aber auch die Anwälte und – jedenfalls zu
Beginn –sogar Polizeibeamte. Hinzu kommt,
dass sich immer häufiger auch Vertreter der
Verwaltungsgerichtsbarkeit an diesen Aktionen
beteiligen – eine Neuigkeit für französische
Verhältnisse, da sonst die beiden Gerichtsbar-
keiten (die Ordentliche Gerichtsbarkeit und
die Verwaltungsgerichtsbarkeit) völlig für sich
leben. Sämtliche diese Aktionen tragenden
Gewerkschaften und Verbände (insgesamt
etwa 25; vgl. die in verdikt 1.11 abgebildeten
Aufrufe mit den vielen Logos) verlangen einen
Notfallplan für die Justiz. Von den durchgeführ-
ten Aktionen soll hier insbesondere auf dieje-
nigen in den Gerichten selbst eingegangen
werden.
Der Streik – Streikrecht für Richter
. Wenn das Demonstrationsrecht für Richter
auch seit mehr als 10 Jahren anerkannt wird, so
gilt das nicht in gleicher Weise für das Streik-
recht. Allerdings hat die französische Richter-
gewerkschaft (Syndicat de la Magistrature)
seit ihrer Gründung 1968 schon immer das
Streikrecht auch für Richter gefordert, handelt
es sich dabei doch um ein völlig normales
Recht von Gewerkschaften, ihren Forderungen
Nachdruck zu verleihen. Sie beruft sich dabei
auf die Präambel der französischen Verfassung,
in der das Streikrecht „im Rahmen der gelten-
den Gesetze“ garantiert wird. Als einzige ein-
schlägige Textstelle kommt insoweit eine Pas-
sage aus dem Richtergesetz in Betracht, in der
abgestimmte Aktionen verboten werden, sofern
sie geeignet sind, den Stillstand der Rechts-
pflege herbeizuführen oder sie ernsthaft zu
behindern. Dieses nie auf seine Verfassungs-
mäßigkeit hin überprüfte Verbot lässt sich nur
im Zusammenhang mit der Kontinuität der
französischen Verwaltung verstehen. Es muss
verfassungskonform im Lichte des dort garan-
tierten Streikrechts einschränkend interpretiert
werden, so jedenfalls seit jeher die Analyse des
Syndicat de la Magistrature. So muss etwa die
Durchführung von Eilverfahren, insbesondere
wenn es um freiheitsentziehende Maßnahmen
geht, gewährleistet bleiben. Nebenbei ist in den
letzten Jahrzehnten kein einziges Disziplinar-
verfahren gegen streikende Richter eingeleitet
worden. Bisher war es nur das Syndicat de la
Magistrature (SM), das sich des Streikmittels
bedient hatte. Deshalb war es eine große Pre-
miere, dass an der Streikbewegung von 2011,
insbesondere während der Aktionen am 10. Fe-
bruar, weit mehr Menschen teilnahmen als bloß
die Mitglieder oder Sympathisanten des SM.
Die Gesetzesanwendung
. Grundthema dieser Bewegung ist die Sor-
ge um das Selbstverständnis der Justiz. „Wir
dürfen uns nicht einfach damit abfinden, auf
unsere verfassungsmäßige Aufgabe zu ver-
zichten, der Justiz einen Sinn zu geben.“ Das
erklärt auch den Einsatz einer anderen Protest-
form, die strikte Anwendung des Gesetzes.
Zur Verdeutlichung mögen einige Beispiele
dienen:
. So wurde verlangt, dass an jeder Sitzung
tatsächlich ein Urkundsbeamter teilnimmt,
was einerseits zwar gesetzlich vorgesehen, aber
wegen der knappen Ressourcen kaum mehr
der Fall ist. Das durch diese einfache Rückkehr
zu gesetzlichen Bestimmungen ausgelöste or-
ganisatorische Chaos demonstrierte die völlig
ungenügende Ausstattung der Justiz über-
deutlich.
. Weiter wurde die Länge der Sitzungen in
Strafverfahren zeitlich begrenzt, während diese
sonst in Frankreich häufig bis spät in die Nacht
dauern (und teilweise als „Pyjamasitzungen“
bezeichnet werden). Niemand kann doch wirk-
lich bestreiten, dass solche Nachtverfahren
das Gebot eines fairen Prozesses verletzen,
und entsprechend ist Frankreich auch schon
vom Europäischen Gerichtshof für Menschen-
rechte verurteilt worden.AJ Im Jahre 2001, als
noch die Linke regierte, wurde eine Rundver-
fügung herausgegeben, mit deren Hilfe die
Dauer der Sitzungen eingedämmt werden
sollte,AA um so die Arbeitsbedingungen des
Gerichtspersonals und auch das Ansehen der
Justiz in der Öffentlichkeit zu verbessern. Aber
das blieb ohne dauerhafte Wirkung. Auch die-
8 CC (=Entscheidungen des Verfassungsrates) vom 1. März 2007
n_2007-551DC.
9 CC vom 19. Juli 2010 2010 n_2010-611.
10 akhfi ./. France; CDEH, 19. Oktober 2004.
11 Verfügung vom 2001, genannt „Lebranchu“ nach der dama-
ligen Justizministerin.
verdikt 2.2011_1_c 27.10.2011 12:00 Uhr Seite 16
verdikt 2.11 , Seite 17
se Aktionen haben die normalen Abläufe der
Justiz erheblich gestört, sah man diese nächt-
lichen Sitzungsexzesse bisher doch mehr oder
weniger als schicksalhaft an. So kommt noch
einmal die alles entscheidende Frage auf die
Tagesordnung: Darf man in dem geschilderten
Repressionszusammenhang fehlerhafte Geset-
ze anwenden?
. In Zivil- wie in Strafverfahren besann man
sich bei Fällen, die dies erfordern, auf das Kol-
legialprinzip. Um mit der Aktenflut fertig zu
werden, hatte sich nämlich häufig eine Art von
Einzelrichterprinzip durchgesetzt, bei dem der
Berichterstatter praktisch die Entscheidung traf,
ohne dass es noch eine wirkliche Beratung in
der Kammer gegeben hätte, auch ein Armuts-
zeugnis für die Qualität der Justiz!
Die Bestandsaufnahme
. Auch das Prinzip der richterlichen Unabhän-
gigkeit wird in Frankreich missachtet, da es
keine effektive Kontrolle der Justizverwaltung
durch den Obersten Richterrat gibt und wesent-
liche Entscheidungen von der zentralen Justiz-
verwaltung oder auf lokaler Ebene von den
allmächtigen Gerichtspräsidenten getroffen
werden. Viele von ihnen sind mehr an ihrer ei-
genen Karriere als daran interessiert, die Situa-
tion in ihren Gericht offen zu legen. (Karriere
ist in Frankreich ein mächtiger Motor innerhalb
des Rechtssystems.) Insbesondere im Hinblick
auf die Einführung von radikalen Management-
methoden in die Justiz könnte ein „schlechter
Output“ ja dazu führen, dass die Schuld dafür
nicht bei fehlenden Ressourcen gesucht wird,
sondern bei den Gerichtspräsidenten, deren
Karrierechancen sich so verschlechtern könn-
ten. Alles in allem führt das gegenwärtige Sys-
tem mit seiner Betonung der RGPP dazu, dass
Mittel nur im Rahmen erbrachter „Leistungen“
verteilt werden. Es gibt tatsächlich kein Forum,
in dem über Anforderungen und Ziele der Jus-
tiz beraten werden könnte; denn Gremien, in
denen eine Zusammenarbeit möglich wäre,
spielen lediglich eine rein formelle Rolle. So
kam es zur Forderung einer ehrlichen Bestands-
aufnahme innerhalb der Justiz. Dabei spielte
die Forderung nach Richtervollversammlungen
eine zentrale Rolle (Anm. der Übersetzer: Das
ist praktisch die Forderung in Richtung eines
Organs aller Richter, das – wie bei uns die Prä-
sidien oder an kleinen Gerichten das Plenum
der auf Lebenszeit ernannten Richter – die Be-
stimmung in zentralen Angelegenheiten des
Gerichts trifft). Dort wo sich das durchsetzen
ließ, stellten sich diese Aktionen als kleine Re-
volution dar, bedienten sich die Richter doch
erstmals des Instrumentariums der Justizver-
waltung. Schon das allein ist ein Etappensieg
auf dem Weg hin zu einer demokratischeren
Justiz. Und natürlich zeigte sich mit Hilfe dieser
Bestandsaufnahme, wie armselig die Ressour-
cen in der Justiz tatsächlich sind. Deshalb war
es eines der Ziele des zweiten Aktionstages vom
29. März 2011, dem Gesetzgeber diese Wirklich-
keit zu vermitteln.
. Vor allem auf Grund gewisser Widerstände
auf allen Ebenen der Justizverwaltung (=Präsi-
denten der Gerichte) wurden nicht alle zuvor
beschriebenen Aktionsformen in sämtlichen
Gerichtsbezirken angewandt. Aber sie stellen
doch verschiedene Wege dar, zu einer neuen
Praxis zu gelangen.
Die Regierung stellt sich taub
. Statt einen sozialen Dialog einzuleiten, der
diesen Namen verdient hätte, ergriff der Justiz-
minister bis heute nur geradezu lächerliche
Maßnahmen, etwa der Aufruf an pensionierte
Richter, sich für bestimmte Aufgaben zur Ver-
fügung zu stellen oder die Gründung von Ar-
beitsgruppen im Justizministerium selbst (die
von den richterlichen Gewerkschaften und Ver-
einigungen jedoch boykottiert worden sind).
. Offenbar war der Minister aber doch von der
Größe der Bewegung, insbesondere im Februar,
beeindruckt, die – o Wunder – sogar von der
Spitze der Justizhierarchie bis hin zur „Cour de
Cassation“ (Die Cour de Cassation ist sozusagen
der frz. BGH; Anm. der Übersetzer) unterstützt
wurde. Um die Richterschaft wieder in den
Griff zu bekommen, wandte der Minister sich
– wie in Frankreich üblich – sodann an die
Spitzen der Justiz. Jedoch gelang es dank der
Hartnäckigkeit der Richter, die es nicht länger
hinnehmen wollen, dass die Grundlagen der
Justiz zerstört werden, die Bewegung aufrecht
zu erhalten. Und mittlerweile beginnt auch die
öffentliche Meinung eine Sensibilität für diese
wesentlichen die Justiz betreffenden Fragen
zu entwickeln. Nach einer vor kurzem durch-
geführten Umfrage unterstützt eine Mehrheit
der Befragten die Bewegung. Das, was in der
Justiz auf dem Spiele steht, dringt so in öffent-
liche Debatten ein und wird notwendigerweise
dort Spuren hinterlassen, auch wenn der Justiz-
minister, auf Bitten von Nicolas Sarkozy, ver-
sucht, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit
auf eine neue Reform der Strafprozessordnung
zu richten. Gemeint sind Veränderungen bei den
ehrenamtlichen Richtern in den Strafkammern,
weiter die Schaffung einer Strafkammer für
jugendliche Rückfalltäter (was den Prinzipien
des Jugend(straf)rechts ins Gesicht schlägt).
Weder das eine noch das andere ist vordring-
lich oder überhaupt notwendig und hat über-
dies – im vielfachen Sinne des Wortes – seinen
Preis! Wie auch immer: Früher oder später wird
sich die Regierung entschließen müssen, einen
Notfallplan für die Justiz zu beschließen, geht
es doch um nichts weniger als das Überleben
der Justiz überhaupt.
Was folgt daraus?
. Die dringliche, für die Zukunft der Justiz
existenzielle Frage lässt sich nicht darauf
reduzieren, ob die für die Aufgabenerfüllung
hinreichenden Mittel bereitgestellt werden
(wenngleich auch das natürlich ein starker
Impuls war). Vielmehr geht es der Bewegung
um Grundsatzfragen, von deren Beantwortung
die Zukunft der Justiz abhängt: Unabhängig-
keit, Unparteilichkeit und Qualität einer Jus-
tiz, die die Rechte aller Menschen schützt. So
muss eine lebendige Justiz in der Demokratie
beschaffen sein.
Leider ist Frankreich weit davon entfernt. ;
verdikt 2.2011_1_c 27.10.2011 12:00 Uhr Seite 17
verdikt 2.11 , Seite 18
. Die Deutsche Stiftung für Internationale Rechtliche Zusammenarbeit
e.V. (IRZ) hatte in der Zeit vom 09.–13.05.2011 einen Studienaufenthalt
für eine Delegation kasachischer Richterinnen zum Thema „Streitigkeiten
im Arbeits- und Sozialrecht“ organisiert. Die Stiftung wurde 1992 auf
Initiative des damaligen Bundesaußenministers Kinkel gegründet und
wird im wesentlichen vom BMJ finanziert. Seit mehr als fünfzehn Jahren
unterstützt die IRZ-Stiftung als gemeinnütziger Verein Staaten „bei der
Entwicklung rechtsstaatlicher und marktwirtschaftlicher Strukturen“,
s. http://www.irz-stiftung.de/.
. Auf dem Programm der komplett weiblichenA Delegation standen im
eingangs genannten Zeitraum Begegnungen und Referate beim Landes-
arbeitsgericht Bremen, dem Landessozialgericht Schleswig-Holstein
und einer Rechtsanwaltskanzlei für Arbeitsrecht in Bremen zu grundle-
genden arbeits- und sozialrechtlichen Themen sowohl des materiellen
als auch des Prozessrechts. Das Programm beinhaltete darüber hinaus
einen Vormittag bei der Rechtsabteilung des ver.di-Landesbezirks Nds.-
Bremen im Landesbüro Bremen.
. Die Teilnehmerinnen erhielten einen kurzen Überblick über die Ge-
schichte der deutschen Gewerkschaften, vor allem über die der Vereinten
Dienstleistungsgewerkschaft ver.di und Erläuterungen zu deren Zielen
und Aufgaben, insbesondere auch zum gewerkschaftlichen Rechts-
schutz. Die Teilnehmerinnen zeigten sich sehr beeindruckt, einerseits
von der Möglichkeit von ver.di-Mitgliedern, kostenlose Rechtsberatung
und Prozessvertretung in arbeits- und sozialrechtlichen Fragen in An-
spruch nehmen zu können, andererseits auch von der Möglichkeit, sich
als Richter oder Richterin gewerkschaftlich zu organisieren.
. Rechtliche Schwerpunktthemen waren das Tarifvertragsgesetz und
das Arbeitskampfrecht; angesichts des knappen Zeitrahmens war nur
ein grober Überblick möglich. Die Teilnehmerinnen – die ausgesprochen
konzentriert und interessiert waren und von zwei versierten Dolmet-
scherinnen unterstützt wurden – zeigten sich besonders beeindruckt von
der durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleisteten Autonomie der Tarifvertrags-
parteien, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln, von den Inhalten des
Tarifvertragsgesetzes und den Möglichkeiten zum Abschluss von Tarif-
verträgen und deren vielfältigen Regelungsgegenständen. Besondere
Aufmerksamkeit widmeten die Teilnehmerinnen auch den Erläuterungen
zum Arbeitskampfrecht, das ja weitgehend durch die Rechtsprechung
der Landesarbeitsgerichte und vor allem des Bundesarbeitsgerichts
geprägt ist. Bemerkenswert und wesentlich erschien ihnen die Tatsache,
dass der Staat sich aus solchen tariflichen Auseinandersetzungen heraus
zu halten hat und in Konfliktfällen die Tarifvertragsparteien es selbst in
der Hand haben, ob sie sich an die (Arbeits-) Gerichtsbarkeit wenden.
. Die Veranstaltung endete mit Gastgeschenken der Richterinnen und
einer Einladung nach Kasachstan; ein für alle Beteiligten interessanter
und gelungener Vormittag! ;
1 Nach Auskunft der Teilnehmerinnen sind im Bereich des Arbeits- und Sozialrechts in Kasach-
stan fast ausschließlich Frauen als Richterinnen tätig; die männlichen Kollegen hingegen
seien in aller Regel nur im Bereich des Strafrechts zu finden, die Richtertätigkeit dort werde
besser vergütet.
Martina Dierßen | Rechtsanwältin, Rechtsabteilung ver.di Landesbezirk Nds./Bremen
Richterinnen des Obersten Gerichtshofs Kasachstan zu Besuch beim ver.di - Landesbezirk Niedersachsen/Bremen
verdikt 2.2011_1_c 27.10.2011 12:00 Uhr Seite 18
seinen Gegenstand an der Schnittstelle zwi-
schen Arbeits- und Sozialrecht gefunden hat.
Diesen Bereichen hat er sich über viele Jahre
mit großer Kontinuität und einer Liebe einer-
seits für die Angelegenheiten der kleinen Leute,
aber auch andererseits mit großer Achtung für
das geltende und daher anzuwendende Recht
und die daraus resultierenden Grenzen richter-
licher Tätigkeit gewidmet und dabei in ihrer
Kombination wunderbar alle Klippen der blut-
losen Juristerei einerseits und der vom Recht
losgelösten Interessenjurisprudenz anderer-
seits vermieden.
. Martin hat dann eine weitere Welle mitge-
macht – die Hartz IV Welle. Als alter Verwal-
tungsrichter hatte er ja Erfahrung mit Wellen
und hat sie mit großer Ruhe, gelassen und
rechtsstaatlich angegangen, gestaltet und in
vielen Fortbildungsveranstaltungen begleitet.
Wie akzeptiert und engagiert Martin in der
neuen Gerichtsbarkeit geworden ist, wird ohne
weiteres deutlich an seiner langjährigen Mit-
gliedschaft im Präsidium des Gerichts, im Prä-
sidialrat der Gerichtsbarkeit und im Richterrat
Wer weiß, wie mächtig die „Kommunalen“ in
der Landespolitik sind – schon weil die meisten
Abgeordneten des niedersächsischen Landtages
auch „in der Kommune Verantwortung tragen“,
der weiß, welch exquisiten Zugang diese Ver-
bände zu den wahren Gestaltungspositionen
in der niedersächsischen Landespolitik haben.
Martin ist diesen Weg jedoch nicht weiter ge-
gangen, sondern hat sich vielmehr auf unabhän-
gige Pfade in die Verwaltungsgerichtsbarkeit
an das VG Hannover begeben (geflüchtet?).
Der Wellenreiter . Dort hat er alle politischen Kämpfe und
Wellen, die die Verwaltungsgerichtsbarkeit in
der damaligen Zeit erlebt hat mitgemacht.
Dazu gehörten in Hannover natürlich große
Auseinandersetzungen um das Versammlungs-
recht, in denen das VG immer mal wieder Ge-
genposition gegen das OVG Lüneburg bezogen
hat. Dann sind die Wellen der KDV-Verfahren
und der Asylverfahren über die Verwaltungs-
gerichtsbarkeit hinweg gegangen. Die Gerichts-
barkeit hat sich enorm vergrößert und mit der
ihr eigenen stoischen Beharrlichkeit all diese
„Wellen“ abgearbeitet. Alle diese Stürme hat
Martin Bender miterlebt, mitgestaltet und da-
bei sein ruhiges und unerschütterliches Wesen
immer weiter ausgebildet. Von der Pike auf
mit der Arbeit im Spruchkörper vertraut, war
er für alle jüngeren Kollegen und Kolleginnen
genauso wie für persönliche Eigenheiten aus-
prägende Vorsitzende immer der ruhende Pol
in der Kammer. Noch heute kann man Martin
Bender zu vergangenen Verstrickungen in der
niedersächsischen Politik und in der Justiz
immer wieder Gewinn bringend befragen. Im
Zweifel findet sich im Bender’schen Fundus
ein altes Buch über die Welfen in Celle oder über
vom niedersächsischen Verfassungsschutz
höchstselbst verübte Anschläge, die den Leser
auf den Stand der Tatsachen bringen.
Eine neue Herausforderung: der Wechsel indie Sozialgerichtsbarkeit. Dann folgte der Wechsel an das Landesso-
zialgericht in Celle, wo Martin nach anfänglicher
Tätigkeit im Recht der gesetzlichen Unfallver-
sicherung alsbald im Arbeitsförderungsrecht
verdikt 2.11 , Seite 19
. Der Kollege Martin Bender ist nach erreichen
der Altersgrenze aus dem richterlichen Dienst
ausgeschieden und genießt nun den wohlver-
dienten Ruhestand. Das soll Anlass sein, einen
Kollegen zu würdigen, der der Redaktion dieser
Zeitung, sei es unter dem Namen ötv in der
Rechtspflege, sei es unter dem Namen verdikt,
bereits seit Jahrzehnten angehört.
Prägende universitäre Jahre. Martin Bender stammt aus den waldigen
Hügeln des Siegerlandes und hat Jura in Mar-
burg studiert, wo er sogleich die ganze Band-
breite der juristischen Wissenschaft kennen
lernen durfte: einerseits den Doyen der deut-
schen Militärstrafgerichtsbarkeit, den tief in
den Nationalsozialismus verstrickten, aber un-
verdrossen und nicht irritiert weiter lehrenden
Erich Schwinge, andererseits den Partisanen-
professor, Widerstandskämpfer, ehemaligen
Angehörigen eines Strafbataillons und kriti-
schen Berater der entstehenden Studentenbe-
wegung Wolfgang Abendroth, dem freilich kein
Lehrstuhl am juristischen Fachbereich sondern
„nur“ bei den Politikwissenschaftlern zuge-
standen worden war und der aus der Vereini-
gung der deutschen Staatsrechtslehrer heraus-
gedrängt wurde. Jeder, der sich in Marburg in
diesen Jahren herumgetrieben hat, wird sich
daran erinnern, wie ungemein befruchtend
Abendroth auf alle die gewirkt hat, die bereit
waren, ihm zuzuhören - auch auf aufgeschlos-
sene Juristen -. Noch anlässlich seines Todes
war bei der Gedenkfeier, bei der die Trauerrede
von einem seiner Habilitanden Jürgen Haber-
mas gehalten wurde, das Audimax der Univer-
sität völlig überfüllt. Schwinge hingegen war
am Fachbereich immer wieder für kleine und
große Skandale gut und hat im Aufbegehren
gegen ihn ebenfalls Viele geprägt, so auch
Martin Bender.
Erkenntnisse in der Kommunalverwaltung. Nach Studium und Referendariat – mit Sta-
tion in Speyer – war Martin Bender zunächst
bei einem niedersächsischen Kommunalver-
band tätig und konnte damit sogleich die
Funktionsweise niedersächsischer Politik an
einer ihrer urtümlichsten Stellen kennen lernen.
[ I N E I G E N E R S A C H E ]
Klaus Thommes für die Redaktion
Martin Bender i. R.
Martin Bender, Karikatur: Andreas Martins
verdikt 2.2011_1_c 27.10.2011 12:00 Uhr Seite 19
. Wohl wahr!
. Nun sollen die Auswirkungen des Personal-
abbaus auf die Justiz genauer geprüft und al-
ternative Einsparmöglichkeiten – was immer
das heißt – gesucht werden. Man darf auf den
Erfolg dieser Suche gespannt sein.
. Derweil ist auf Bundesebene ein Gesetz zum
Schutz vor überlangen Gerichtsverfahren auch
vom Bundesrat (mit Zustimmung Bremens!)
verabschiedet worden, das den im Grundgesetz
und in der Europäischen Menschenrechtskon-
vention verankerten Anspruch eines jeden Bür-
gers auf Rechtsschutz in angemessener Zeit
konkretisiert und bei Verletzung dieses Grund-
satzes einen Entschädigungsanspruch vorsieht.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrech-
te in Straßburg hatte das Gesetz angesichts
vielfacher Verurteilungen Deutschlands wegen
überlanger Verfahren immer wieder angemahnt,
zuletzt mit Fristsetzung bis Dezember 2011.
Deutschland musste bislang bereits ca. 1 Mio.
¤ Entschädigungen an die Betroffenen zahlen.
. Der Justizsenator sollte das einzusparende
Geld schon einmal vorsorglich für die abseh-
baren Bremischen Verstöße gegen das neue
Gesetz zurücklegen. ;
sonalvertretungen in den verschiedenen Justiz-
bereichen den bislang einmaligen Vorstoß der
Gerichtsspitzen begrüßten. Die Rechtsanwalts-
kammer sprach von skandalös langen Bearbei-
tungszeiten bei den Gerichten und die Bremer
Polizeiführung beklagte sich darüber, dass Straf-
täter oft erst nach Jahren angeklagt würden.
. Da passte es ins Bild, dass kurz darauf vor
dem Amtsgericht ein Strafprozess gegen 7 Hoo-
ligans begann, die nach einem bereits mehr als
4 5 Jahre zurückliegenden Überfall auf Werder-
fans im Weserstadion wegen z.T. schwerer Kör-
perverletzungstaten angeklagt waren.
. Angesichts des Protests der „Wut-Präsiden-
ten“ und der heftigen öffentlichen Justizschelte
sah sich der seit Anfang 2010 amtierende und
bislang kaum in Erscheinung getretene Justiz-
senator Günthner (SPD) – im Hauptamt Senator
für Wirtschaft, Häfen und Arbeit – veranlasst, in
einem langen, aber wenig konkreten Zeitungs-
interview zu betonen, dass er die Äußerungen
der Gerichtspräsidenten „sehr, sehr ernst“ neh-
me und bei allen notwendigen Sparanstrengun-
gen Bremens der Rechtsstaat in seiner Substanz
nicht gefährdet werden dürfe. Die Bürger hätten
auch in einem Haushaltsnotlageland Anspruch
auf ein funktionierendes Rechtssystem.
. Es waren nicht die üblichen Verdächtigen,
die Ende August d.J. gegen die im Koalitions-
vertrag festgeschriebenen Einsparziele des
Bremer rot-grünen Senats im Justizbereich pro-
testierten. Als „Aufstand der Präsidenten“ be-
zeichnete der Weser Kurier den ungewöhnlichen
öffentlichen Protest der Präsidentinnen und
Präsidenten der Bremer Obergerichte (Hans.
OLG, OVG, LAG, LSG und FG), denen sich auch
die Generalstaatsanwältin und der JVA-Leiter
angeschlossen hatten. Die vereinbarte Personal-
kürzung von 1,6 % für die nächsten 4 Jahre, die
einem Abbau von 80 weiteren Stellen entspricht,
geißeln die Justizoberen als unverantwortlich
und angesichts der zu erwartenden weiter an-
steigenden Dauer der Gerichtsverfahren als
ernsthafte Gefährdung des Rechtsstaats und
sie verweisen darauf, dass in den letzten 18 Jah-
ren die Bremer Justiz bereits 25 % ihrer Mitarbei-
terinnen und Mitarbeiter eingebüßt hat.
. Vor diesem Hintergrund klingt es wie Hohn,
wenn in demselben rot-grünen Koalitionsver-
trag der Justiz eine Personalausstattung ver-
sprochen wird, die gerichtliche Entscheidungen
zeitnah ermöglicht.
. Kein Wunder, dass der Richterverein, die
Richter u. Staatsanwälte in ver.di sowie die Per-
verdikt 2.11 , Seite 20
des Hauses. Außerdem sind viele, viele junge, neu eingestellte Kollegen
und Kolleginnen in ihrer Einweisungszeit beim Landessozialgericht von
Martin Bender in das richterliche Handwerk eingeführt worden.
. Daneben ist Martin Bender seit vielen Jahren Vorsitzender einer Kam-
mer der Schiedsstelle des diakonischen Werks Hannover, wo er sowohl
von den Vertretern der Mitarbeitervertretungen als auch von Arbeitgeber-
seite wegen tiefer Kenntnisse, ausgleichendem Wesen und souveräner
Verhandlungsführung gelobt wird und weiterhin die Grenzen des kirch-
lichen Arbeitsrechts auslotet.
Martins gewerkschaftliches Engagement. Neben all diesen Verpflichtungen ist Martin sozusagen schon immer
Mitglied der Gewerkschaft, engagiert sich regional im niedersächsischen
Fachausschuss von ötv/verdi und überregional im Bundesfachausschuss
der Gewerkschaftsrichter. Er hat zum Beispiel für die Gewerkschaft un-
zählige Versammlungen über sich ergehen lassen, die sich mit Pebbsy
befassten. Last but not least ist Martin auch fast immer schon – seit
[ D I E M E I N U N G ]
Bernd Asbrock
Aufstand der Präsidenten
1984 – der ruhende Pol in der Redaktionsarbeit unserer kleinen Zeitung.
Immer bereit, zusätzliche Aufgaben zu übernehmen und diese mit größ-
ter Zuverlässigkeit abzuarbeiten; immer wieder den Kontakt mit der Ge-
werkschaft und dem in ihr vertretenen großen Spektrum von Interessen
zu suchen; immer ausgleichend und vermittelnd, wenn alte Matadore
ihre Lieblingsthemen vielleicht ein wenig über Gebühr ausbreiten; immer
den Bedürfnissen der Kollegen und Kolleginnen verpflichtet, die die Zei-
tung mit Gewinn zur Hand nehmen sollen. Redaktionssitzungen im
benderschen Wohnzimmer hoch über der Eilenriede waren und sind
immer ein Genuss, reichlich unterstützt vom guten Kuchen aus der Hof-
bäckerei, wunderbaren Imbissen und dem die Arbeit so erleichternden
Roten. So vergehen die Stunden schnell – und pardauz auch die Jahre.
Eigentlich kann es noch keiner glauben, dass ein so jugendlicher Mann,
Kollege und Freund schon die Altersgrenze erreicht haben soll und
wahrscheinlich liegt dem auch ein großer Irrtum zu Grunde. Wir waren
jedenfalls – mal wieder – schlauer als das Land Niedersachsen und ha-
ben uns der weiteren Mitarbeit von Martin über den Ruhestand hinaus
versichert. Darauf freuen wir uns sehr!! ;
verdikt 2.2011_1_c 27.10.2011 12:00 Uhr Seite 20
verdikt 2.11 , Seite 21
. Sie trat so scharf und so sicher zwischen die Eier hinein, bei den Eiern
nieder, dass man jeden Augenblick dachte, sie müsse eins zertreten oder
bei schnellen Wendungen das andere fortschleudern. Mitnichten! Sie be-
rührte keines, ob sie gleich mit allen Arten von Schritten, engen und weiten,
ja sogar mit Sprüngen und zuletzt halb kniend sich durch die Reihen wand.
…. Der Tanz ging zu Ende; sie rollte die Eier mit den Füßen sachte zusammen
auf ein Häufchen, ließ keines zurück, beschädigte keines und stellte sich
dazu, indem sie die Binde von den Augen nahm und ihr Kunststück mit
einem Bückling endigte.
(Wilhelm Meisters Lehrjahre, 2. Buch, 8. Kapitel)
. Seit der bekannteste deutsche Jurist diese Szene beschrieben hat
(1829), spricht man bei schwer verständlichem Hin- und Herwinden
vom Eiertanz. Damit scheint mir die Haltung der etablierten deutschen
Rechtswissenschaft zur Europäischen Menschenrechtskonvention und
den auf ihr basierenden Urteilen des Straßburger Menschenrechtsge-
richtshofs treffend beschrieben. Mal nannte man sie „Bundesrecht“A,
mal „gültiges innerdeutsches Recht“B, „in deutsches Recht umgeform-
tes Recht“C, „Recht mit Gesetzeskraft“D oder „Vorschriften bundesrecht-
licher Art“E, aber immer und nach wie vor bezeichnet die herrschende
Lehre die EMRK als „einfaches Gesetz“ mit minderer Geltung, jedenfalls
als Verfassungsrecht. Niemand, der sich mit ihr befasst, versäumt, das
zu erwähnen. Wie es dazu kam, versuche ich zu erklären. Im Grunde
wird es schon in der Ankündigung meines Referats verraten. Es hat eine
längere Vorgeschichte, deren Ergebnisse uns noch heute belasten.
. „Keine Rechtspraxis“, schreibt Winfried Hassemer in einer Analyse
der bundesrepublikanischen Strafrechtswissenschaft, „und keine Vor-
stellung vom Recht war nach 1945 so wie zuvor“F. Das genaue Gegenteil
scheint mir richtig: mit Zähnen und Klauen hielten Justiz und Rechts-
wissenschaft an den „Errungenschaften“ jener zwölf Jahre fest, von
den verschärften Strafen für Homosexualitität und Abtreibung über das
Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses bis zu den verschiede-
nen Strafprozessnovellen des Dritten Reichs.
1 Bundesverwaltungsgericht, BVerwGE, NJW 1958, S. 35; BayVerfGHE 12 II, S. 71; OLG Bremen,
JZ 1960, S.260
2 Württ.-Bad. VGH, VerwRspr. 8, 861
3 OVG Münster, NJW 1965, S. 1374
4 BVerwG, DVBl. 1962, S. 490
5 BVerwGE 3, 58
6 Strafrechtswissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland, in: D. Simon (Hrsg.),
Rechtswissenschaft in der Bonner Republik (1994), S. 259
7 Dallinger, SJZ 1950, S. 731
8 BT-Drs. 4/178
9 Die Wiederherstellung rechtsstaatlicher Garantien im deutschen Strafprozessrecht,
Festschrift für H.F. Pfenninger (1956), S. 7
Die Ablehnung Grundlegender Reformen nach dem Krieg durch diedeutsche Rechswissenschaft
. In den späten vierziger Jahren war die deutsche Juristenschaft einig,
dass „grundlegende Reformen (unserer Rechtsordnung) jedenfalls zur
Zeit nicht erstrebenswert“ seienG und die Bundesregierung meinte,
dass „übereilte Änderungen sich in verhängnisvoller Weise auswirken
und dem Ansehen der deutschen Rechtspflege Abbruch tun“ müsstenH.
Im Rückblick auf diese Zeit resümierte der keineswegs ns-belastete, von
der französischen Besatzungsmacht zum Generalstaatsanwalt am OLG
Freiburg ernannte Karl Siegfried Bader im Jahr 1956: „Nach 1945 mit großer
Vehemenz auftauchenden Versuchen, englische und amerikanische
Rechtsgrundsätze einzuführen, mußte aus Gründen einer sinnvollen
Rechtskontinuität entgegengetreten werden.“I
Die Wurzeln der EMRK
. Englische und amerikanische Rechtsprinzipien waren auch die
Menschenrechtskonventionen der UNO und des Europarats. Die Men-
schenrechtserklärung der Vereinten Nationen hatte es in Deutschland
schon deshalb schwer, weil „United Nations“ sich die Weltkriegsgegner
Deutschlands genannt hatten und die den Kern des neuen Völkerbun-
des bildeten. Schon am 1. Januar 1942 beschlossen die 26 Staaten der
„Anti-Hitler-Koalition“ in Washington die Deklaration der Vereinten
Nationen, weitere Gründungsstationen waren die Konferenzen der
Weltkriegsgegner im Oktober 1943 in Moskau und 1945 in Jalta, bis sich
die Organisation von inzwischen 50 Nationen am 26. Juni 1945 in San
Francisco formell konstituierte. Deren Menschenrechtsdeklaration
vom 10. Dezember 1948 war Vorbild für die Europäische Menschen-
rechtskonvention vom 4. November 1950 (die EMRK erklärt das aus-
drücklich in ihrer Präambel).
. Aber nicht nur ihre Herkunft diskreditierte die EMRK in den Augen der
deutschen Wissenschaft, sondern auch ihr Inhalt. Sie war nämlich in vieler-
lei Hinsicht eine Reaktion auf die in Nürnberg offen gelegten Verbrechen.
Ingo Müller
Die EMRK, nur ein einfaches Gesetz?60 Jahre Widerstand gegen die Nürnberger Prinzipien
[ R E C H T S P O L I T I K ]
Das Forum Justizgeschichte hat seine 13. Tagung unter dem Thema „Ach Europa! Ach Menschenrechte! – 60 Jahre Europäische Menschenrechts-konvention und die Justiz“ vom 23. bis 25. September 2011 traditionell in der Deutschen Richterakademie in Wustrau abgehalten.In alter Verbundenheit war Prof. Dr. Dr. Ingo Müller so freundlich, uns sein Referat zum Abdruck zu überlassen, das wir also mit Dank brandaktuellbringen können. Der Text erscheint demnächst auch im Newsletter des Forums Justizgeschichte, den Sie wie alles Wichtige auf dessen Websitewww.forum-justizgeschichte.de finden. Die Redaktion
verdikt 2.2011_1_c 27.10.2011 12:00 Uhr Seite 21
verdikt 2.11 , Seite 22
Und in der Ablehnung der Nürnberger Prozesse und der ihnen zugrunde
liegenden Prinzipien war man sich in Deutschland einig.
Die deutsche Rezeption der Nürnberger Prozesse
. In den zunächst recht dünnen, neu gegründeten juristischen Zeit-
schriften wurden in den späten vierziger Jahren die Nürnberger Prozesse
zunächst regelrecht totgeschwiegen. Allein die von Gustav Radbruch,
Karl S. Bader und Georg August Zinn gegründete Süddeutsche Juristen-
zeitung informierte ab und zu über die Verfahren. Festschriften, die da-
mals trotz Papierknappheit erschienen, setzten sich eher verschlüsselt
und historisch verbrämt mit den Nürnberger Prozessen auseinander.
Der Kölner Strafrechtsprofessor Gotthold Bohne weist in der Festschrift
für Wilhelm Sauer zum Siebzigsten 1949 mit einem Streifzug durch das
mittelalterliche Völkerstrafrecht von Hugolinus (gest. 1233) über Oldradus
de Ponte (gest. 1235) bis Albericus de Rosciate (gest. 1353) nach, dass
schon damals die Rechtskonstruktion des Nürnberger Tribunals hoff-
nungslos veraltet warAJ.
. Zu Beginn der fünfziger Jahre brauchte man seine Meinung nicht
mehr historisch zu tarnen. August von Knieriem, bis 1945 Vorstandsmit-
glied und Chefjurist der I.G. Farben, konstatierte in einem viel beachte-
ten Buch über die Prozesse, dass „wohl selten eine Anklage in einem
großen politischen Prozess so kläglich zusammengebrochen“ seiAA und
dass dort „Geschichtsklitterungen und Rechtsverdrehungen einander
ablösten“. Otto Kranzbühler, der unermüdlich die „ungesunden Recht-
sprinzipien“ von Nürnberg anprangerte, rückt in der Festschrift zu
Erich Kaufmanns Siebzigstem auch die historischen Fakten zurecht:
Angriffskrieg, das war der Kriegseintritt der USA; der deutsche Überfall
auf die Sowjetunion war dagegen ein „Akt der Verteidigung“AB. Die
Deutsche Gesellschaft für Völkerrecht lud Kranzbühler zu ihrer Ham-
burger Jahrestagung 1950, um ihn zu „Rechtsfragen der Nürnberger
Prozesse“ zu hörenAC. Und als 1961 die Katholische Akademie in Bayern
eine Tagung zu „Möglichkeiten und Grenzen für die Bewältigung histo-
rischer und politischer Schuld in Strafprozessen“ abhielt, war Kranz-
bühler Hauptreferent. Zum Nürnberger Anklagepunkt „Angriffskrieg“
meinte er, dass „das alte Mittel des Krieges … nicht verurteilt werden
(kann), weil es kein anderes und besseres (!) zur Lösung internationaler
Konflikte gibt“AD.
. Eine beispiellose wissenschaftliche Karriere konnte der langjährige
Direktor des Freiburger Max-Planck-Instituts für internationales und aus-
ländisches Strafrecht, Hans-Heinrich Jescheck, auf seine Habilitations-
schrift „Die Verantwortlichkeit der Staatsorgane nach Völkerrecht“ auf-
bauen. Schon in der Einleitung der von Edmund Mezger, Adolf Schönke
und Erich Schwinge herausgegebenen Studie nennt er die Verfahren „ein
trübes Kapitel aus den dunkelsten Stunden des deutschen Volkes“. Im
Osten und auf dem Balkan wurde „auf beiden Seiten ein Weltanschau-
ungskrieg ohne Recht und Gnade geführt, (daher ist es) unerträglich, wenn
genau gleichliegende Sachverhalte mit zweierlei Maß gemessen werden“AE,
im Übrigen sei es „Sache des Staates, dem der Beschuldigte angehört,
darüber zu entscheiden, ob hierwegen ein Strafverfahren durchgeführt
werden soll“AF. Ob für Herbert Kraus, Direktor des Instituts für Völkerrecht
an der Universität Göttingen, „Nürnberg“ ein „Inferno“ war, das „in die
Seele eines jeden, der es miterlebte, … tiefe unauslöschliche Furchen
gegraben hat“AG und er Lidice, Oradour und Auschwitz nur „Missetaten“
und „inhumane Maßnahmen“ nannte, oder Friedrich Berber, Münchener
Völkerrechtsordinarius, die fehlende Einwilligung der „Reichsführung“
rügteAH, oder ob der über Nürnberg zum Völkerrechtler mutierte Straf-
rechtler Georg Dahm das Nürnberger Tribunal „ein Ausnahmegericht für
die Besiegten“ nannte, das auf keinen Fall den Holocaust hätte beurtei-
len dürfenAI, da dieser eine innerdeutsche Angelegenheit war, die deut-
sche Rechtswissenschaft ließ an den Prozessen kein gutes Haar. Der
Hamburger Oberregierungsrat Karl-Heinz Lüders, einer der ganz weni-
gen deutschen Juristen, die den Nürnberger Prozess begrüßten, hatte
in einem der ersten Hefte der Süddeutschen Juristenzeitung behauptet,
„nur noch böswillige und verhärtete Nationalsozialisten“ zögen die
Objektivität des Nürnberger Gerichts in ZweifelBJ. Hätte er damit Recht
gehabt, müsste man die ganze deutsche Juristenschaft dazu zählen.
. Beim Beitritt Deutschlands zum Europarat sah man hier, nicht ganz
zu unrecht, eine Anerkennung der Rechtsprinzipien von Nürnberg, vor
allem im Artikel 7 der Menschenrechtskonvention, der gleich mehrfach
Bezug auf deutsche Verhältnisse nahm:
I. Niemand kann wegen einer Handlung oder Unterlassung
verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung nach inlän-
dischem oder internationalem Recht nicht strafbar war.
Ebenso darf keine höhere Strafe als die im Zeitpunkt der
Begehung der strafbaren Handlung angedrohte Strafe ver-
hängt werden.
II. Durch diesen Artikel darf die Verurteilung oder Bestrafung
einer Person nicht ausgeschlossen werden, die sich einer
Handlung oder Unterlassung schuldig gemacht hat, wel-
che im Zeitpunkt ihrer Begehung nach allgemeinen von
den zivilisierten Völkern anerkannten Rechtsgrundsätzen
strafbar war.
. Die Bestimmung, dass eine Strafe nicht nachträglich verschärft wer-
den dürfe, ist eine Anspielung auf die Lex van der Lubbe vom 29. März
1933. Damals hatten die renommiertesten deutschen Strafrechtslehrer
Nagler, Oetker und von Weber in einem Rechtsgutachten für die Reichs-
regierung ausgeführt, die nachträgliche Strafverschärfung (zur Todes-
strafe) für den Reichstagsbrandstifter sei mit dem Nulla-Poena-Grund-
satz durchaus vereinbar, weil Brandstiftung ja schon vorher strafbar
war. Das Wort vom „internationalen“ Strafrecht war schon ein Bezug
auf Nürnberg, vor allem aber der Absatz 2.
10 Organisationsverbrechen, Gruppenkriminalität und Kollektivschuld in Theorie und Praxis, in:
Festschrift für Wilhelm Sauer zu seinem 70. Geburtstag (1949), S. 128 ff.
11 Nürnberg, Rechtliche und menschliche Probleme (1953), S. 543
12 Nürnberg als Rechtsproblem, in: Um Recht und Gerechtigkeit, Festgabe für Erich Kaufmann
(1950), S. 227
13 vgl. den Tagungsbericht in: SJZ 1950, Sp. 539/540
14 Studien und Berichte der Katholischen Akademie in Bayern, Heft 19 (1962), S. 31
15 S. 297
16 a.a.O.
17 Gerichtstag in Nürnberg (1947), S. 3
18 Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. II (1962), S. 259
19 Völkerrecht, Bd. III, S. 292
20 SJZ 1946, Sp. 23
verdikt 2.2011_1_c 27.10.2011 12:00 Uhr Seite 22
verdikt 2.11 , Seite 23
. Bei der Ratifikation der Konvention machte Deutschland daher den
Vorbehalt, „dass (die Bundesrepublik) die Bestimmung des Artikels 7
Abs. 2 .der Konvention nur in den Grenzen des Artikels 103 Abs. 2 des
Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland anwenden wird“BA.
Nur der Vollständigkeit halber sei hier erwähnt, dass das Bundesverfas-
sungsgericht den Vorbehalt inzwischen für unmaßgeblich erklärt hat.
In seiner Mauerschützenentscheidung vom 24. Oktober 1996BB führt es
aus, dass niemand darauf vertrauen dürfe, „dass die von ihm vorgenom-
menen systemimmanent Straffreistellungen für immer und ewig Bestand
haben, … wenn die in der Völkergemeinschaft allgemein anerkannten
Menschenrechte in schwerwiegender Weise missachtet werden“BC.
. Aber unabhängig von Artikel 7 fiel die Konvention bei der deutschen
Rechtswissenschaft durch, vor allem wegen der umfangreichen Prozess-
garantien des Artikel 6, die in dieser oder jener Form bei uns für unbe-
achtlich erklärt werden.
Die Bagatellisierung der strafprozessualen Garantien
. Die Bagatellisierung der strafprozessualen Garantien der Konventi-
on verlief in zwei Phasen:
Zunächst wurden die einzelnen Verbürgungen als absurd und mit deut-
schem Recht unvereinbar erklärt, vor allem die (nach angelsächsischem
Verständnis) Grundvoraussetzung eines „fair trial“, die Waffengleichheit
zwischen Anklage und Verteidigung. Zwar nicht mehr mit der Vehemenz
des Marburger Strafrechtsprofessors Ulrich Stock („Fort mit dem abwe-
gigen Gedanken der Waffengleichheit, das fordert die neue Idee der Ge-
rechtigkeit“BD), aber in der Sache nicht weniger aussagekräftig meinte
Roxin, die dominierende Stellung der Staatsanwaltschaft im deutschen
Strafprozess verbiete den Grundsatz, „eine wirkliche Waffengleichheit
wäre mit unserer Verfahrensstruktur nicht zu vereinbaren“BE. Eberhard
Schmidt, Altmeister des Strafprozessrechts, fand den „Gesichtspunkt
der Waffengleichheit im Strafprozess … völlig fehl am Platz“BF. Allge-
mein war die Strafrechtslehrerschaft der Auffassung, „das ängstliche
Bemühen um eine uneingeschränkte Wahrung dieser Freiheitsrechte
(führt) im prozessualen Bereich zu einer verkrampften, doktrinär über-
steigerten Betonung dieser Rechte und (lähmt) dadurch (eine) sachge-
rechte Strafrechtspflege.“BG Die Garantie des Art. 6 Abs. 3 d, die Ladung
und Vernehmung der Entlastungszeugen unter den selben Bedingungen
wie die der Belastungszeugen zu erwirken, wurde gar nicht erst als Kon-
kretisierung der Waffengleichheit zwischen Anklage und Verteidigung
betrachtet, sondern unter Hinweis auf § 160 Abs. 2 StPO (Staatsanwalt-
schaft = „objektivste Behörde der Welt“) als erfüllt angesehen. So stieß
auch eine 1978 vorgenommene Änderung des § 245 StPO, dass nur noch
von der Staatsanwaltschaft herbeigeschaffte Beweismittel verwendet
werden müssen, nicht solche der VerteidigungBH, in der Strafrechtswis-
senschaft auf keinen Widerstand.
Ähnlich die Diskussion um die in Art. 6 Abs. 2 verbürgte Unschuldsver-
mutung: diese sei mit der deutschen Verfahrensstruktur nicht verein-
bar: „solange § 238 Abs. 1 (StPO) als Kernvorschrift des Amtsprozesses
bestehen bleibt“BI.
. Auf Dauer ließ sich die Abwehr der Konventionsgarantien mit der
Behauptung, sie seien mit deutschen Rechtsprinzipien unvereinbar,
nicht halten. Man erklärte daher, die Verbürgungen der EMRK seien im
deutschen Strafprozess erfüllt, ja übererfüllt. Die Grundgesetzgarantien
von Menschenwürde und Rechtsstaatsprinzip umfassten alle Beschuldig-
tenrechte der Konvention. Dabei ging man in teleologischer Auslegung
der EMRK von einer Gesamtbilanz des deutschen Strafverfahrens aus.
An seine Grenzen stieß diese Betrachtungsweise in einem relativ unspek-
takulären Verfahren vor dem Straßburger Gerichtshof. Obwohl Art. 6
Abs. 3 e der Konvention die „unentgeltliche Herbeiziehung eines Dol-
metschers“ garantiert, „wenn er (der Angeklagte) die Verhandlungs-
sprache des Gerichts nicht versteht oder sich nicht darin ausdrücken
kann“, wurden Verurteilten die Dolmetscherkosten gemäß dem Kosten-
verzeichnis zum GKG regelmäßig auferlegt. Als daraufhin ein Verurteil-
ter in Straßburg dagegen klagte, argumentierte die Bundesregierung:
die Vorschrift habe den Sinn, ein faires Verfahren zu garantieren. Das
deutsche Strafverfahren sei aber dermaßen fair, dass es der Kostenfrei-
stellung nicht bedürfe. Die Kommission (damals erste Instanz des
EGMR) zitierte in ihrer stattgebenden Entscheidung alle Wörterbücher
der Konventionssprachen, die sämtlich unentgeltlich mit „gratuit“,
„free of cost“, „sans payer rien“ etc. übersetzten, und meinte, dass
offenbar nur die deutsche Regierung meine, es heiße, man müsse
bezahlen. Sie prägte dazu den Leitsatz: „Die in der Europäischen Men-
schenrechtskonvention verankerten Wertentscheidungen können im
Rahmen der vertragskonformen Auslegung deutschen Rechts nur
innerhalb der Schranken berücksichtigt werden, die einer Auslegung
gezogen sind“CJ. Die Dolmetscherkosten sind inzwischen aus dem
Kostenverzeichnis verschwunden. Weitere Konsequenzen wurden aus
der Entscheidung aber nicht gezogen. Immer noch werden mittellosen
Verurteilten die Pflichtverteidigergebühren auferlegt, obwohl Art. 6
Abs. 3 c auch hier Unentgeltlichkeit fordert. Und nach wie vor wird an
unseren Universitäten gelehrt, dass die EMRK nur „Mindeststandards“
vorschreibe, die in Deutschland längst übererfüllt seien. „In der Bundes-
republik mit ihrem Grundrechtskatalog … und dem durch die Verfas-
sungsbeschwerde gesicherten Rechtsschutzverfahren“, heißt es im
meistbenutzten Handkommentar zur StPO, „ist die EMRK nur von sub-
sidiärer und verhältnismäßig geringer Bedeutung“CA.
Der konfuse Widerstand der deutschen Gerichte
. Nachdem der Menschenrechtsgerichtshof im Fall Görgülü die Ent-
scheidungen deutscher Gerichte einschließlich des Verfassungsgerichts
beanstandet hatte, es ging um das Umgangsrecht eines unehelichen
Vaters mit seinem Kind, entschied das Bundesverfassungsgericht,
Urteile aus Straßburg seien nicht „schematisch“ zu vollstrecken. Zwar
müssten deutsche Gerichte sich mit der Straßburger Rechtsprechung
21 BGBl 1954 Teil II, S. 14
22 BVerfGE 95, 96
23 a.a.O. S. 133
24 Zur Strafprozesserneuerung (1935)
25 Kern-Roxin, Strafverfahrensrecht (1975), S. 55, 57
26 Deutsches Strafprozessrecht (1967), S. 42
27 Sax, Grundsätze der Strafrechtspflege, in: Bettermann, Nipperdey, Scheuner (Hrsg.),
Die Grundrechte (1959), S. 970
28 Gesetz vom 5.10.1978, BGBl I, S. 1645
29 Sax, Grundsätze der Strafrechtspflege, in: Bettermann, Nipperdey, Scheuner (Hrsg.),
Die Grundrechte (1959), S. 990
30 EGMR vom 23.10.1978, NJW 1979, S. 1091
31 Meyer-Goßner, StPO, 48. Aufl. (2005) Rdn. 1 zu Art. 1 EMRK
verdikt 2.2011_1_c 27.10.2011 12:00 Uhr Seite 23
verdikt 2.11 , Seite 24
„gebührend auseinandersetzen“ und sie „nach Möglichkeit“ berücksich-
tigen, aber eben nicht Wort für WortCB. Das konnte niemand verstehen,
auch nicht die Richter des OLG Naumburg, die gemeint hatten, die Ent-
scheidung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs sei unbeacht-
lich und die sich damit sogar ein Rechtsbeugungsverfahren einhandel-
ten. Nach der Aussage des Verfassungsgerichts, die Urteile seien nicht
zu befolgen, aber zu berücksichtigen, verwies Lucius Wildhaber, Baseler
Völkerrechtsprofessor und von 1998 bis 2007 Präsident des Straßburger
Gerichts, in einem viel beachteten Spiegel-InterviewCC darauf, dass in der
Europäischen Menschenrechtskonvention unmissverständlich stehe,
dass alle Unterzeichnerstaaten, auch Deutschland, sich verpflichtet
hätten, den Urteilen des EGMR Folge zu leisten. Es binde alle Staatsor-
gane, auch die Gerichte: „Wir kümmern uns nicht darum, ob eine staat-
liche Regelung Verfassungsrang hat. Wenn sie gegen die europäische
Menschenrechtskonvention verstößt, muss sie geändert werden. Dazu
hat sich auch die Bundesrepublik verpflichtet. Wir prüfen auch Verfas-
sungsnormen. … Welchen Rang die Konvention in ihrer Verfassungs-
ordnung hat, ist Sache der Deutschen, wenn es aber Schwierigkeiten
bei der Umsetzung der Urteile gebe, muss man der Konvention in
Deutschland einen höheren Rang einräumen“, was viele Länder, u.a.
Österreich und sogar die Türkei schon getan hätten.
. Das wollte dagegen Präsident Papier vom Bundesverfassungsgericht
überhaupt nicht akzeptieren. In mehreren Stellungnahmen beharrte er
auf dem Primat des Grundgesetzes vor der Europäischen Menschen-
rechtskonvention und behielt sich vor, anders zu entscheiden, als die
Straßburger Richter, denn „die Europäische Menschenrechtskonvention
hat in unserer Rechtsordnung nur den Rang eines einfachen Gesetzes,
steht also unterhalb der Verfassung“. Er legte dem Straßburger Gericht
nahe, sich künftig gegenüber dem deutschen Verfassungsgericht zurück-
zuhalten und sich auf Grundrechtsentscheidungen zu beschränkenCD.
. Wildhaber äußerte daraufhin, solche Äußerungen untergraben die
Autorität des Straßburger Gerichts. Inzwischen hätten sich Anfragen
aus anderen Staaten gehäuft, ob man sich wirklich in allen Punkten an
Entscheidungen des EGMR halten müsse.
. Als im Sommer dieses Jahres in der russischen Duma ein Gesetzent-
wurf vorgelegt wurde, nach dem sich Russland vorbehält, Urteile aus
Straßburg nicht zu befolgen, wenn sie der russischen Verfassung und/
oder Rechtsprechung des Verfassungsgerichts widersprechen, titelte der
Berliner Tagesspiegel „Russland droht Rausschmiss aus Europarat“CE. In
der Tat kann der Europarat solche Nonchalance bei der Umsetzung der
Straßburger Urteile nicht dulden.
. Aber wie ist es bei uns? Es scheint an der Zeit, der Menschenrechts-
konvention endlich Verfassungsrang beizumessen und das unsinnige
Gerede vom „einfachen Gesetz“ zu beenden. ;
. Zu einem offenen Informations- und Meinungsaustausch war das
Sprecherteam des Bundesfachausschusses Richterinnen und Richter,
Staatsanwältinnen und Staatsanwälte zusammen mit den verdikt-
Redakteuren Bernd Asbrock und Hans-Ernst Böttcher sowie der ver.di-
Bundesfachgruppenleiterin Justiz, Barbara Wederhake, am 5. Mai 2011
in das Bundesministerium der Justiz eingeladen. Empfangen wurde die
Gruppe von Frau Graf-Schlicker, der Abteilungsleiterin Rechtspflege,
die – begleitet und assistiert von drei Mitarbeiterinnen und einem Mit-
arbeiter – durch ihre offene, freundliche und verbindliche Art von Anfang
an für eine sehr angenehme und von kollegialem Vertrauen getragene
Atmosphäre sorgte.
. Entsprechend der vorher eingereichten Themenliste wurden nach
einer kurzen Vorstellungsrunde folgende Punkte abgehandelt:
Selbstverwaltung der Justiz. Leider sind auf diesem Gebiet keinerlei Initiativen aus dem BMJ zu
erwarten. Da die Justizverwaltung und ihre Ausgestaltung Ländersache
ist und aus der Justizministerkonferenz keine Schritte hin zu einer stär-
keren Autonomie der Justiz zu erwarten seien, beschränke sich das Mi-
nisterium derzeit auf das Beobachten der Entwicklung sowohl im euro-
päischen als auch im deutschen Rechtsraum. Zwar sei richtig, dass sich
die Ministerin vor ihrem Amtsantritt dafür stark gemacht habe, dass sich
Deutschland in Richtung auf die in fast ganz Europa üblichen Organi-
sationsformen bewege. Da man aber davon ausgehe, dass die von den
Richterorganisationen einhellig gewünschten Reformen nicht ohne
eine Grundgesetzänderung möglich, hierfür Mehrheiten aber nicht
erkennbar seien, sähe man derzeit von irgendwelchen Initiativen ab.
Entwurf eines Gesetzes zur Förderung der Mediation. Großen Raum nahm die Diskussion dieses Punktes ein. Die Vertre-
terinnen des Ministeriums erläuterten sehr anschaulich die von ihnen
so genannte multipolare Interessenlage, die teilweise zu einer unüber-
sichtlichen „Gefechtsanordnung“ führe. Kaum ein Gesetzentwurf der
letzten Zeit habe so viele – teilweise vollständig gegensätzliche – Ände-
rungsvorschläge provoziert. Auch die Stellungnahme des Bundesrates
sei ungewöhnlich ausführlich. Deshalb sei auch noch keineswegs ab-
sehbar, welche Gestalt das noch für die Zeit vor der parlamentarischen
Sommerpause geplante endgültige Gesetz annehme. Da der Bundes-
fachausschuss zum Zeitpunkt des Gesprächs noch keine endgültige
Stellungnahme zum Gesetzentwurf beschlossen hatte, gaben dessen
Vertreter nur einige vorläufige Statements wieder, über die jedenfalls
Konsens bestand. So beispielsweise zur grundsätzlichen Befürwortung
der gerichtsinternen Mediation in allen Gerichtsbarkeiten und zum
notwendigen Schutz des richterlichen Mediators durch ein späteres
Aussageverweigerungsrecht. Kritisch wurde insbesondere auch der
geplante § 15 GVG neu beurteilt, der den Bundesländern nur für einen
beschränkten Zeitraum die Möglichkeit geben soll, Mediation einzu-
führen.
Georg Schäfer
Meinungsaustausch im Bundesjustizministerium
32 BVerfGE 111, 307 ff.
33 Nr. 47/2004, S. 50-54
34 Das Verhältnis von nationalem Verfassungsrecht zum Gemeinschaftsrecht und zur EMRK,
Statement aus Anlass des Besuchs des Bundesverfassungsgerichts beim Conseil Constitutionel
am 10. Februar 2005 in Paris; www.conseil-constitutionel.fr/bilan/20050211/int1a.htm
35 23. Juni 2011
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verdikt 2.11 , Seite 25
finanzhof von 17 % auf 21 % steigerte, ist am
BGH kaum Veränderung erkennbar. Hier wuchs
der Frauenanteil nur um einen Prozentpunkt
von 20 % auf 21 % im Jahr 2010. Hieran ist nach
Aussage von Frau Graf-Schlicker zum großen
Teil die Vorschlagspraxis der Länder verantwort-
lich. So seien im Jahr 2010 unter 65 vorgeschla-
genen Personen nur 13 Frauen gewesen, von
denen 9 gewählt wurden. Noch unbefriedigen-
der sei die Quote im Jahr 2011 gewesen, wo un-
ter 47 vorgeschlagenen Personen nur 5 Frauen
waren, von denen wiederum eine gewählt
wurde.
. Dass dieses Verhältnis alles andere als be-
friedigend ist, wurde offen zugegeben. Man
beschäftige sich intensiv mit dem Problem,
auf das die Länderministerien jährlich hinge-
wiesen würden. Nach Auffassung von Frau
Graf-Schlicker müsse dort insbesondere die
frühe Förderung geeigneter und interessierter
Frauen erheblich verstärkt werden, damit sich
mehr von ihnen bewerben. Es handele sich ins-
gesamt um einen schwierigen und langwieri-
gen Prozess, für den sich das BMJ sehr positiv
engagiere.
Weitere aktuelle Gesetzesvorhaben. Unter den aktuellen Themen, die außerdem
noch relativ kurz angesprochen wurden, befand
sich natürlich auch die Frage nach der zukünf-
tigen Handhabung der Sicherungsverwahrung,
über die das BVerfG einen Tag vor dem Besuch
der ver.di-Delegation entschieden hatte. Wie
nicht anders zu erwarten, waren unsere Ge-
sprächspartnerinnen zum damaligen Zeitpunkt
nicht in der Lage, schon Konsequenzen aus der
im Einzelnen noch nicht analysierten Entschei-
dung zu formulieren. Jedenfalls zeigte man sich
mit dem Karlsruher Ergebnis einigermaßen
zufrieden.
. Ähnliches galt auch für den viel diskutierten
„Warnarrest“ für jugendliche Gewalttäter.
Auch hierzu sei die Diskussion im Hause ent-
gegen anderweitiger Veröffentlichungen in der
Presse noch längst nicht abgeschlossen.
. Es würde zu weit führen, im Rahmen dieses
Artikels die Diskussion auch über andere Ge-
setzesvorhaben (darunter so unterschiedliche
Bereiche wie die Vorratsdatenspeicherung
einerseits, das Kostenrecht andererseits oder
zivil- und strafprozessuale Einzelvorschriften)
auch nur annähernd angemessen darzustellen.
Hervorzuheben bleibt aber, dass das gesamte
Gespräch in einer sehr angenehmen Atmosphä-
re gegenseitigen Interesses stattfand und bei-
de Seiten am Ende zusagten, den nach einer
mehrjährigen Unterbrechung wieder aufge-
nommenen Gesprächsfaden nicht abreißen zu
lassen, sondern ihn kontinuierlich weiterzu-
entwickeln. Konkret wurde von mehreren Ge-
sprächsteilnehmern der Wunsch geäußert, bei
einem Fortsetzungstermin im nächsten Jahr die
Aus- und Fortbildung der Richterinnen und
Richter als Schwerpunktthema zu wählen.
Frankfurt am Main, im Mai 2011 ;
Einflussnahme der Bundesregierung auf dieBesetzung der Wehrdienstsenate beim BVerwG. Im Jahre 2009 hatte der Bundesfachaus-
schuss öffentlich gemacht, dass sich die Bun-
desregierung in Gestalt des damaligen Bundes-
verteidigungsministers in unerträglicher Weise
in die Besetzung des Wehrdienstsenats beim
Bundesverwaltungsgericht eingemischt hatte.
Noch als Bundestagsabgeordnete und rechts-
politische Sprecherin der FDP-Fraktion hatte
dann Frau Leutheusser-Schnarrenberger ge-
genüber Frank Bsirske in einem Schreiben vom
26. Oktober 2009 versprochen, sich „in der
neuen Wahlperiode für eine entsprechende
Änderung der Wehrdisziplinarordnung einzu-
setzen“. Daraus wurde allerdings nichts, denn
ein Antrag der Fraktion DIE LINKE, § 80 Abs. 2
WDO zu streichen, fand erwartungsgemäß
keine Mehrheit, sondern wurde auf Vorschlag
des Verteidigungsausschusses, dem sich der
Rechtsausschuss anschloss, abgelehnt.
Danach ist auf absehbare Zeit mit einer Ände-
rung der Rechtslage nicht zu rechnen. Es bleibt
allerdings hier anzumerken und durch den Fach-
ausschuss weiter zu recherchieren, ob nicht
wenigstens die ressortübergreifende Absprache,
nach der das Justizministerium in dieser Ange-
legenheit dem Verteidigungsministerium die
Stellungnahme überlässt, gekündigt wird.
Zum Stand des Frauenanteils an den Bundes-gerichten. Während sich der Anteil der Richterinnen
am Bundesverwaltungsgericht in den letzten
vier Jahren von 13 % auf 27 % und am Bundes-
Die Vertreter/innen des BMJ mit der Abteilungsleiterin Rechtspflege Marie Luise Graf-Schlicker
(2. v. re.), Foto: privat
Die ver.di-Delegation mit der Leiterin der Bundesfachgruppe Justiz Barbara Wederhake (3. v. re.)
und dem Sprecher der Fachgruppe Georg Schäfer (2. v. li.), Foto: privat
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verdikt 2.11 , Seite 26
die Bewerberauswahl. Dieser Bewerbungsver-
fahrensanspruch, der ein grundrechtsgleiches
Recht ist, steht im Konflikt mit dem Grund-
satz der Ämterstabilität, der es ausschließen
soll, dass einmal erfolgte Ernennungen wieder
rückgängig gemacht werden. Seit Jahrzehnten
bemüht sich die Rechtsprechung, diese beiden
Grundsätze miteinander auszutarieren. Einen
ersten Pflock schlug das BVerfG im Jahr 1989
ein. Es bestimmte, dass der nicht ausgewählte
Mitbewerber die von ihm als fehlerhaft bewer-
tete Auswahlentscheidung nur im Wege des
einstweiligen Rechtsschutzes überprüfen lassen
kann, der faktisch an die Stelle eines Haupt-
sacheverfahrens tritt. Unterliegt er dort, kann
der Mitbewerber befördert werden, diese Ent-
scheidung ist in einem Hauptsacheverfahren
nicht mehr angreifbar. Die nachfolgende Recht-
sprechung hat diesen Ansatz in der Weise kon-
kretisiert, dass der unterlegene Mitbewerber
über die getroffene Auswahlentscheidung zu
informieren ist. Er hat dann zwei Wochen Zeit,
einstweiligen Rechtsschutz in Anspruch zu
nehmen, und zwar nicht nur in erster und zwei-
ter Instanz bei der Verwaltungsgerichtsbarkeit,
sondern im Falle der Ablehnung darüber hinaus
auch beim BVerfG.
. Für die Entscheider, die einen bestimmten
Bewerber durchdrücken oder auch nur verhin-
dern wollen, dass Stellen längere Zeit vakant
bleiben, ist die Versuchung groß, die Rechts-
schutzmöglichkeiten abzuschneiden und den
ausgewählten Bewerber vorzeitig zu ernennen,
um sich sodann auf den Standpunkt zu stellen,
die umgesetzte Entscheidung sei wegen des
Grundsatzes der Ämterstabilität nicht revisibel.
Lange Zeit bestand Unsicherheit, wie damit
umzugehen ist. Der BGH sprach 1995 einem
Bewerber, dem man vor der Ernennung des Mit-
bewerbers nicht über das Ergebnis des Auswahl-
verfahrens informiert hatte, Schadenersatz zu.
Im Jahr 2003 versuchte das BVerwG den Spagat
zwischen Bewerbungsverfahrensanspruch und
ÄmterstabilitätC. In dem zugrundeliegenden
Fall hatte der Dienstherr den von ihm ausge-
wählten Bewerber befördert, obwohl dem An-
trag des Mitbewerbers auf Erlass einer einst-
weiligen Anordnung dahingehend, die Stelle
frei zu halten, entsprochen worden war. Das
Gericht vertritt die Auffassung, dass der Dienst-
herr nicht mit Hinweis auf die Ämterstabilität
den verfassungsrechtlich gewährleisteten
effektiven Rechtsschutz vereiteln dürfe, son-
dern der unterlegene Mitbewerber seinen Be-
werbungsverfahrensanspruch im Hauptsache-
verfahren weiterverfolgen könne. Obsiege er
dort, behalte zwar der zuerst im rechtsfehler-
haften Verfahren ausgewählte Bewerber seine
Planstelle, erforderlichenfalls müsse daneben
aber noch eine weitere Stelle geschaffen werden.
3. Die Entscheidung des BVerwG vom 04.11.2010
. Eine Umsetzung der 2003 aufgestellten
Grundsätze hätte im vorliegenden Fall erhebli-
che Probleme bereitet. Es wäre kaum denkbar,
zwei Präsidenten des OLG Koblenz zu ernennen.
Auch sind nach Besoldungsgruppe R6 bewer-
tete Richterstellen in einem Bundesland sehr
rar gesät. Das BVerwG musste sich also etwas
anderes einfallen lassen. Es stellt in einem
ersten Schritt fest, dass der Dienstherr Grund-
rechte des unterlegenen Bewerbers Graefen
verletzte, indem er diesem die Möglichkeit
abschnitt, eine einstweilige Anordnung beim
BVerfG zu beantragen. Liegt ein solcher Verfah-
rensverstoß vor, ist in einem zweiten Schritt
zu prüfen, ob zumindest die ernsthafte Mög-
lichkeit bestanden hätte, dass der abgelehnte
Bewerber bei einem rechtsfehlerfreiem Ver-
lauf des Auswahlverfahrens ausgewählt und
ernannt worden wäre. Wird das bejaht, ist nach
neuer Auffassung des BVerwG die Ernennung
des ausgewählten Bewerbers mit Wirkung für
die Zukunft aufzuheben und ein erneutes
Auswahlverfahren durchzuführen. Der Grund-
satz der Ämterstabilität wird damit erheblich
relativiert.
. In einer Aufsehen erregenden Entscheidung
hat das BVerwG das Land Rheinland-Pfalz ver-
urteilt, die Ernennung eines Bewerbers zum
Präsidenten des Oberlandesgerichts Koblenz
aufzuheben und ein neues Auswahlverfahren
durchzuführen. Das Gericht stellt neue Grund-
sätze auf und stärkt die Stellung des zu Unrecht
nicht ausgewählten Mitbewerbers.
1. Der Fall
. Um die ausgeschriebene Stelle des OLG-
Präsidenten hatten sich sowohl der Koblenzer
Landgerichtspräsident Hans-Josef Graefen als
auch der Präsident des Landessozialgerichts
Ralf Bartz beworben. Beide Bewerber wurden
mit der Bestnote beurteilt. Der Justizminister
entschied sich für den Bewerber Bartz und
verwies dabei insbesondere auf die in dessen
Amtszeit als LSG-Präsident erzielten Arbeits-
ergebnisse der Sozialgerichtsbarkeit des Landes.
Der unterlegene Bewerber Graefen versuchte
die Ernennung des Ausgewählten im Wege der
einstweiligen Anordnung zu verhindern, unter-
lag jedoch im Verfahren des einstweiligen
Rechtsschutzes sowohl beim VG als auch beim
OVG. Noch während des Beschwerdeverfahrens
kündigte er an, im Falle eines zweitinstanzli-
chen Unterliegens verfassungsgerichtlichen
Eilrechtsschutz in Anspruch nehmen zu wollen.
Dies konnte er jedoch nicht mehr umsetzen, da
bereits wenige Minuten, nachdem ihm die Ent-
scheidung des OVG per Fax übermittelt worden
war, die Ernennung seines Mitbewerbers zum
OLG-Präsidenten erfolgte.
2. Entwicklung der Rechtsprechung
. Nach Art. 33 Abs. 2 GG sind Ämter von Beam-
ten und Richtern nach dem Leistungsgrundsatz,
also nach Eignung, Befähigung und fachlicher
Leistung zu vergeben. Aus dieser Bestimmung
resultiert für den einzelnen Bewerber zwar
kein Anspruch auf Ernennung, wohl aber ein
solcher auf leistungsgerechte Einbeziehung in
[ R E C H T S P R E C H U N G ]
Karl Otte | Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht in Hannover
Wer wird Präsident?Das Urteil des BVerwG vom 04.11.2010 zum KonkurrentenstreitA
1 Az.: 2 C 16/09 ZBR 2011, 91 ff.
2 Urteil vom 21.08.2003 - 2 C 14/02, ZBR 2004, 101 ff.
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verdikt 2.11 , Seite 27
Justizministeriums, anzufordern. Wegen die-
ser Defizite sei die Aufhebung der erfolgten
Ernennung und die Durchführung eines neuen
Auswahlverfahrens erforderlich.
4. Wie ging es weiter?
. Das Land beugte sich der Entscheidung und
nahm die Ernennung des Präsidenten Bartz
zurück. Die Stelle des OLG-Präsidenten wurde
zunächst neu ausgeschrieben, die Ausschrei-
bung jedoch dann mit der Begründung zurück-
gezogen, das Land wolle das OLG Koblenz mit
dem OLG Zweibrücken zusammenlegen. Der
unterlegene Bewerber Graefen beantragte da-
raufhin die Zwangsvollstreckung, das VG Kob-
lenz verpflichtete das Land, die Stelle innerhalb
eines Monats zu besetzen und drohte für den
Fall der Zuwiderhandlung ein Zwangsgeld in
Höhe von 10.000,00 ¤ an. Das vom Land ange-
rufene OVG setzte das Vollstreckungsverfahren
vorläufig aus. Es vertritt die Auffassung, dass
hier zu enge zeitliche Vorgaben gesetzt worden
seien. Auf der Internetseite des OLG Koblenz
ist die Stelle des Behördenleiters derzeit mit
„N. N.“ ausgewiesen.
5. Fazit:
. Die recht häufigen Missbrauchsfälle werden
aufgrund der Entscheidung des BVerwG zurück-
gehen. Ein Abschneiden des Rechtsschutzes
wird nur dann sanktionslos bleiben, wenn der
unterlegene Mitbewerber ersichtlich keine
Chance gehabt hätte, bei ordnungsgemäßem
. Die vom Gericht durchgeführte fiktive Nach-
zeichnung eines korrekten Verfahrens fiel zu-
gunsten des Bewerbers Graefen aus. Der Jus-
tizminister, der in Personalunion sowohl den
Präsidenten des Landessozialgerichts beurteilte,
als auch anschließend auswählte, hatte seine
Entscheidung damit begründet, dass während
dessen Amtszeit die Sozialgerichtsbarkeit des
Landes nach ausgewerteten Statistiken zur
Spitzengruppe der Sozialgerichtsbarkeit ge-
führt worden sei. Das BVerwG lässt das nicht
gelten. Statistische Angaben über Erledigungs-
zahlen und Verfahrenslaufzeiten ließen für sich
genommen keinen Rückschluss auf die Leis-
tung eines Präsidenten zu, da dieser auf die
Arbeitsweise unabhängiger Richter nicht un-
mittelbar einwirken und damit auch nicht für
deren Arbeitsergebnisse verantwortlich sein
könne.
. Der Justizminister hatte weiter darauf ver-
wiesen, dass er persönliche Eindrücke von der
Person des ausgewählten Bewerbers aufgrund
von Begegnungen bei Tagungen und vergleich-
baren Veranstaltungen bekommen habe und
ihn auch deshalb bewerten könne. Das BVerwG
stellt dazu fest, dass derartige Zusammenkünf-
te nicht geeignet seien, eine Tatsachengrund-
lage für ein Gesamturteil über die Eignung für
ein höherwertiges Amt zu liefern. Es vermisst
Tatsachenerkenntnisse über die eigentliche
Arbeit des Bewerbers. Da der Justizminister hier
keine eigenen Kenntnisse gehabt habe, sei er
verpflichtet gewesen, Beurteilungsbeiträge
hinreichend sachkundiger Personen, beispiels-
weise Mitarbeiter der Personalabteilung des
Verfahren zum Zuge zu kommen. Die Drohung
mit der Aufhebung bereits erfolgter Ernennun-
gen hat erheblichen Abschreckungscharakter.
Das bedeutet leider nicht, dass Auswahlent-
scheidungen zukünftig ausschließlich nach
dem Leistungsprinzip getroffen werden. Wie
üblich werden Vorgesetzte weiter häufig vor
Beginn des Auswahlverfahrens einen Bewerber
favorisieren und diesem mittels einer bewusst
zugeteilten besseren Beurteilungsnote zur
Beförderung verhelfen, was wegen der verwal-
tungsgerichtlich nur sehr eingeschränkten
Überprüfung von Beurteilungen kaum angreif-
bar ist. Ein Stück weit könnte die hier beste-
hende Möglichkeit der Manipulation dadurch
eingeschränkt werden, dass die Zuständigkeit
für Beurteilungen strikt von derjenigen für
Auswahlentscheidungen getrennt wird.
Literaturhinweise:
– von Roetteken, Konkurrenzschutz im Beam-
tenrecht nach dem Urteil des BVerwG vom
04.11.2010 - 2 C 16.09, ZBR 2011, 73 ff.
– Wieland, Aufhebung der Ernennung im
Konkurrentenstreit, PersR 2011, 162 ff.1 ;
Statistische Angaben über Erledigungszahlen und Verfahrenslaufzeiten (lassen) fürsich genommen keinen Rückschluss auf die Leistung eines Präsidenten zu, da die-ser auf die Arbeitsweise unabhängiger Richter nicht unmittelbar einwirken unddamit auch nicht für deren Arbeitsergebnisse verantwortlich sein (kann).
verdikt 2.2011_1_c 27.10.2011 12:01 Uhr Seite 27
verdikt 2.11 , Seite 28
Christian Bommarius
Missbrauch der JustizEin Leitartikel
verdikt 2.2011_1_c 27.10.2011 12:58 Uhr Seite 28
verdikt 2.11 , Seite 29
Betreff: Leitartikel „Missbrauch der Justiz“ Christian Bommarius
(FR vom 1.8.2011)
Sehr geehrte Damen und Herren,
. mit seinem heutigen Leitartikel spricht mir Christian Bommarius
aus der Seele. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass die
Feststellung in Artikel 92 unseres Grundgesetzes „Die rechtsprechende
Gewalt ist den Richtern anvertraut“ endlich durch echte Selbstverwal-
tung umgesetzt werden muss, dann hat ihn die rheinland-pfälzische
Landesregierung mit ihrem arroganten und von Bommarius zu Recht
als unverschämt bezeichneten Verhalten gegenüber der Dritten Gewalt
erbracht. Diese Forderung nach Selbstverwaltung der Justiz wird seit
vielen Jahren von den in der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di orga-
nisierten Richterinnen und Richtern erhoben, ebenso von der Neuen
Richtervereinigung (NRV) und seit einigen Jahren auch vom Deutschen
Richterbund. Die Modelle der drei Organisationen mögen sich im Detail
unterscheiden, im Prinzip sind sie sich aber einig: Auch in Deutschland
muss endlich der Status der Gewaltenteilung erreicht werden, der in fast
allen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union selbstverständlich ist.
. Gerade wenn uns Vertretern der Richterschaft dann in Diskussionen
von Politikern aller Couleur entgegengehalten wird, ein Justizminister
könne sich im Kabinett viel besser gegenüber seinen Kollegen durch-
setzen und die erforderlichen Mittel für die Justiz erkämpfen, so klingt
dies angesichts der aktuellen Beschlüsse in Rheinland-Pfalz wie Hohn.
Aber in Hessen sieht es derzeit auch nicht viel besser aus: Da werden in
diesen Wochen Verträge über Mietverhältnisse und Umbauten von
Gerichtsgebäuden unterzeichnet, obwohl das Gesetz, mit dem fünf
Amtsgerichte und fünf Arbeitsgerichte geschlossen werden sollen, vom
Landtag noch gar nicht verabschiedet wurde. In der nächsten Woche
findet im Landtag in Wiesbaden eine Anhörung zu dem Gesetzesvor-
haben statt, bei dem sich erwartungsgemäß alle Betroffenen gegen
diesen Rückzug der Justiz aus der Fläche aussprechen werden, dessen
Einspareffekt mehr als fraglich ist. Aber ebenso erwartungsgemäß wird
die Mehrheit im Landtag anschließend das Gesetz dennoch verabschie-
den. So sieht eben bei uns Gewaltenteilung aus.
. Es ist in dieser Situation für uns sehr betrüblich, dass von den in
den vergangenen Monaten neu gewählten Landesregierungen keine
einzige beabsichtigt, einen Schritt in Richtung Selbstverwaltung der
Justiz zu gehen. Aber wenn Ihr Leitartikel dazu führt, den Druck durch
eine größere Öffentlichkeit zu erhöhen, würde mich das sehr freuen.
Georg Schäfer,
Sprecher des Bundesfachausschusses Richterinnen und Richter, Staatsan-
wältinnen und Staatsanwälte in ver.di ;
ver.di-Gewerkschaftstag bringt Richterfor-derungen voran. Nun sind wir also auf dem Wege in die poli-
tische Sphäre etwas weiter. Wir können brand-
aktuell berichten: Der Gewerkschaftstag von
ver.di hat Ende September den im Folgenden
abgedruckten Antrag des Bundesfachgruppen-
vorstandes Justiz, der im wesentlichen von uns
Richterinnen und Richtern, Staatsanwältinnen
und Staatsanwälten formuliert worden war,
positiv auf den weiteren Weg gebracht: Er hat
beschlossen, ihn entsprechend der Empfehlung
der Antragskommission als Arbeitsmaterial
an den Bundesvorstand weiterzuleiten. Das
gibt jetzt Gelegenheit zur weiteren innerge-
werkschaftlichen Diskussion und das heißt:
Überzeugungsarbeit. Wenn am Ende steht,
dass sich der ver.di-Hauptvorstand die Forde-
rungen zu eigen macht, werden wir in der
öffentlichen Überzeugungsbildung einen
großen Schritt weiter sein. Wir werden dann
sagen können: Das sind nicht nur die Erwägun-
gen und Forderungen der gewerkschaftlich
organisierten Richterinnen und Richter, son-
dern: Dahinter steht eine große Gewerkschaft
mit fast zwei Millionen Mitgliedern und täg-
lichen Erfahrungen mit dem Recht und der
Justiz. Es wird also in den nächsten Jahren
parallel zu dem Überzeugungskampf in der
allgemeinen politischen Arena darum gehen,
aus der Richterforderung eine gesamtgewerk-
schaftliche Forderung werden zu lassen.
In Brandenburg geht es weiter. Die Projektgruppe beim brandenburgischen
Justizministerium hat im Sommer ihren zwei-
ten Arbeitsbericht unter dem Titel „Branden-
burgische Erwägungen für eine Stärkung der
Autonomie der Dritten Gewalt“ vorgelegt (vgl.
KritV Heft 2/2011, S. 119 ff.; siehe auch Stötzel,
a.a.O., S. 136 ff.).
. Der zweite Bericht der Kommission soll auch
in die Website des Justizministeriums einge-
Georg Schäfer
So sieht eben bei uns Gewaltenteilung ausEin Leserbrief vom 1.8.2011 an die Frankfurter Rundschau
[ J U S T I Z P O L I T I S C H E S ]
Hans-Ernst Böttcher
Der lange Marsch – oder: Neues von derUnabhängigkeitsbewegung
verdikt 2.2011_1_c 27.10.2011 12:01 Uhr Seite 29
verdikt 2.11 , Seite 30
Antrag zum ver.di Bundeskongress in Leipzig
Bundesfachgruppenvorstand Justiz
Fachbereich Bund und Länder
Ressort 12
(beschlossen am 21. März 2011)
ver.di fordert: Selbstverwaltung („Autonomie“) der Justiz auch inDeutschland
Bausteine für eine unabhängige, selbst verwaltete Justiz müssen sein:
Stärkung der Präsidien der einzelnen Gerichte als Selbstverwaltungs-
organe der Justiz „an der Basis“;
Einführung von Gerichtsbarkeitsräten auf Landesebene und im
Bund, deren richterliche Mitglieder in Urwahl durch alle Richter mit
gleichem Stimmrecht bestimmt werden;
Stärkung der parlamentarischen Richterwahlausschüsse; zwingende
Einrichtung von Richterwahlausschüssen auch in den Ländern, in
denen sie bisher nicht vorgesehen sind;
Enthierarchisierung der Justiz (einheitliches Richteramt, grund-
sätzlich gleiche Besoldung, Vergabe von Leitungsfunktionen auf
Zeit);
Ausreichende Finanzausstattung der Justiz; amtsangemessene
Ausgestaltung der Richtergehälter;
Grundsätzlich gleiche Rechte für unabhängige Staatsanwältinnenund Staatsanwälte wie für die Richterinnen und Richter; Abschaf-fung des Weisungsrechts der Justizministerien gegenüber der
Staatsanwaltschaft;
Sicherung und Ausbau der betrieblichen Mitbestimmung, insbeson-
dere für die nichtrichterlichen Angehörigen der Justiz in den Gerich-
ten und Staatsanwaltschaften; Mitbestimmung ist kein Gegensatz,
sondern Teil der Selbstverwaltung und auch nach Einführung der
Autonomie wichtiger denn je für die gewerkschaftliche Interessen-
vertretung in der Justiz.
Begründung:
1. Die Richterinnen und Richter, denen „die rechtsprechende Gewalt
anvertraut ist“ (Art. 92 GG), sind in ihrer Richtertätigkeit „unabhän-
gig und nur dem Gesetz unterworfen“ (Art. 97 Abs. 1 GG). Sie selbst,
die Gerichte und Staatsanwaltschaften und die Justiz insgesamt
werden jedoch nach wie vor durch die Justizminister, also durch
Angehörige der Exekutive, verwaltet. Es liegt auf der Hand, dass
eine Verwaltung der „Dritten Gewalt“ durch die Exekutive mehr als
60 Jahre nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes nicht zur unab-
hängigen Justiz passt und auch nicht europäischen Standards
genügt.
2. Die verwaltungsmäßige Anbindung der unabhängigen Dritten
Gewalt (wozu auch die Staatsanwaltschaften zu rechnen sind) an
die Justizministerien dem Grundsatz der Gewaltenteilung, denn die
Justizministerin oder der Justizminister sind als Mitglied der Regie-
rung ein Angehöriger der vollziehenden Gewalt, der Exekutive.
In Deutschland ist diese Erkenntnis in nachwirkender wilhelminischer
Tradition immer noch nicht umgesetzt, die Gewaltenteilung also
nicht vollendet. Deutschland steht im demokratischen Europa
daher inzwischen isoliert da.
Das Thema Selbstverwaltung ist nicht nur eine rechtstheoretische
Diskussion. Nachdem die Diskussion, unabweisbar aus Europa
kommend, in Deutschland zunächst nur innerhalb der Justiz und
der Organisationen der Richterschaft (einschließlich der Richterinnen
und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte in ver.di) geführt
wurde, steht sie seit ca. 2008 auch immer wieder auf der allgemein-,
rechts- und justizpolitischen Agenda einiger Landesregierungen
und Parteien. Richtungweisend hat 2009 der damalige Hamburger
Justizsenator Dr. Till Steffen mit einer Fachtagung einen Anstoß zur
öffentlichen Diskussion gegeben. Im politischen Raum sind derzeit
vorrangig der brandenburgische Justizminister Volkmar Schöne-
burg und seine Staatssekretärin, die ver.di-Kollegin und langjährige
Richterin Sabine Stachwitz, aktiv. Sie haben eine Projektgruppe ein-
gesetzt, der neben zwei ver.di-Richterkollegen auch der Frankfurter
Professor Dr. Peter-Alexis Albrecht angehört, der Ende 2008 mit einem
europaweit besetzten Kongress an der Frankfurter Uni zusammen
mit deutschen und europäischen Richterorganisationen das Thema
in Deutschland auf die politische Tagesordnung gebracht hat. Ver-
einzelt haben sich auch Parteien und Landtagsfraktionen in Anhö-
rungen schon mit dem Thema auseinandergesetzt, und werden dies
in Zukunft verstärkt tun. Die Bundesministerin der Justiz, Frau
Leutheusser-Schnarrenberger, die sich vor ihrem erneuten Amts-
ver.di fordert: Selbstverwaltung der Justiz auch in Deutschland
verdikt 2.2011_1_c 27.10.2011 12:01 Uhr Seite 30
verdikt 2.11 , Seite 31
antritt im Europarat 2009 entschieden für
eine künftige organisatorische Unabhän-
gigkeit der Justiz ausgesprochen hatte,
hält sich derzeit bedeckt, will aber die wei-
tere Diskussion in den Ländern sowie die
wissenschaftliche Diskussion abwarten.
3. Umso wichtiger ist, dass in dieser Situation
eine große Gewerkschaft wie ver.di die Au-
tonomie der Justiz zu ihrem eigenen Thema
macht und zum Fortgang der rechts- und
gesellschaftspolitischen Diskussion beiträgt.
Schließlich geht es nicht um Privilegien
von Richtern und Staatsanwälten, sondern
um eine autonome Justiz, die dem Schutz
der Bürgerrechte dient. Überdies besteht
die Justiz nicht nur aus dem richterlichen
Personal, sondern aus vielen weiteren Mit-
arbeiterinnen und Mitarbeiter justiznaher
Berufe, wie insbesondere die Rechtspfle-
gerinnen und Rechtspfleger und Justizbe-
schäftigten in den Serviceeinheiten.
Die Gewerkschaften wissen vor dem Hinter-
grund der deutschen Geschichte im dritten
Reich am besten, was eine unabhängige
Justiz für die Bürgerinnen und Bürger und
für die abhängig Beschäftigten und ihre
Interessenvertretungen wert ist und wie
wichtig diese für das demokratische Selbst-
verständnis ist.
Es ist daher organisatorisch und im Verwal-
tungsaufbau dafür Sorge zu tragen, dass
schon jeder Anschein einer Einflussnahme
der Regierung auf die innere Unabhängig-
keit der Justiz vermieden wird. ver.di soll
durch ein eindeutiges Votum dazu beitragen,
die nicht mehr zeitgemäße Konstruktion
der Justizverwaltung in Deutschland zu
überwinden. ;
stellt werden. Er ist – in Auseinandersetzung mit den klassischen Ge-
genpositionen, die auch in der Projektgruppe vertreten waren und dort
intensiv diskutiert wurden – als grundsätzliches ausgeführtes Thesen-
papier gestaltet.
. Auf der Website des Ministeriums www.mdj.brandenburg.de (unter
„Die Gerichte“, dort weiter unter „Projektgruppe richterliche Selbstver-
waltung“) finden Sie auch den ersten Bericht (vom Sommer 2010) und
den ausformulierten Gesetzesentwurf für ein modernes Richtergesetz
(von der Projektgruppe jetzt gern als Musterentwurf eines Richtergesetzes
unter dem bundesgesetzlichen status quo bezeichnet) sowie eine Erläute-
rung zu einigen Bestimmungen dieses Entwurfs (Verfasser: Hans-Ernst
Böttcher; demnächst auch in BJ Heft Nr. 108/2011).
Eine neue große „Albrecht-Initiative“ auf Bundesebene – wird sie inGang kommen?. Prof. Peter-Alexis Albrecht, der bekanntlich den bahnbrechenden
Frankfurter Kongress zur Autonomie der Justiz im November 2008
organisiert hatte und der zu den treibenden Kräften in der brandenbur-
gischen Reformkommission zählt, hat im Verlaufe des ersten Halbjah-
res 2011 die Bundesjustizministerin (in Gestalt ihrer Abteilungsleiterin
Graf-Schlicker) dazu bewegen können, in näherer Zukunft an einer
„Denkfabrik“ mitzuarbeiten, zu der außer Albrecht selbst als dem
Initiator (und wissenschaftlichen Inspirator) Repräsentanten der drei
allgemeinen richterlichen Berufsorganisationen (DRiB, ver.di und NRV)
sowie – s.o. – eine Vertretung des BMJ und vierer Länder (möglichst
zwei Befürworter des Ausbaus der Selbstverwaltung und zwei Skepti-
ker) teilnehmen sollen. Der ver.di-Hauptvorstand hat auf Vorschlag des
Bundesfachausschusses den Verfasser benannt. Da auch die anderen
richterlichen Berufsorganisationen entsprechend reagiert haben und
eigentlich nur auf das konkrete Startsignal zur ersten Zusammenkunft
warten, fragt man sich, warum die Arbeit noch nicht losgegangen ist.
Die Erklärung ist einfach und macht die Sache kompliziert: Bei den
„Pro“-Ländern hatte der Initiator außer Brandenburg noch an Hamburg
gedacht, aber dort ist inzwischen der grüne Justizsenator Steffen
abhanden gekommen und die neue SPD-Senatorin zeigt (s. dazu noch
unten) nicht die geringste Absicht, hier an die offensive Arbeit ihres
Vorgängers anzuknüpfen oder auch eigene Ansätze in Richtung Auto-
nomie der Justiz zu entwickeln. Und es will sich wohl auch nicht so
recht – auf der anderen Seite – ein Land als „Gegner“ exponieren.
Unabhängig hiervon arbeiten selbstverständlich alle Organisationen
daran, für ihre Konzepte und gemeinsam für die Zukunftssache der
Autonomie zu werben und zu streiten.
Noch einmal Brandenburg – oder: Wasser im Wein. Das, was ich oben Musterentwurf genannt habe, war einmal als
Grundlage für möglichst weitgehend übereinstimmende novellierte
Richtergesetze der Länder Brandenburg und Berlin gedacht. Die beiden
Länder drängen bekanntlich auf immer engere Kooperation, haben vor
allem –außer in der ordentlichen Gerichtsbarkeit – bereits heute gemein-
same Obergerichte, also in der Arbeits-, Sozial- und Verwaltungsgerichts-
barkeit und auch ein gemeinsames Finanzgericht; und die Angelegenheit
sollte unbedingt vor den Berliner Wahlen über die Bühne gebracht sein
verdikt 2.2011_1_c 27.10.2011 12:01 Uhr Seite 31
verdikt 2.11 , Seite 32
(Warum eigentlich, blieb unklar). Wie sich nun die Verhandlungen zwi-
schen dem Justizminister des Landes Brandenburg und der Justizsena-
torin des Landes Berlin gestalteten und was hieraus geworden ist, kann
man nur als Trauerspiel bezeichnen. Justizsenatorin von der Aue (und
vor allem ihr Staatssekretär) haben die Gespräche mit Brandenburg
wohl in einer arroganten und imperialen Weise betrieben, dass es bei
einem durch und durch konventionellen Richtergesetz in beiden Län-
dern verblieben ist (vgl. zu dessen Entstehungsgeschichte und Inhalt
Näheres in dem Bericht von Percy MacLean in diesem Heft, S. 33).
(Wo) tut sich sonst noch etwas?. Es gibt bekanntlich einige neue Landesregierungen, darunter auch
rot-grüne; andere sind gerade dabei, gebildet zu werden.
In einigen der Koalitionsvereinbarungen sind kurze Sätze zur Selbstver-
waltung enthalten, die vor allem unsere MEDEL-Freunde von der Neuen
Richtervereinigung zu Jubelrufen veranlasst haben (Mag sein – und dafür
wären sie zu loben – dass sie zu den Autoren zählen).
. Sieht man näher hin, müsste der Jubel eigentlich verhaltener aus-
fallen, wenn nicht sogar Skepsis angesagt ist. Ich will nur andeuten, in
welchem Kontext zum Gesamtthema „Justiz“ (einschl. Strafvollzug)
sich die Sätze zur Selbstverwaltung finden. Daran könnte man traurige
Aussagen zum Stellenwert der Justiz und zur Anschauung der Politiker
von der Bedeutung der Dritten Gewalt im demokratischen Rechtsstaat
knüpfen. Im Kern soll es um die Selbstverwaltung gehen.
. Im grün-roten Koalitionsvertrag in Baden-Württemberg aus diesem
Jahr findet sich unter „Leistungsstarke und moderne Justiz“ eine Passage
„Unabhängigkeit der Justiz stärken“ mit den unvermittelt zwischen
Kriminalitätsbekämpfung/Qualitätssicherung/Stellensicherung/ demo-
kratische Leitungskultur einerseits und Fortbildungspflicht für Richter
andererseits auftauchenden Sätzen: „Als einzige der drei Staatsgewalten
ist die Justiz nicht organisatorisch unabhängig. Wir werden darum die
Umsetzungsmöglichkeiten bereits vorliegender Modelle einer autono-
men Justiz mit allen Beteiligten prüfen.“
. Das haben die Koalitionäre wörtlich aus dem rot-grünen Koalitions-
vertrag in Nordrhein-Westfalen von 2010 übernommen; nur das dritte
Wort im zweiten Satz „darum“ ist originär baden-württembergisch. In
Nordrhein-Westfalen stehen die Unabhängigkeits-Passagen zwischen
effektiver Rechtsprechung/zügiger Vollstreckung/Absage an kw-Vermer-
ke wg. Arbeitszeitverlängerung einerseits und Absage an die Privatisie-
rung des Gerichtsvollzieherwesens andererseits.
. Die Koalitionsvereinbarung in Rheinland-Pfalz ist, was die Themati-
sierung größerer organisatorischer Unabhängigkeit für die Justiz an-
geht, (noch) diffuser, dafür aber auch offener: Unter „Justizstruktur und
-verwaltung“ heißt es einleitend (ehe dann sogleich die „Häuser des
Jugendrechts“ als „wichtige Instrumente der effektiven Jugendkriminali-
tätsbekämpfung“ gerühmt werden) wörtlich: „Wir wollen eine Stärkung
der Justiz als Dritte Gewalt. Sie ist nicht organisatorisch unabhängig,
sondern wird von der Exekutive verwaltet. Deshalb werden wir mit den
Organisationen der Richterinnen und Richter, der Staatsanwältinnen
und Staatsanwälte und der Anwältinnen und Anwälte im Licht der Ver-
fassungsrechtsprechung einen offenen Dialog über eine Stärkung einer
parlamentarisch kontrollierten Selbstverwaltung der Dritten Gewalt
führen.“ Konsequent heißt es weiter: „Die Koalitionspartner vereinbaren,
die Zusammensetzung und Arbeit des Richterwahlausschusses einer
Evaluierung zu unterziehen.“
. Ach ja: Und in Bremen findet man zum Thema im rot-grünen Koa-
litionsvertrag nichts. Dazu passt es, dass von den Grünen in der jetzt
(Oktober 2011) entflammten Debatte um die Novellierung der bremi-
schen Gesetzeslage zum Richterwahlausschuss die Aussage zu hören
war: Eine Selbstverwaltung wird es jedenfalls nicht geben.
. Á propos Richterwahlausschuss: Wir erinnern uns noch an die fehl-
geschlagene Initiative Anfang der neunziger Jahre des vorigen Jahrhun-
derts, in Niedersachsen einen solchen einzuführen … – dies nur zur
Erinnerung, dass wir noch einiges vor uns haben (nachzuvollziehen in
verdikt 2.02, 1.03 u. 2.03 ).
. Damit es zum Thema „Selbstverwaltung/Autonomie“ nicht einsei-
tig wird: Im saarländischen Koalitionsvertrag von 2009 zwischen CDU,
Grünen und FDP („Jamaica-Koalition“) heißt es im Kapitel „Justiz und
Strafvollzug“ unter „Justizwesen“: „Wir werden prüfen, ob die saarlän-
dische Justiz in erweitertem Umfang Aufgaben der Justizverwaltung
übernehmen kann, und zu diesem Zwecke bestehende oder geplante
Modelle einer Selbstverwaltung im In- und Ausland untersuchen.“
. Man möge alle diese Worte an den Taten der Autoren und ihrer Par-
teien messen! Aber damit ich nicht – im Sinne einer maßlosen Kritik –
missverstanden werde: Immerhin ist man in den zitierten Ländern schon
so weit im Problembewusstsein (oder auch nur der Angst, sonst Ärger
mit nahestehenden Richterorganisationen zu bekommen?) gediehen,
dass man diese Merkposten aufgenommen hat. Und festzuhalten ist:
Immer sind die Grünen dabei (in Brandenburg bei dem schon weiter
gediehenen Versuch eines think tanks die LINKE).
. Es ist, außer im Saarland, immerhin auch die SPD dabei. Aber man
hat selbst hier den Eindruck, man müsse sie wie den Hund zum Jagen
tragen. Das zeigt sich ganz extrem (jedenfalls bisher) in Berlin, wo in
einer immerhin vormals gleichen rot-roten Koalition wie in Branden-
burg, aber mit einer SPD-Senatorin, nicht ein Hauch von Verständnis für
die (dabei durch und durch realistischen) Positionen der Brandenburger
zu einer behutsamen Novellierung des Richtergesetzes in Richtung
stärkerer Autonomie vorhanden war.
. Wie dem auch sei: Der SPD wird eine Schlüsselstellung in den weite-
ren Diskussionen um die erweiterte und eines Tages zu vollendende
Selbstverwaltung (Autonomie) der Dritten Gewalt und ihrer Träger und
Angehörigen zukommen. Es wird Zeit, dass sie das begreift. Oder es
werden ihr, wie auf anderen Politikfeldern, andere Parteien die Hege-
moniefähigkeit abnehmen.
. Wir werden weiter berichten. ;
verdikt 2.2011_1_c 27.10.2011 12:01 Uhr Seite 32
verdikt 2.11 , Seite 33
. Was macht ein Justizministerium, das mehrfach im Richterwahl-
ausschuss keine Mehrheit für seine Beförderungskandidaten erhalten
hat und mit seinen Disziplinarmaßnahmen gegen unabhängige Richter
bei den Richterdienstgerichten gescheitert ist?
. Es ändert mit der Regierungsmehrheit im Parlament die Mehrheits-
verhältnisse im Richterwahlausschuss zu seinen Gunsten und die Zu-
ständigkeit und Zusammensetzung der Richterdienstgerichte.
. Nein, das geschieht nicht in Ungarn oder Italien, sondern mitten in
Deutschland, in den von SPD und Linken regierten Ländern Berlin und
Brandenburg. Getreu dem Leitgedanken des preußischen Justizministers
Leonhardt (1867-1879)B: „Solange ich über die Beförderungen bestimme,
bin ich gern bereit, den Richtern ihre sogenannte Unabhängigkeit zu
konzedieren“, haben die Länder Berlin und BrandenburgC im Mai und
Juni 2011 gegen den massiven Widerstand sämtlicher Richterverbände
und trotz deutlicher Kritik der Rechtsanwaltskammer mit der jeweiligen
Regierungsmehrheit weitgehend gleiche Richtergesetze durchgesetzt,
die wesentliche Elemente richterlicher Unabhängigkeit einschränken.
Anlass für die Regelungen war der im Jahr 2004 geschlossene Staatsver-
trag über die Errichtung gemeinsamer Fachobergerichte mit dem Ziel,
die richterrechtlichen Vorschriften zu vereinheitlichen. Von diesem An-
satz ist angesichts der zahlreichen Unterschiede in den Richtergesetzen
nicht viel geblieben. In Brandenburg konnten gegenüber den Berliner
Regelungen einige Verschärfungen verhindert werden. Das Ergebnis ist
allerdings insgesamt klar als Rückschritt zu bezeichnen. Angesichts der
mit dem Brandenburger Justizminister verbundenen Hoffnungen auf
eine stärkere Autonomie der Justiz ist das Ergebnis enttäuschendD.
. Während inzwischen alle Richterverbände wie auch der Bundesfach-
ausschuss der Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staats-
anwälte in der Gewerkschaft Ver.di verschiedene Modelle einer selbst-
verwalteten Dritten Gewalt fordern, teilweise bereits ausformulierte
Gesetzesvorschläge vorliegenE und eine Projektgruppe „Richterliche
Selbstverwaltung“ des Brandenburger Justizministeriums bereits um-
fangreiche „Erwägungen für eine Stärkung der Autonomie der Dritten
Gewalt“F vorgelegt hat, und nachdem auch der Europarat am 18. Novem-
ber 2010 mit der Magna Charta Europäischer Richterinnen und RichterG
organisatorische Garantien der richterlichen Unabhängigkeit und der
Autonomie der Judikative zu Grundprinzipien in Europa erklärt hat,
schränken die Länder Berlin und Brandenburg die ohnehin schwachen
Beteiligungsrechte der Richter- und Präsidialräte und die bisher im
bundesweiten Vergleich recht starke Position des Richterwahlaus-
schusses ein.
Richterwahlausschüsse
. Ein von parteipolitischen Mehrheitsverhältnissen unabhängiger
Richterwahlausschuss ist ein Pfeiler der Unabhängigkeit der rechtspre-
chenden Gewalt. Er vermittelt den Richtern durch die parlamentarische
Beteiligung die notwendige demokratische Legitimation und soll durch
die Beteiligung der gewählten Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwäl-
te gewährleisten, dass Personalentscheidungen in der Justiz politisch
ausgewogen, unabhängig von parteipolitischen Absprachen und allein
an dem Maßstab der Qualität und Bestenauslese orientiert sind. Perso-
nalvorschläge der Justizverwaltung werden durch den Richterwahlaus-
schuss transparent und einer Kontrolle unterworfen.
. Bislang war der Berliner Richterwahlausschuss – wie in vielen anderen
Bundesländern – paritätisch einerseits mit Abgeordneten und anderer-
seits mit gewählten Richterinnen und Richtern, Staatsanwältinnen und
Staatsanwälten und Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten besetzt,
die unabhängig von bestimmten Mehrheiten der Fraktionen über die
Einstellung, Ernennung und Beförderung allein nach fachlichen Gesichts-
punkten entschieden haben.
. Künftig werden die Richterwahlausschüsse mit einer 2/3-Mehrheit
von Abgeordneten besetzt sein und in einer ersten Sitzung zwar mit
einer 2/3-Mehrheit, in einer weiteren Sitzung aber, in die ein abgelehn-
ter Vorschlag erneut eingebracht werden kann, nur noch mit einfacher
(damit möglicherweise sogar nur mit Regierungs-) Mehrheit über die
Richterwahl entscheiden. Damit wird der Richterwahlausschuss zu
einem zahnlosen Tiger, weil keine Regierungskoalition – egal welcher
Couleur – den Vorschlag des eigenen Justizministers offen in Frage
stellen wird. Richterwahlen werden in Berlin und Brandenburg künftig
in den Hinterzimmern der Fraktionen ausgehandelt. Daran ändert auch
die in Berlin nachträglich eingefügte Öffnung nichts, anstelle von
Abgeordneten von diesen gewählte Personen in den Richterwahlaus-
schuss zu entsenden; denn diese dürfen – anders als bisher – nicht
mehr (unabhängige) Berufsrichter oder Staatsanwälte sein!
Percy MacLean
Berlin und Brandenburg verabschieden neue Richtergesetze – Legen sie die Axt an die richterlicheUnabhängigkeitA?
1 so pikanterweise die drastische Formulierung von Seiten der konservativen CDU (Abgeordne-
ter Sven Rissmann) im Rechtsausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses am 18. Mai 2011
Drucksache 16/76, S. 12.
2 Zitat bei E. Schiffer, Die Deutsche Justiz, 2. Auflage, München u. Berlin 1949, Seite 245
3 Abgeordnetenhaus von Berlin, Drucksache 16/3849 unter www. parlament-berlin.de; GVBl.
2011, S. 238.
4 vgl. den „Entwurf der [vom Brandenburger Justizminister eingesetzten] Projektgruppe ‚Rich-
terliche Selbstverwaltung‘ für ein Gesetz zur Angleichung des Richterrechts der Länder Berlin
und Brandenburg“ vom 30. Juni 2010 (http://www.mdj.brandenburg.de/sixcms/media.php/4055/
Gesetzentwurf%20Angleichung%20Richterrecht%20Berlin-Brandenburg.pdf), der leider auf
Druck der Berliner Justizverwaltung nicht annähernd umgesetzt wurde; s.a. Fn 6
5 vgl. Fn 4
6 Kritische Vierteljahresschrift 2/2011, S. 119-135; zur Zusammensetzung und zu weiteren Arbeit-
sergebnissen der Projektgruppe „Richterliche Unabhängigkeit“ s.a. die Homepage des Bran-
denburger Justizministeriums
(http://www.mdj.brandenburg.de/cms/detail.php/bb1.c.251104.de); s.a. Betrifft Justiz 4/2010
und verdikt 2.2010
7 https://wcd.coe.int/wcd/ViewDoc.jsp?id=1706263&Site=COE
verdikt 2.2011_1_c 27.10.2011 12:01 Uhr Seite 33
verdikt 2.11 , Seite 34
. Wäre es da nicht ehrlicher gewesen, auf
den Richterwahlausschuss gleich ganz zu ver-
zichten?
. Die Richtergesetze schränken zudem die
Beteiligungsrechte des Richterwahlausschus-
ses ein. Zukünftig ist nur noch der Präsidialrat
und nicht mehr der Richterwahlausschuss vor
Entlassungen von Proberichtern zu hören.
Während in Brandenburg der Richterwahlaus-
schuss immerhin bei allen Versetzungen von
Richtern zu beteiligten ist, ist der Berliner Rich-
terwahlausschuss nur dann bei Versetzungen
eingebunden, wenn es um die Besetzung von
Vizepräsidenten- und Präsidentenstellen geht.
Eine Pflicht, Stellen auszuschreiben, existiert
nur in Brandenburg. Damit kann die Berliner
Justizverwaltung beispielsweise einen Richter
am Kammergericht (dem Berliner OLG) ohne
Ausschreibung, ohne Bewerbungsverfahren
und ohne Richterwahlausschuss mit seiner Zu-
stimmung zum Landgericht (als Vorsitzenden
Richter) versetzen. Die bisherige gesetzliche
Regelung im Berliner Richtergesetz, spätestens
nach drei Jahren und neun Monaten über die
Ernennung eines Richters auf Probe zu entschei-
den und ihn zu ernennen, wird auf eine bloße
Zustimmung des Richterwahlausschusses
innerhalb dieser Frist herabgestuft, während
der entscheidende Zeitpunkt der Ernennung
auf Lebenszeit nunmehr völlig offen bleibtH.
Richterräte und Präsidialräte . Die von der Richterschaft eines Gerichts
gewählten Richterräte und Präsidialräte sind
die demokratische Vertretung der Richterinnen
und Richter und ein weiteres Fundament der
richterlichen Unabhängigkeit. Die Beteiligungs-
rechte gewährleisten, dass in der Justiz der Jus-
tizgewährleistungsanspruch und die Interessen
der Richterinnen und Richter gleichermaßen
berücksichtigt und in Einklang gebracht werden.
. Traditionell sind die Beteiligungsrechte der
Richterräte im Vergleich zu den Beteiligungs-
rechten der Betriebs- und Personalräte deutlich
geringer ausgeprägt. Dies gilt insbesondere in
Personalangelegenheiten; und für Organisation
und Ablauf der Arbeit ist ebenfalls die Justiz-
verwaltung zuständig, auf die ein Richter wenig
Einfluss hat. Die Rechte der Richtervertretung
am Gericht ähneln eher denen der Schülermit-
verwaltung an der Schule.I
. Die nunmehr beschlossenen Gesetze sehen
zwar größere Vertretungsgremien (Präsidialrat,
Richterrat, Stufenvertretungen und eine Eini-
gungsstelle), neuerdings auch einen Staatsan-
waltsrat und einen umfassenden Beteiligungs-
katalog vor. Das jeweilige Justizministerium hat
aber stets das letzte Wort und kann selbst die
wenigen bindenden Entscheidungen der Eini-
gungsstelle mit dem Argument, dass der Amts-
auftrag nicht nur unerheblich „berührt“ werde,
aufheben und letztlich allein entscheiden.
. Nach der Rechtsprechung des Bundesver-
fassungsgerichts (BVerfGE 41, 1 [13]) ist der Prä-
sidialrat ein besonderes Vertretungsorgan eines
Gerichts- oder Gerichtszweigs, dem in wichti-
gen Personalangelegenheiten Befugnisse zur
Kontrolle der im gewaltengeteilten Rechtsstaat
unvermeidbaren personellen Einflussnahme
der Exekutive auf die rechtsprechende Gewalt
eingeräumt sind. Er soll die Belange zur Geltung
bringen, die die Dritte Gewalt im Verhältnis zu
anderen Gewalten im Staat berühren.
. In der Praxis ist der Präsidialrat ein bloßes
Beteiligungsorgan, das ohnehin nur eine Stel-
lungnahme abgegeben kann, aber über kein
echtes Mitbestimmungsrecht verfügt. Künftig
wird er auch bei Versetzungen und Abordnun-
gen über sechs Monate beteiligt. Beibehalten
wurde jedoch die geradezu absurde Regelung,
dass die Präsidenten der oberen Landesgerichte
dem Präsidialrat als dessen geborene Vorsitzen-
de angehören, obwohl sie in ihrer Verwaltungs-
funktion weisungsgebundene Vertreter der
JustizverwaltungAJ sind. Niemand käme außer-
halb der Justiz auch nur auf den Gedanken, dass
der Leiter einer Behörde zugleich Vorsitzender
des eigenen Personalrats sein und über seinen
eigenen Personalvorschlag mitbestimmen oder
dazu eine Stellungnahme abgeben dürfte. Er
wäre zur Personalvertretung nicht einmal
wählbar.
Dienstgerichte. Die Richterdienstgerichte sind ein weiterer
Garant der richterlichen Unabhängigkeit. Sie
gewährleisten den Schutz der Richterinnen
und Richter gegen Maßnahmen der Justizver-
waltung, die in die richterliche Unabhängig-
keit eingreifen können. Sie sind gleichsam der
Schlussstein im Gewölbe einer unabhängigen
Justiz und eine Stütze des demokratischen
Rechtsstaats.
. Die Richtergesetze der Länder Berlin und
Brandenburg sehen nunmehr vor, die Dienst-
gerichte bei den Verwaltungsgerichten einzu-
richten und einen der richterlichen Beisitzer
durch einen anwaltlichen Beisitzer zu ersetzen.
Dies wird nach außen damit begründet, dass
man den praktischen Sachverstand und die
Außenansicht eines Anwalts in die Entschei-
dungen der Dienstgerichte einfließen lassen
wolle. Unter der Hand wird jedoch offen zuge-
geben, dass sowohl die Berliner Justizverwal-
tung als auch die Berliner Obergerichtspräsi-
denten den bestehenden Dienstgerichten mit
ihren unabhängigen Berufsrichtern misstrauen
und sich durch die neue Besetzung eine leich-
tere Disziplinierung der Richter erhoffen, weil
man Anwälten zutraut, ihren Frust über zu
lange Verfahrensdauer und unliebsame Ent-
scheidungen unter Vernachlässigung der rich-
terlichen Unabhängigkeit durch besondere
Strenge gegenüber den Richtern abzureagieren.
Ob diese Rechnung dann wirklich aufgeht, muss
sich allerdings erst in der Praxis erweisen.
Erzwungener Planstellenverzicht bei Teilzeitund Elternzeit . In Berlin hat man anders als in Brandenburg
an der schon bisher problematischen Regelung
festgehalten, Teilzeitbeschäftigung und Eltern-
zeit nur zu gewähren, wenn sich die Betroffe-
nen zuvor damit einverstanden erklären, bei
einer Änderung oder der Rückkehr innerhalb
des Gerichtszweiges an einem anderen Gericht
verwendet zu werden. Begründet wird dies mit
dem Erfordernis, das Personal flexibel einsetzen
zu können, um für eine reibungslose Rechts-
pflege zu sorgen. Nimmt beispielsweise eine
Amtsrichterin in Zivilsachen Elternzeit oder
Teilzeit, kann sie sich nach Beendigung der El-
ternzeit oder Änderung der Teilzeit auch ohne
ihre (aktuelle) Zustimmung als Beisitzerin einer
8 Die bisher auch in verschiedenen anderen Bundesländern
geübte Praxis, vom Richterwahlausschuss gewählte Richter
auf Probe nicht unmittelbar danach auf Lebenszeit zu ernen-
nen und ihnen damit die verfassungsrechtlich garantierte
persönliche Unabhängigkeit zu verweigern, ist verfassungs-
widrig (vgl. BVerfG, Beschluss vom 28. Februar 2007 – 2 BvR
2494/06 – juris). Ein solcher Proberichter ist nicht gesetzlicher
Richter. Das Argument, es müsse erst eine Planstelle frei
werden, ist seit der Änderung des BeamtStG, wonach auch
Proberichtern ein Amt übertragen wird, überholt.
9 Heribert Prantl, Die Entfesselung der dritten Gewalt, Süd-
deutschen Zeitung Nr. 81 vom 6. April 2006, Seite 28.
10 Gelegentlich werden die oberen Landesgerichte auch als
bloße Landesmittelbehörden bezeichnet.
verdikt 2.2011_1_c 27.10.2011 12:01 Uhr Seite 34
verdikt 2.11 , Seite 35
großen Strafkammer am Landgericht wiederfinden. Zwar sollen dabei
familiäre und persönliche Belange berücksichtigt werden, dies ändert
aber an der faktisch erzwungenen Zustimmung zur Versetzung nichts.
Die vor allem Frauen diskriminierende Regelung höhlt die in Art. 97
Abs. 2 GG garantierte persönliche Unabhängigkeit ohne Not aus.
Fazit und Ausblick. Die Chancen, in Berlin und Brandenburg ein einheitliches Richterge-
setz zu schaffen, das den europäischen Standards an eine organisato-
risch und personell autonome dritte Gewalt genügt, wurden nicht
genutzt. Zwar sieht Art. 98 Abs. 4 GG vor, dass die Länder bestimmen
können, dass über die Anstellung der Richter in den Ländern der Landes-
justizminister gemeinsam mit einem Richterwahlausschuss entscheidet.
Eine verbesserte Mitbestimmung der Richter und Staatsanwälte wäre
auch ohne Änderung des Grundgesetzes möglich gewesen, wenn der
politische Wille der Regierungen bestanden hätte, innerhalb der Justiz
mehr Demokratie statt Hierarchie zu wagen. In Brandenburg wurde zu-
mindest eine Evaluationsklausel aufgenommen, dem Landtag bis zum
31. Oktober 2015 über die Erfahrungen bei der Anwendung des Gesetzes
und über die Ergebnisse der Diskussionen über die Selbstverwaltung
der Justiz zu berichten. In Berlin wurde selbst dies nicht für erforderlich
gehalten. Nach Auffassung der Berliner Justizsenatorin ist die Selbst-
verwaltung der Justiz in Berlin sogar schon etabliert, weil im Rahmen
der Justizreform die Fach- und Ressourcenverantwortung im erheblichen
Umfang dezentralisiert worden sei und die Senatsverwaltung für Justiz
nur noch Aufgaben von strategischer Bedeutung wahrnehmeAA. Die Ge-
richte werden gleichsam „an der langen Leine“ geführt, die man nach
Bedarf anziehen kann.
. Übrigens wurde trotz vorgeblicher Vereinheitlichung die unterschied-
liche Besoldung der Richter und Staatsanwälte in Berlin und Branden-
burg ungeachtet gemeinsamer Fachobergerichte nicht beseitigt. Die
Richterbesoldung in Berlin und Brandenburg bleibt zudem mit deutli-
chem Abstand gegenüber allen anderen Bundesländern zurück. Berlin
ist sogar absolutes Schlusslicht in der Besoldung! Die Unterschiede sind
inzwischen so erheblich, dass selbst eine Beförderung an ein Gericht in
Berlin für Bewerber aus anderen Bundesländern zu Einkommensverlusten
führt. Wer es sich familiär leisten kann, macht bei einem Wechsel in
verschiedene andere Bundesländer selbst bei einer Herabstufung um
ein Beförderungsamt finanziell noch einen Gewinn. Werden sich Berli-
ner Richterinnen und Richter demnächst nicht mehr um Beförderungs-
ämter, sondern um Herabstufungsämter in anderen Bundesländern
bewerben?
. Was macht eigentlich ein Justizministerium, wenn sich keine Richter
und Staatsanwälte mehr für eine schlecht besoldete, familienunfreund-
liche und von der Exekutive abhängige Justiz mehr finden? ;
„… der Entwurf ist keinesfallsverabschiedungsreif“ver.di-Stellungnahme zum Entwurf eines Mediations-
gesetzes vom 15.05.2011
Noch im Mai dieses Jahres sah es so aus, als ob –
nach langen Jahren der Diskussion und der Vorar-
beiten – die Mediation, längst Gemeingut in der
deutschen Rechtslandschaft, in einigen Grundzü-
gen noch vor der parlamentarischen Sommerpause
nunmehr auch kodifiziert sein würde. Auch und
gerade für die gerichtsinterne Mediation wurde
dies zur Klarstellung erwartet.
Der Entwurf des BMJ (zuletzt als Kabinettsentwurf)
hatte allerdings schon Zweifel am Sinn seiner Um-
setzung in Gesetzesform aufkommen lassen, die
übrigens (u.a.) vom Bundesrat in seiner Stellung-
nahme, jeweils mit konstruktiven Alternativen, de-
tailliert begründet worden waren. Der Entwurf, der
doch in begrüßenswerter Absicht zur gesetzlichen
Verankerung einer neuen Streitkultur hatte beitragen
wollen, war nämlich von den Lobbyisten schon im
vorparlamentarischen Raum so zerfleddert worden,
dass seine Struktur, seine Schwerpunkte und seine
Inhalte kaum noch erwarten ließen, er könne die
tragfähige gesetzliche Grundlage der Zukunft der
Mediation in Deutschland, ob in der freien Land-
schaft oder auch bei Gericht, werden.
Nun hat sich erwiesen, dass der Deutsche Bundes-
tag den Entwurf nicht hat passieren lassen und dass
die Arbeiten im BMJ werden neu beginnen müssen.
Sie finden im Folgenden die vom Bundesfachaus-
schuss (BFA) Richterinnen und Richter, Staatsan-
wältinnen und Staatsanwälte in ver.di beschlossene
Stellungnahme, die unsere Gewerkschaft im Mai 2011
gegenüber dem Deutschen Bundestag, dem Bundes-
rat und dem BMJ abgegeben hat und von der wir
annehmen, dass sie mit ursächlich für das Inne-
halten des Gesetzgebers war.
Die Gedanken des ausführlicheren Papiers, das den
Erörterungen im BFA zu Grunde lag, finden sich im
wesentlichen wieder in dem Aufsatz unseres Redak-
tionsmitgliedes Hans-Ernst Böttcher „An sich ist
die Zeit reif, aber… - zum Regierungsentwurf eines
Gesetzes zur Förderung der Mediation und anderer
Verfahren der außergerichtlichen Streitbeilegung“,
der in den Schleswig-Holsteinischen Anzeigen
(SchlHAnz) 6/2011 erschienen ist.
Die Redaktion
11 vgl. Abgeordnetenhaus von Berlin, Plenarsitzung vom 17. Februar 2011, Nr. 9, Plenarprotokoll
16/77, S. 7388.
verdikt 2.2011_1_c 27.10.2011 12:01 Uhr Seite 35
Ressort 12Fachbereich Bund und Länder
Bundesfachgruppe Justiz
Vereinte Dienstleistungs- gewerkschaft
Bundesverwaltung
Berlin, 15. Mai 2011
Stellungnahme zum Gesetzentwurf der Bundesregierung: Gesetz zur Förderung der Mediation und anderer Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung vom 1. April 2011 (BT-Drs. 17/5335) Nach Auffassung der Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte in ver.di ist der vorgelegte Entwurf stark überarbeitungsbedürftig und in der vorliegenden Fassung keinesfalls verabschiedungsreif. Die sogleich (unter I.) folgende Kritik führt beispielhaft einige uns besonders wichtig erscheinende Punkte, insbesondere zur Regelung der gerichtsinternen Mediation, auf und ist am Schluss (unter II.) nochmals thesenartig zusammengefasst. I. Ausgewählte Anmerkungen
1. Zustimmung zur Mediation generell und insbesondere zur gerichtsnahen und gerichtsinternen Mediation Zunächst soll betont werden, dass - insofern übereinstimmend mit dem Entwurf und der Begründung - auch unseres Erachtens und insbesondere nach unseren richterlichen Erfahrungen die gesetzliche Regelung der Mediation und in diesem Zusammenhang die nunmehr ausdrückliche Einführung der Möglichkeit der Mediation auch im gerichtlichen Verfahren sinnvoll und erstrebenswert erscheinen; also auch in der Arbeitsgerichtsbarkeit und in den öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeiten. 2. Verschwiegenheitspflicht des Mediators/der Mediatorin Die in Art. 1 § 4 GE geregelte Verschwiegenheitspflicht des Mediators ergibt sich aus den Grundsätzen der Mediation.
Bundesfachausschuss Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte
verdikt 2.11 , Seite 36
verdikt 2.2011_1_c 27.10.2011 12:01 Uhr Seite 36
Sie müsste aber a) in den Prozessordnungen durch ein Zeugnisverweigerungsrecht und b) für richterliche Mediatoren überdies dienstrechtlich dadurch gesichert werden, dass
der/dem Mediator/in grundsätzlich durch den Dienstvorgesetzten eine Aussagegenehmigung nicht erteilt wird.
3. Übergangsfrist (hier auch: Auseinandersetzung mit § 15 GVG neu) In Art. 1 § 7 GE verbirgt sich hinter der harmlosen Überschrift „Übergangsbestimmung“ ein Sprengsatz. Man muss diese Norm in Zusammenhang mit dem neu zu fassenden § 15 GVG (s. Art. 2 GE, Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes) sehen. Dieser soll die Landesregierungen ermächtigen, „durch Rechtsverordnung zu bestimmen, dass gerichtsinterne Mediation in Zivilsachen angeboten wird…“ Das heißt im Klartext: Mediation findet in Zukunft nur dort statt, wo die Landesregierung eine solche Rechtsverordnung erlässt. Art. 1 § 7 Abs. 1 GE gibt bisher bestehender gerichtsinterner Mediation nur eine Übergangsfrist von einem Jahr. Das bedeutet, um es spiegelverkehrt zu wiederholen: In Ländern ohne Rechtsverordnung nach § 15 GVG neu soll es ab ein Jahr nach Inkrafttreten des Mediationsgesetzes keine gerichtsinterne Mediation mehr geben. Das aber bedeutet zugleich einen inneren Widerspruch zur Definition der gerichtsinternen Mediation als richterlicher Aufgabe und Tätigkeit. Der zuständige Bundesgesetzgeber, der die gerichtsinterne Mediation als (Teil der) Aufgabe des Richters anerkennt, darf es nicht im Wege der Verordnungsermächtigung der Exekutive der Länder überlassen, ob überhaupt Mediation stattfindet. Mit § 15 GVG neu geht der Gesetzgeber einen völlig falschen Weg. Richtig wäre es, an passender Stelle ins Gesetz (etwa im Rahmen der §§ 21 a ff GVG) einzufügen: „An den Gerichten findet nach näherer Bestimmung des Präsidiums gerichtsinterne Mediation statt.“ (Die merkwürdige Logik des Entwurfs kann man wohl nur verstehen, wenn man - s.u. 4. - § 278/278a ZPO neu und den bayerischen Sonderweg des Güterichters in den Blick nimmt.) 4. „Güterichter statt Mediation?“ - Erschwerung der Zwangsvollstreckung für Vergleiche, die nach gerichtsinterner Mediation geschlossen sind
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Kern der Regelung der gerichtsinternen Mediation (s. Art. 3 GE, Änderungen der Zivilprozessordnung) ist der neue § 278 a Abs. 1 Satz 2 ZPO, der lautet: „Soweit durch Landesrecht vorgesehen, kann das Gericht … in geeigneten Fällen eine gerichtsinterne Mediation … vorschlagen.“ Hier zeigt sich (s.o. zu 3.) die Abhängigkeit des zukünftigen Stattfindens der gerichtsinternen Mediation vom Tätigwerden des Landes-Verordnungsgebers. Darüber hinaus muss man § 278 a ZPO neu in Verbindung sehen mit der Neufassung des § 278 Abs. 5 ZPO. Dieser sagt: „Das Gericht kann die Parteien für die Güteverhandlung vor einen Güterichter als beauftragten oder ersuchten Richter verweisen.“ Der „Güterichter“ ist sozusagen die bayerische Variante der alternativen Kofliktregelung innerhalb des Gerichtsverfahrens, die bekanntlich in dem von Prof. Greger betreuten Modellversuch erprobt worden ist. Man kann das Güterichter-Modell, das nun in Gesetzesform gegossen werden soll, als Form der „Beinahe-Mediation“ bezeichnen: einerseits sollen in dem Einigungsversuch vor dem Güterichter durchaus mediative Elemente praktiziert werden, andererseits soll es doch keine Form der Mediation selbst sein. Das hat durchaus Vorteile: die umstandslose Vollstreckbarkeit der Einigung als vor einem deutschen Gericht geschlossener Vergleich gem. § 794 Abs. 1 Ziffer 1 ZPO. Der Nachteil dieser Ungleichbehandlung der beiden Modelle: a) Diese „Minderform“ gegenüber der Mediation wird unmittelbar durch Bundesgesetz dauerhaft gesetzlich geadelt, während die Mediation von der Einführung durch den Landes-Verordnungsgeber abhängig gemacht, m.a.W.: dort, wo das nicht der Fall ist, abgeschafft wird. b) Man schafft künstlich für die Einigung nach gerichtsinterner Mediation Hürden für die evtl. Vollstreckbarkeit (dazu sogleich). Zu erwarten gewesen wäre und zu fordern ist, für die gerichtsinterne Mediation (ganz abgesehen von der oben bereits abgehandelten missratenen Regelung in § 15 GVG), dass - der erprobten Praxis entsprechend - die Regelung des § 278 a ZPO, wie im neuen § 278 Abs. 5 ZPO für das Verfahren vor dem Güterichter, so gefasst wird, dass der nach dem Willen der Parteien und den Festlegungen der Geschäftsverteilung mit der Mediation betraute Richter für den Fall der Einigung auch ersuchter Richter im Sinne der ZPO ist und dass der den Fall in die Mediation gebende gesetzliche Richter dies, wie in der schon bisher praktizierten gerichtsinternen Mediation, in seinem Abgabe- und Ruhensbeschluss feststellt. Damit würden auch die (s. sogleich) künstlich geschaffenen Hindernisse für die Vollstreckung entfallen. Was die in einem neuen § 796 d ZPO geregelte Vollstreckbarkeit angeht, zeigt sich nämlich wieder die Kehrseite der bereits eingangs angemerkten Systematik: Weil der Entwurf die gerichtsinterne Mediation (nur) als eine der Formen der Mediation ansieht und deren andere Formen (außergerichtliche Mediation, gerichtsnahe Mediation, s. Art. 1 § 1 Abs. 1 Satz 2 Ziffern 1 und 2 GE ) naturgemäß nicht mit gerichtlichen Vergleichen enden können und daher einer anderen Form der Schaffung von vollstreckbaren Titeln bedürfen, liegt (s.bereits oben) nichts näher, als im Falle der gerichtsinternen Mediation
verdikt 2.11 , Seite 38
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das Verfahren so auszugestalten, dass ein Titel i.S. des § 794 Abs. 1 Ziff. 1 zu Stande kommt. II. Zusammenfassende Bewertung
1. Grundsätzlich ist der Absicht, die Mediation und dabei insbesondere auch die
gerichtsnahe und die gerichtsinterne Mediation gesetzlich zu regeln, zuzustimmen.
Zuzustimmen ist dem Entwurf auch darin, dass er im bereits laufenden gerichtlichen Verfahren das Angebot der Mediation neben der allgemeinen Zivilgerichtsbarkeit grundsätzlich auch für die Arbeitsgerichtsbarkeit und für die öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeiten vorsieht.
2. Die in § 15 GVG neu gewählte Form, das Stattfinden der Mediation von der Schaffung von Landesverordnungen abhängig zu machen, ist gänzlich verfehlt.
3. Die Mediation ist gesetzlich „chancengleich“ mit dem Modell des Güterichters auszugestalten. Womöglich ist das Modell des Güterichters gegenüber der Mediation sogar entbehrlich.
4. Das Verfahren der gerichtsinternen Mediation ist so auszugestalten, dass die Einigung als ein Vergleich anzusehen ist, der nach § 794 Abs. 1 Ziff. 1 GVG ohne weiteres vollstreckbar ist.
5. Dazu gehört, dass der richterliche Mediator für den Fall der Einigung als ersuchter Richter anzusehen ist, was - wie in der bisherigen Praxis - bei Abgabe des Verfahrens in die Mediation und Anordnung des Ruhens durch den zuvor mit der Sache betrauten gesetzlichen Richter auszusprechen ist.
6. Die Vertraulichkeits- und Verschwiegenheitsregelungen müssen für alle Mediatoren durch Regelungen zur Zeugnisverweigerung und für die richterlichen Mediatoren (gerichtsinterne Mediation) zusätzlich dienstrechtlich in der Weise getroffen werden, dass der Dienstvorgesetzte eine Aussagegenehmigung grundsätzlich nicht erteilt.
verdikt 2.11 , Seite 39
verdikt 2.2011_1_c 27.10.2011 12:01 Uhr Seite 39
verdikt 2.11 , Seite 40
. … preist der fröhliche Jägerchor aus Carl
Maria von Webers „Freischütz“ die Segnungen
der Jagd in freier Natur.
. Wir werden zurzeit Zeugen einer ganz an-
deren Jagd; einer Jagd auf brandenburgische
Richterinnen und Richter, denen nicht „die
Gnade der westdeutschen Geburt“ zuteil wurde
(diese Metapher in Anlehnung an den bekann-
ten Spruch von Altkanzler Helmut Kohl von
seiner „Gnade der späten Geburt“ sei erlaubt).
. Zum Halali blasen jetzt bei uns vornehm-
lich Landtagsabgeordnete der CDU. Sie for-
dern eine erneute Stasiüberprüfung der Richt-
erschaft in unserem Land.
. Das ist schon bemerkenswert – befand sich
doch das Justizministerium in den zurücklie-
genden zehn Jahren ( 1999 bis 2009) in den Hän-
den eben dieser Partei, ohne dass ein Justiz-
minister Schelter oder die Justizministerinnen
Richstein und Blechinger als oberste Dienst-
vorgesetzte aller Richterinnen und Richter
auch nur im Ansatz in Sorge schienen, Teile
der Richterschaft könnten Stasi belastet sein
und müssten deshalb wieder einmal überprüft
werden. Woher kommt also der Sinneswandel
in der CDU – jetzt – nachdem die Oppositions-
bänke wieder eingenommen werden mussten?
. Ist die plötzlich lauthals verkündete Sorge
ehrlich und gerechtfertigt? Ich meine, weder
noch.
. Hierzu muss man wissen, dass alle ab 1990
übernommenen und eingestellten branden-
burgischen Richterinnen und Richter nach den
im Juli 1990 noch von der Volkskammer be-
schlossenen Gesetzen und gefassten Beschlüs-
sen überprüft worden sind durch eigens gebil-
dete Richterwahlausschüsse. In tiefgreifender,
sorgfältiger und mehrstufiger Einzelfallprü-
fung wurde geklärt, ob die Richterinnen und
Richter die Voraussetzungen für ein Richteramt
in einem demokratisch verfassten Rechtsstaat
erfüllen. Zu diesen Voraussetzungen gehörten
und gehören fachliche und moralische Eig-
nung, Treue zur freiheitlich demokratischen
und sozialen Rechtsordnung, Integrität und
Fortbildungsbereitschaft – um nur einige der
Kriterien zu nennen. Im Überprüfungsverfahren
wurden Fragebögen und „Kaderakten“ aus-
gewertet, sowie vorgeschaltete Bewerberge-
spräche abgehalten, geführt von hochrangigen
und erfahrenen Richtern, wie zum Beispiel
dem Präsidenten des nordrheinwestfälischen
Landesverfassungs- und Oberverwaltungsge-
richts. Nach den seinerzeitigen Entscheidungs-
kriterien wurde ausdrücklich nicht berufen,
wer über normale Dienstpflichten hinaus mit
dem Staatssicherheitsdienst zusammengear-
beitet hatte. Ein zweites Mal wurden, als nach
drei bis fünf Jahren die erneute Wahl und
Ernennung dieser so bereits geprüften Richte-
rinnen und Richter auf Lebenszeit anstand,
ausnahmslos erneut die dann aktuellen Aus-
künfte der Stasi-Unterlagenbehörde eingeholt
und von demokratisch legitimierten Gremien
gewichtet unter fachkundiger Beratung der
Stasi-Unterlagenbehörde. Wir wissen, dass
heute noch 13 ( von gesamt 848 im Lande!)
Richterinnen und Richtern in ihrem „DDR
Leben“ mit der Stasi Berührung hatten; sie
alle hielten den strengen Beurteilungskriterien
stand und wurden in Kenntnis dieser Vergan-
genheit für geeignet und befähigt befunden,
das verantwortungsvolle Richteramt auszuüben.
Wissen muss man auch, dass die Stasi-Unter-
lagenbehörde, bei der alle Richterinnen und
Richter erfasst waren, bis 2006 gesetzlich ver-
pflichtet war, von Amts wegen beim Vorliegen
neuer Erkenntnisse dem Dienstherrn Meldung
zu erstatten. Nicht eine Meldung ging ein
trotz immens angewachsenen Materials ( z.B.
2004 die „Rosenholz“-Dateien). Gibt es ein
stärkeres Indiz für die Integrität der gewählten
und ernannten brandenburgischen Richterin-
nen und Richter? Auch ist kein einziger Fall
aufgetreten, in dem etwa hinsichtlich der Ein-
stellungsvoraussetzungen von den Bewerbern
arglistig getäuscht worden wäre.
. Sie alle nach mehr als zwanzig Jahren ohne
konkreten Anhaltspunkt mit einem General-
verdacht zu überziehen, verletzt deren An-
spruch auf Vertrauensschutz. Dem Ruf nach
erneuter Überprüfung steht auch der verfas-
sungsrechtliche Grundsatz der Verhältnis-
mäßigkeit entgegen. Es wird hier nämlich
weder ein legitimer Zweck verfolgt, noch wäre
eine erneute Überprüfung angemessen und
zumutbar für die Betroffenen.
. Den Richterinnen und Richtern gilt meine
ganze Achtung. Sie haben sich ihrer Vergan-
genheit gestellt und sie leisten seit vielen Jah-
ren eine schwierige und verantwortungsvolle
Arbeit für unsere Gesellschaft.
. Ich bin mir nicht sicher, ob die Jäger das
auch von sich sagen können. ;
Sabine Stachwitz
„Was gleicht wohl auf Erden dem Jägervergnügen …“Zur Jagd auf Stasi-Richter in Brandenburg
Sie alle nach mehr als zwanzig Jahren ohne konkreten Anhaltspunkt mit einemGeneralverdacht zu überziehen, verletzt deren Anspruch auf Vertrauensschutz.Dem Ruf nach erneuter Überprüfung steht auch der verfassungsrechtliche Grund-satz der Verhältnismäßigkeit entgegen.
verdikt 2.2011_1_c 27.10.2011 12:01 Uhr Seite 40
Allgemeine Situation
. Einsparungsvorhaben der hessischen Landesregierung:
Die Pläne zur Schließung und Zusammenlegung mehrerer Amts- und
Arbeitsgerichte wurden ungeachtet der Tatsache intensiv vorangetrie-
ben, dass die gesetzliche Grundlage dafür, das Gesetz zur Änderung
gerichtsorganisatorischer Regelungen, vor der parlamentarischen Som-
merpause nicht mehr vom Parlament verabschiedet werden konnte. Zu
diesem Gesetzentwurf gab es wieder eine gemeinsame Erklärung aller
betroffenen Richterorganisationen (Anlage).
. Diese Entwicklung nahm teilweise tragikomische Züge an, so z.B. in
Mittelhessen, wo die Maßnahmen zur Schaffung eines gemeinsamen
Arbeitsgerichts in Gießen bei gleichzeitiger Schließung der Arbeitsge-
richte Marburg und Wetzlar wegen der in Gießen erheblich höheren
Immobilienpreise und der erforderlichen Umbauten zu mindestens
mittelfristig zu erheblichen Mehrkosten führen würde, wenn der bis-
herige Standard an Büro- und Sitzungssaalflächen gehalten wird. Es
wurden heftige Diskussionen geführt, um eine tragbare Lösung zu fin-
den. Ob dies gelungen ist, wird sich erst in einigen Monaten zeigen.
. Am 10. August 2011 führte der Rechtsausschuss des Hessischen Land-
tags eine Anhörung zu dem geplanten Gesetz durch, die im Nachhinein
nur als Alibiveranstaltung angesehen werden kann. Einen ganzen Tag
lang lösten sich Vertreterinnen und Vertreter u.a. der Gerichte, der An-
waltschaft, der Gewerkschaften, der Richterorganisationen und nicht
zuletzt der betroffenen Gebietskörperschaften an den Mikrofonen ab
und trugen fast ausnahmslos ihre ablehnenden Stellungnahmen vor,
die in ausgedruckter Form einen Stapel von geschätzten 50 cm abgaben.
Schade um das schöne Papier und schade um die viele vertane Zeit! Für
alle Kenner der parlamentarischen Abläufe stand eigentlich längst fest,
dass sich an dem geplanten Gesetz nichts ändern würde. Denn bereits
in der vorausgegangenen Woche waren die ersten Verträge über Umbau-
und Umzugsmaßnahmen verbindlich geschlossen worden – erneut
ohne gesetzliche Grundlage. So erschien es zum Teil schon rührend,
mit welcher Energie manche Sprecher noch einmal an die Vertreter der
Regierungsfraktionen appellierten, die alle Argumente mit stoischer
Ruhe über sich ergehen ließen und auf die geradezu verzweifelte Frage,
warum sie denn dazu nichts erwiderten, ganz cool antworteten, es
handele sich um eine Anhörung, nicht um eine Fragestunde.
. Am Donnerstag, dem 15. September 2011 beschloss der Hessische
Landtag dann schließlich in namentlicher Abstimmung mit den Stim-
men der CDU- und FDP-Abgeordneten die Schließung der Amtsgerichte
Bad Arolsen, Rotenburg an der Fulda, Nidda, Schlüchtern und Usingen
sowie der Arbeitsgerichte Hanau, Bad Hersfeld, Limburg, Marburg und
Wetzlar.
. Der Landesrechnungshof hat im vergangenen Dezember die Bibliothe-
ken der ordentlichen Justiz geprüft und erhebliches Einsparungspoten-
zial erkannt, nachdem doch fast alle Medien auch online zur Verfügung
stehen. So soll es doch tatsächlich in Frankfurt und Kassel mehrere
juristische Bibliotheken in ein und derselben Stadt geben! Da die Lan-
desregierung inzwischen die Empfehlungen des Rechnungshofs zur
Schließung kleiner Gerichte fast komplett umgesetzt hat, ist auch hier
wahrscheinlich zunächst mit Beschwichtigung, später aber sicher mit
entsprechenden Maßnahmen zu rechnen.
. Die gemeinsame IT-Behörde, die unser Justiznetz verwalten soll,
wird jetzt wohl durch ein Gesetz eingeführt, dessen Entwurf derzeit im
Anhörungsverfahren ist. Auch hierzu wurde wieder eine gemeinsame
Stellungnahme aller Richterorganisationen abgegeben (s. S.43).
In der Behörde wird es eine mit den Bezirksrichterräten besetzte Kon-
trollkommission geben, die aufpassen soll, dass keine unberechtigten
Zugriffe auf die Gerichtsdaten erfolgen. Ein Paragraf dieses Gesetzes
enthält nun auch die Einführung des hypertrophen Gläserne-Richter-
Statistik-Programms Davin§y. Dies ist besonders pikant, weil die Be-
zirksrichterräte seit eineinhalb Jahren die Zustimmung zur Einführung
dieses Programms hartnäckig verweigern und das Ministerium ständig
den unhaltbaren Standpunkt vertritt, es handele sich nicht um eine mit-
bestimmungspflichtige Maßnahme. Nun erfolgt die Einführung mitbe-
stimmungsfrei per Gesetz. Positiv ist immerhin, dass das Ministerium
jetzt zum ersten Mal eine Beteiligung der Bezirksrichterräte und ggf.
eine Vereinbarung angeboten hat.
. Und schließlich noch das Neuste: Inzwischen drohen weitere mas-
sive Personalreduzierungen in nahezu allen Bereichen der Justiz. Auch
hierzu gibt es natürlich schon eine gemeinsame Stellungnahme. In
welchem Umfang diese verwirklicht werden, bleibt abzuwarten und
mit entsprechenden Maßnahmen zu begleiten.
Aus der Arbeit des Landesbezirksfachausschusses:
. Anfang März 2011 fand in der ver.di-Bildungsstätte wieder die tradi-
tionelle Mitgliederversammlung der in ver.di organisierten Richterinnen
und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte statt, die dieses Mal
unter keinem guten Stern stand. Wir hatten uns vorgenommen, am
Freitagnachmittag mit einer Referentin der Friedrich-Ebert-Stiftung über
Möglichkeiten der Motivierung und Mobilisierung von Kolleginnen und
Kollegen zu diskutieren. Leider musste sie zwei Tage vor der Tagung
wegen akuter Erkrankung absagen, und es gelang uns nicht, noch kurz-
fristig eine geeignete Ersatzperson zu finden. Hinzu kam, dass einige
angemeldete Teilnehmerinnen und Teilnehmer wegen des Streiks der
GdL und eines kilometerlangen Staus auf der Autobahn zwischen Frank-
furt und Gießen die Tagungsstätte erst mit mehrstündiger Verspätung
verdikt 2.11 , Seite 41
[ A U S D E R J U S T I Z ]
Georg Schäfer
Länderbericht aus Hessen mit einer Vision für 2015
verdikt 2.2011_1_c 27.10.2011 12:01 Uhr Seite 41
verdikt 2.11 , Seite 42
erreichten. Wir machten dann aus der Not eine Tugend und riefen alle
eigenen Kenntnisse über die Fortbildungsarbeit mit Metaplan-Karten
u.ä. in Erinnerung und bestritten so einen überaus produktiven Nach-
mittag, der von der Analyse der Situation bis hin zu ganz konkreten
Arbeitsaufträgen reichte, die in den nächsten Monaten umgesetzt wer-
den sollen.
. Am Samstagvormittag hatten wir den Justizstaatssekretär Rudolf
Kriszeleit zu Gast, der mit uns insbesondere über das Thema „Der gläser-
ne Richter“ diskutierte. Rainer Bram, Vorsitzender des Bezirksrichterrats
der Hessischen Arbeitsgerichtsbarkeit, hatte zunächst mit einem Refe-
rat in die Problematik eingeführt, so dass die Diskussion dann sehr
fundiert geführt werden konnte. Kopfschütteln rief die Haltung des
prinzipiell immer nach Ausgleich und konsensualen Lösungen suchen-
den Staatssekretärs hervor, für die Einführung des Programms Davin§y
sei die Mitwirkung der Bezirksrichterräte nicht erforderlich, da er sein
Wort gegeben habe, dass eine Verhaltens- und Leistungskontrolle der
Richterinnen und Richter nicht beabsichtigt sei. Alle Hinweise auf gesi-
cherte Rechtsprechung sowohl im Arbeits- als auch im Verwaltungs-
recht führten hier kaum weiter.
. Intern brachte die Mitgliederversammlung, an der wieder rund 30
Kolleginnen und Kollegen sowie zahlreiche Gäste teilnahmen, eine Än-
derung bei der Besetzung der Sprecherposition. Zum Nachfolger von
Georg Schäfer, der nicht mehr kandidierte, wählten die Anwesenden
Jens-Peter Hoth, Richter am Sozialgericht in Wiesbaden.
Frankfurt am Main im September 2011 ;
rend der Wartezeiten deutlich zuge-
nommen.
– Durch die weitgehende Abschaffung
der Printmedien werden in der Ar-
beitsgerichtsbarkeit unter Gegen-
rechnung der Druckkosten (Laser-
patronen), dem Mehrverbrauch an
Druckerpapier (2,57 Tonnen p.a.)
und der Wartezeit an dem Zentral-
drucker (durchschnittlich täglich
47 Minuten je Richter/in) EUR 55,14
p.a. eingespart.
– In einer von der Landesregierung
gelobten Aktion der Arbeitsrichter/
innen haben diese auf ihr persönli-
ches dtv-Exemplar „Arbeitsgesetze“
verzichtet, so dass das Einspar-
volumen auf EUR 312,57 angehoben
werden konnte. ;
– Der Restbestand der LAG-Bibliothek
von 11 Büchern kommt in den bis-
herigen Kopiererraum. In den ande-
ren Arbeitsgerichten werden keine
Bibliotheken mehr benötigt.
– In der bisherigen LAG-Bibliothek
steht der zentrale Drucker (das
HMdJIE hat die Abschaffung der
Einzelplatzdrucker ja wohl nur zu-
rückgestellt), an den die Richter/
innen ihre Druckaufträge bzgl. der
Literaturrecherchen senden und
dann dort abholen.
– Zur Überbrückung der Wartezeiten
vor dem Zentraldrucker werden War-
tenummern vergeben und wird ein
Stehcafé eingerichtet. Die Qualität
der Fallbearbeitung hat durch die
verbesserte Kommunikation wäh-
Vision für 2015
Der Bezirksrichterrat der Hessischen Arbeitsgerichtsbarkeit beendete sein dies-
jähriges „Osterinfo“, das allen Richterinnen und Richtern dieses Bereichs per
E-Mail zuging, mit folgender „Vision für 2015“:
verdikt 2.2011_1_c 27.10.2011 12:01 Uhr Seite 42
verdikt 2.11 , Seite 43
. Das EDV-Netz der hessischen Justiz wird von der Hessischen Zentra-
le für Datenverarbeitung (HZD), einer Oberbehörde der Landesfinanz-
verwaltung, betrieben und administriert. Seit Jahren weist die Richter-
schaft immer wieder darauf hin, dass die HZD auf alle richterlichen
Daten zugreifen kann. Die HZD und damit der Hessische Minister der
Finanzen haben die Möglichkeit zur unzulässigen Beobachtung und
zur unzulässigen inhaltlichen Kontrolle richterlicher Arbeit. Das Hessi-
sche Ministerium der Justiz, für Integration und Europa (HMdJIE) hat
Zugriffsmöglichkeiten immer wieder und vor allem auch in den letzten
Monaten vehement bestritten. Jetzt legt es den Entwurf für ein Gesetz
zur Errichtung der Informationstechnik-Stelle (IT-Stelle) der hessischen
Justiz und zur Regelung justizorganisatorischer Angelegenheiten sowie
zur Änderung von Rechtsvorschriften vor. Darin räumt das Justizminis-
terium erstmals die Möglichkeit unbefugten Zugriffs auf richterliche
Daten ein, denn der Gesetzentwurf sieht vor, eine IT-Kontrollkommis-
sion zu schaffen, die an „… Überprüfungen zum Schutz der richterlichen
Unabhängigkeit vor unbefugten Zugriffen auf richterliche Daten durch
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Hessischen Zentrale für Daten-
verarbeitung …“ mitwirken soll.
. Angeblich will das HMdJIE dem Urteil des Dienstgerichtshofs beim
Oberlandesgericht Frankfurt am Main vom 20. April 2010 – DGH 4/08 –
Rechnung tragen, indem es „die Zugriffsrechte in Bezug auf richterliche
Daten festlegen und Vorkehrungen zur Sicherung der Zweckbindung
und zum Schutz vor unbefugter Einsichtnahme“ trifft. Nachdem nun
allerdings beabsichtigt ist, die IT-Stelle, die bisher beim OLG Frankfurt
am Main angesiedelt ist, direkt dem HMdJIE zu unterstellen, müsste diese
Kontrollkommission nicht nur die HZD, sondern auch die IT-Stelle selbst
kontrollieren. Letzteres ist allerdings in dem Gesetzentwurf nicht vorge-
sehen. Über die Auseinandersetzung um die Administration richterlicher
Daten durch die HZD darf nämlich auch nicht übersehen werden, dass
bei der IT-Stelle über die Zukunft des richterlichen Arbeitsplatzes kom-
mender Richtergenerationen entschieden wird. So sollen z.B. sämtliche
Fachanwendungen für alle Gerichtsbarkeiten dort entwickelt werden.
. Die geplante Übertragung der Kontrolle der Tätigkeit der HZD auf
Einhaltung aller Bestimmungen, die der Gewährleistung der IT-Sicher-
heit der Daten der hessischen Justiz dienen, auf die zu errichtende IT-
Stelle (§ 2 Satz 2 des Gesetzentwurfs) schränkt die Einflussmöglichkei-
ten und den Umfang der Fachaufsicht des HMdJIE nicht ein. Gleiches
gilt für die vorgesehene Mitwirkung einer einzurichtenden IT-Kontroll-
kommission bei den in § 3 Satz 1 des Gesetzentwurfs nur vage beschrie-
benen Aufgaben. Die Mitwirkung beschränkt sich danach auf Überprü-
fungen zum Schutz der richterlichen Unabhängigkeit vor unbefugten
Zugriffen auf richterliche Daten durch Mitarbeiterinnen und Mitarbei-
ter der HZD, soweit die Überprüfungen im Rahmen der Fachaufsicht
nach § 2 Satz 2 des Gesetzentwurfs erfolgen sollen. Eine IT-Kontroll-
kommission ist im Übrigen ziemlich bedeutungslos, solange sie nur
mitwirkt und ihre Entschließungen das HMdJIE nicht binden.
. Unter dem Vorwand, die Arbeit in den Gerichten und den Staatsan-
waltschaften transparent darzustellen, beabsichtigt das HMdJIE, mit § 4
des Gesetzentwurfs ein so genanntes Visualisierungsprogramm unter
dem Namen „DAVIN§Y“ einzuführen. Das ist die positive Formulierung
der vorgesehenen „Aufbereitung für Vergleichszwecke“, eröffnet aber in
Wirklichkeit die Möglichkeit zu einem ausschließlich auf quantitative
Erledigungsleistungen fixierten Benchmarking. Die Qualität der richter-
lichen Entscheidung spielt danach keine Rolle mehr. Im richterlichen
Bereich ist Benchmarking unzulässig.
. Aus all diesen Gründen lehnen die im Briefkopf genannten Organi-
sationen den Gesetzentwurf ab. Sie haben kein Verständnis dafür, dass
die Entscheidung des Dienstgerichts des Bundes in der so genannten
Netzklage nicht abgewartet wird.
GEMEINSAME ERKLÄRUNG DES DEUTSCHEN RICHTERBUNDES (LV HESSEN), DER NEUEN RICHTERVEREINIGUNG (LV HESSEN), DER HESSISCHEN RICHTERINNEN UND RICHTER,
STAATSANWÄLTINNEN UND STAATS-ANWÄLTE IN VER.DI, DER VEREINIGUNG HESSISCHER VERWALTUNGSRICHTERINNEN UND VERWALTUNGSRICHTER (VHV) UND DES VERBANDES DER
RICHTERINNEN UND RICHTER AN DEN GERICHTEN FÜR ARBEITSSACHEN IN HESSEN (VRA-HESSEN)
zum Entwurf eines Gesetzes zur Errichtung der Informationstechnik-Stelle (IT-Stelle) der hessischen Justiz und zur Regelung justizorganisa-torischer Angelegenheiten sowie zur Änderung von Rechtsvorschriften
Frankfurt am Main, den 09. Mai 2011
gez. Dr. Goedel gez. Schwamb gez. Schäfer gez. Domann-Hessenauer gez. Dr. Horcher
DRB NRV ver.di VhV VRA ;
verdikt 2.2011_1_c 27.10.2011 12:01 Uhr Seite 43
verdikt 2.11 , Seite 44
. Am 3. Mai 2011 traf sich die Landesbezirksfachgruppe mit dem nieder-
sächsischen Justizminister zu einem Erfahrungsaustausch über Themen
des richterlichen Dienstes, des Justizvollzuges, des ambulanten Justiz-
sozialdienstes und der allgemeinen Justizverwaltung. Ausführlich be-
richtet Heft 1/11 des bund + länder journals.
Richterdienst. Unsere Schwerpunkte waren die R-Besoldung und die Sicherung der
Personalausstattung in der Sozialgerichtsbarkeit.
. In Niedersachsen konnte die Übernahme des Tarifergebnisses erreicht
werden. So hat der von ver.di erzielte Verhandlungserfolg auch im Be-
reich der R-Besoldung zu einer spürbaren Besoldungserhöhung geführt.
Skeptisch beurteilen wir das von Herrn Busemann verfolgte Stellen-
hebungskonzept, das im Wesentlichen die Senkung der erforderlichen
Planstellen für eine weitere Aufsichtführende Richterstelle auf 6 vorsieht.
Zurzeit sind 8 Planstellen nötig. Solche Stellenhebungskonzepte lenken
von der Forderung aller Richterorganisationen nach einer selbstverwal-
teten Justiz und einer amtsangemessenen Besoldung ab, worauf schon
Wolfgang Helbig im Zusammenhang mit der Dienstrechtsreform in Bay-
ern hinwies (verdikt 2.10). Der Kollege Dr. Michael Schwickert (Direktor
des Amtsgerichts Lingen/Ems) hat in der Arbeitsgruppe Amtsgerichte
auf unser Konzept einer selbstverwalteten Justiz mit einer amtsan-
gemessenen einheitlichen Besoldung aller Richterämter hingewiesen.
Demgegenüber verfestigen die vorgesehenen geringfügigen Stellen-
hebungen die vorhandenen hierarchischen Strukturen und erhöhen
über Beförderungen sowie Beförderungserwartungen den Einfluss der
Justizverwaltung auf die Richterschaft. Es bleibt abzuwarten, in welchem
Umfang das Stellenhebungskonzept angesichts der Sparanstrengun-
gen des Finanzministeriums bei den Beratungen des Doppelhaushalts
2012/2013 beschlossen wird.
. Angesichts des Doppelhaushalts kommt der Sicherung des Personal-
einsatzes in der Sozialgerichtsbarkeit eine besondere Bedeutung zu.
Denn fast ein Drittel der dort tätigen Richterinnen und Richter sind im
Abordnungswege, auf zeitlich befristet verlagerten Stellen und auf
Stellen mit kw-Vermerken tätig.
Justizvollzug. Thematisiert wurde insbesondere die Sonderregelung in § 47 des
Tarifvertrages für den öffentlichen Dienst der Länder über den Eintritt
in den Ruhestand zu einem Zeitpunkt, der für vergleichbare Beamten
gilt. Zur Absicherung des Ruhestandes sind die Tarifbeschäftigten zu
finanziellen Sonderopfern gezwungen.
Ambulanter Justizsozialdienst. Zum 1. Januar 2009 wurden die Bewährungs-, die Gerichts- und die
Aussteigerhilfe, die bei den Landgerichten, den Staatsanwaltschaften
und dem Justizministerium angesiedelt waren, in dem Ambulanten Jus-
tizsozialdienst Niedersachsen (AJSD) zusammengefasst. Unbefriedigend
ist insbesondere die Belastung durch hohe Fallzahlen und den Wegfall
von Unterstützungs- und Serviceleistungen, die früher die Landgerichte
erbrachten. Des Weiteren können Aufgaben im Zusammenhang mit der
Einführung der elektronischen Überwachung ehemaliger Inhaftierter
hinzukommen. Eine Personalverstärkung ist deshalb unerlässlich.
Allgemeine Justizverwaltung. Im Vordergrund standen unbefriedigende Qualifizierungs- und Ent-
wicklungsperspektiven von Tarifbeschäftigten. Durch die Umstellung
auf die Beamtenausbildung in der mittleren Beschäftigungsebene wur-
de für die Tarifbeschäftigten das Berufsbild geschlossen. Erforderlich
ist die Entwicklung eines Qualifizierungs- und Aufstiegsmodells, das
den Tarifbeschäftigten Aufstiegsmöglichkeiten bis zur Entgeltgruppe
E 11 eröffnet.
. Das Gespräch verlief in angenehmer Atmosphäre und soll fortgesetzt
werden. Alle Teilnehmer empfanden die gemeinsame Diskussion von
Problemen aus ihren Berufsfeldern als bereichernd, auch zum besseren
gegenseitigen Verständnis. Auch das ist ein nicht gering zu schätzender
Vorteil der Organisation aller Justizbeschäftigten in einer Gewerkschaft. ;
Karl Schulte | Vors. des Hauptrichterrats der nds. Sozialgerichtsbarkeit
ver.di beim niedersächsischen Justizminister Busemann
1 Vortrag am 23. 11. 2010 im Audienzsaal des Rathauses zu Lübeck, Gustav Radbruch gewidmet
anlässlich des 61. Todestages. Die Vortragsform wurde weitgehend beibehalten.
Hans-Ernst Böttcher war von 1991 bis 2009 Präsident des Landgerichts Lübeck.
Justizminister Busemann (5. v, li.) mit der ver.di-Fachgruppe
verdikt 2.2011_1_c 27.10.2011 12:01 Uhr Seite 44
. Das Stellenhebungskonzept des Nieder-
sächsischen Richterbundes ist nicht geeignet,
die strukturellen Ungerechtigkeiten zu beseiti-
gen. Es bevorzugt überdies – worauf der Direk-
tor des Amtsgerichts Cloppenburg in seiner
Stellungnahme vom 10.03.2011 hingewiesen
hat – ohne erkennbaren Grund die kleinen
Amtsgerichte.
. Wenn überhaupt erscheint daher, soweit
es die Amtsgerichte betrifft und soweit die
verfassungsrechtlichen Bedenken ausgeräumt
werden können, das bayrische Stellenhebungs-
konzept vorzugswürdig, das für Amtsgerichte
mit mehr als 7 Planstellen eine dritte R 2-Stelle
und für große Amtsgerichte (ab 20 Planstellen)
die Anhebung der Direktorenbesoldung auf R 3
vorsieht.
Hannover, August 2011 ;
verdikt 2.11 , Seite 45
Stellungnahme. Aus gewerkschaftlicher Sicht werden die
Überlegungen zu Stellenhebungen im Bereich
der R-Besoldung skeptisch beurteilt. Ich möch-
te das im Folgenden kurz umreißen.
– Zu dem Konzept der Gewerkschaft verdi
für eine Stärkung der Selbstverwaltung in
der Justiz gehört die Überlegung, dass alle
Richterämter gleichwertig sind und daher
gleich besoldet werden sollten.
– Stellenhebungen verstärken die vorhande-
nen hierarchischen Strukturen und wider-
sprechen daher den gewerkschaftlichen
Vorstellungen von einer Justizreform.
– Stellenhebungen bedeuten etwas mehr
Geld für Wenige. Im Hinblick auf die da-
raus folgenden Beförderungen und Beför-
derungserwartungen erhöhen sie bei den
Amtsgerichten zugleich den Einfluss der
Justizverwaltung auf die Richterschaft.
Nicht zuletzt deswegen ergeben sich ver-
fassungsrechtliche Bedenken gegen die
beabsichtigten Stellenhebungen.
– Stellenhebungskonzepte lenken von der
Forderung aller Richterverbände nach
einer amtsangemessenen Besoldung von
Richtern und Staatsanwälten ab.
– Vorhandene Mittel zur Finanzierung von
Stellenhebungen sollten besser allen Rich-
tern und Staatsanwälten zugute kommen.
– Keinesfalls dürfen Stellenhebungen durch
Einsparungen in anderen Dienstbereichen
der Justiz finanziert werden.
. Aus amtsgerichtlicher Perspektive könnten
Stellenhebungen bei den Amtsgerichten allen-
falls einen positiven Aspekt haben: Sie bieten
die Möglichkeit, bestehende Unstimmigkeiten
und Ungerechtigkeiten in den Besoldungsstruk-
turen von Landgerichten und Amtsgerichten
zu beseitigen.
. Während bei den Landgerichten eine R 2-
Stelle auf etwa zwei R 1-Stellen kommen, lau-
tet das Verhältnis bei den Amtsgerichten in
Niedersachsen etwa 1 zu 6,5.
Dieser große Unterschied ist nicht (mehr)
gerechtfertigt:
– Landgerichtliche Zivilsachen werden in der
Regel und nicht mehr als Ausnahme von
Einzelrichtern entschieden.
– Kleine Strafkammern unterscheiden sich
nicht wesentlich von Schöffengerichten.
Wenn überhaupt, dann dürfte der Vorsitz
in den erstinstanzlichen Schöffengerichten
das anspruchsvollere Richteramt darstellen.
– Im Bereich der Familiensachen, der Miet-
und WEG-Verfahren sowie der Landwirt-
schaftsgerichte gibt es auch beim Amts-
gericht keine Streitwertobergrenzen.
Dr. Michael Schwickert | Direktor des Amtsgerichts Lingen (Ems), für die ver.di-Fachgruppe Landesbezirk Niedersachsen-Bremen
Überlegungen zur Änderung der R- BesoldungsstrukturKritische Thesen zum niedersächsischen Stellenhebungskonzept
. In der nds./ brem. Sozialgerichtsbarkeit gibt es seit Mitte des Jahres
das Angebot, sich durch eine andere Richterin oder einen anderen Rich-
ter – hauptsächlich in der Sitzung – beraten zu lassen. Diese Beratung,
die von ausgebildeten Intervisorinnen/ Intervisoren durchgeführt wird,
zielt darauf, allgemeine Verhaltensweisen in Sitzungen zu erkennen und
besser zu steuern, wie z.b. verbale und non- verbale Kommunikation,
aber auch andere Aspekte der Verhandlungsführung zu „spiegeln“. Ganz
wesentlich ist die Vertraulichkeit der Intervision, und zwar sowohl des
Inhalts als auch der Tatsache, dass sie überhaupt stattgefunden hat.
Die Intervision ist in der nds. Sozialgerichtsbarleit nach längerer Dis-
kussion in eigener Verantwortung der Richterinnen und Richter auf
Initiative des Hauptrichterrats (HRR) und der Richterräte – und nicht,
wie in anderen Gerichtszweigen, auf Veranlassung durch die jeweilige
Gerichtsverwaltung – eingeführt worden. Das anliegende Konzept, das
allerdings mit dem Präsidenten des Landessozialgerichts abgestimmt
wurde, gibt Auskunft über die wesentlichen Grundlagen der Intervision.
Lioba Huss | Richterin am LSG und Mitglied des HRR
Intervision in der Sozialgerichtsbarkeit
verdikt 2.2011_1_c 27.10.2011 12:01 Uhr Seite 45
verdikt 2.11 , Seite 46
Einleitung
. Die kollegiale Beratung (Intervision) wird in Niedersachsen bereits
in der ordentlichen Gerichtsbarkeit, bei der Generalstaatsanwaltschaft
Braunschweig und beim Landesarbeitsgericht angeboten. Sie ist Teil des
niedersächsischen Personalentwicklungskonzeptes für Proberichterinnen
und Proberichter, das zum 1. März 2009 in Kraft getreten ist. Die Richter-
räte der niedersächsischen und der bremischen Sozialgerichtsbarkeit
beschäftigen sich seit längerer Zeit mit diesem Instrument der Quali-
tätssicherung. Nach einer Übereinkunft zwischen dem Hauptrichterrat
für die Gerichte der nds. Sozialgerichtsbarkeit und dem Präsidenten
des LSG Niedersachsen-Bremen soll die Intervision in eigener Verant-
wortung der Richterinnen und Richter in der Gerichtsbarkeit eingeführt
werden. Einige Kolleginnen und Kollegen verfügen bereits über eine
„Grundlagenausbildung“ zum Intervisor bzw. zur Intervisorin. Unab-
hängig von der Notwendigkeit weiterer, vertiefender Fortbildung ist es
deshalb sinnvoll, die Intervision mit Unterstützung des Präsidenten des
LSG nun an den Sozialgerichten, auch dem Sozialgericht Bremen und
dem Landessozialgericht zu etablieren. Dieses vom Hauptrichterrat
mit den Intervisor_innen und dem Präsidenten des LSG abgestimmte
Konzept soll dazu dienen, das Ziel, die Grundsätze, Methoden und den
äußeren Rahmen der Intervision darzustellen.
1. Ziel
. Intervision ist eine zielgerichtete Beratung unter gleichrangigen
Kolleg_innen zur Verbesserung des professionellen Handelns und zur
beruflichen Entlastung, bei der individuelle Unterstützung angeboten
wird. Sie soll im richterlichen Bereich dazu dienen, die Qualität der rich-
terlichen Arbeit – insbesondere die gute Kommunikation im Gerichts-
saal und die Kunst der Verhandlungsführung – in eigener Verantwortung
der Richterinnen und Richter nachhaltig zu sichern und zu verbessern.
Intervision bietet die Chance, unter Wahrung der richterlichen Unab-
hängigkeit einen Austausch von Wissen und Erfahrungen im Kollegium
zu ermöglichen. Sie soll keine rechtliche Beratung sein und zielt insbe-
sondere nicht darauf, rechtliche Fragen – auch keine prozessualen
Rechtsfragen – zu erörtern.
2. Grundsätze
. Intervision ist freiwillig, dies betrifft sowohl die Inanspruchnahme
der Intervision als auch die Tätigkeit als Intervisor_in. Dazu gehört auch
die freie Auswahl des Intervisors/ der Intervisorin. Sie ist außerdem ver-
traulich. Der Intervisor/ die Intervisorin unterliegt der Schweigepflicht.
Der/die Dienstvorgesetzte wird von dem Intervisor/der Intervisorin
weder über die Inanspruchnahme noch über den Inhalt der kollegialen
Beratung informiert. Sowohl der Inhalt der Intervision als auch die Tat-
sache, dass sie stattgefunden hat, taucht in keiner Personalakte oder
Beurteilung auf. Eine Intervision scheidet aus, wenn der Intervisor/ die
Intervisorin in anderer Funktion an einer dienstlichen Beurteilung des
Richters/der Richterin mitzuwirken hat.
3. Methoden
. Es kommen im Wesentlichen zwei Beratungsvarianten in Betracht:
a) Gruppenintervision findet in einer Gruppe gleichrangiger Kolleg_innen
statt, wobei die Gruppenmitglieder anhand fester Strukturen und
Regeln von Einzelnen eingebrachte Problemstellungen bearbeiten
und Lösungsvorschläge entwickeln. Dies fördert Offenheit und Ver-
ständnis und verbessert die kollegiale Zusammenarbeit und das
„Betriebsklima“.
b) Einzelintervision mit SitzungsteilnahmeDer Intervisor/die Intervisorin nimmt nach Absprache an einer Sit-
zung der Kollegin/des Kollegen in einer beobachtenden Rolle teil
und gibt nach Abschluss ein gezieltes Feedback über das konkrete
Verhalten in der Sitzung. Das Feedbackgespräch beinhaltet die Wür-
digung des Sitzungsablaufs, von kritischen Situationen und Stärken
und Schwächen. Verhaltensalternativen und Handlungsoptionen
werden gemeinsam erarbeitet.
4. Ablauf der Einzelintervision mit Sitzungsteilnahme
. Der Ablauf der Einzelintervision mit Sitzungsteilnahme soll wie
folgt gestaltet werden:
– Abstimmung eines Termins zur Vorbesprechung mit dem Intervisor/
der Intervisorin
– Vorbesprechung, die unter anderem dazu dient, die Kriterien darzu-
legen, anhand derer das Verhalten in der Sitzung beobachtet wird.
– Sitzungsteilnahme
– Zeitnahes Feedbackgespräch, ggf Verabredung einer weiteren Inter-
vision
5. Statistik / Erfahrungsaustausch
. Die Intervisoren führen eine Statistik über die Zahl der durchgeführ-
ten Beratungen, die sie dem Präsidenten des SG/ des LSG auf dessen
Anfrage vorlegen. Die Statistik enthält keine weiteren Daten.
. Einmal jährlich soll ein fachlich moderierter Erfahrungsaustausch
aller Intervisor_innen stattfinden. Dabei können auch interessierte
Richter_innen, die an einer kollegialen Beratung teilgenommen haben,
über ihre Erfahrungen mit der Intervision berichten. Gegenstand des
Erfahrungsaustausches sollen auch Verbesserungsmöglichkeiten für
das Konzept, der Fortbildungsbedarf, ggf auch der Bedarf an weiteren
Intervisor_innen sein. Der Erfahrungsaustausch wird von hierfür aus
der Gruppe der Intervisor_innen ausgewählten Richter_innen geplant
und organisiert. ;
Konzept für die Durchführung der kollegialen Beratung (Intervision) bei den Gerichten der niedersächsischen und bremischen Sozialgerichtsbarkeit
verdikt 2.2011_1_c 27.10.2011 14:11 Uhr Seite 46
1982/83 Anlass gegeben, ihn jedenfalls einmal
beim Namen zu nennen. Ich bekenne: Rinck
war mein Chef, als ich 1980 bis 1983 als Wissen-
schaftlicher Mitarbeiter in Karlsruhe war …,
und an die falsche Entscheidung des Senats
denke ich noch heute.
. Aber ob nun genannt, ob einigermaßen voll-
ständig gewürdigt oder nicht: So leben sie alle
auf, und mit ihnen die Rechtsprechung „ihrer“
Jahre, das Auf und Ab der Senate, das Verhält-
nis zwischen ihnen. Hier kann man vielleicht
sagen, dass Lamprecht die Konflikte zwischen
den Senaten eher etwas herunterspielt. Auch
diejenigen zwischen den z.T. doch sehr kon-
trären Persönlichkeiten in den Senaten. Aber
„Halt! Halt!“ (So wollte es Adolf Arndt Theo
Rasehorn im Vorwort zu dessen kritischem
Klassiker „Im Paragraphenturm“ zurufen, ehe er
dann sofort revozierte: Nein, der hat ja Recht!).
Auf Lamprecht und „Ich gehe bis nach Karls-
ruhe“ gemünzt soll das heißen: Nein, er be-
schreibt sie doch, die Risse, die durch das
Gericht und durch die Senate gehen. Besonders
krass und plastisch wird das bei der Schilderung
der Diskussion um die Vergangenheit der „Grau-
en Eminenz“ des Zweiten Senats, des Bundes-
richters Willi Geiger. Er war NS-Staatsanwalt
gewesen war und hatte zu Zeiten der Reichs-
kulturkammer eine ideologietriefende Disser-
tation über die Stellung des Schriftleiters ge-
schrieben. Von einem ehemals Verfolgten war
aus Israel die kritische Anfrage gekommen, ob
Geiger als Verfassungsrichter in der neuen De-
mokratie geeignet sei. Präsident Gebhard Müller
hatte eine beschönigende Antwort gegeben
hatte, die auch noch den Eindruck erwecken
konnte, Müller habe damit für „das Gericht“
oder gar für „die Richter“ gesprochen. Da fand
der Senatskollege Geller, wie Lamprecht uns in
Erinnerung ruft, nicht nur kritische Worte zu
Geiger. Sondern er kritisierte auch Müller, was
dessen behäbig-patriarchalisch-beschönigende,
die selbstverwaltete Struktur und die Geschäfts-
ordnung des Gerichts verkennende Antwort
verdikt 2.11 , Seite 47
. Ich habe, glaube ich, noch nie ein juristi-
sches Buch in einem Zuge durchgelesen. Das
hat sich jetzt geändert: Am vergangenen Sams-
tag kam spätvormittags per Post das Rezen-
sionsexemplar vom Verlag, kurz vor Mitternacht
war ich durch. Ist „Ich gehe bis nach Karlsruhe“
ein juristisches Buch? Ja, unbedingt! Oder sollte
es ein Hindernis für den juristischen Charakter
eines Buches sein, dass es flüssig und für jeder-
mann (und jede Frau) verständlich geschrieben
ist? Ein Volksbuch ist es, dem ich die allergrößte
Verbreitung wünsche. Gustav Radbruch, der mit
seinem Freund Hermann Heller zusammen so
viel von der Volkshochschule und vom Rechts-
kundeunterricht hielt, hätte seine Freude.
. Was fasziniert so an Rolf Lamprechts Ge-
burtstagsgeschenk für das Bundesverfassungs-
gericht zum 60.? Die verständliche Sprache
hatte ich schon gerühmt. Dazu trägt der lako-
nische Stil bei, manchmal unvollständige Sätze,
fast im Stakkato. Wie Uwe Wesel oder – im
rein Literarischen – Alfred Kerr.
. Aber das Entscheidende ist natürlich der
Inhalt. Lamprecht schafft es, die Materialfülle
von 60 Jahren BVerfG und 125 Bänden BVerfGE
zu bändigen. Er schafft das dank einer genialen
Struktur, die er dem Band gegeben hat: Er schil-
dert die Geschichte des Gerichts und seiner
Rechtsprechung, seine Stärken und (ja, auch!)
Schwächen, seinen Umgang mit den anderen
Staatsgewalten (früh geprägt im – siegreich be-
endeten – „Statusstreit“), indem er die gesam-
te Zeit in die durch die jeweiligen Präsidenten,
einschließlich der bisher einzigen Präsidentin
Jutta Limbach, geprägten (oder auch nicht
geprägten) Zeitabschnitte aufteilt.
. Dass ihm keiner mit dem Einwand komme:
Die Präsidenten oder die Präsidenten haben
doch nun bei den VerfassungsrichterInnen
überhaupt keine Macht; und schon deswegen
scheide eine Epocheneinteilung nach diesem
Muster aus! Richtig, sagt auch Lamprecht.
Aber der Erfolg gibt ihm Recht. So kommt hilf-
reiche Struktur in die Jahresmasse. Und warum
hätte z.B. eine – blasse und doch auch irgend-
wie zufällige – Einteilung nach Jahrzehnten
besser und hilfreicher sein sollen?
. So leben sie also wieder auf, die Höpker-
Aschoff, Wintrich, Müller, Benda (welch ein
Generationensprung zwischen diesen beiden
Christdemokraten und Vollblutpolitikern!),
Zeidler, und aus der frischeren Erinnerung,
wenn nicht der Gegenwart tauchen die Herzog,
Limbach, Papier, Voßkuhle auf. Voßkuhle ist
es wohl auch, der, das Haupt gebeugt, sich auf
dem Titelbild das Barett ab- (oder auf- ?) setzt.
Mit den Präsidenten treten auch die Vizepräsi-
denten (und jeweils Vorsitzenden des anderen
Senats) wieder ins Licht, freilich vom Autor –
nach Sympathie, nach Fleiß, nach verfassungs-
rechtlichen Verdiensten?) in deutlich unter-
schiedlicherem Umfang untereinander por-
trätiert als die Präsidenten, und erst recht im
Verhältnis zu diesen. Ist es da ein Nachteil, dass
viele der Richterinnen und Richter nur, wenn
überhaupt, im Verhältnis kurz erwähnt werden?
So lesen wir über die (sozialdemokratischen
oder jedenfalls auf dieses „Ticket“ gewählten)
Richter Grimm, Dieterich und Kühling und die
Richterin Seibert nur, sozusagen im Viererblock,
wie wichtig sie jeweils und alle zusammen für
die freiheitssichernde Rechtsprechung des
Gerichts (hier: des Ersten Senats) waren. Oder:
Über den alten Recken Hans-Justus Rinck, der
immerhin zunächst zehn Jahre (von 1956 bis
1966) Wissenschaftlicher Mitarbeiter (bei Ger-
hard Leibholz, wie dessen Senatskollege und
Vizepräsident Rudolf Katz aus der Emigration
zurückgekommen; über beide schreibt Lamp-
recht ausführlich, lebendig und treffend) und
dann 17 Jahre (von 1969 bis 1986) selbst Verfas-
sungsrichter war, ist gar nichts zu lesen.
Dabei hätte doch allein seine abweichende
Meinung zum allzu willigen Akzeptieren der
problematischen (um nicht zu sagen: verfas-
sungswidrigen) Bundestagsauflösung von
[ R E Z E N S I O N E N ]
Hans-Ernst Böttcher
Ich gehe bis nach Karlsruhe – Eine Geschichte des BundesverfassungsgerichtsRolf Lamprecht, Deutsche Verlags-Anstalt München 2011, 352 Seiten, 19,99 ¤, ISBN 978-3-421-04515-7
verdikt 2.2011_1_c 27.10.2011 12:01 Uhr Seite 47
verdikt 2.11 , Seite 48
anging. Müller habe – so Geller – (natürlich)
nicht, ohne dass er einzelne oder das Plenum
konsultiert hatte für (die) Richter des Gerichts
sprechen können und schon gar nicht für ihn,
Geller, gesprochen.
. Vergangenheit und Gegenwart: Hätte bei
dem auf mehrere Stellen des Buches verteilten
Lob des Richters Hoffmann-Riem vielleicht kri-
tisch angemerkt (oder angefragt) werden sollen,
dass (ob nicht) die von ihm als Berichterstatter
geprägte, vordergründig grundrechtsfreundliche
und seiner Meinung nach freiheitsbewahrende
Rechtsprechung zur Meinungsfreiheit und zum
Versammlungsrecht der Alt- und Neonazis die-
se sich ins Fäustchen lachen lässt und die über-
zeugten Demokraten, die sich in den Städten
der Aufzüge der Rechtsradikalen (letztere dabei
unter massivem Polizeischutz!) erwehren müs-
sen, an der Austarierung des Rechtsstaats und
manchmal auch der Waage der Justitia zweifeln
lässt? Hier wird sich wohl noch erweisen, ob
Hoffmann-Riem wirklich, wie Lamprecht es
sieht, dem verfassungsrichterlichen Rang nach
in eine Reihe mit Konrad Hesse und Dieter
Grimm gehört.
. Aber was wäre das für ein Buch, wenn es
nicht (auch) Fragen hinterließe!
. Was ich mir noch gewünscht hätte: Gerade
weil das Buch Persönlichkeiten so stark heraus-
stellt, hätten einige Fotos dem Band gut ge-
tan. Dann hätten die so hingebungsvoll von
Lamprecht gezeichneten Portraits noch an
Anschauung gewonnen. Auch für die schon
klassisch gewordenen ironischen Worte vom
Gruppenbild mit Dame (als das ganze Gericht
noch nur ein einziges weibliches Mitglied auf-
zuweisen hatte) und Schneewittchensenat (als
es dann jedenfalls eine Dame pro Senat war)
hätte die – wie man heute sagt – Visualisierung
einen (weiteren) Vorteil geboten.
. Alles in allem: Eine Liebeserklärung des
Autors an das Gericht, das er verehrt und an
dem er leidet. Wie das bei einer großen Liebe
so ist: Sie ist unvollkommen. ;
. Für jemanden, der sich als Anwalt, Publizist
und Menschenrechtsaktivist der politischen
Prosa verschrieben hat und zu dessen treuesten
Lesern, über vier Jahrzehnte hinweg, die Inqui-
sitoren des Verfassungsschutzes gehören, ist
es eher ungewöhnlich, einen Lyrik-Band zu be-
sprechen. Und tatsächlich hat sich anlässlich
meiner Einführung in einen Leseabend mit dem
Autor Rudolph Bauer die taz darob zunächst ge-
wundert, sodann aber messerscharf geschlos-
sen, bei dem Band „Schutzschirmsprache. Po-
litische Lyrik und Cartoons“ könne es wohl
kaum um „gefühlige Belanglosigkeiten“ gehen,
sondern ich interessierte mich für „Schutz-
schirmsprache“ offenbar deshalb, „weil diese
eminent politisch ist“. Hier liegt die taz-Kritik
mit dem Titel „Verdichtete Weltsichten“ durch-
aus richtig.
. „Wann zuletzt ist in Deutschland ein Buch
mit politischen Gedichten und Cartoons er-
schienen?“ Diese Frage lesen wir in der Einlei-
tung des Buches, dessen Titelbild stark an die
deutsche Flagge erinnert – offenbar das Politi-
sche symbolisierend, aber kritisch gewendet
und sinnverkehrt, denn hier werden die Flag-
gen-Elemente kurioserweise rückwärts gelesen:
1 aus Ossietzky Heft 2 / 2011
gold-rot-schwarz … Dazu passt, allerdings
wieder in der richtigen Reihenfolge, Rudolph
Bauers Vers:
schwarzer balken
lastet gewitterwolkendunkelschwer
über dem rot brennender herzen
über dem licht wie pf irsichgold
. Und wir lesen weiter zu Beginn des Buches
– ein wenig martialisch – von einem „literari-
schen Minenfeld“, das der engagierte Bremer
Sozialwissenschaftler und Bildende Künstler als
Lyriker mit diesem Buch betrete; das mündet
dann in die Frage: „Kann und darf Lyrik heute
politisch sein?“ Ja, was denn sonst und warum
denn nicht? Wenn nicht heute, wann denn
dann – in Zeiten von Krieg und Terror, Folter
und Elend, Menschen- und Völkerrechtsverlet-
zungen, Finanzkrise und Bankenrettungsschir-
men, Armut und sozialer Kälte; in Zeiten von
ausufernder Überwachung und Kontrolle, von
Vorratsdatenspeicherung, GoogleStreetView
und Zensus 2011, aber auch in Zeiten von Stutt-
gart21- und Antiatomprotesten, neuen Protest-
bewegungen und Kampf für mehr Bürgerbe-
teiligung.
. Die Probleme und damit die Themen gehen
nicht aus und harren auch der künstlerischen,
der lyrischen und bildlichen Aufarbeitung und
Umsetzung – so durch Rudolph Bauer, der mit
seinen aufrüttelnden und aufklärenden, mitun-
ter pathetischen Versen nicht nur politische
Rolf GössnerA
Schutzschirmsprache. Politische Lyrik und CartoonsRudolph Bauer u. Lothar Bührmann, Sujet-Verlag (www.anares-buecher.de), 112 S., 36 Abb., 14,80 ¤
Cartoon: Lothar Bührmann
verdikt 2.2011_1_c 27.10.2011 12:01 Uhr Seite 48
verdikt 2.11 , Seite 49
1 Stella Polaris ist Justizkorrespondentin und berichtet für verdikt aus dem hohen Norden
Ansichten liefert, sondern auch neue Einsichten vermittelt und der so
mittels lyrischer Verdichtung zu einer Art Welterklärer wird. Und Lothar
Bührmann illustriert als kritischer Cartoonist die Bauer’schen Gedichte
kongenial und nicht selten in stilistischem Kontrast dazu – mit spitzer
Feder, wenigen Strichen und Symbolen: geradezu minimalistisch und
karg, dafür mit viel politgrafischer Ironie und Hintersinn.
. Zurück zur Einleitung des Buches, in der auch die bange Frage gestellt
wird: Handelt es sich bei politischer Lyrik „noch um Lyrik von literari-
schem Rang“? Ich denke, das kommt drauf an und ist wohl schwer zu
beantworten, weshalb ich die Beurteilung Berufeneren überlassen möch-
te. Sicher: Manche werden diese radikale Abkehr von alter Innerlichkeit,
Subjektivität und privater Verstörung beklagen und womöglich das
„Lyrische Ich“ vermissen, das hier einem imaginären „politischen Wir“
weichen mußte.
. „Lyrische Ergüsse“ und „deutsche Innerlichkeit“, so der Rezensent
Arn Strohmeyer, seien dem Autor Rudolph Bauer ebenso fremd wie
„dunkle und undurchlässige Sprachlabyrinthe und kryptische Wortge-
flechte, wie sie moderne Lyriker lieben“. Bauer schreibe politische Lyrik,
„unbotmäßige, aufsässige Verse sozusagen – und das mit einer äußerst
realistischen Sprache, die kein Blatt vor den Mund nimmt und dennoch
durchaus poetisch ist“. Wobei, so wäre zu ergänzen, sich mancher die-
ser Lyrikverse auch als Prosa lesen ließe, weshalb bereits der Streit ent-
brannte, ob es sich überhaupt um „Lyrik“ handele. Und so bezeichnen
Andere Bauers Politlyrik als drastisch und kompromisslos, gar als
„Flugblattagitation“, wie etwa die Kreiszeitung aus Syke: „Da kämpft
einer mit dem Säbel für eine bessere Welt.“ So unterschiedlich können
Rudolph Bauers Verse wahrgenommen werden.
Schutzschirmsprache
Die kredite sind notleidend
die banken sind notleidend
finanz- und realwirtschaft
sind notleidend
die regierenden spannen schirme
schutzschirme für die
die da notleidend sind
nicht aber für jene in Not
armut bekämpfen die herren
und erbittert die armen und ohne er folg
denn nicht fürs system
relevant sind die armen.“
;
. Am 11. Oktober 1987 starb der Schleswig-Holsteinische Ministerprä-
sident Uwe Barschel unter bis heute nicht geklärten Umständen in der
Badewanne seines Zimmers im Hotel Beau Rivage in Genf. Oder besser:
Dort wurde er tot aufgefunden.
. 2007, zum 20. Todestag, hatte der damals noch im Dienst stehende
Leitende Oberstaatsanwalt in Lübeck, Heinrich (genannt Heiner) Wille
– Zeit seines Berufslebens übrigens ötv- und bis heute ver.di-Kollege –
seine Sicht der Dinge zu diesem Fall und zu den Justizauseinanderset-
zungen in Schleswig-Holstein hierzu in einem Buch im Spiegel-Verlag
veröffentlichen wollen. Der damals amtierende Generalstaatsanwalt
Rex in Schleswig verbot ihm dies – mit unhaltbarer Begründung, wie
später verwaltungsgerichtlich festgestellt wurde. Aber da waren das
Jubiläum und das große Medieninteresse vorbei. Nun hat Wille das Werk
im Schweizer Rotpunktverlag veröffentlicht und erreicht über die Leser
hinaus bei Lesungen und in Talkshows durchaus (s)ein Publikum. Vom
„Spiegel” geblieben ist ihm dessen ehemaliger Chefredakteur Stefan
Aust als Vorwort-Autor.
Der „Fall Barschel“ - Was war da gelaufen und wie?. In Genf war, unter Leitung einer wohl ziemlich unerfahrenen Unter-
suchungsrichterin, am Anfang wahrscheinlich nicht gerade präzise und
zielstrebig ermittelt worden. In Deutschland ermittelte die für zuständig
bestimmte unter Willes Leitung stehende StA Lübeck dann lange und in
viele Richtungen, auch in Geheimdienst- und Waffenhändlermilieus, weil
Anhaltspunkte dafür vorhanden waren (u.a. aus DDR-Reisen Barschels
und aus beruflichen Netzen seines Bruders, ferner aus der mutmaßlichen
Anwesenheit von Personen aus den genannten Milieus in Genf rund um
den Zeitpunkt des Aufenthalts Barschels‘), dass man dort womöglich
den Schlüssel für eine Straftat und womöglich auch Spuren, Beweismittel
und womöglich auch den oder die Täter finden werde. Strafprozessual
lief das auf die Streitfrage hinaus, ob ab einem Zeitpunkt x in einer Er-
mittlungssache wegen eines Tötungsverdachts gegen Unbekannt noch
unter staatsanwaltlichen Kriterien eine weitere Pflicht zu Ermittlungen
besteht (bzw. ob sich solche jedenfalls noch rechtfertigen ließen) oder
ob hier schon die Grenze zu reinen Mutmaßungen, Spekulationen und
Ermittlungen ins Blaue hinein überschritten war (bzw. ob hier vielleicht
noch Recherchefelder für die „Dienste“ lagen, nicht aber für eine Staats-
anwaltschaft).
. Am Ende war Willes damaliger Dienstvorgesetzter (und Genosse aus
gemeinsamen ASJ-Zeiten) GenStA Prof. Dr. Heribert Ostendorf, der Wille
schon enger an die Leine der Dienstaufsicht genommen hatte, als es die-
sem lieb war (insbesondere hinsichtlich der Medienarbeit), der Meinung,
die Akten sollten geschlossen werden. Der Konflikt mit Wille brachte
den Generalstaatsanwalt, der sich von Justizminister Gerd Walter (eben-
falls SPD) nicht hinreichend gedeckt sah, im April 1997 zum „Rücktritt“
(richtiger: Er ließ die Ministerpräsidentin Heide Simonis wissen, es be-
stehe wohl nicht mehr das gebotene Vertrauensverhältnis zwischen ihm
Stella PolarisA
Heiner gegen den Rest der WeltHeinrich Wille: Ein Mord der keiner sein durfte
verdikt 2.2011_1_c 27.10.2011 12:01 Uhr Seite 49
. Daß nicht alles so uneben sei, was im Morgenlande geschieht, das
haben wir schon einmal gehört. Auch folgende Begebenheit soll sich
daselbst zutragen haben: Ein reicher Mann hatte eine beträchtliche
Geldsumme, welche in ein Tuch eingenähet war, aus Unvorsichtigkeit
verloren. Er machte daher seinen Verlust bekannt, und bot, wie man zu
thun pflegt, dem ehrlichen Finder eine Belohnung, und zwar von hundert
Thalern an. Da kam bald ein guter und ehrlicher Mann dahergegangen.
„Dein Geld habe ich gefunden. Dies wird’s wohl sein! So nimm dein Ei-
genthum zurück!“ So sprach er mit dem heiter’n Blick eines ehrlichen
Mannes und eines guten Gewissens, und das war schön. Der andere
machte auch ein fröhliches Gesicht, aber nur, weil er sein verloren ge-
schätztes Geld wieder hatte. Denn wie es um seine Ehrlichkeit aussah,
das wird sich bald zeigen. Er zählte das Geld, und dachte unterdessen
geschwinde nach, wie er den treuen Finder um seine versprochene Be-
lohnung bringen könnte. „Guter Freund,“ sprach er hierauf, „es waren
eigentlich 800 Tlr. in dem Tuch eingenähet. Ich finde aber nur noch 700 Tlr.
Ihr werdet also wohl eine Naht aufgetrennt und Eure 100 Tlr. Belohnung
verdikt 2.11 , Seite 50
und dem Minister). Der neue Generalstaatsanwalt Erhard Rex ließ Wille,
wenn auch mit strengerer Berichtspflicht, als er es zuvor je hingenommen
hatte, noch einige Zeit gewähren , dann stellte die Lübecker Behörde
schließlich im Juni 1998 das Ermittlungsverfahren ein. Die hierzu von
Heinrich Wille gezeichnete, im Buch abgedruckte Presseerklärung beginnt:
„Die Staatsanwaltschaft Lübeck hat heute das Ermittlungsverfahren we-
gen Verdachts des Mordes an Dr. Dr. Uwe Barschel entsprechend ihrer
bereits vorher angekündigten Absicht eingestellt. Maßgeblicher Grund
dafür ist, dass die vorhandenen Spuren abgearbeitet sind. Ermittlungs-
ansätze, die weitere Erkenntnisse über Tatablauf oder Tatverdächtige er-
bringen könnten, sind derzeit nicht mehr erkennbar. Nach wie vor liegen
zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für ein Kapitalverbrechen vor.
Daneben bleibt die Möglichkeit offen, dass es sich um Selbsttötung han-
deln kann.“ Und die Erklärung endet nach Würdigung der Beweisergebnis-
se, insbesondere der am Sterbeort gefundenen Spuren: „Eine abschließende
Interpretation, ob etwa ein Tatverdächtiger oder ein Sterbehelfer zugegen
war, ist nicht möglich.“
. Viel weiter ist man heute auch nicht. Das Neueste zu dem Fall – etwa
zeitgleich mit Erscheinen des Buches aufgekommen – ist, dass ein asser-
viertes Haar, das auf Barschels Bett gefunden worden war und von dem
jetzt eine DNA-Probe genommen werden sollte, auf dem Wege von der
StA Lübeck zum LKA in Kiel verschwunden ist – wenn es denn überhaupt
bei Absendung noch in dem verschlossenen Plastikbeutel war, in dem
es laut Akten sein sollte …
Die Weltsicht eines Oberstaatsanwalts. Das Buch des Lübecker „Chefermittlers“, wie er sich durchaus immer
gern nennen ließ, liest sich flott. Es schildert nicht nur das Barschel-Ver-
fahren, sondern auch Willes beruflichen und politischen Werdegang,
frühe Begegnungen mit dem jüngeren Barschel im überschaubaren
Schleswig-Holstein, später den Behördenalltag in der StA Lübeck und
den – von vielen als eigenwillig und medienorientiert angesehenen –
Leitungsstil des Autors (den er durchaus auch so schildert, dass man es
als Bestätigung dieser Wertung auffassen könnte), auch die Sicht Willes
auf andere spektakuläre und tragische Verfahren wie insbesondere das-
jenige um den ebenfalls bis heute unaufgeklärten Brand im Asylbewerber-
heim in der Lübecker Hafenstraße, bei dem 10 Bewohner starben und
mehr als 30, z.T. schwer verletzt wurden. Auch dieses Verfahren litt unter
Fehlern und Unterlassungen im frühesten Stadium der Ermittlungen, die
sich – eine alte Staatsanwalts- und Strafrichtererfahrung – nie wieder
einholen lassen; diesmal allerdings waren die Fehler in Lübeck gesche-
hen.
. Der Leser wundert sich gelegentlich, dass der Autor, der immer gern
den Mangel im Hause und die fehlende Unterstützung durch andere
(z.B. das Ministerium und die Behörde des Generalstaatsanwalts) beklagt,
sich nicht auch einmal fragt, ob die Ursachen – jedenfalls auch – im ei-
genen Hause liegen könnten. Der in Fragen der Behördenleitung und der
horizontalen und vertikalen Beziehungen zwischen Behörden Erfahrene
wird sich auch wundern, mit welcher Unbefangenheit (um nicht zu sagen:
Naivität oder Lust an der Provokation) Heinrich Wille mit einer Art ptole-
mäischem Weltbild an die Dinge herangeht und sich dann wundert, wenn
er (gelegentlich) aneckt. Anders gesagt: Er hat – seiner Darstellung nach
und wohl auch objektiv– noch ganz schön machen können, was er wollte.
Wobei er von anderen höchste Loyalität erwartete, die diese bei ihm – zu
Recht oder zu Unrecht – manchmal vermissten. Ganz erstaunlich: Mit
der Polizei und insbesondere ihrer Führung in Lübeck, die er in hohen
Tönen lobt, scheint er selten oder nie Schwierigkeiten und/oder Grund
zum Klagen gehabt zu haben.
Was bleibt?. Über die Frage, wo ein gewissenhafter Staatsanwalt und Behörden-
leiter noch Anlass für Ermittlungen zu sehen hat und wo nicht mehr, wird
man füglich streiten können, auch nach Lektüre dieser Fallstudie aus
der Sicht eines an leitender Stelle Beteiligten.
. Am interessantesten erscheint mir das Buch, wenn ich es sozusagen
als ethnologische Studie aus dem sozialdemokratischen Milieu in Schles-
wig-Holstein mit all seinen Facetten und Schattierungen betrachte, das
teils – ich möchte sagen, naturgemäß – im Konflikt, teils aber erstaun-
licherweise auch in Symbiose mit der vor 1988 und wieder seit 2005 regie-
renden CDU steht. Der Zufall hat es gewollt, dass ein in der Wolle gefärbter
Sozialdemokrat, jetzt fast Seite an Seite mit der Witwe Freya Barschel
(geb. von Bismarck) und dem Anwalt der Familie, um die Wahrheit im
Falle Barschel (oder um Publizität für „seinen“ Fall?) kämpft und sich
dabei mit fast all denjenigen zerstritten hat, mit denen er einst ange-
treten ist, um das zu beenden, was die CDU oder jedenfalls Teile von ihr
nach wie vor annehmen, dass nämlich der Staat (jedenfalls dieses Land
Schleswig-Holstein) eigentlich ihnen gehört (oder: anvertraut ist) und
dass es blanke Usurpation ist, wenn die SPD Regierungsmacht oder auch
nur Pluralität in der Justiz beansprucht.
Heinrich Wille: Ein Mord der keiner sein durfte, Rotpunktverlag Zürich
2011, 384 Seiten, 24.- ¤, ISBN 978-3-85869-462-1 ; ;
[ R E C H T L I T E R A R I S C H ]
Johann Peter Hebel
Der kluge Richter
verdikt 2.2011_1_c 27.10.2011 12:01 Uhr Seite 50
verdikt 2.11 , Seite 51
Impressum
Herausgeberver.di
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FachgruppenNiedersachsen/Bremen
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Schleswig-Holstein/
Mecklenburg-Vorpommern
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Presserechtlich verantwortlichMartina Dierßen
RedaktionDr. Bernd Asbrock
Martin Bender
Hans-Ernst Böttcher
Uwe Boysen
Dr. Helmut Kramer
Klaus Thommes
http://verdikt.verdi.de
Art Direction/Layoutblock\m Büro für Gestaltung. Hannover
Produktionslayout und Druckakzent-druck gGmbH Hannover
Auflage 3.400 Stück
PapierRecyclingpapier aus 100% wiederaufberei-
teten und de-inkten Fasern
. Für diejenigen unter unseren Leserinnen
und Lesern, die sich mit der Zeitgeschichte des
Rechts und der Justiz befassen (und das sollen
ja nicht wenige sein), können wir gleich zwei
immer gute Adressen benennen, die sich zu-
dem vorzüglich ergänzen:
Unter www.forum-justizgeschichte.de finden
Sie u. a. zum Newsletter des Forums, von des-
sen diesjähriger Tagung wir den Beitrag von
Ingo Müller in diesem Heft abdrucken. Der
nächste Newsletter des Vereins erscheint vo-
raussichtlich im Dezember 2011.
. Helmut Kramer unterrichtet unter
www.justizgeschichte-aktuell.de über seine
zeitgeschichtlichen Forschungen und ge-
schichts- und rechtspolitischen Aktivitäten
und weit darüber hinaus. Hier finden Sie u.a.
auch ein detailliertes Schriftenverzeichnis
unseres Redaktionsmitgliedes, das manchen
[ R E C H T S - L I N K S ]
ungehobenen Schatz, auch aus unserer Vor-
gängerzeitschrift „ötv inder Rechtspflege“
(ötvR) enthält.
. Schon im vorigen Heft 1.11 hatten wir
(unter Hinweis auf die Website des Hambur-
ger Richtervereins) gesagt: „Warum nicht ein-
mal die Konkurrenz loben?“. Das setzen wir
fort:
. Die Mitgliederzeitschrift des Landesverban-
des Brandenburg des Deutschen Richterbun-
des erscheint jetzt – ganz modern – nur noch
elektronisch:
www.drb-brandenburg.de/Informationsblatt.Im „Info Extra 2011“ finden Sie dort auf S. 21 f.f
einen ausgezeichneten Aufsatz von Christoph
Clavée mit dem Titel „Mehr Autonomie wagen“,
der klar und dabei „basisnah“ gehalten ist.
HEB
schon herausgenommen haben. Da habt Ihr
wohl daran gethan. Ich danke Euch.“ Das war
nicht schön. Aber wir sind auch noch nicht am
Ende. Ehrlich währt am längsten und Unrecht
schlägt seinen eigenen Herrn. Der ehrliche Fin-
der, dem es weniger um die 100 Tlr. als um seine
unbescholtene Rechtschaffenheit zu thun war,
versicherte, daß er das Päcklein so gefunden
habe, wie er es bringe, und es so bringe, wie
er’s gefunden habe.
. Am Ende kamen sie vor den Richter. Beide
bestunden auch hier noch auf ihrer Behauptung,
der eine, daß 800 Tlr. seien eingenäht gewesen,
der andere, daß er von dem Gefundenen nichts
genommen und das Päcklein nicht versehrt ha-
be. Da war guter Rath theuer. Aber der kluge
Richter, der die Ehrlichkeit des einen und die
schlechte Gesinnung des andern zum voraus
zu kennen schien, griff die Sache so an: Er ließ
sich von beiden über das, was sie aussagten, ei-
ne feste und feierliche Versicherung geben, und
that hierauf folgenden Ausspruch: „Demnach,
und, wenn der eine von Euch 800 Tlr. verloren,
der andere aber nur ein Päcklein mit 700 Tlr. ge-
funden hat, so kann auch das Geld des Letzten
nicht das nämliche sein, auf welches der Erstere
ein Recht hat. Du, ehrlicher Freund, nimmst
also das Geld, welches du gefunden hast, wieder
zurück, und behältst es in guter Verwahrung,
bis der kommt, welcher nur 700 Tlr. verloren
hat. Und dir da weiß ich keinen Rath, als du
geduldest dich, bis derjenige sich meldet, der
deine 800 Tlr. findet.“ So sprach der Richter,
und dabei blieb es. ;
verdikt 2.2011_1_c 27.10.2011 12:01 Uhr Seite 51
10. Jahrgang
41113212933
45
November 2011
verdiktMitteilungen der Fachgruppen Richterinnen und Richter,Staatsanwältinnen und Staatsanwälte in ver.di
2.11
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