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Münchner Stadtgespräche ANTI-ATOM-BEWEGUNG 25 Jahre Umweltinstitut München ENERGIEPOLITIK Ausstieg beschlossen. Ist das genug? UNVERGESSEN Als die Wolke nach Bayern kam Tschernobyl www.muenchner-stadtgespraeche.de Nr. 59/60 Juli 2011 Fukushima Es bleibt viel zu tun!

nr. 59/60 Juli 2011 Münchner · welt, bayerstr. 28 a, 80335 münchen. tel.: 089-233-47561, Fax: 089-233-47508, [email protected] Fachstelle Eine Welt im Referat für Gesundheit

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MünchnerStadtgespräche

Anti-Atom-bewegung

25 Jahre umweltinstitut münchen

energiePolitik

Ausstieg beschlossen. ist das genug?

unvergessen

Als die wolke nach bayern kam

Tschernobyl

www.muenchner-stadtgespraeche.denr. 59/60 Juli 2011

Fukushima Es bleibt viel zu tun!

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aus dem referat für gesundheit und umweltdie seite zwei �

Den schutz des amazonischen re-genwaldes lokal vermitteln, das ist eines der zentralen Anliegen, wel-

ches münchen mit der klimapartnerschaft mit dem indigenen volk der Asháninka im peruanischen regenwald verbindet. wie bedroht und zerstört der regenwald in Peru bereits ist, machte teddy sinacay tomás, vertreter der Asháninka, bei seinem besuch im mai in erschreckender weise deutlich.

„wir leben in einem bereits zerstörten teil des regenwaldes. Früher war es möglich vom wald zu leben. mittlerweile müssen zunehmend mehr menschen am rande der städte ihren lebensunterhalt verdienen“,

schilderte sinacay die aktuelle situation. ro-dung des regenwaldes, erdölförderung ver-bunden mit massiver umweltverschmutzung sowie die deutlich spürbaren Auswirkungen des klimawandels – Überschwemmungen und trockenheit – sind die wesentlichen Probleme.

südamerika hat mit knapp 50 Prozent weltweit den größten Anteil am gesam-ten regenwaldbestand. Der amazonische regenwald ist das mit Abstand größte zu-sammenhängende regenwaldgebiet welt-weit. Derzeit rechnet man in lateinamerika mit einer Zerstörung des Primärwaldes von 43.000 km² pro Jahr, hauptsächlich im Ama-

zonasbecken, das entspricht ca. einer Fläche halb so groß wie bayern. Zudem befinden sich die konzessionsgebiete für die erdölex-ploration und -förderung zu 90 Prozent auf den territorien indigener völker.

sinacay nutzte seinen Aufenthalt, um die Presse, die Öffentlichkeit und die internati-onale konferenz des klima-bündnis darüber zu informieren, wie bedeutsam der schutz und erhalt des regenwaldes als lebens-raum für indigene völker ist. Darüber hinaus hat er an schulen und kindertagesstätten anschaulich und unmittelbar kindern und Jugendlichen das leben und die Probleme der menschen im regenwald und die mas-siven Auswirkungen des klimawandels ge-schildert. er machte deutlich, wie wichtig es ist sich gemeinsam zu engagieren und auf lokaler ebene zu handeln.

Tipp: im April 2011 ist die broschüre „vom frechen Affen und anderen brüdern – er-zählungen und weisheiten aus dem perua-nischen regenwald“ erschienen. gemein-same Herausgeber sind das nord süd Forum münchen e.v. und das referat für gesund-heit und umwelt. sie kann beim nord süd Forum abgeholt oder über die Fachstelle eine welt bezogen werden.

Links: www.muenchen.de/rathaus/rgu/projekte/86109/index.htmlwww.klimabuendnis.orgwww.nordsuedforum.de/nosfo/home/index.shtml

Text: Sylvia Baringer

Fotos: Francien Garritsen, Sylvia Baringer

Referat für Gesundheit und Umwelt

Regenwald schützen -

Die eine welt Arbeit in münchen hat ein neues gesicht bekommen. Heinz schulze, der über Jahre die kommunale eine welt Arbeit ent-scheidend geprägt und mit hohem engagement vorangetrieben hat, ist in rente. er hat große Fußabdrücke hinterlassen. Die nachfolge, als städtische stelle konzipiert, hat sylvia baringer angetreten.im rahmen der internationalen entwicklungszusammenarbeit war sie von 2005 bis 2009 in mexiko tätig.

Darüber hinaus hat sie sich seit Anfang der 90-er Jahre u.a. über ihre Arbeit mit Flüchtlingen bei der landeshauptstadt münchen und als geschäftsleitung des Dolmetscher-Projekts des bayerischen Zentrums für transkulturelle medizin e.v. hohe interkulturelle kompetenz erworben. in ihrer neuen Funktion stehen die sozial-

ethische beschaffung, die Projektpartnerschaft mün-chen – Asháninka (siehe Artikel) sowie bildungsar-beit im bereich des globa-len lernens im mittelpunkt. Die stelle hat auch einen neuen namen: Fachstelle eine welt.

Kontakt: referat für gesundheit und umwelt, Fachstelle eine welt, bayerstr. 28 a, 80335 münchen. tel.: 089-233-47561, Fax: 089-233-47508, [email protected]

Fachstelle Eine Welt im Referat für Gesundheit und Umwelt

Partnerschaft leben Ein Vertreter der Asháninka zu Besuch in München

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07/2011münchner stadtgespräche nr. 59/60 �

nach der reaktorkatastrophe von tschernobyl vor 25 Jahren gründeten engagierte münch-ner bürgerinnen und bürger zusammen mit kritischen wissenschaftlern das umweltinstitut münchen. Als Antwort auf die unbefriedigende informationspolitik vor allem der bayerischen staatsregierung sorgte das institut für unabhängige Aufklärung zur radioaktiven belastung von lebensmitteln und der umwelt. gleichzeitig gab das institut verhaltensempfehlungen, besonders für die vielen besorgten eltern. schon im ersten Jahr hatte das umweltinstitut münchen erfolg mit der Forderung, den verstrahlten sand auf spielplätzen auszuwechseln.

Heute zählt der verein zu den wichtigsten umweltschutzorganisationen bayerns. Die ge-schichte des umweltinstituts liest sich wie die liste der umwelt-themen der letzten 25 Jahre: energieeinsparung und effizienzsteigerung, innenraumschadstoffe wie Asbest, Formaldehyd oder Holzschutzmittel, gentechnik in lebensmitteln, mobilfunkstrahlung, ozonbelastung, Agroindustrie und Ökolandbau. und natürlich das startthema: radioaktivität, strahlenschutz und Atompolitik. Die Forderung nach dem endgültigen Atomausstieg kennzeichnet das umwel-tinstitut münchen seit 25 Jahren. Dabei hätten wir uns natürlich alle gewünscht, dass es nicht erst einer weiteren katastrophe wie im japanischen Fukushima bedurfte, um endlich die kehrtwende der schwarz-gelben energiepolitik anzustoßen.

bürgerschaftliches engagement im umweltbereich erfordert einen langen Atem und rückschläge gehören zum Alltag. erfolge dagegen sind oft schnell zum Allgemeingut erklärt und die initiatoren werden selten gewürdigt. Das umweltinstitut münchen ist eine der einrichtungen, die münchen als stadt der nachhaltigkeit auszeichnen und unverwechselbar machen. Dafür sage ich meinen ausdrücklichen Dank und wün-sche dem umweltinstitut münchen auch für die Zukunft alles gute und viel erfolg beim einsatz für unsere umwelt.

Christian ude oberbürgermeister der landeshauptstadt münchen

Grußwort

InhaltHalber Ausstieg, ganzer Erfolg?

Tschernobyl noch nicht gegessen

Als die Wolke nach Bayern kam

25 Jahre Tschernobyl - Folgen der Katastrophe

Grenzwerte erhöht, Glaubwürdigkeit gesenkt

04

0810

1214

25 Jahre Umweltinstitut:Kampf gegen Atomkraft

Tschernobyl - Naturkatas-trophe oder Footballclub?

Katastrophenschutz: Im Ernstfall hilflos

Die schwersten Atomun-fälle der Vergangenheit

Rost im Forschungs-reaktor in Garching

16

2022

2426

Ökostrom: Fit für den Wechsel

Demo-Rückblick:Abschalten, abschalten!

Strom der Stadtwerke München

Wiederentdeckung der kom-munalen Energiewirtschaft

Die StromrebellinUrsula Sladek (EWS)

28

3234

3536

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07/2011umweltinstitut münchen e.v.�

Halber Ausstieg, ganzer Erfolg?Nach Fukushima ist in der deutschen Energiepolitik nichts mehr wie es war. Das Land erlebt eine der aufregendsten Politikvolten einer deutschen Bundesregierung seit der Staatsgründung. Genügt das für die Energiewende? Ein Zwischenfazit.

as Angela merkel und Horst seehofer ihren Parteien seit mitte märz zumuten, ist

grundstürzend. eine revolution von oben, im Handstreich vollzogen, verordnet per Dekret.

Fast 40 Jahre verteidigten die unionsobe-ren die Atomenergie ohne jeden selbstzwei-fel. sauber, kostengünstig, sicher, später dann auch: klimaschonend sei diese Form der stromerzeugung. wer aus der atomaren glaubensgemeinschaft ausscherte, musste auf der Hinterbank Platz nehmen oder seine abweichende Überzeugung woanders le-

ben, wie etwa der wertkonservative Herbert gruhl ende der siebziger Jahre. Der wur-de zu einem der gründerväter der grünen, ehe er nach rechts driftete und auch bei den Ökos ausstieg. oder klaus töpfer, der schon 1988 als bundesumweltminister eine „Zukunft ohne kernenergie erfinden“ wollte und schließlich 1998 vor Helmut kohls brä-sigkeit (und vor dessen kanzler-Abwahl im Herbst desselben Jahres) zur uno floh.

Die kernschmelze im us-reaktor three mile island bei Harrisburg 1979 änderte nichts am Atom-Dogma der union.

in tschernobyl 1986 waren ohnehin die kom-munisten schuld. und als die spitzen der deutschen Atomwirtschaft 2001 mit schrö-der und trittin den Ausstieg verhandelten, schmollte die union fassungslos und verbit-tert im Abseits. Jetzt nach Fukushima sind die Japaner schuld und die naturgewalten – und doch ist plötzlich alles anders.

es wird viel spekuliert über die motive ei-ner der spektakulärsten Politikvolten in der deutschen innenpolitik seit dem Zweiten weltkrieg. wie viel innere einsicht wohl bei Angela merkel und Horst seehofer mitspielt

W

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07/2011münchner stadtgespräche nr. 59/60 �

bei dieser selbst entblößenden Abkehr von einem fundamentalen irrweg. „sosehr ich mich im Herbst letzten Jahres … auch für die verlängerung der laufzeiten der deut-schen kernkraftwerke eingesetzt habe, so unmissverständlich stelle ich heute vor diesem Haus fest: Fukushima hat meine Haltung zur kernenergie verändert“, sprach die kanzlerin Anfang Juni im bundestag. Die große mehrheit der Deutschen bleibt skeptisch.

Denn dass die CDu-vorsitzende und ihren bayerischen Amtskollegen (auch) schlich-tes machtkalkül auf den neuen weg führte, liegt nahe. beide haben nach Fukushima für sich und ihre Parteien eine gesamtrechnung mit einer klaren schlussbilanz aufgemacht: Der saldo ist negativ. nie wieder wird es in Deutschland eine ernst zu nehmende Partei wagen, im wahlkampf offensiv für die kern-energie zu streiten. gegen die Atomenergie aber schon, sofern es jetzt nicht gelingt, den Fundamentalkonflikt um die letzten reak-toren und die Atommülllager abzuräumen.

Der Parteienlandschaft drohen verwer-fungen, wie sonst nur in instabilen Demo-kratien oder nach historischen brüchen. es hat ja schon angefangen. Der aktuelle koali-tionspartner auf dem weg zur splitterpartei, der potenzielle auf dem zur volkspartei und spätestens im Falle einer weiteren reaktor-havarie auf Augenhöhe nicht nur in baden-württemberg.

Union: Angst vor der politischen Kernschmelzenatürlich gibt es auch nach der grundsatz-entscheidung über den Ausstieg und der verabschiedung der Atomgesetznovelle wi-derstand vor allem an der basis der union (und auch der rest-FDP), im wirtschaftsrat der CDu, bei denen, die sich traditionell als eine Art parlamentarischer Arm der konzerne verstehen, und jenen, die glau-ben, dass ausgerechnet das rohstoffarme Deutschland nur in den grundstoffindustrien und wenigen anderen traditionssektoren der wirtschaft „weltniveau“ halten muss, nicht in den neuen industrien, die das 21. Jahrhundert prägen werden.

bei den kauders, Fuchs‘, Pfeiffers, ba-reiß‘ muss man nicht unterstellen, dass Fukushima ihr verhältnis zur Atomtechnik grundlegend verändert hat. Doch auch die

Atom-Hardliner des Herbstes 2010 haben begriffen, dass es sinnlos und politisch selbstmörderisch ist, im Frühjahr 2011 bar-rikaden gegen den wandel zu errichten, solange der tsunami rollt – wenn man das in diesem Zusammenhang so sagen darf. natürlich warten sie auf die gelegenheit des roll back. ob die kommt, weiß niemand, wissen sie selbst am allerwenigsten.

unbestreitbar ist: nach 40 Jahren hat die Angst vor der Atomenergie endlich auch die spitze der union erreicht. Doch es ist eine andere Angst. nicht die Angst der grünen, der umweltbewegung und großer teile der Fachwissenschaft. es ist nicht die Angst vor der nuklearen, sondern die vor der poli-tischen kernschmelze.

man mag es tragisch nennen oder skan-dalös: eine katastrophe am anderen ende der welt war notwendig, um hierzulande der atomkritischen mehrheit zum Durch-bruch zu verhelfen. es war nicht der erste versuch. Fast auf den tag zehn Jahre vor der einbringung der gesetze über Atomausstieg und energiewende in den bundestag un-terzeichneten die Chefs der Atomkonzerne gemeinsam mit bundeskanzler gerhard schröder, umweltminister Jürgen trittin und wirtschaftsminister werner müller die vereinbarung über den rot-grünen Atomaus-stieg. gleich in der Präambel hieß es: „bei-de seiten werden ihren teil dazu beitragen, dass der inhalt dieser vereinbarung dauer-haft umgesetzt wird.“

Das klang vielversprechend und war zuviel versprochen. Heute wissen wir, dass rwe, e.on, vattenfall und enbw exakt das ge-genteil taten – sie erfanden den politischen herunter gedimmten betrieb von Atomkraft-werken, bis die bundestagswahlen 2009 endlich die gewünschte regierung an die macht brachten. Dann wurde entschlossen wort gebrochen.

Wie sicher ist der neue alte Ausstieg?Dass es ein zweites mal so kommt, ist nicht ausgeschlossen, doch nach Fukushi-ma erheblich unwahrscheinlicher als vorher. Die ganz große Parteienkoalition für den Atomausstieg wird es schwer haben, eine erneute kehrtwende in der deutschen Poli-tik irgendjemandem zu erklären, vor allem aber sie zu vollziehen. Andererseits, es ist

eine politische binsenwahrheit und gehört zum wesen der Demokratie, dass nichts „unumkehrbar“ ist, nicht einmal eine durch den bundestag herbeigeführte verfassungs-änderung, die das verbot der kommerziellen nutzung der Atomkraft mit zwei Drittel mehrheit in das grundgesetz schreibt.

kein weiterer schwerer unfall in einem Atomkraftwerk, dafür der große nationale blackout, ein Preisschub beim strom und eine bedrohliche wirtschaftskrise: wer wollte seine Hände dafür ins Feuer legen, dass sich die dann verantwortlichen Politi-ker noch interessieren für die „Aufgeregt-heiten“ des Frühjahrs 2011, wenn all dies ende des Jahrzehnts zusammenkommt.

Für die Zukunft lautet deshalb der Auftrag an die atomkritische gesellschaft: wach-samkeit und öffentlicher Druck und zwar dauerhaft. beides war die notwendige vo-raussetzung für die von Fukushima ausge-löste abrupte kehrtwende der bundesregie-rung. beides ist notwendig damit es dabei bleibt. Denn die unbelehrbaren arbeiten schon am rollback.

Angela Merkel plötzlich grün: „Fukushima hat meine Haltung zur Kernenergie verändert.“

AKW Isar II: Die Energieriesen E.ON und Co setzen hartnäckig auf Atomkraft.

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07/2011umweltinstitut münchen e.v.�

Die betroffenen Atomkonzerne mit rwe-Chef Jürgen großmann an der spitze so-wieso. Doch auch ihre sachwalter in der Politik. unionsfraktionsvize michael Fuchs beispielsweise, ein glühender Anhänger der Atomkraft, der selbst nach Fukushima einen stromausfall in Deutschland mehr fürchtet als einen weiteren super-gAu – wegen der kosten, die er auf 30 milliarden euro pro tag hochjazzt. Fuchs Anfang Juni im bundestag mit kaum verborgener vorfreude: „wenn das passiert, dann werden wir alle hier anders diskutieren!“

Die vorlage lieferte wenige tage zuvor torsten krauel in springers welt, als er in hohem tonfall das „neue restrisiko“ eines stromausfalls („lahmlegung ganzer re-gionen durch den kollaps der leitungen“) umstandslos gleichsetzte mit dem restrisiko einer reaktorkatastrophe, auf dessen re-alisierung in Japan die Politik hierzulande schließlich auch mit „Anzeichen von Panik“ reagiert habe – und dabei die bodenlosig-keit eines solchen vergleichs nicht einmal zu bemerken schien.

immerhin: weder wird der Atomausstieg, wie anfangs von der regierung geplant, nach der stilllegung der ältesten und störanfälligsten meiler für über zehn Jahre ausgesetzt, noch finden sich offensichtliche Hintertürchen, „revisionsklauseln“, „Ausstiegskorridore“, wie von teilen der regierungsparteien und

bDi-Präsident Hans-Peter keitel vehement gefordert, in der Atomnovelle wieder.

Zwischenfazit: Soll und Habenes ist also Zeit für ein Zwischenfazit. Auf der Habenseite sind zu verbuchen:

• die Halbierung des alltäglichen inlän-dischen katastrophenrisikos nach der endgültigen Abschaltung der acht störan-fälligsten Atomkraftwerke,• erstmals ein gesetzlich fixiertes (wenn auch zu spätes) enddatum der Atomkraft-nutzung in Deutschland, • die Aufgabe der endlager-Fixierung aus-schließlich auf den voraussichtlich unge-eigneten, ganz sicher aber nicht „besten“ standort gorleben und das versprechen einer neueröffnung der endlagerdebatte,• schließlich eine Abkehr von der Atom-kraft als Zukunftsoption bis hinein in die traditionelle energiewirtschaft (stellver-tretend steht hier ein entsprechender beschluss des bundesverbandes der ener-gie- und wasserwirtschaft, bDew).

Das ist viel mehr als nichts, aber nicht ge-nug. Auf der sollseite bleibt:

• der bruch des kanzlerinnen-verspre-chens eines „schnellstmöglichen“ Atom- ausstiegs – denn dass es ohne versor-gungslücken, dauerhafte Abkehr von den

klimaschutzzielen oder unerträgliche Preissprünge bei der stromversorgung schneller geht als bis zum 31. Dezember 2022 bestätigen zahlreiche studien von Öko-institut bis Prognos Ag,• eine energiewende, die offenbar ge-genüber den Planungen aus der Zeit der laufzeitverlängerung nicht beschleunigt werden, sondern zugunsten der großen konzerne neu ausgerichtet werden soll,• ein möglicher rückfall in die energie-technologien des 20. Jahrhunderts und ein weiterer Zubau von kohlekraftwerken, der die nationalen klimaziele dauerhaft in Frage stellt,• ein weiterbetrieb von sechs Atomkraft-werken mit einer leistung von 8539 me-gawatt bis 2021/2022 und deren Abschal-tung binnen 12 monaten und• eine in teilen rechtlich angreifbare Aus-gestaltung des Atomausstiegs mit dem ri-siko, dass ein entsprechender spruch des bundesverfassungsgerichts die „kriegs-kassen“ der Atomkonzerne noch einmal mit entschädigungsmilliarden füllt und ihnen einen ungerechtfertigten startvorteil gegenüber anderen Akteuren der energie-wende verschafft.

ob das Zwischenfazit der nationalen Folgen des super-gAus in Fernost als Durchbruch oder lediglich als etappensieg durchgeht, ist letztlich eine Frage der Perspektive.

Leitzachwerk 3 in Feldkirchen-Westerham: Die Energiequelle Wasser ist nachhaltig, klimaschonend und risikoarm.

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07/2011münchner stadtgespräche nr. 59/60 �

einerseits: Den stromkonzernen wird nun exakt die Atomstromproduktion erneut zu-gestanden, die rotgrün schon 2001 mit de-ren bossen ausgehandelt hatte. Doch was damals im konsens mit den konzernen he- rauskam, „schafft“ schwarzgelb zehn Jahre und einen super-gAu später im heftigen streit mit den von „ihrer regierung“ maßlos enttäuschten Atomikern.

wenn es kommt, wie beschlossen, wer-den bis zum endgültigen Ausstieg noch elfeinhalb Jahre (und das heißt: über 80 „reaktorjahre“) vergehen. Der von praktisch der gesamten deutschen Presse gefeierte „turboausstieg“ jedenfalls findet nicht statt oder eben nur zu Hälfte. gäbe es ihn, wäre der spuk nicht 2022 sondern 2017 oder frü-her zu ende.

Andererseits: Die amtierende regierung merkel hatte soeben die gesetzlichen wei-chen so gestellt, dass Atomkraft hierzulande noch mindestens bis ende des übernächsten Jahrzehnts hätte weiterbetrieben werden können. Das einschwenken auf den rot-grü-nen kurs ist resultat einer realen macht-verschiebung – zulasten der konzerne, die 40 Jahre lang barrikaden gegen jede ener-giepolitische Zukunftsperspektive errichtet haben.

Ausstieg mit Bestandskraft?Der jetzt verabschiedete Atomausstieg ver-spricht höhere bestandskraft, als der erste versuch, weil er die realen machtverhält-nisse in der gesellschaft besser spiegelt als 2001. wenn es noch eines beweises be-durfte, dann hat ihn die von Angela merkel zum Zwecke des Zeitgewinns „erfundene“

ethikkommission erbracht. in ihr stimmten auch Persönlichkeiten wie bAsF-Chef Jür-gen Hambrecht einem schnellen Ausstieg bis spätestens 2021 zu, der noch im Herbst 2010 die regierung merkel im schulter-schluss mit den Atomkonzernen in Zeitungs-anzeigen „die sicherung der lebensgrundla-gen von morgen und die Zukunftsfähigkeit des standorts Deutschland“ in gefahr sah, sollten die reaktorlaufzeiten nicht opulent verlängert werden.

Die „German Weitsicht“Die Forderung nach dem „sofortausstoß“ be-zieht ihre berechtigung aus der möglichkeit eines weiteren super-gAus auch in Deutsch-land. wenn er tatsächlich eintritt, hatten die „sofortaussteiger“ endlich und endgültig recht. kein konstruierter oder wirklicher nachteil eines schnellen Ausstiegs könnte die Folgen einer kernschmelze in Deutsch-land auch nur in der größenordnung aufwie-gen. Diese und noch eine ganz andere Frage hatten die grünen zu beantworten:

nämlich die, ob ihre Ablehnung des eben nicht „schnellstmöglichen“ regierungsfahr-plans für den Ausstieg ihre bewegungsspiel-räume nach einer regierungsbeteiligung im Jahr 2013 zu einem besseren ergebnis zu kommen, eher vergrößern oder verengen würde.

Darüber lässt sich – wie der sonderpartei-tag in berlin bewiesen hat – trefflich streiten. vielleicht hätte es ja der Ökopartei und der gesellschaft geholfen, wenn sich die ethik-kommission mit der im kern ethischen Frage beschäftigt hätte, warum und ob ein „sofort- ausstieg“ einem Ausstieg in einer Dekade ethisch vorzuziehen gewesen wäre.

und die „german Angst“? sie ist nach Fu-kushima nicht mehr auf Deutschland be-schränkt und entpuppt sich mehr und mehr als „german weitsicht“. italiens bürgerin-nen und bürger haben mit überwältigender mehrheit gegen berlusconi und den wie-dereinstieg in die nukleartechnik gestimmt, die schweiz will raus aus der Atomkraft und selbst in Frankreich, dem europäischen Zentrum der atomaren unbekümmertheit, registrieren die Demoskopen einen funda-mentalen stimmungswandel, wenn es um die energiezukunft geht.

ob Deutschland sich für andere industrie-staaten und große schwellenländer dauer-haft als trendsetter für eine zukunftsfähige energiewirtschaft etablieren wird, entschei-det sich in Deutschland und nirgends sonst. Der kampf um eine nachhaltige energiezu-kunft beginnt jetzt.

Text: Gerd Rosenkranz

Gerd Rosenkranz ist promovierter Werkstoffwis-

senschaftler und Diplom-Ingenieur, studierte an-

schließend Kommunikationswissenschaften und

arbeitete danach als Journalist, zuletzt als Re-

dakteur des Nachrichtenmagazins Der Spiegel

mit dem Themenschwerpunkt Umwelt- und Ener-

giepolitik. Seit Oktober 2004 ist Rosenkranz Lei-

ter der Politik- und Öffentlichkeitsarbeit der Deut-

schen Umwelthilfe e.V. in Berlin.

Fotos: Fotolia, E.ON Kernkraft , CDU/Laurence

Chaperon, SWM, Helmholtz Zentrum München,

RWE

Die Asse: Trotz 50 Jahren Atomenergie ist die Endlagerung des hochgiftigen Mülls ungelöst.

RWE-Chef Jürgen Großmann würde die AKW-Laufzeiten wohl gerne wieder verlängern.

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07/2011umweltinstitut münchen e.v.�

Die Freisetzungsdauer am explo-dierten reaktor betrug zehn tage bei sich ständig ändernden wind-

richtungen und wetterverhältnissen. Das ergebnis war eine extrem inhomogene ver-teilung der freigesetzten radionuklide über ganz europa bis skandinavien und den nor-den von schottland. Der großteil der radi-onuklid-Deposition betraf die gus-staaten mit einem belastungsanteil von etwa 70 Prozent in belarus, 15 Prozent in der ukraine und 15 Prozent in russland. in belarus wur-den ca. 7000 km² zur sperrzone und Zone strikter kontrolle erklärt, in der ukraine ca. 1000 km² und in russland ca. 2000 km².

in den betroffenen gebieten von bela-rus evakuierte man in den tagen nach dem unfall rund 135.000 menschen aus der sperrzone und den angrenzenden gebieten. insgesamt wurden etwa 250.000 menschen umgesiedelt, rund 2,5 mio. menschen wa-ren direkt von der tschernobylkatastrophe betroffen. in der ukraine wurden etwa 90.000 menschen aus der sperrzone eva-kuiert, rund 170.000 menschen umgesiedelt und über 2 mio. menschen waren direkt be-troffen. in belarus wurden auch weiter vom reaktorstandort entfernte gebiete evakuiert und zum teil vorübergehend zur sperrzone erklärt. Diese menschen waren bis zum Zeitpunkt der umsiedlung der vollen strah-lenbelastung ausgesetzt, sie nahmen „ihr krebsrisiko“ mit.

Die sowjetische regierung hatte etwa 800.000 sogenannte liquidatoren in das un-glücksgebiet gesandt. bei vielen wurden die offiziellen strahlengrenzwerte von 0,25 sie-vert (sv) lebenszeitdosis weit überschritten. Auch sie haben ein großes erkrankungsrisi-ko für krebs und andere krankheiten mit in ihre Heimat zurückgenommen. Die liquida-torenverbände der drei republiken gehen

davon aus, dass bis heute etwa 100.000 liquidatoren gestorben sind, einschließlich der hohen selbstmordrate. Auch leiden viele der liquidatoren heute unter anderem an Herz-kreislauf-Problemen, lungenkrebs, entzündungen des magen-Darm-bereichs, tumoren und leukämie. viele ehefrauen und lebenspartnerinnen haben sich deshalb nach der rückkehr ihres „liquidators“ von ihm getrennt.

Schilddrüsenkrebs und weitere Erkrankungen in Belarusbereits mit Ablauf des Jahres 1990 war in belarus die Anzahl der neuerkrankungen für schilddrüsenkrebs bei kindern im vergleich zu dem 10-Jahres-mittelwert vor 1986 um mehr als das 30-fache gestiegen.

im Juni 2000 informierte die iAeA die weltöffentlichkeit: „es gibt keinen Hinweis auf eine größere Auswirkung für die gesund-heit der bevölkerung, die man 14 Jahre nach dem unfall der strahlenbelastung zuordnen könnte, abgesehen von einem hohen Anteil an (behandelbaren, nicht tödlichen) schild-drüsenkrebsfällen bei kindern.“ Diese Aus-sage ist die Fortsetzung der Falschaussage des internationalen tschernobyl-Projekts von 1989-1991. Auch damals wurde be-hauptet, dass keine gesundheitsstörungen der strahlenbelastung zuzuordnen seien.

Das gebiet (oblast) gomel, mit einer Flä-che von der größe der schweiz, ist die regi-on in belarus, die durch die tschernobyl-ka-tastrophe am stärksten betroffen wurde. Das otto Hug strahleninstitut in münchen hat in gomel ein schilddrüsenzentrum errichtet, das seit 1993 routinemäßig die betreuung aller Patienten des oblast gomel mit er-krankungen der schilddrüse einschließlich krebs übernimmt. bis ende 2010 waren etwa 160.000 Patienten zur untersuchung

im schilddrüsenzentrum gomel. Dabei wur-den rund 460.000 laboranalysen der schild-drüsenhormone durchgeführt, außerdem pro Jahr etwa 22.000 ultraschalluntersuchungen und rund 4.000 schilddrüsen-Punktionen, ergänzt durch über 10.000 radiojod-Anwen-dungen zur behandlung von krebspatienten. im vergleich zu Deutschland, Österreich und norwegen ist die jährliche neuerkrankungs-rate an schilddrüsenkrebs im gebiet gomel deutlich höher. nach der tschernobyl-katas-trophe wurde bei fast allen krebsarten ein starker Anstieg verzeichnet.

Die Folgen im WestenAuch im westen gibt es gesundheitliche ef-fekte nach tschernobyl. Dr. Alfred körblein vom umweltinstitut münchen untersuchte Daten zur neugeborenensterblichkeit, der ge-burtenrate und der Fehlbildungen (in bayern). er fand einen signifikanten Anstieg der sterb-lichkeit von neugeborenen für das Jahr 1987. bezüglich der bayerischen Fehlbildungen entdeckte körblein einen hochsignifikanten Zusammenhang mit der Cäsium-bodenbe-lastung in den bayerischen landkreisen im november und Dezember 1987.

Dr. Hagen scherb und eveline weigelt, beide aus dem gsF-Forschungszentrum für umwelt und gesundheit in neuherberg, ver-glichen die jährliche totgeburtenrate einer westlichen europäischen ländergruppe und einer näher an tschernobyl liegenden, öst-lichen europäischen ländergruppe. Die Da-ten der östlichen europäischen ländergrup-pe zeigten 1986 und 1987 im vergleich zu 1985 eine deutliche absolute Zunahme der totgeburtenrate und eine verschiebung des trends der kurve nach oben. Für das Zeit-fenster von 1986 bis 1992 bedeutet dies ins-gesamt zusätzliche 1639 totgeburten. Die westliche europäische ländergruppe zeigte

�� Jahre Tschernobyl - Folgen der Katastrophe Am 26. April 1986 ereignete sich die bis Fukushima folgenschwerste Katastrophe in der Geschichte der zivilen Nutzung der Atomenergie. Der Block 4 des ukrainischen Atomkraftwerkes Tschernobyl nahe der belarussischen Grenze explodierte. Die Nachwehen des Reaktorunfalls reichen bis in die Gegenwart. Immer noch leiden tausende Menschen an den gesundheit-lichen Folgen der Katastrophe und die Zahl der Krebserkrankungen steigt jedes Jahr weiter an.

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keine besondere Auffälligkeit. scherb und seine mitarbeiter untersuchten auch die zehn am höchsten durch tschernobyl belasteten landkreise in bayern. Hier überstieg die Zahl der totgeburten im Jahr 1987 den erwarteten wert um 45 Prozent. Auch in den Jahren 1988 und 1989 wurden signifikante effekte (ca. 35 Prozent erhöhung) festgestellt.

Das berliner institut für Humangenetik stellte fest, dass neun monate nach der tschernobylkatastrophe in berlin bei neu-geborenen die Zahl der mongolismusfälle (trisomie 21) sprunghaft angestiegen ist. wegen der damaligen insellage der stadt, eingeschlossen durch das gebiet der ehema-ligen DDr, konnte die Häufigkeit praktisch aller prä- und postnatal diagnostizierten Fälle für einen großen Zeitraum angegeben und in bezug zu allen relevanten demogra-phischen Faktoren gesetzt werden.

im 10-Jahres-Zeitraum von Januar 1980 bis Dezember 1989 lag in westberlin die monatliche Zahl von trisomie-21-Fällen bei durchschnittlich zwei bis drei. im Januar 1987, neun monate nach der tschernobyl-katastrophe, wurden 12 Fälle beobachtet. Für all diese effekte ist nur der Zusammen-hang mit der strahlenbelastung (speziell Jod und Cäsium) nach tschernobyl plausi-bel, für andere ursachen gibt es keine An-haltspunkte.

Die untersuchungen zum Auftreten von schilddrüsenkrebs nach tschernobyl im wes-ten wurde gemeinsam mit der tschechischen republik durchgeführt. Das dortige krebsre-gister ermöglichte eine umfassende Auswer-tung für den Zeitraum von 1976 bis 1999. Die studie ergab, dass ab 1988 ein zusätzlicher signifikanter Anstieg der schilddrüsenkrebs-neuerkrankungen von 2,3 Prozent pro Jahr zu verzeichnen ist. Als deren ursache ist nur radiojod aus tschernobyl plausibel.

in bayern ist wegen der hohen radiojodbe-lastung ebenfalls ein höherer Anstieg als in tschechien zu vermuten. wegen des bis heu-te fehlenden flächendeckenden krebsregis-ters in Deutschland konnte diese Frage bei uns jedoch nicht direkt untersucht werden.

Die tatsache, dass auch 25 Jahre nach tschernobyl Pilze und wildschweinfleisch aus den besonders belasteten regionen bay-erns, wie unter anderem dem bayerischen wald, nicht ohne Prüfung des radioaktivi-tätsgehaltes in den Handel kommen darf, sind ein beleg für das fortdauernde strah-lenrisiko durch tschernobyl auch bei uns.

Super-GAU auch hier möglich Atomkraftwerke sind komplizierte High-tech-systeme, in denen physikalische Prozesse, eine Fülle verschiedener materialien, inge-nieurtechnik und der Faktor mensch in einer fein abgestimmten weise zusammenwirken müssen. gerät dieses multikomponenten-system außer kontrolle, so sind besonders in dicht besiedelten regionen schlagartig mil-lionen von menschen in ihrer existenz und ihrer gesundheit bedroht.

beispiele für andere unerwartete vor-kommnisse in bereichen der Hochtechnolo-gie, die trotz der ausgefeiltesten sicherheits-konzepte in katastrophen mündeten, gibt es reichlich: etwa der Absturz des twA-Jumbos 1996 und der raumfähre Challenger im Jah-re 1986, oder die katastrophe des iCe 884 „wilhelm Conrad röntgen“ am 3. Juni 1998 riss 100 menschen in den tod.

Lehren für EuropaDie super-gAus in tschernobyl und Fukushi-ma zeigen deutlich, dass diese technologie nicht beherrschbar ist. Auch nicht in einem so genannten Hochtechnologieland wie Japan. Hohe besiedlungsdichten, wie in

Deutschland und Japan machen eine eva-kuierung von vielen millionen menschen fast unmöglich. Denn das evakuierungsge-biet kann je nach katastrophenszenario und wetterlage einige 100 km weit reichen. Die schäden an gebäuden, wirtschaftsgütern und die geschätzten gesundheitsschäden sind mit der von der Politik für betreiber von Akw vorgeschriebenen Haftpflichtversiche-rung mit nur 2,5 milliarden euro Deckungs-summe versichert und somit bei weitem nicht abgedeckt. Damit ist nur 0,1 Prozent der in internationalen gutachten bezifferten möglichen schadenshöhe versichert.

tschernobyl und Fukushima zeigen uns den ernst der lage und die Ausmaße eines super-gAus. Denn es gibt weder sicherheit gegen technisches versagen, noch gegen menschliches Fehlverhalten oder gar einen zielgerichteten terroristischen Angriff. Die politische klugheit und verantwortung ge-bieten jetzt, das bedrohungspotenzial durch Atomkraftwerke für die gesundheit und die wirtschaftlichen lebensgrundlagen der be-völkerung unverzüglich zu eliminieren.

Text, Fotos, Tabelle:

Christine Frenzel, Edmund Lengfelder

Dr. h. c. Christine Frenzel:

Laborleiterin für Radioökologie am Institut für

Zellbiologie der Ludwig-Maximilians-Universität

München, Stellv. Vorsitzende des Otto-Hug-Strah-

leninstituts-MHM e. V.

Prof. Dr. med. Dr. h. c. Edmund Lengfelder:

bis 2008 Professor am Strahlenbiologischen Ins-

titut der Ludwig-Maximilians-Universität Mün-

chen, Vorsitzender des Otto-Hug-Strahleninsti-

tuts-MHM e. V.

Otto-Hug-Strahleninstitut – Medizinische Hilfs-

maßnahmen e.V. München, Jagdhornstr. 52,

81827 München, www.ohsi.de

Prävalenz (Krankheitshäufigkeit) und Inzidenz (Neuerkrankungen) des Schilddrüsenkrebses bei Erwachsenen im Vergleich.Labor des Schilddrüsenzentrums im Oblast Gomel.

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07/2011umweltinstitut münchen e.v.10

Ich weiß noch wie heute, als diese riesige regenwolke aus dem osten zu uns kam“, erinnert sich michael sendl,

bio-bauer aus Peißenberg bei münchen. „ich stand auf dem stall meines nachbarn und half ihm beim Dachumdecken. genau in diesem moment kam der regenschauer herunter und wir wurden patschnass.“

erst ein paar tage später keimte bei sendl der gedanke auf, dass der regenguss radi-oaktiv gewesen sein und möglicherweise gesundheitsschädi-gende Folgen für ihn haben könnte. ganz zu schweigen von den Auswirkungen auf die weideflä-chen für die eigenen kühe und schafe. wie vielen anderen menschen in südbayern war auch ihm wenige tage nach der tscherno-bylkatastrophe in der ukraine nicht be-wusst, welche „riesengefahr da von oben herunterkam“.

Verwirrung, Verharmlosung, Unsicherheit, AngstDenn nachdem am 26. April 1896 einer der vier reaktoren des Atomkraftwerks tscher-nobyl nahe der ukrainischen stadt Prypjat explodiert war, dauerte es fast drei tage, bis die internationale Presse lediglich von einem „schaden im Atomkraftwerk“ in kenntnis gesetzt wurde.

in den nächsten tagen und wochen pras-selte dann eine verwirrende nachrichten-flut, aus widersprüchlichsten botschaften, die teils auf informationssperren oder nach-richtenausdünnungen der udssr, teils auf konträren expertenmeinungen und -mes-sungen, sowie einem kompetenzwirrwarr zwischen bund und ländern beruhte auf die verunsicherten bürger der brD nieder.

viele menschen fühlten sich von Politik und medien unzureichend informiert: wel-che lebensmittel soll man meiden und wel-

che sind noch essbar? was tun, wenn man in den radioaktiv verseuchten regen gerät? werden meine kinder verstrahlt, wenn sie im sandkasten spielen?

Abgesehen von unabhängigen instituti-onen, wie dem umweltinstitut münchen, konnte auf akute Fragen niemand wirklich Antwort geben. Die zuständigen behörden flüchteten sich in verharmlosungen, mit der Folge, dass Angst und verunsicherung bei vielen menschen zunehmend wuchsen.

Familie groever lebte damals mit zwei klei-nen kindern in Freising. Zwei tage nach dem gAu, als die katastrophe hier noch nicht be-kannt war, unternahmen die vier einen Aus-flug ins Allgäu und spazierten den ganzen tag unter freiem Himmel. Als sie wenig später von der radioaktiven wolke erfuhren, machte sich erich groever ernsthaft sorgen um die gesundheit seiner Familie. während sich seine Frau Annette noch einredete, dass es so schlimm schon nicht gewesen sein könne. Hier bei uns doch nicht.

„mein mann bat mich, mit den kindern nicht mehr ins Freie zu gehen. was für mich eine sehr starke lebenseinschränkung be-deutete. es fühlte sich fast an wie im krieg. sich im Haus verschanzen zu müssen, wäh-rend draußen alles grünte und die sonne schien,“ erinnert sich Annette groever mit schaudern zurück.

Als ob die Welt Kopf stehtAlles was vorher gut und richtig war, war auf einmal schlecht: rausgehen an die fri-sche luft – schlecht, die kinder draußen spielen lassen – schlecht, dem baby mut-termilch geben – schlecht, bioprodukte aus der umgebung – schlecht. Auf einmal

mussten die groevers wieder holländische tomaten einkaufen und massenweise baby-gläschen, die noch in den regalen standen, also unbelastet waren.

schon nach wenigen tagen fasste erich groever einen radikalen entschluss: Die Flucht fort aus Deutschland erschien dem Familienvater, der damals im Allgäu für Ab-fall- und umweltfragen zuständig war und die radioaktive belastung beurteilen konnte, die einzige möglichkeit seine liebsten vor

der unsichtbaren gefahr zu schützen. während er seine Arbeit fortsetzte, sollte seine Frau gemeinsam mit ei-

ner befreundeten mutter und den jeweils zwei kleinkindern auf die spanische insel la gomera fliegen. Die kanaren waren wegen der günstigen windströme vom radioak-tivem niederschlag verschont geblieben.

Doch für die zwei jungen Frauen entpupp-te sich die reise als unerwartet beschwer-lich. bereits nach kürzester Zeit waren alle Flüge auf die insel ausgebucht. Annette groever und ihre Freundin ergatterten mit mühe und not noch einen Flug nach gran Canaria: „Der Flieger war komplett voll mit „Flüchltlingsmüttern“ und ihren weinenden kindern. und auch die weitere reise mit schiffen und bussen war eine einzige tor-tour“, weiß groever noch wie heute.

endlich auf la gomera angekommen, wurde klar, dass auch hier fast ausschließ-lich deutsche mütter mit ihren kindern Zu-flucht suchten, weshalb die beiden Frauen nur weit außerhalb des Zentrums ein freies Appartment fanden.

„Jeden zweiten tag mussten wir über eine stunde bis zum nächsten markt laufen, um obst, brot und wasser zu kaufen. Doch dafür waren die lebensmittel frisch, gesund und garantiert unverstrahlt“ und das alleine sei die mühe wert gewesen, sagt groever.

Als die Wolke nach Bayern kamNur wenige Tage nach der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl zog ein radioaktiver Regenschauer über Bayern und verseuchte Felder, Wiesen und Gärten. Ein bayerischer Biobauer und eine zweifache Mutter berichten vom Leben im Ausnahmezustand.

„Es fühlte sich fast an wie im Krieg: Wir ver-schanzten uns im Haus, während draußen alles

grünte und die Sonne schien.“ A. Groever

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Aussäen oder Hände in den Schoß legen? Aber nicht jeder konnte aus Furcht vor der radioaktivität einfach Haus und Hof verlas-sen. wie alle bayerischen landwirte steckte auch biobauer michel sendl in einer schwie-rigen situation: „wir hatten entscheidungen zu treffen. es war ja Frühjahr und damit Zeit Zwiebeln anzubauen und kartoffeln zu le-gen. macht man das überhaupt oder lässt man’s gleich bleiben?“ und wer will schon abwarten und die Hände in den schoß le-gen, wenn die existenz vom nächsten ertrag abhängt?

Die vorschläge, die besorgte kunden im Hofladen an sendl herantrugen, etwa einen Zentimeter erdboden von der gesamten Ackerfläche abzutra-gen, waren zwar vi-sionär, jedoch nicht realisierbar. Also baute der bio-bauer weiter an, auch auf die gefahr hin, dass er am ende auf seiner ernte sitzen bleiben würde. Doch kurzfristig schien sogar dieser Plan zu scheitern, als sich niemand finden lassen wollte, um bei der Zwiebelaussaat zu helfen. „man hätte ja über den staubigen Acker fahren müssen, auf den der radioaktive niederschlag gefal-len war. und auch wenn kurz nach tscher-nobyl noch keiner so wirklich realisiert hat-te, was los ist, saß die Angst bei den leuten nach zwei, drei wochen tief,“ erinnert sich der landwirt.

schließlich erklärte sich ein befreundetes ehepaar bereit, ihm beim Aussäen zu helfen. Auf schutzkleidung verzichteten die drei, ob-

wohl sie sich der möglichen gesundheitsge-fahr bewusst waren. „Damals dachten wir, ist ja eh schon wurscht. irgendwann muss der Alltag ja weiter gehen“, erklärt sendl heute. „im rückblick“, so fügt er hinzu, „wä-ren mundschutz und Handschuhe jedoch schon sinnvoll gewesen, da mit dem staub natürlich auch der frische Fallout aufwirbelt, den wir eingeatmet haben.“

Rückkehr in die UnsicherheitAnnette groever kehrte nach zwei wochen exil wieder in die Heimat zurück, auch wenn sich die situation in bayern bis dato nicht verändert hatte. ihr mann hatte in der Zwi-schenzeit vorkehrungen getroffen. Fenster, türen und Fugen waren abgedichtet, der rasen gemäht und die Pflanzen im garten

abgespritzt. Den sommer über verbrachte die Familie trotzdem kaum Zeit im Freien. und auch wenn heute alle gesund und mun-ter sind, wird Annette groever die Zeit nach tschernobyl nie vergessen: „Die Angst, die ich vor dieser unsichtbaren gefahr hatte, vor allem unserer kinder wegen, ist mir bis heute in erinnerung.“

Auch in michael sendls gedächtnis hat die Atomkatastrophe von tschernobyl für immer spuren hinterlassen. genauso sicher wie ihn die erinnerung an den gAu jedes Jahr aufs neue einholt, kehrt die Frage wieder, was aus den menschen geworden ist, die in der näheren umgebung des unfallre-

aktors gelebt haben. selbst wenn bayern durch den Fallout, der mit dem gewitter aus osten kam, besonders belastet wurde, wagt er sich bis heute kaum vorzustellen, was ge-wesen wäre, wenn der gAu in Deutschland stattgefunden hätte. „eigentlich hätte uns der vorfall in tschernobyl klar machen müs-sen, dass wir uns mit einer solch riskanten technologie nicht abgeben dürfen. man kann eben niCHt einfach einen Zentimeter erde vom boden abhobeln oder die strahlung mit dem staubsauger einsaugen.“ Der schaden ist schlichtweg nicht zurückzuholen.

„Für ein vernunftbegabtes wesen müsste es doch eigentlich reichen, wenn der nach-bar etwas macht, das zur katastrophe führt, damit ich es bleiben lasse“, meint sendl und kann seine empörung dabei kaum verbergen.

Als sich fast zeit-gleich zum 25. Jah-restag der tscher-

nobylkatastrophe der schreckliche unfall im Akw Fukushima ereignete, rief dies bei An-nette groever die unvergessenen erlebnisse von einst wach. Doch auch wenn sie mit den menschen in Japan mitfühlt, versucht die heute vierfache mutter der katastrophe auch etwas Positives abzugewinnen: „was in Japan geschehen ist, hilft uns hoffentlich endlich umzudenken, damit mein Zukunfts-wunsch und der vieler menschen von einer energiepolitik ohne Atomkraft endlich in er-füllung geht.“

Text: Katja Bachert

Fotos: Fotolia

„Man kann eben nicht einfach einen Zentimeter Erde vom Boden abhobeln.“ M. Sendl

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Tschernobyl noch

In vielen Waldböden hält die radioaktive Verseuchung durch die Reaktorexplosion von Tschernobyl bis heute an. Besonders Pilze sind teils noch hoch belastet.

Die explosion im ukrainischen Atomkraftwerk tschernobyl setzte damals große mengen an ra-

dioaktivität frei. Diese wurden nicht nur in der näheren umgebung, sondern auch weiträumig mit dem wind in verschiedene richtungen verteilt. regen und heftige ge-witter wuschen die radionuklide aus der At-mosphäre aus und so gelangten diese in die böden. Je nach verteilung der radioaktiven wolke und der regenschauer kam es zu ei-ner unterschiedlich hohen verseuchung.

Die gebiete mit den höchsten radioaktiven belastungen liegen in weißrussland, der ukraine und russland. Aber auch regionen in schweden, Österreich und süddeutsch-land blieben nicht verschont. Das radionuk-lid Cäsium-137 ist leicht nachweisbar und für die anhaltende radioaktive belastung verantwortlich. seine physikalische Halb-wertszeit beträgt rund 30 Jahre. Das heißt, von der ursprünglich deponierten menge wird 2016 erst die Hälfte zerfallen sein.

Die europäische union reagierte auf den unfall von tschernobyl und setzte maximale grenzwerte für nahrungsmittel fest. Diese sollten die verbraucher in der eu vor radi-oaktiv kontaminierten lebensmitteln aus Drittländern schützen. wegen der frühzei-tigen entwarnung offizieller stellen und dementsprechend nachlässig gehandhabter kontrollen gab es in den Jahren 1997 und 1998 wiederholte Fälle von nichteinhaltung

der Höchstwerte, insbesondere bei einigen Pilzarten aus osteuropäischen ländern.

Höchstwerte für EU-ProdukteDies führte damals dazu, dass die einfuhr-bedingungen ergänzt und für Pilze verschärft wurden. erst im Jahr 2003 sprach die eu eine empfehlung aus, die auch bei heimischen Produkten die einhaltung der Höchstwerte forderte. und das nur, weil sonst mit dem beitritt einer reihe osteuropäischer länder zum 1. mai 2004 hoch belastete nahrungs-mittel in der gesamten eu hätten verkauft werden dürfen. Denn kontrollen können weder an den grenzen noch innerhalb der einzelnen mitgliedsländer lückenlos durch-geführt werden. so finden diese letztendlich nur stichprobenartig statt.

grund für die strahlenbelastung von waldprodukten ist das verhalten von radi-ocäsium in den waldböden. in einem un-bearbeiteten waldboden bleibt der größte

Der Höchstwert für die Cäsiumbelastung wurde in der eu nach der tschernobylka-tatstrophe auf 600 bq/kg für nahrungs-mittel und 370 bq/kg für milch und säug-lingsnahrung festgelegt. Die Aktivität eines stoffes wird in becquerel (bq) aus-gedrückt, wobei „bq“ als „radioaktiver Zerfall pro sekunde“ definiert ist.

Grenzwerte

nicht gegessen

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teil des Cäsiums in der mehrere Zentimeter dicken Humusauflage und kann in dieser leicht sauren bodenschicht gut von Pflan-zen und Pilzen aufgenommen werden. Zu-dem bildet der wald einen geschlossenen stoffkreislauf: Die durch Zersetzung von herabfallenden nadeln, laub oder Ästen frei gewordenen nährstoffe, wie auch das Cäsium, werden wieder von den Pflanzen aufgenommen.

Pfifferling und SteinpilzJe nach Pflanzen- oder Pilzart nehmen die waldgewächse das radioaktive Cäsium un-terschiedlich stark auf. so gelten maronen-röhrling und semmelstoppelpilz als ausge-sprochene Cäsiumsammler, während Arten wie der schirmling es nur in geringen men-gen aufnehmen. Die beliebten speisepilze Pfifferling und steinpilz liegen bei der Cäsi-um-Aufnahme im mittelfeld. erklärungen für die unterschiede innerhalb einer gattung gibt es bisher nicht. gemäß messungen des umweltinstitut münchen wiesen Pfifferlinge aus dem bayerischen wald, der in teilen hoch kontaminiert ist, in den letzten Jahren eine durchschnittliche Cäsiumbelastung von etwa 200 bq/kg auf.

Das umweltinstitut münchen bestimmt auch den Cäsiumgehalt von Pilzen, die im verkauf angeboten werden. es handelt sich meist um Pfifferlinge aus osteuropäischen ländern wie litauen, weißrussland, russland, Polen, ru-mänien, bulgarien, ungarn, tschechien und den ländern des ehemaligen Jugoslawiens. bei etwa drei viertel der untersuchten ost-europäischen Pfifferlinge wurde eine radio-aktive belastung von weniger als 100 bq/kg festgestellt. gut ein Drittel wies weniger als 20 bq/kg auf und nur drei Prozent der unter-

suchten Proben lagen über oder deutlich über dem zulässigen Höchstwert von 600 bq/kg.

Hochbelastete Pilze im Handel Darunter waren auch zwei Ausreißer, die das umweltinstitut 1997 entdeckte: Pfiffer-linge, deren Herkunft mit makedonien an-gegeben war, wiesen etwa 7000 bq/kg auf. Andere Pfifferlinge, die angeblich aus un-garn stammten, waren mit mehr als 10.000 bq/kg belastet. Diese Pilze hätten nicht in den Handel gelangen dürfen. recherchen ergaben, dass die angeblich makedonischen Pilze von einem österreichischen Zwischen-händler umdeklariert auf den münchner markt gebracht worden waren. Diese und vermutlich auch die als ungarisch dekla-rierten Pfifferlinge stammten höchstwahr-scheinlich aus der ukraine.

Auch 2009 wurde ein Ausreißer entdeckt: Pfifferlinge mit der Herkunftsangabe „kar-paten“ wiesen etwa 1400 bq/kg auf. einen

weiteren ermittelten wir 2010: Pfifferlinge aus rumänien waren mit 1000 bq/kg belas-tet. Der Höchstwert für Cäsium von 600 bq/kg war damit jeweils deutlich überschritten.

Die grafik zeigt die mittlere Cäsiumbe-lastung von osteuropäischen Pfifferlingen ab 1997. Die Jahresmittelwerte beruhen auf insgesamt 197 messungen. Für das Jahr 2003 liegen keine messwerte vor, da es in diesem „Jahrhundertsommer“ zu heiß und trocken war. Die Überschreitungen der Höchstwerte 1997 sind deutlich erkennbar. Auch fällt auf, dass der Jahresmittelwert für 2009 im vergleich zu den vorjahren an-gestiegen ist und auch 2010 noch ein ver-gleichsweise hohes niveau erreicht.

es gibt Aussagen, dass zum beispiel Pfif-ferlinge aus weißrussland im gering belas-teten litauen abgepackt werden und dann als Pfifferlinge aus litauen auf den markt kommen. Auch soll es üblich sein, dass beim Abpacken hoch und gering belastete Pilze zur sicheren unterschreitung des Höchst-wertes gemischt werden. solche umstände könnten erklären, weshalb die belastung der osteuropäischen Pfifferlinge mehr als 20 Jahre nach tschernobyl im vergleich zu den vorjahren tendenziell nicht weiter abgenom-men hat, sondern sogar angestiegen ist.

Text: Karin Wurzbacher

Fotos: Fotolia

Grafik: UIM

Messungen des Umweltinstitut München von Pfifferlingen (Jahresmittelwerte)

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Grenzwerte erhöht, Glaubwürdigkeit gesenktNach dem AKW-Unglück von Fukushima recherchierten Mitarbeiter des Umwelt- institut München, welche Grenzwerte für Radioaktivität bei Lebensmittelimporten aus Japan nach Deutschland angelegt werden. Das Ergebnis fiel ernüchternd aus: Weder beim Zoll noch im zuständigen Bundesministerium konnte man Auskunft geben.

Lebensmittel werden innerhalb der europäischen union seit Juni 1986 stichprobenartig auf ihre radioak-

tive belastung überprüft. Auch dann, wenn gerade keine atomare notsituation besteht. eu-weit gilt seit tschernobyl für den Cäsi-um-gehalt in milch, milchprodukten und säuglingsnahrung ein grenzwert von maxi-mal 370 bq/kg (becquerel pro kilogramm). Alle anderen lebensmittel dürfen 600 bq/kg nicht überschreiten, andernfalls müssen sie als radioaktiver sondermüll entsorgt wer-den. nach dem motto: die guten ins kröpf-chen, die schlechten ins Atom-Fässchen.

Als nach dem schweren reaktorunfall im japanischen Akw Fukushima die akute ge-fahr bestand, dass verstrahlte lebensmittel nach europa importiert werden könnten, beschloss der europarat eine alte notfall-verordnung aus der Zeit nach tschernobyl

aus der schublade zu holen. Auf deren basis erließ man am 25. märz eine eu-eil-verord-nung speziell für lebensmittel aus Japan. Diese besagt, dass im Fall eines atomaren notstands höhere grenzwerte für die radio-aktive belastung von lebensmitteln festge-legt werden, um die nahrungsversorgung zu gewährleisten. Das heißt: was gestern noch als radioaktiver sondermüll galt, könnte plötzlich auf unserem teller landen.

ein schritt, der jeder logik entbehrt. Denn bei einem lebensmittelimportanteil aus Japan in die eu von rund 0,05 Prozent kann von einem nahrungsmittelengpass keines-wegs die rede sein. Zudem legt die not-fallverordnung lediglich die einhaltung der grenzwerte für Jod-131, Cäsium-134 und Cäsium-137 fest. Die aggressiveren Alpha- und beta- strahler Plutonium und strontium werden darin nicht einmal erwähnt.

und abgesehen davon sollte die eu-kom-mission die bürger im Zweifelsfall schützen, etwa durch einen importstopp für nah-rungsmittel aus den verseuchten gebieten. stattdessen mutete man europäern höhere belastungswerte zu, als die Japaner sich selbst. so war plötzlich die groteske situati-on entstanden, dass lebensmittel in Japan nicht in verkehr gebracht, jedoch in die eu exportiert werden dürfen. in brüssel nahm man folglich unnötigerweise eine mögliche gesundheitsgefährdung der eu-bürger in kauf und hielt es nicht einmal für nötig sie darüber zu informieren.

Umweltinstitut München und Foodwatch schlagen Alarmerst als das umweltinstitut münchen ge-meinsam mit den verbraucherschützern von Foodwatch auf den skandal aufmerksam machten, kam bewegung in die grenz-

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wertedebatte. Doch statt in brüssel auf eine schnelle, umfassende lösung zu drängen, besuchte bundesverbraucherschutzministe-rin ilse Aigner lieber den Frankfurter Flug-hafen, um sich dort medienwirksam von den korrekten grenzkontrollen zu überzeugen.

Anschließend ließ sie in einem offiziellen interview verlauten, man arbeite hier mit netz und doppeltem boden. Die waren wür-den zuerst in Japan und dann noch einmal bei der einfuhr nach Deutschland kontrolliert. Doch wie leicht Zertifikate für lebensmittel gefälscht werden können, stellt das umwel-tinstitut münchen jedes Jahr zur Pilzsaison fest. wenn nämlich vermeintlich unbelaste-te Pilze aus osteuropa auf deutschen märk-ten gefunden werden, deren Cäsium-gehalt den grenzwert deutlich überschreiten.

Hangelei durch die Institutionenwir wollten es deshalb genauer wissen und fragten am 31. märz beim Zoll nach, wie hoch die grenzwerte nun tatsächlich sein dürften. eine mühsame Hangelei durch die institutionen nahm ihren lauf, mit wenig er-baulichem Ausgang.

unser erster Anruf galt dem informations- und wissensmanagement des Zoll in Dres-den. Die junge Dame am anderen ende der leitung schien hörbar überfordert: sie könne darüber keine Auskunft geben. wenn strah-lung gemessen würde, werde das bundes-amt für strahlenschutz (bfs) hinzugezogen. Auf die Frage, wie man die strahlung messe und bei welchen werten man das bfs zu rate ziehe, reagierte die Dame gereizt, wir sollten uns an das Amt selbst wenden.

bei einem zweiten versuch unter gleicher servicenummer konnte uns auch diese mit-arbeiterin keine grenzwerte nennen. Den messvorgang beschrieb sie jedoch folgen-dermaßen: Der Zöllner halte einen geiger-zähler an die waren, wenn dieser ausschla-ge rufe man die Feuerwehr. Denn nur diese und das zuständige bundesministerium für Finanzen (bmF) wüssten über die grenz-werte bescheid.

Doch die zuständige sprecherin beim bmF für Zoll etc. erwies sich als wenig hilfsbe-reit. sie unterbrach uns schon während der Fragestellung höflich aber bestimmt:

wir müssten verständnis haben, aber sie könne ausschließlich Pressenanfragen ak-kreditierter Journalisten beantworten. Auch organisationen Auskunft geben zu müssen, würde ihre kapazitäten übersteigen.

Zuständig für unsere Anfrage sei jedoch das referat für bürgerangelegenheiten im selben Haus. Dort konnte man jedoch auch nicht weiterhelfen und wollte uns kurzerhand zurück an den Zoll verweisen. Als wir erklärten, dass wir von dort kämen, wies man uns schroff darauf hin, dass auf der internetseite www.zoll.de doch alle re-levanten informationen zu Japan ständen. ein echter geheimtipp, auf den wir natürlich auch schon gekommen waren. Doch von konkreten grenzwertangaben war dort nicht die geringste spur zu finden.

Also versuchten wir es noch einmal beim bmF, diesmal über den empfang und wur-den an die sachbearbeiterin für verbote verwiesen. Diese verfing sich sogar in ihrer knappen Antwort in einen widerspruch: Die werte seien für den Zoll belanglos, jeder erhöhte wert werde jedoch die ve-terinärbehörden oder den umweltbehörden weitergeleitet. Für genauere informationen sollten wir uns an den referenten des bmF für maßnahmen im Zusammenhang mit Ja-pan wenden. Dieser wollte sich jedoch erst intern beraten, bevor er uns eine verbind-liche Aussage zu den grenzwerten machen könne. Auf den versprochen rückruf warten wir bis heute.

Längst überfällige Harmonisie-rung der GrenzwerteAm 1. April reagierte dann das bundes-ministerium für verbraucherschutz: es sei für die verbraucher weder nachvollziehbar noch vermittelbar, dass es unterschiedliche eu-verordnungen mit unterschiedlichen grenzwerten gebe, ließ ein sprecher von ilse Aigner verlauten. Die eu müsse daher die regelungen anpassen und dabei den „niedrigsten, also sichersten grenzwert“ anwenden.

Am 8. April glich die eu die grenzwerte aus der notstandsverordnung schließlich an die niedrigeren japanischen an. Die grenz-werte für Jod-131 und strontium-90 waren aber auch danach noch immer viel zu hoch.

Fazit der Grenzwert-Odyssee weder sorgten die zuständigen ministerien auf eu- und bundesebene für eine verläss-liche information der bürger, noch waren die behörden für den ernstfall gerüstet. ein be-denklicher Zustand, in Anbetracht der mas-siven, weltweiten nutzung von Atomkraft.

Auch wenn der deutsche Atomausstieg in absehbarer Zeit realisiert wird, werden wir solange nicht verlässlich vor verstrahlten le-bensmittelimporten geschützt sein, solange es irgendwo auf der welt Atomkraftwerke gibt. Denn radioaktivität macht nun mal auch vor ländergrenzen und kontinenten nicht halt. Das lügen und vertuschen ist eine direkte Folge der völlig ungeklärten und letztendlich unmöglichen Haftung für die schäden durch radioaktivität.

Text: Katja Bachert

Fotos: Fotolia, Guido

Bergmann /Bundesregierung

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�� Jahre Kampf gegen AtomenergieMit engagierten Bürgerinnen und Bürgern gründeten Münchner Wissenschaftler nach der Katastrophe von Tschernobyl das Umweltinstitut München e.V. Als Antwort auf die irreführende Informationspolitik der Behörden sorgte das Institut für unabhängige Auf-

klärung zur radioaktiven Belastung von Lebensmitteln, Böden oder Spielsand. Heute zählt der Verein zu den wichtigsten Umweltschutzorganisationen Bayerns.

Die Geschichte einer Münchner NRO (Nicht-Regierungsorganisation).

Um 1.23 uhr am 26. April 1986 ereignete sich im ukrainischen Atomkraftwerk tschernobyl die bis

dato größte katastrophe in der geschichte der zivilen nutzung der Atomenergie. bei der explosion des block 4 und dem zwei wo-chen dauernden reaktorbrand wurde eine enorme menge an radioaktivität freigesetzt und in die Atmosphäre geschleudert. meh-rere kilometer rund um die nahegelegene

stadt Prypjat wurden stark verseucht und sind heute noch unbewohnbar. tausende menschen starben, Hunderttausende muss-ten ihre Heimat für immer verlassen. in den folgenden tagen verbreitete sich die radio-aktive wolke von der ukraine aus über weiß-russland, große teile russlands, die türkei, Polen, skandinavien, ost- und mitteleuropa bis hin nach grönland und neufundland und schließlich auch nach süddeutschland,

Österreich und den gesamten Alpenraum. erst am 28. April, knapp drei tage nach der explosion setzte eine eilmeldung der Deut-schen Presse-Agentur (dpa) unter berufung auf die sowjetische nachrichtenagentur tAss die internationale berichterstattung in gang. erste Hinweise dazu kamen aus schweden: bei routine-messungen waren auf dem gelände des schwedischen Akw Forsmark deutlich höhere strahlenwerte als

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innerhalb des reaktors gemessen worden. Auch messungen an der Arbeitsbekleidung der mitarbeiter ergaben erhöhte radioaktive werte. Da das Akw als verursacher aus-geschlossen werden konnte, richtete sich der verdacht aufgrund der aktuellen wind-richtung auf ein ereignis in der ehemaligen sowjetunion.

Dadurch geriet die regierung unter Druck. Die erste nachricht von der katastrophe lau-tete, im ukrainischen Akw tschernobyl „sei ein schaden aufgetreten“. eine dramatische untertreibung und eine verhöhnung der op-fer des bis zu diesem tag weltweit größten nuklearen unfalls der geschichte.

Informationschaos und PanikDas nachrichtenchaos, das alsbald auch in Deutschland folgte, verstärkte die verwir-rung und Ängste der menschen zusätzlich. bürgerinnen und bürger wurden einem Hin und Her zwischen beschwichtigung und Panikmache ausgesetzt. eine gefahr für die bundesbürger wurde von offizieller seite stets vehement verneint. so, als dürfe die bis dahin für unmöglich gehaltene katastrophe unter keinen umständen das konzept der „sauberen Atomenergie“ in Frage stellen.

Aufgrund der informationsverweigerung der behörden begann der vorläufer des umweltinstitut münchen, das energie- und umweltbüro in garching, umgehend die wichtigsten lebensmittel auf ihren radio-aktivitätsgehalt hin zu untersuchen. lokale medien hielten ständig kontakt.

Doch vor allem häuften sich die Anfra-gen kritischer und verunsicherter bürger, so dass das umweltbüro bald rund um die uhr besetzt werden musste, um dem Ansturm gerecht werden zu können. Die lebensmit-teluntersuchungen wurden schließlich tag und nacht durchgeführt, zum teil in einem bremer labor, teils in einem münchner Hochschulinstitut.

obwohl alle mitarbeiter ausschließlich zu den Auswirkungen des tschernobyl-gAus arbeiteten, war das ingenieurbüro nach kurzer Zeit überlastet. Freunde, bekannte und engagierte Freiwillige unterstützten die tägliche Arbeit, besorgten lebensmittelpro-ben, halfen beim erstellen der messlisten oder sprangen beim telefondienst ein. Auch boten immer mehr unterstützer finanzielle Hilfe an, um die mess- und Aufklärungs-

arbeit voranzutreiben. Aus diesem kreis engagierter bürger und wissenschaftler entstand schließlich das umweltinstitut münchen e.v., das als gemeinnütziger ver-ein für erforschung und verminderung der umweltbelastung am 9. Juli 1986 offiziell ins vereinsregister beim Amtsgericht mün-chen eingetragen wurde.

Unabhängige Messungen und kritische Aufklärung um der großen nachfrage nach informati-onen zu diesem thema gerecht zu werden, gab das institut die broschüre „es liegt was in der luft...“ mit messergebnissen und konkreten Handlungsempfehlungen heraus (siehe kasten, seite 18). in der Folge ent-standen dann die „umweltnachrichten“, als regelmäßiges unabhängiges vereinsorgan für die Fördermitglieder. neben kritischen beiträgen zur Atompolitik und dem umgang der behörden mit der belastungssituation bei uns, enthielt das Heft auch ergebnisse der radioaktivitätsmessungen von lebens-mittel- und bodenproben.

mit den ersten spendengeldern schaffte das institut schon bald ein eigenes gamma-spektrometer an. mit diesem können feste und flüssige stoffe auf ihre gammastrahlen-aktivität untersucht und somit deren radio-aktive belastung durch Jod-131, sowie Cä-sium-137 und -134 gemessen werden. nach wie vor misst das institut regelmäßig Pilze und wildfleisch aus bayerischen und osteu-ropäischen wäldern, die bis heute teils im-mer noch hoch radioaktiv belastet sind.

in den nächsten ein bis zwei Jahren kon-zentrierte sich das institut auf die Folgen der tschernobylkatastrophe und die Aufklärung zu den risiken der Atomkraft. mit der Zeit erweiterte sich der themenzirkel zunächst um die Arbeitsbereiche energieeinsparung, elektrosmog, innenraumschadstoffe wie

Asbest und später auch um gentechnik, Ökologischer landbau und Agrosprit. Die internetseite www.umweltinstitut.org bietet seit 1999 aktuelle informationen und Hinter-grundwissen zu diesen themen, außerdem verschiedene online-Protestaktionen und natürlich Aufrufe zu Anti-Atom- und Anti-gentechnik-Demos.

in den letzten Jahren wurde die seite von über einer million menschen jährlich be-sucht. und über 50.000 umweltschutzinter-essierte informieren sich zusätzlich mit dem regelmäßig erscheinenden newsletter kos-tenlos über aktuelle themen und Aktionen des umweltinstituts.

Dieser hatte nach dem reaktorunfall in Fu-kushima verständlicherweise nur ein thema: Die unkontrollierbare Atomkraft.

seit ende der 1980er Jahre bietet das um-weltinstitut münchen e.v. nuklidspezifische gammaspektroskopische messungen von künstlicher und natürlicher radioaktivität zum beispiel in lebensmitteln, Holz oder baustoffen an. Zudem überwacht das institut mit einer sonde zur messung der gammadosisleistung permanent die ra-dioaktivität der münchner Außenluft. Auf

Anfrage werden auch radonmessungen in innenräumen durchgeführt.

neu! Quantulus zur Plutonium- und stronti-um-messung:Durch die Anschaffung des messgerätes „Quantulus“ will das umweltinstitut künftig auch Alphastrahler wie Plutonium und stron-tium messen. (mehr infos auf seite 19)

Radioaktivitätsmessungen

Das Gammaspektrometer misst die Radioaktivi-tät in Lebensmittel-, Staub- oder Bodenproben.

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25 Jahre Tschernobyl - ein trauriges Déjà-VuAusgerechnet im 25. Jahr der tschernobyl-katastrophe, folglich dem 25. Jubiläumsjahr der vereinsgründung, wurde das institut von der vergangenheit eingeholt. Als am 11. märz 2011 im japanischen Fukushima die erde bebte, ein gewaltiger tsunami ganze landstriche verwüstete und im Atomkom-plex Fukushima die lage außer kontrolle geriet, erlebten einige mitarbeiter des um-weltinstituts ein trauriges Déjà-vu.

Auch wenn Japan knapp 7500 kilome-ter weiter von Deutschland entfernt ist als die ukraine, war die verunsicherung der menschen deutlich zu spüren. Das telefon klingelte wieder ununterbrochen, ganz zu schweigen von der Flut an emails, die das institut erreichte: sind schutzmaßnahmen nötig, wenn verwandte oder Freunde aus Japan kommen? ist die einnahme von Jod-tabletten bei uns nach der Atom-katastro-phe in Japan nötig und sinnvoll? und macht es sinn, einen geigerzähler zu kaufen? Fra-gen wie diese trieben viele menschen um.

Zu den am häufigsten gestellten wurde eine online-sonderseite eingerichtet, auf der besorgte bürger unmittelbar Antwort finden konnten. Auch die Presseanfragen ballten sich. Fast täglich besuchten Journalisten das institut, um einschätzungen der exper-ten zu den Auswirkungen der katastrophe einzuholen. oder, um die messung von luft-, staub- und regenwasserproben oder japa-nischer lebensmittel zu filmen, die nun wie-der mehrmals pro tag durchgeführt wurden.

Auch die bundesregierung sprach plötz-lich von einer nachhaltigen Zäsur für die energiepolitik. Doch selbst wenn nun sogar die gestrigen laufzeitverlängerer von CDu/Csu und FDP auf einen schnellstmöglichen Atomausstieg drängen, bleibt für Christina Hacker, vorstand des umweltinstituts und von Anfang an mit dabei, mehr als ein fader beigeschmack zurück:

„Das tragische ist, dass erst erneut ein so schweres unglück mit allen gesundheit-lichen und ökologischen konsequenzen pas-sieren musste, bevor das risiko der Atom-kraft endlich anerkannt wird“.

Endlich Lehren ziehenob aus der katastrophe von Fukushima tat-sächlich jene langfristigen lehren gezogen werden, die man nach tschernobyl nur allzu schnell verdrängte, bleibt abzuwarten.

Das generalziel einer weltweiten ener-gieversorgung aus regenerativen Quellen ohne Atomkraft wird in jedem Fall noch eini-ge Jahrzehnte in Anspruch nehmen.

Für das umweltinstitut münchen bedeu-tet dies noch mindestens weitere 25 Jahre energischen kampf wider die Atomkraft. und der ist nur aufgrund der engagierten Förderer und spender möglich.

ein großes Dankeschön an alle, die unsere unabhängige Arbeit unterstützen!

link: www.umweltinstitut.org

Text: Katja Bachert,

Christina Hacker

Fotos: Anne Rothermel, Antje Wagner

Obstuntersuchungen„wir hatten erwartet, bei den gerade erst wachsenden Früchten und beeren nur eine geringfügige verseuchung zu finden. Denn eine Aufnahme über die wurzeln schien uns zumindest bei mehr-jährigen sträuchern und bäumen nicht wahrscheinlich. wir können uns die bedrückend hohe verseuchung der jungen Früchte nur aus dem inneren stoffwechsel zwischen Früchten und den sie umge-benden radioaktiven blättern erklären. Deutlich ist die weit höhere belastung von z.b. Johannisbeeren als von z.b. erdbeeren. Der ver-zehr heimischer beeren sollte – besonders bei kleinkindern – ein-geschränkt oder ganz vermieden werden.“ (s.72)

Fleischuntersuchungen„sowohl beim rind- wie beim schweinefleisch ist die radioaktive belastung (abhängig von der Fütterungsart) sehr unterschiedlich und teilweise sehr hoch. beim einkauf besteht also keinerlei si-cherheit über die Fleischqualität. Die verseuchung von wild ist so hoch, dass vom verzehr unbedingt abzuraten ist.“ (s. 74)

Schuhe ausziehen oder Staubsaugen?„messungen von schuhsohlen, insbesondere leder, wiesen z.t. ähnlich hohe Aktivitäten auf, wie begangene bodenflächen. wer vor der wohnungstür die schuhe auszieht, verringert daher den eintrag radioaktiver Partikel in die wohnung. ... es lohnt sich die wohnung gründlich durchzusaugen. beim saugen sollte gelüftet werden. nicht saugen im beisein von kleinkindern. wenn möglich, den staubbeutel doppelt einlegen. bei glatten böden besser den staub feucht wischen.“ (s. 78)

Empfehlung für Spielplätze„kinder sind besonders gefährdet, weil sie beim spielen im sand, auf der wiese, in Pfützen usw. stark mit dem radioaktiven nie-derschlag in berührung kommen. Zwar ist die strahlungsaufnah-me über die Haut gering, doch besteht die gefahr, dass die kinder blätter oder den Daumen in den mund stecken. Da in sandböden die isotope mit dem regen leicht eingespült werden, führen die niederschläge zu einer entlastung für die spielenden kinder. mes-sungen von sand zeigen auch deutlich geringere Aktivitäten an als messungen von anderen böden oder bodenbelägen.“ (s.78)

Es liegt was in der Luft...Die erste Broschüre des Umweltinstitut München e.V. trug den Titel „Es liegt was? in der Luft, auf dem Boden, in der Milch, im Obst...“ und erschien im Mai 1986, nur knapp zwei Wochen nach der Tschernobylkatatstrophe. Neben aktuellen Messergebnissen enhielt sie ausführliche Informationen rund um das Thema Radioaktivität. Als besonders hilfreich emp-fanden viele Menschen die konkreten Handlungsempfehlungen für den Verzehr von Lebensmitteln und den Umgang mit der Strahlung im Alltag:

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Kauf eines Quantulus

mitten in die vorbereitungen des 25-jährigen Jubiläums des umwelt-institut münchen e.v. platzte die Atomkatastrophe von Fukushima, die alle bisherigen vorstellungen sprengte. vier reaktoren mit dem 120-fachen radioaktiven inventar von tschernobyl gerieten außer kontrolle. Die ereignisse in Japan und die reaktion unserer regie-rung haben gezeigt, dass offensichtlich hier wie dort dasselbe Chaos herrscht wie vor 25 Jahren nach der katastrophe von tschernobyl.

Unabhängig messen und rechtzeitig informierenwir haben kein vertrauen in die informationspolitik der regierungen. wenn bei uns oder in unseren nachbarländern eine radioaktive ver-seuchung passiert, wollen wir nicht auf die informationen der be-hörden angewiesen sein. wie in Japan werden wir zwar vor Panik, aber eben nicht vor der radioaktivität geschützt. Deshalb wollen wir unabhängig messen und die menschen rechtzeitig informieren. bisher können wir lebensmittel und andere Proben mit unserem gammaspektrometer nur auf gammastrahler wie Cäsium und Jod untersuchen. wir wollen deshalb das Angebot des befreundeten otto-Hug-strahleninstituts annehmen und einen Quantulus zum nachweis von Plutonium und strontium kaufen.

Was ist ein Quantulus? mit dem Quantulus können wir Alpha- und betastrahler wie Plutoni-um und strontium messen. Diese stoffe sind besonders gefährlich und langlebig. Plutonium-239 z.b. hat eine Halbwertzeit von 24.000 Jahren und ist extrem giftig. strontium hat wie Cäsium eine Halb-wertzeit von 30 Jahren. es ist so gefährlich, weil es sich in knochen einlagert und jahrelang schaden kann.

bisher wurde der Quantulus des münchner otto-Hug-strahlenins-tituts im rahmen der Forschungsprojekte von Prof. lengfelder be-trieben. nach seiner emeritierung an der lmu konzentriert er seine Aktivitäten auf die von tschernobyl betroffenen gebiete in weißrus-sland. Das gerät wird deshalb verkauft.

Der erlös kommt zwei Projekten in weißrussland zugute: Der lau-fenden versorgung des vom otto-Hug-strahleninstitut aufgebauten schilddrüsenzentrums und einem regenerativen energieprojekt in gomel. weitere infos: www.umweltinstitut.org

Bitte unterstützen Sie unsere unabhängigen Messungen mit Ihren Spenden und Beiträgen!

Das Umweltinstitut München will seine Messungen ausbauen und mit dem Quantulus künftig auch Plutonium und Strontium messen

35.000 euro werden für den Kauf des Quantulus benötigt.

500 Förderer, die uns monatlich mit 10 euro unterstützen,

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JA, ich will Förderer werden und unabhängige

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Die schwersten Atomunfälle der Vergangenheit Die Geschichte der Atomenergie zeigt, dass sich gravierende Unfälle nicht verhindern lassen. In den letzten 50 Jahren mussten wir fünf Atomkatastrophen mit gewaltigen Gesundheits- und Umweltbeeinträchtigungen erleben.

Windscale, Großbritannienin windscale in nordwestengland entstanden ende der 1940er Jahre die ersten britischen Atomanlagen, die dem Atombomben-bau dienten. in einem der reaktoren brach am 10. oktober 1957 ein Feuer aus, das zu einem der schwerwiegendsten Atomunfälle vor der katastrophe von tschernobyl führte. Die bevölkerung wurde erst einen tag nachdem das Feuer gelöscht war informiert. Durch den brand waren erhebliche mengen an radioaktivität freigesetzt worden und die umgebung wurde stark verseucht. milch von umlie-genden Farmen wurde zwar in die irische see „entsorgt“, kontami-nierte milch aus entfernteren regionen aber weiterhin verkauft. um die bevölkerung nicht zu beunruhigen, verzichteten die behörden auf die eigentlich notwendige evakuierung, Auswirkungen und Ablauf des unfalls wurden zur verschlusssache.

Auf der ines-skala der internationalen Atomenergiebehörde wur-de der unfall mit stufe 5 bewertet: „ernster unfall mit begrenzter Freisetzung und einsatz einzelner katastrophenschutzmaßnahmen“.

Der reaktor ging nicht wieder in betrieb. Der grad der kontami-nation ist vergleichbar mit der in der sperrzone um tschernobyl. Der skandalträchtige Atomkomplex „windscale“ kam in den Folgejahren immer wieder wegen ernster störfälle in verruf, weshalb er 1981 kurzerhand in „sellafield“ umbenannt wurde.

Majak, ehemalige SowjetunionDas „Chemiekombinat majak“, die erste sowjetische Anlage zur Her-stellung von Plutonium, entstand mitte der 1940er Jahre und diente auch zum bau von Atomwaffen. „Die geheime stadt“, wie majak auch heute noch genannt wird, ist einer der größten Atomkomplexe der welt und liegt in den bergen des ural, nahe der ortschaft kysch-tym an der grenze zu kasachstan. offiziell galt die Atomanlage als werk zur erzeugung von Düngemitteln. von ehemals zehn Anlagen sind heute noch zwei Atomreaktoren, eine wiederaufarbeitungsan-lage und ein lager für radioaktive Abfälle in betrieb.

Zu beginn wurden atomare Abfälle in den Fluss tetscha geleitet. nachdem sich in den kontaminierten gebieten krankheiten häuften, begann man die menschen umzusiedeln, ohne sie über die tatsäch-liche ursache zu informieren. Danach leitete man die radioaktiven Abwässer in den nahen karatschai-see, der heute als einer der am stärksten radioaktiv belasteten orte der erde gilt. Ab 1953 wurden die hochradioaktiven flüssigen Abfälle in tanks gelagert. wegen unzureichender kühlung kam es am 29. september 1957 zu einer

explosion, ausgelöst durch den Funken eines kontrollgeräts. große mengen radioaktivität wurden bodennah freigesetzt, so dass der größte teil davon auf dem betriebsgelände verblieb.

weil es in westeuropa keine messbaren effekte gab, konnte der unfall lange Jahre geheim gehalten werden. Die sowjetische Füh-rung gestand den unfall erst 1989 (nach tschernobyl!) ein.

Auf der ines-skala wurde er mit stufe 6 bewertet: „schwerer unfall mit erheblicher Freisetzung, voller einsatz der katastrophen-schutzmaßnahmen“.

Three Mile Island, USAin der us-amerikanischen Atomanlage three mile island in Harris-burg, Pennsylvania, kam es am 28. märz 1979 in block 2 zu einem schweren unfall. Der Druckwasserreaktor war gerade einmal drei monate in betrieb. Durch die Fehlfunktion eines ventils kam es zum Ausfall des kühlsystems. Die schnellabschaltung wurde aktiviert, doch aufgrund der nachzerfallswärme stiegen temperatur und Druck. weil es keine Anzeige im kontrollraum gab, blieb die stö-rung unbemerkt. Die brennelemente begannen trocken zu fallen und zu überhitzen. Die Hälfte des inventars war schon geschmolzen, als man die tragweite des störfalls erkannte. ein überkritischer Zustand konnte nur knapp verhindert werden, tagelang kämpfte die mann-schaft gegen eine drohende wasserstoffexplosion.

Am 29. märz wurden schwangere Frauen und vorschulkinder im umkreis von knapp zehn kilometern aufgefordert, die gegend zu ver-lassen. block 2 wurde nicht wieder in betrieb genommen.

Tschernobyl, ehemals Sowjetunion, heute UkraineAm 25. April 1986 wird in block 4 des Atomkomplexes tschernobyl ein experiment gestartet: es sollte bestätigt werden, dass das kraft-werk bei Ausfall der externen stromversorgung genügend strom produzieren kann, um die notkühlung sicherzustellen. eine unterbre-chung des experiments aufgrund akuten strombedarfs in kiew und der dadurch bedingte schichtwechsel der betriebsmannschaft, die nur dürftig informiert war, führten schließlich in die katastrophe.

in der nacht des 26. April explodierte der reaktor mit einer sol-chen wucht, dass radioaktivität in große Höhen geschleudert wur-de. Der heftige graphitbrand trug dazu bei, dass die Freisetzung über mehrere tage andauerte. Die radioaktive wolke umrundete mehr-mals die erde und hinterließ weit über nationale grenzen hinaus ihre verseuchung. Der unfall wurde geheim gehalten, nicht einmal die

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umliegende bevölkerung erfuhr davon. Der erste Hinweis kam aus schweden, als am Akw Forsmark am 27. April erhöhte radioakti-vität festgestellt wurde. nachdem klar war, dass es kein lokales er-eignis gab und aufgrund der windverhältnisse nur osteuropa infrage kam, meldete schließlich die sowjetische nachrichtenagentur tass am 28. April den unfall. Die nahe stadt Prypjat wurde erst am über-nächsten tag evakuiert. Die sperrzone im 30 km-umkreis besteht heute noch.

Der unfall war bis dahin der schwerste zivile Atomunfall über-haupt. er wurde auf der ines skala mit der höchsten stufe 7 be-wertet: „schwerste Freisetzung, Auswirkungen auf gesundheit und umwelt in einem weiten umfeld“.

Fukushima, JapanAm 11. märz 2011 erlebte Japan das schwerste erdbeben seiner geschichte. infolge traf ein tsunami mit einer bis zu 23 meter ho-hen Flutwelle die ostküste. ganze siedlungen, Autos, schiffe und menschen wurden weggerissen. im Atomkomplex Fukushima i mit sechs reaktoren fielen strom und kühlung aus. in den blöcken 1 bis 3 erfolgte durch das erdbeben eine notabschaltung. Die blöcke 4 bis 6 waren wegen revisionsarbeiten heruntergefahren. nur bei den blöcken 5 und 6 konnte eine notstromversorgung hergestellt werden. bei den anderen kamen batterien zum einsatz. Die situati-on eskalierte, nachdem diese erschöpft und weder notstrom- noch externe stromversorgung in gang gebracht werden konnten.

in den blöcken 1 bis 3 setzte unmittelbar nach dem beben die kernschmelze ein. es kam zu wasserstoffexplosionen und Freiset-zungen von radioaktivität. Auch in block 4 gab es eine wasserstoff-explosion und Feuer, weil die kühlung für das Abklingbecken mit dem ausgelagerten reaktorkern nicht mehr funktionierte. unmengen von meerwasser wurden zur kühlung in die reaktorgebäude gespritzt. Aktuell stehen die gebäude gefüllt mit hochradioaktivem wasser. ein reinigungsversuch musste abgebrochen werden.

Am 12. märz wurde ein umkreis von 10 km evakuiert und später auf 20 km ausgedehnt. erst ende April erfolgte ein erlass, die evakuie-rungszone um zusätzliche gebiete zu erweitern, in denen eine strah-lenbelastung von mehr als 20 millisievert pro Jahr erwartet wird.

bis ende des Jahres will der betreiber die reaktoren in den kal-ten Zustand überführt haben. Doch die meldungen über extrem hohe strahlungswerte lassen Zweifel aufkommen. Der unfall wurde inzwi-schen auf die höchste ines-stufe 7 angehoben und damit in dieselbe

kategorie wie tschernobyl eingestuft. eine bewertung des gesamten Ausmaßes der katastrophe ist derzeit noch nicht möglich.

Atomkraft ist nicht beherrschbarDer unfall im Atomkomplex majak 1957 konnte „dank“ des eisernen vorhangs und der lokal begrenzten Ausbreitung von radioaktivität über viele Jahre geheim gehalten werden. Auch der unfall in der britischen Atomwaffenschmiede windscale wurde lange Jahre ver-tuscht und heruntergespielt.

mit Harrisburg im Jahr 1979 wurde erstmals die möglichkeit einer kernschmelze und damit eines ernsten Atomunfalls in einem Akw mit westlichem standard wirklichkeit. Dass sich die Auswirkungen in grenzen gehalten haben, war reiner Zufall und glück. erst die tschernobylkatastrophe 1986 brachte eine Zäsur. bis dahin war es als nicht möglich erachtet worden, dass sich ein Atomunfall in die-ser Dimension weit über ländergrenzen hinweg auswirken kann. Die Atomeuphorie schien erst einmal vorbei zu sein.

nach 25 Jahren ohne größere Atomkatastrophe und begünstigt von der angeblich klimaschützenden stromerzeugung erhielt die Atom-kraft wieder neuen Aufwind. es musste offenbar erst die katastro-phe von Fukushima geschehen, um das bild von der beherrschbaren Atomkraft zu zerstören und selbst hart gesottenen befürwortern die Augen zu öffnen.

Jetzt müssen wir endgültig aus der Atomenergienutzung ausstei-gen. wer das unglück von Fukushima nur mit naturkatastrophen in verbindung bringt, hat die Zeichen nicht erkannt. Atomkraft – egal ob zivil oder militärisch – hat eine immense Zerstörungskraft, ganz zu schweigen von dem Atommüll, für den es auch nach 50 Jahren Atomstromerzeugung noch keine sichere entsorgungslösung gibt. eine weitere katastrophe darf es nicht geben, zum Atomausstieg gibt es keine Alternative.

Deutschland hat nun die Chance, die vorreiterrolle zu überneh-men und den Ausstieg schnellstmöglich und endgültig umzusetzen. Dazu sollte er in der verfassung verankert werden. um auch den weltweiten Ausstieg zu schaffen, brauchen wir eine Ächtung von Atomenergie und Atomwaffen.

Text: Christina Hacker

Fotos: Carl Montgomery, Justin Stahlman

Tschernobyl: Die Gegend um das stillgelegte AKW und die nahegelegene Stadt Prypjat sind noch heute unbewohnbar.

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Im Ernstfall hilflosWindscale, Majak, Harrisburg, Tschernobyl und Fukushima stehen für Atomkatastrophen. Die Unfallabläufe weisen be-sorgniserregende Parallelen auf. Informationen wurden zurückgehalten, Auswirkungen verharmlost und Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung zu spät ergriffen. Auch bei uns würde das Krisenmanagement schlecht funktionieren.

Im licht der aktuellen vorgänge in Fu-kushima hatte die reaktorsicherheits-kommission (rsk) die sicherheit der 17

deutschen Atomkraftwerke überprüft und am 17. mai 2011 ihren Prüfbericht vorge-legt. im ergebnis ist kein einziges deutsches Akw gegen den Absturz einer großen ver-kehrsmaschine und vier der ältesten fak-tisch nicht einmal gegen den Absturz eines kleineren Flugzeugs gesichert. Auch die Auslegung der meisten Akw gegen erdbe-ben ist unzureichend. viele Punkte blieben ungeklärt, da der rsk die Zeit für eine aus-führliche Prüfung fehlte. Hoch aktuell ist folglich die Frage, was bei einem schweren unfall zu tun wäre. wie kann die bevölke-rung geschützt werden, so lange Atomkraft-werke noch betrieben werden?

einen vorgeschmack lieferte bereits der unfall von tschernobyl am 26. April 1986 in der mehr als 1000 kilometer entfernten ukraine. innerhalb weniger tage wurden nach der explosion des Atomreaktors nicht nur gebiete in nächster nähe, sondern auch weit entfernte regionen in kleinasien und in westeuropa, unter anderem in bayern, radioaktiv verseucht. Das informationscha-os, die rat- und Hilflosigkeit der zustän-digen stellen hierzulande bleiben unver-gessen. in der Folge wurden bundesweit geltende „rahmenempfehlungen für den katastrophenschutz in der umgebung kern-technischer Anlagen“ und „radiologische grundlagen für entscheidungen über maß-

nahmen zum schutz der bevölkerung bei un-fallbedingten Freisetzungen von radionuk-liden“ ausgearbeitet. Auf dieser grundlage wird der behördliche katastrophenschutz organisiert.

Die radiologischen grundlagen sind teil der rahmenbedingungen und legen die ein-greifrichtwerte für die einleitung von maß-nahmen zum schutz der bevölkerung fest. Damit sollen akut auftretende schäden bis hin zum tod vermieden und spätschäden, wie leukämie, krebs, missbildungen in der nächsten generation so weit wie möglich verhindert werden.

Für den „verbleib im Haus“ ist die zuläs-sige strahlendosis von 10 msv bereits so hoch, dass kein Arzt eine schwangere mit dieser Dosis röntgen würde. Die strahlendo-sis für die „evakuierung“ von 100 msv ent-spricht bereits dem in den radiologischen grundlagen zitierten schwellenwert für geistige behinderung und missbildung bei vorgeburtlicher bestrahlung.

Die maßnahme „einnahme von Jod-tabletten“ soll die schilddrüse gegenüber radioaktivem Jod blockieren, allerdings nur bei Personen, die nicht älter als 45 Jahre sind. Die umsiedlung zählt nicht explizit zu den katastrophenschutzmaßnahmen, da sie nicht sofort durchgeführt werden muss.

eingreifrichtwerte für die versorgung mit nahrungs- und Futtermitteln sind in den ra-diologischen grundlagen nicht festgelegt, da diese durch entsprechende eu-verord-

nungen geregelt sind. Für den Fall eines er-neuten nuklearen unfalls oder einer radiolo-gischen notstandssituation hat der rat der europäischen gemeinschaft bereits ende der 1980er Jahre vorgesorgt.

Die verordnung (eurAtom) nr. 3954/87 mit ihren nachträgen wird im ereignisfall auf eu-ebene unverzüglich in kraft gesetzt. sie legt Höchstwerte für den radioaktivi-tätsgehalt in lebens- und Futtermitteln fest. Diese liegen weit über den seit dem unfall von tschernobyl gültigen grenzwerten für die Cäsiumgesamtaktivität von 370 bq/kg für milch und babynahrung und 600 bq/kg für alle anderen nahrungsmittel.

Dazu kommen noch die Höchstwerte für strontium, Jod und Alphastrahler. Die eu hat die genannte notfallverordnung auf-grund der Atomkatastrophe in Fukushima für lebensmittelimporte aus Japan in kraft gesetzt und damit für viel verwirrung und kritik gesorgt. Da die eu-Höchstwerte die japanischen grenzwerte aber weit überstei-gen, musste die eu diese unsinnige grenz-wertfestsetzung auf kritik von umweltver-bänden, insbesondere von foodwatch und dem umweltinstitut münchen, in wesent-lichen teilen korrigieren.

Hilfe nur innerhalb 25km-RadiusDie rahmenempfehlungen beinhalten vor-gaben für behördliche sofortmaßnahmen zum schutz der umwohnenden bevölkerung im Falle eines schweren unfalls. sie dienen den länderbehörden als Planungsgrundla-ge für die bundeseinheitliche Aufstellung von katastrophenschutzplänen. und sie beschreiben genau das, was bei einem un-glück in einer deutschen oder grenznahen ausländischen Atomanlage auf die bürger zukommen könnte:

Die katastrophe wird auf einen umkreis von 25 kilometer um den unfallort einge-grenzt. Außerhalb dieses bereichs sind „besondere katastrophenschutzpläne nicht erforderlich“, heißt es in den rahmen-empfehlungen. Zuständig hierfür sind die

im katastrophenfall lässt sich nicht vermeiden, dass die einsatzkräfte, wie Polizei und Feuerwehr einer erhöhten strahlenbelastung ausgesetzt sind. Der grundsatz zur ver-meidung akuter schäden ist in ihrem Fall folglich nicht mehr anwendbar. Die strahlen-schutzkommission empfiehlt, dass eine Dosis von 250 msv pro einsatz nicht überschritten werden darf. in Ausnahmefällen und nur bei lebensrettenden maßnahmen sollte eine Dosis von 1000 msv die obergrenze sein. in Dosisbereichen oberhalb von 1000 msv tritt das akute strahlensyndrom auf. bereits im Dosisbereich von 500 msv reagiert das kno-chenmark mit einer störung der blutbildung. Zeitweilige sterilität bei männern tritt schon ab 150 msv auf. Zum vergleich: nach strahlenschutzverordnung darf der allgemeinen bevölkerung nur eine zusätzliche belastung von 1 msv pro Jahr zugemutet werden.

Ungeschützte Hilfskräfte

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landratsämter. Dabei lassen sich die Aus-wirkungen keinesfalls auf kreise um die ha-varierte Atomanlage beschränken. Je nach witterung können weiter entfernte gebiete stärker belastet sein, als teile der evakuie-rungszone. katastrophenschutz müsste heu-te nicht zwingend in kreisflächen organisiert werden, denn dafür wurden schließlich aus-gefeilte Prognosemodelle entwickelt.

Der Akw-betreiber ist verpflichtet, die zuständigen behörden zu alarmieren, zu informieren und messungen und Probenah-men durchzuführen. Zu den behördlichen Aufgaben gehören: katastropheneinsatzlei-tung, lageermittlung, warnung und unter-richtung der bevölkerung, verkehrslenkung und -regelung, empfehlung zum Aufenthalt in gebäuden, verteilung von Jodtabletten, vorsorgliche räumung bzw. evakuierung, Dekontamination und schließlich die ärzt-liche betreuung.

koordiniert werden die Aktionen im innen-ministerium, das unter umständen auch auf die mitarbeit der bezirksregierungen zurück-greifen kann. Die genauen Pläne sind ver-schlusssache. in größeren Abständen werden mit den einsatzkräften katastrophenschutz-übungen am Atomkraftwerk durchgeführt.

Verwirrende Anweisungen§ 53 Abs.5 der strahlenschutzverordnung verpflichtet die betreiber von Atomkraft-werken im Abstand von fünf Jahren, die bevölkerung in der umgebung direkt über schutzmaßnahmen im eigenen Haus sowie im Falle einer evakuierung zu unterrichten. Dazu dient ein ratgeber, der nur an die Haus-

halte in der vorgesehenen evakuierungszone (10km-umkreis) verteilt wird. Dieser enthält zwar interessante tipps, jedoch liest er sich alles andere als beruhigend und enthält zu-dem diverse widersprüche:

Die unterrichtung der bevölkerung er-folgt mit einem Alarm. Die katastrophe ist passiert, wenn ein einminütiger auf- und abschwellender Heulton zu hören ist. in diesem Fall sollen die menschen das radio einschalten und auf Durchsagen achten. Der 10km-umkreis ist in zwölf sektoren aufge-teilt, wobei jedem ein bestimmter „Aufnah-mebereich“ zugeordnet ist. Allerdings soll die evakuierung grundsätzlich in Aufnahme-bereichen erfolgen, die entgegen der wind-richtung in sicherer entfernung zum Akw liegen. Die konkreten evakuierungsstraßen würden dazu im ereignisfall bekannt gege-ben. Je nach windrichtung wäre der evaku-ierungsplan also makulatur.

Der evakuierungsplan gilt nur für einen umkreis von zehn kilometern. Alle men-schen außerhalb dieses radius müssen sich folglich selbst helfen. Alle, die nicht „in einem Pkw mitfahren“ können oder nicht „zu einer sammelstelle“ gehen können, sol-len „ein weißes tuch aus dem Fenster“ hän-gen und auf den evakuierungsbus warten.

Die Anweisungen zum „verbleib im Haus“ lauten folgendermaßen: „Fenster und türen“ sollen „möglichst dicht“ verschlossen wer-den, man soll sich „möglichst im keller“ auf-halten, „obst und gemüse aus dem garten“ sei zu meiden, dagegen könne leitungswas-ser „unbesorgt“ getrunken werden. „Jeden unnötigen Aufenthalt im Freien sollte man

vermeiden“, aber wenn „über rundfunk zur einnahme von Jodtabletten aufgerufen wird“, so sind diese in Apotheken oder bei der nächsten Feuerwehr abzuholen. optima-ler schutz wird aber nur erreicht, wenn Jod möglichst rasch noch vor dem kontakt mit der radioaktiven wolke in hoher Dosierung eingenommen wird. Auf eine besondere bit-te wird mehrmals hingewiesen: „benutzen sie nur im äußersten notfall den notruf 110 oder 112. sie würden nur diese rufnummer und die Arbeit der Hilfskräfte blockieren.“

Über sinn und unsinn von katastrophen-schutz wurde schon viel diskutiert. niemand kann vorhersehen, wie sich die bevölkerung bei einer atomaren katastrophe verhalten wird. man kann sich jedoch lebhaft vor-stellen, dass es zum verkehrschaos kommt, wenn – wie im ratgeber erwartet – ein großteil der gefährdeten bevölkerung auf eigene Faust im Auto die Flucht ergreift. gleichzeitig müssen Helfer und evakuie-rungsbusse an den unglücksort gelangen. und ziemlich sicher werden auch nicht alle Ärzte und Hilfskräfte zur verfügung stehen, da sie lieber sich selbst und ihre Familien in sicherheit bringen wollen.

Im Haus bleiben und hoffenDie katastrophenverordnung hat aber nicht nur lücken und mängel, sondern geht auch von fragwürdigen vorraussetzungen aus. Alle Planungsschritte beruhen auf der An-nahme, dass zwischen störfallbeginn und kernschmelze mehrere tage vergehen. nach neueren erkenntnissen bleiben vermutlich aber nur zwei bis vier stunden bis zur kern-schmelze. ein solcher Zeitrahmen lässt eine evakuierung der bevölkerung überhaupt nicht mehr zu. Auch die Ausgabe von Jod-tabletten ist dann nicht mehr denkbar.

Die bevölkerung kann nur noch aufgefor-dert werden, im Haus zu bleiben und selbst einfache schutzmaßnahmen zu ergreifen. Dies wäre das schließen von Fenstern und türen, das Abschalten von lüftungs- und klimaanlagen, einfache Hygiene und Dekon-taminationsmaßnahmen und den verzicht auf Freilandgemüse. wie es danach weiter-gehen soll, weiß keiner so genau.

Text: Karin Wurzbacher

Foto: UIM

AKW Isar bei Landshut: Hoffentlich tritt der Katastrophenfall hier nie ein.

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Tschernobyl – Naturkatastrophe oder Footballclub? Was wissen Jugendliche über den ersten Super-GAU der Geschichte und wie beurteilen sie die Sicherheit der Atomkraft? Wir haben 300 Münchner Schülerinnen und Schüler zwischen 13 und 16 Jahren anonym befragt. Kurz nachdem wir die Fragebögen verschickt hatten, ereignete sich die Katastrophe in Fukushima. Trotz der plötzlichen Aktualität des Themas wussten die Befragten (148 Gymnasiasten, 76 Real- und 76 Hauptschüler) nur ungenau über die Atomenergie Bescheid. Eins jedoch wurde deutlich: ihre klare Anti-Haltung.

Nach dem 11. märz 2011 über-schlugen sich die medien mit berichten und bildern über die

Atomkatastrophe im japanischen Akw Fukushima. Dabei kam es immer wieder zu vergleichen mit dem super-gau in der ehemaligen sowjetunion. trotzdem fielen nicht allen schülern passende begriffe zum stichwort tschernobyl ein. ein Jugendlicher vermutete gar einen russischen sportclub dahinter. Auch ungenaue begrifflichkeiten wie „naturkatastrophe“, „Atombombe“ oder „seuche“ wurden genannt. Andere schüler wiederum antworteten sehr präzise, wie zum beispiel: „katastrophe 1986, mit explosion vom kernkraftwerk, super-gau, radioaktivität“.

Die zeitliche einordnung von tschernobyl hin-gegen fiel dem großteil leicht. Über 80 Prozent aller befragten wusste, dass sich der unfall vor fast genau 25 Jahren ereignet hatte.

Folgen der Katastrophe Der mehrheit der befragten schüler ist auch bewusst, dass die radioaktive wolke damals bis nach bayern zog. sogar, dass die radioak-tivität hier bis heute nachweisbar ist. einige schüler gaben zusätzlich an, dass heimische waldpilze und wildfleisch immer noch belas-tet sind und deshalb nicht gegessen werden dürfen. lediglich den Hauptschülern war dies nicht ganz so präsent.

Über den Zusammenhang zwischen der tschernobylkatastrophe und den waldbrän-den in russland im vergangenen sommer (2010) wissen sogar über 70 Prozent der Jugendlichen quer durch alle drei schular-ten bescheid. viele nannten hierbei die be-fürchtung, weitere gebiete hätten durch die brände verseucht werden können. offenbar bekamen sie diese Diskussion in Fernsehen, Zeitung und internet mit. so gibt auch die mehrheit der schüler an, durch die medien von tschernobyl erfahren zu haben.

interessant ist hierbei außerdem, dass es ihnen gelingt, „die waldbrände“ und „die tschernobylkatastrophe vor 25 Jahren“ trotz zunehmender informationsfülle in den rich-tigen kontext zu setzen.

Was vermitteln die Schulen?Der super-gAu von tschernobyl ist in den bayerischen lehrplänen nicht als separater unterrichtsstoff ausgewiesen. trotzdem geben knapp 40 Prozent der befragten an – davon vor allem ältere schüler – dass sie unter anderem in der schule von der explosi-on erfahren haben. vermutlich hat die akute medienpräsenz der ereignisse in Fukushima und des 25. Jahrestages der tschernobylka-tastrophe dazu geführt, dass diese auch in der klasse diskutiert wurden.

Das thema radioaktivität wird an baye-rischen schulen erst ab der 9. Jahrgangsstu-fe im Physikunterricht näher beleuchtet. in

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der realschule sogar erst in der 10. klasse. Die Jugendlichen sind somit etwa 15 Jahre alt, wenn sie mit der Atom- bzw. kernphysik laut lehrplan in berührung kommen.

in einer Forsa-umfrage im Auftrag des bundesumweltministeriums von 2006 zur Atom- und energiepolitik unter Jugend-lichen zwischen 12 und 16 Jahren gaben 72 Prozent der befragten an, dass die themen Atomkraft und energieversorgung stärker im schulunterricht berücksichtigt werden soll-ten. Der damalige bundesumweltminister sigmar gabriel empfahl daraufhin: „gerade die verheerende katastrophe von tscherno-byl bietet lehrerinnen und lehrern eine gute möglichkeit, dieses thema [energiefragen] auch im schulunterricht aufzugreifen.“

Dies scheint jedoch nicht in unserem bil-dungssystem umgesetzt zu werden. Das späte behandeln der radioaktivität im un-terricht erklärt jedenfalls, weshalb die von uns befragten zwischen 13 und 16 Jahren nur ungenau informiert sind.

so wissen zwar rund 75 Prozent der schü-ler, dass der mensch radioaktivität weder riechen, schmecken noch fühlen kann. wo radioaktive substanzen genau zum einsatz kommen, ist ihnen hingegen unklar. erstaun-licherweise sind sogar deutlich mehr schü-ler der meinung, dass radioaktivität in tech-nischen geräten wie Handys und Fernsehern vorkommt, als wie richtigerweise in der medizin, zum beispiel bei Computertomo-graphie und in röntgengeräten. Dies zeigt, welch unterschiedlichen kenntnisstand die schüler mitbringen und welche Aufklärung der Fachunterricht hier noch leisten muss.

Sind AKW sicher?Die Anti-Atom-Demonstrationen und mahn-wachen der vergangenen Jahre, aber auch die anhaltende Diskussion über den kli-mawandel haben bei den schülern offen-bar eindruck hinterlassen. sie beurteilen Atomkraftwerke mehrheitlich als unsicher, klimaschädlich und vor allem ersetzbar. schon 2006 forderten die befragten Jugend-lichen der Forsa-studie, den Atomausstieg beizubehalten. ein Drittel wollte ihn sogar beschleunigen.

nach der Demo am 28. mai dieses Jahres in münchen meldete der Jbn (Jugendor-

ganisation bunD naturschutz) „Über 2000 Jugendliche konnten wir um unseren lauti [lautsprecherwagen] scharen, eine stolze Zahl!“. sie bildeten sogar einen eigenen Ab-schnitt des Demo-Zuges mit dem titel: ge-neration Fukushima: erben und sterben?!

Die furchtbaren ereignisse in Japan zeigen, dass ein super-gAu selbst in einem hoch entwickelten industriestaat möglich ist. Aber wie sieht es mit den deutschen Akw aus und wie schätzen die schüler das risiko eines reaktorunfalls hierzulande ein?

Die Antwort fällt überraschend kritisch aus. nur 12 Prozent der befragten hält ei-nen Atomunfall mit solch schlimmen Folgen wie in tschernobyl in Deutschland niCHt für möglich.

Zudem beurteilen mehr als Dreiviertel der befragten Atomkraft interessanterweise als klimaschädlich. Denn erst bei betrachtung der gesamten vor- und nachgelagerten kette – vom uranabbau, über die energieintensive Anreicherung und brennelementherstellung bis hin zu transport und konditionierung ist Atomstrom nicht Co2-frei. Die Atomkraft ist mit 30-120g Co2/kwh am klimawandel beteiligt. Je nachdem wo das uranerz abge-baut wird und wie reich das erz an uran ist.

man könnte also schlussfolgern, dass die schüler Atomkraft generell für umwelt-schädlich halten und eine umweltschädliche technologie auch als klimaschädlich anse-

hen. Dies zeigt auch, dass die Propaganda der Atomlobby, vom vermeintlichen klima-schützer Atomkraft, bei den jungen leuten nicht ankommt.

Unser Fazit der Umfrageobwohl die schüler nur oberflächlich über Atomkraft und die tschernobylkatastrophe bescheid wissen, schätzen sie die Atomtech-nologie deutlich negativer ein, als wir erwar-tet hatten. Außerdem haben sie den um-weltschutzgedanken stark verinnerlicht. ein Jugendlicher unterschrieb den Fragebogen sogar ganz persönlich mit dem satz: „gern geschehen, mir ist die umwelt wichtig“.

Die allgegenwärtigen und erschreckenden meldungen aus Japan, sowie die vielen berichte zu tschernobyl haben einen prä-genden eindruck bei den Jugendlichen hinterlassen. sie reflektieren die ereignisse kritisch und beginnen sich zu positionieren. Doch ihr Fachwissen zur radioaktivität zeigt lücken auf. Auch sollten die schüler besser über die risiken der Atomkraft aufgeklärt werden. Denn nur so können sie sich eine fundierte meinung bilden und Diskussionen zur energiepolitik verfolgen und führen.

Text: Sheila Sabock

Umfrage: Claudia Stadler

Foto: Fotolia, Katja Bachert

noch vor dem reaktorunfall in Japan befragte Claudia stadler, Praktikantin im umwelt-institut münchen, in der münchner Fußgängerzone Jugendliche zu tschernobyl und ihrer meinung über die sicherheit Deutscher Atomkraftwerke. Hier die interessantesten statements:

Was fällt Dir zu dem Begriff Tschernobyl ein?

„tschernobyl, was ist das? sind das tiere?“ eva-maria (12)

„tschernobyl nehmen wir grade in der schule durch, da ist der reaktor 4 in die luft gegangen. kernschmelze und so. Hier in bayern ist immer noch radioaktive strahlung verbreitet.“ leon (16)

Brauchen wir Atomkraft?

„Also ich fänd’s besser, wenn es keine Akw mehr geben würde.“ nico (15)

„wir haben bestimmt noch viele alte Akw, die sollte man abschalten.“ tobias (20)

Umfrage am Stachus

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Rost im ReaktorDie Technische Universität München ist stolz auf ihren Forschungsreaktor. Doch im In-neren des FRM II hat sich Rost gebildet. Dieser könnte die Sicherheit des vermeintlichen Hightech-Baus gefährden. Doch offenbar fühlt sich niemand verantwortlich.

Schon kurz nach beginn des Probebe-triebs im Jahr 2004 zeigte das re-aktorbecken des Forschungsreaktors

Frm ii in garching erste sichtbare korro-sionserscheinungen, die sich im laufe der Zeit zunehmend verschlimmerten.

Rost schon vor InbetriebnahmeDabei dürfte großflächiger rost eigentlich nicht vorkommen, da das gesamte reaktor-becken mit edelstahlblechen ausgekleidet ist. Auch alle rohrleitungen bestehen aus edelstahl, bis auf wenige Ausnahmen. wie etwa ein teil der leitung zur grundwas-sereinspeisung, der aus herkömmlichem ferritischem rohrstahl gefertigt wurde, wel-cher sehr schnell zu rosten beginnt.

Der rost im reaktorbecken ließe sich zwar oberflächlich wegbeizen, allerdings ist dies gerade im unteren reaktorteil, wo die strahlrohre münden und wenig Platz ist, auch aus gründen des strahlenschutzes nicht möglich. bevor man das reaktorbe-cken zum ersten mal befüllte, wurde die Auskleidung abgeschliffen. Die rostpartikel sitzen in den feinen riefen fest.

wie auch der betreiber, die tu münchen bestätigt hat, befindet sich der rostige be-lag nach wie vor im reaktorbecken. und auch im Abklingbecken, das nur durch einen schieber davon getrennt ist. Höhere tempe-raturen befördern die korrosion. Deshalb ist der rostbelag im oberen, wärmeren wasser-standsbereich stärker ausgeprägt. obgleich

sich weder die leitung des Frm ii, ansässig am Physik-Department der tu münchen, noch der tÜv süd über die ursache im kla-ren waren, startete 2005 der routinebetrieb des Forschungsreaktors.

Gutachten verheimlichterst am 27. Juni 2006 wurde die bundes-anstalt für materialforschung und -prüfung (bAm) beauftragt, ein gutachten zu erstellen (siehe kasten). Die Prüfer sollten klären, ob es sich tatsächlich um korrosion handelt und nicht um Ablagerungen von Harzen, die dem beckenwasser bewusst zugesetzt werden. Am 27. Juli 2006 schickte die bAm ihr gut-achten an den damaligen kaufmännischen Direktor des Frm ii und bestätigte den kor-

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rosionsverdacht. Dieses gutachten wurde der Öffentlichkeit jahrelang vorenthalten, bis es schließlich im märz 2011 der bürger-initiative in garching zugespielt wurde.

Der amtlich bestellte gutachter, der tÜv süd, hatte die rostprobleme im garchinger reaktor sieben Jahre lang sanktioniert. er sah in dem rostbelag anfangs zwar einen mangel, jedoch keinen Handlungsbedarf und empfahl lediglich dessen beobachtung.

Ab 2008 galt der belag dann plötzlich nicht mehr als mangel, der weder entfernt werden müsse, noch müssten bauteile ausgetauscht werden. Diese einschätzung stützt sich auf fünf weitere gutachten, vor-wiegend aus dem eigenen Hause, die die tu münchen dem tÜv süd vorgelegt hatte. woher die rostschicht stammt, konnte al-lerdings auch von diesen gutachtern nicht geklärt werden.

Aufsicht geht andersbefragt nach ihrer einschätzung zum rost-belag im Frm ii entzog sich selbst die bay-erische Atomaufsicht ihrer verantwortung und verwies lediglich darauf, dass der tÜv keine sicherheitsbedenken habe.

Dies ist ein klares eingeständnis der Atomaufsicht, dass die Fachkompetenz in bayern offenbar beim tÜv und nicht bei

der behörde liegt. Doch echte Aufsicht geht anders! bayerns bürger müssen sich darauf verlassen können, dass die zuständige be-hörde fähig ist, sich selbst ein bild von der sicherheit des Atomreaktors zu machen.

Die tu münchen sieht in dem belag le-diglich einen schönheitsmangel und betont, dass die rostpartikel die sicherheit des re-aktors nicht gefährden würden, da das be-ckenwasser ständig umgewälzt und gefiltert werde. Außerdem würden sich die eisenpar-tikel im wasser auflösen.

Einschätzung des Umweltinstitut München e.V.Doch Folgendes spricht dagegen: wenn sich rostpartikel an eingehängten blechen ab-setzen, wie es im Frm ii der Fall ist, dann ist das beckenwasser durchsetzt von eisen- und Chromoxiden, egal ob gelöst oder als mikros-kopisch kleine Partikel. sie durchlaufen den gesamten kühlkreislauf im reaktorbecken. sobald sich rostpartikel an Armaturen ab-gelagert haben, wirken sie wie schmirgel. Dies bedeutet, dass die kühlpumpen, die Funktionsfähigkeit der schnellabschaltstä-be und die Funktion der steuerventile beein-trächtigt werden könnten.

Frühere meldepflichtige ereignisse im Forschungsreaktor, wie der schaden an der moderatorkühlpumpe, die schwergängigkeit

der rückschlagklappen am Primärkühlkreis-lauf oder die korrosionsbefunde an wellen-buchsen zweier Armaturen, erscheinen nun in einem ganz neuen licht.

Status quo nicht tolerierbar Durch die korrosionserscheinungen ist zwar weder die standfestigkeit des beckens ge-fährdet, noch kann ein schwerer unfall ab-geleitet werden. Da man aber in den letzten sieben Jahren die korrosionsproblematik ungelöst vor sich her geschoben hat, ist künftig immer öfter mit Funktionsstörungen im reaktor zu rechnen. im schlimmsten Fall könnten bei einer notwendigen Abschaltung die schnellabschaltstäbe nicht aktiviert werden. ein zuverlässiger und sicherer re-aktorbetrieb sieht anders aus.

Die Anlage muss außer betrieb bleiben, zumindest bis die ursache der korrosion eindeutig geklärt ist und Abhilfe geschaf-fen wurde. sämtliche materialien, die im Frm ii verbaut wurden, müssen dringend auf ihre korrosionsanfälligkeit untersucht werden. Zudem ist ein Forschungsreaktor in der nähe eines großflughafens ohnehin inakzeptabel.

Text: Karin Wurzbacher

Foto: Mario Schmalfuß

Zu untersuchender Tatbestand: 2004 wurde an einem Heizer im Heizkreislauf korrosion festgestellt. bei umbaumaßnahmen wur-den rohrleitungen erneuert und eine konvektionssperre installiert. nach ca. sechs monaten wurden erneut korrosionserscheinungen festgestellt (2006).

Ortstermin am Beckenrand: Anzeichen von lochkorrosion konn-ten nicht festgestellt werden. Die korrosion ist an raueren Flächen stärker ausgeprägt. Die mechanische bearbeitung (schleifkreise) ist aber nicht ursächlich. eingehängte Prüfbleche (molybdänhaltiger werkstoff 1.4571) zeigten nach vier monaten ähnliche Anzeichen von gleichmäßiger korrosion. An einer korrodierten schelle aus dem reaktorbecken wurden oberflächenanalytische, elektroche-mische, metallographische untersuchungen sowie beizversuche zur belagsentfernung durchgeführt.

Ergebnis: Die ursache der belagsbildung im reaktorbecken lässt sich nicht bestimmen. Die eingesetzten molybdänhaltigen werk-stoffe sollten im vorliegenden medium (hochreines wasser) be-ständig sein. molybdänfreie werkstoffe können im vorliegenden medium korrosionsanfällig sein. Der belag besteht aus Fe/Cr-oxi-den. Das basismaterial ist nicht tiefenwirksam angegriffen. Die schichtdicke beträgt bis zu 50 μm (mikrometer). es wurden keine Anzeichen örtlicher korrosion festgestellt.

Empfehlung: Die bAm empfiehlt die behandlung der belagsbe-hafteten oberflächen mit beizpasten oder Derouging-lösung. Zur vermeidung eines wiederauftretens der korrosion an molybdän-haltigen bauteilen bzw. von korrosionsschäden an molybdänfreien teilen, sollten sämtliche bauteile aus molybdänfreien werkstoffen durch höherlegierte molybdänhaltige ersetzt werden.

Quelle: gutachten der bAm zu korrosionserscheinungen am reak-torbecken im Frm ii (Aktenzeichen vi.1/14313)

BAM-Gutachten zu Korrosionserscheinungen

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Fit für den

WechselWährend die schwarz-gelbe Regierung über Ausstiegskonzepten brü-tet, hat die Energiewende im Kleinen längst begonnen. Immer mehr Menschen wechseln zu Ökostromanbietern. Doch nicht jedes Unter-nehmen ist so grün, wie es erscheint. Hier erfahren Sie, worauf Sie

beim Wechsel achten sollten. Fünf Kriterien sind entscheidend.

Seit dem Atomunglück von Fukushima laufen bei den Öko-stromanbietern die telefonleitungen heiß. wegen der Atom-katastrophe in Japan und der Debatte über Atomkraft in

Deutschland boomt die nachfrage nach grünem strom. Das Ziel der stromwechsler: „Atomausstieg selber machen“. wer jetzt auf Öko-strom umsteigt, protestiert gegen Atomkraft und die energiepolitik von konzernen und regierung.

Doch schnell kann es passieren, dass das geld für den grünen strom zu den schwarzen energieschafen wandert. Denn auch die Atom-, kohle- und mineralölwirtschaft sowie zahlreiche stadt-werke haben ihr „Herz“ für den Ökostrom entdeckt.

schließlich hat mittlerweile praktisch jedes energieunterneh-men Ökostrom im Angebot: der konservative Heizölanbieter Aws ebenso wie das hippe start-up energiehochdrei oder der Discoun-ter eprimo. selbst die energie-Dinosaurier vattenfall, e.on, enbw und rwe erdreisten sich, Ökostrom zu verkaufen. neben den Öko-stromanbietern mit strengen kriterien können sich jetzt auch die Atomkonzerne über ein deutlich gestiegenes interesse an ihren Ökostrom-Produkten freuen.

Ökostrom für neue Atomkraftwerke?

Doch wer will einen Ökostromanbieter, der die strompreise in die Höhe treibt, um damit den Ausbau der erneuerbaren energien zu diskreditieren? Der dafür kämpft, dass möglichst viele Atomkraft-werke möglichst lange am netz bleiben? Der sein geld in den neu-bau von kohle- oder Atomkraftwerken investiert? Denn genau dies tun enbw, e.on, rwe und vattenfall. 19 neue kohlemeiler sind für Deutschland geplant oder bereits im bau. rwe möchte sich wei-terhin am neubau eines Atomkraftwerks in den niederlanden und – zusammen mit e.on – am bau mehrerer Atomkraftwerke in groß-britannien beteiligen.

so fließen einnahmen aus dem Ökostrom in den bau von kohle- und Atomkraftwerken. Dies ist sicher nicht im sinne der Ökostrom-kunden! wer durch den bezug von Ökostrom eine neuausrichtung der energieversorgung erreichen möchte, sollte daher fünf wichtige kriterien berücksichtigen.

So wechseln Sie richtigwir erklären, was sie bei der wahl ihres Ökostromanbieters beach-ten sollten und machen sie fit für den wechsel.

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wer echten Ökostrom will, braucht einen Anbieter, der wirklich un-abhängig von der Atom- und kohleindustrie ist. nur unternehmen, die kein wirtschaftliches und ideelles interesse an Atom und kohle haben, werden den Ausstieg aus diesen veralteten technologien wirklich vorantreiben. „Der stromwechsel ist immer auch ein geld-stromwechsel“, betont ursula sladek vom renommierten Ökostrom-anbieter elektrizitätswerke schönau.

Allerdings verliert man bei der suche nach atom- und kohlefreien Ökostromanbietern schnell den Überblick. Denn hinter vermeintlich grünen webseiten und nachhaltig klingenden namen wie „easy na-tur“, „naturwatt“ oder „grünhausenergie“ stehen oft unternehmen, die ihren strom hauptsächlich aus fossilen kraftwerken und Atom-kraftwerken beziehen. so gehört der Ökostromanbieter naturwatt zur ewe Ag, dem fünftgrößten energieunternehmen Deutschlands, an dem wiederum enbw ein viertel der Anteile hält. Der strommix der ewe Ag besteht zu 46 Prozent aus Atomkraft und zu 36 Prozent aus fossilen energieträgern, enthält also deutlich mehr kohle und

Atom als der bundesdeutsche Durchschnittstrom. Der stromanbieter naturenergie, der strom aus hundert Prozent wasserkraft verkauft, gehört zu 78 Prozent der enbw – die erträge aus dem ökologischen wasserstrom fließen auch hier in die taschen der Atom- und koh-lewirtschaft. so sind viele der kleineren energieanbieter und stadt-werke mit den Atomkonzernen verflochten – gut versteckt über be-teiligungen und tochterfirmen.

Die wenigsten stromanbieter sind wirklich unabhängig und bie-ten ausschließlich ökologisch erzeugten strom an. Dazu gehören die bekannten vier Pioniere im Ökostrommarkt: elektrizitätswerke schö-nau, naturstrom, greenpeace energy und lichtblick. viele stadtwer-ke haben erklärt, in naher Zukunft ebenfalls komplett auf Atom- und fossilen strom verzichten zu wollen.

Doch nicht nur die vertriebsseite, auch die stromproduktion wird von energieriesen dominiert. so gehören die meisten kraftwerke direkt oder indirekt den Atomkonzernen, auch viele der großen er-neuerbare-energien-Anlagen. vor allem wasserkraftwerke, die ver-lässlich große mengen an grünem strom liefern, werden von den großen vier – enbw, e.on, rwe und vattenfall – betrieben.

Den echten Ökostromanbietern fällt es daher schwer, in Deutsch-land stromerzeuger zu finden, die wirklich unabhängig von kohle und Atom sind. Auch in der schweiz und Österreich sind viele wasser-kraftwerksbetreiber „atomverflochten“. Daher beziehen die elektrizi-tätswerke schönau und der Ökostromanbieter lichtblick ihren strom zum größten teil aus norwegischen wasserkraftwerken.

Die unabhängigkeit eines Ökostromanbieters von Atomkonzernen ist übrigens selbst bei den strengen Ökostrom-Zertifikaten ok-Power und grüner strom label kein kriterium. Auch stromtarife mit diesen labels können mit Atomanbietern verbandelt sein.

1Keine Verflechtung mit Kohle- oder

Atomkraftwerksbetreibern

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um den Ausbau der erneuerbaren energien zu forcieren, sind in-vestitionen in neue regenerative kraftwerke unabdingbar. Der Öko-stromanbieter muss deshalb entweder selbst in neue kraftwerkska-pazitäten investieren oder einen gewissen teil seines stroms aus Anlagen beziehen, die ein bestimmtes Alter nicht überschreiten.

Auch bei der Auswahl der kraftwerke sind folgende ökologische kriterien wichtig: bioenergie sollte nur aus reststoffen erzeugt wer-den, Photovoltaikanlagen nicht auf landwirtschaftlichen Flächen installiert werden und neue wasserkraftwerke ökologischen stan-dards entsprechen.

Doch innovative Ökostromanbieter investieren nicht nur in den bau neuer windräder und solaranlagen. Für den Übergang ins Zeitalter der erneuerbaren müssen jetzt vor allem stromspeicher entstehen.

Auch die Produktion erneuerbarer wärme wird noch zu sehr ver-nachlässigt. Da Heizwärme den größten teil der energie eines Haus-halts ausmacht, ist die wärmeversorgung eine wichtige Heraus-forderung auf dem weg zu hundert Prozent erneuerbarer energie – zumindest bis wir alle in Passivhäusern wohnen.

Der Ökostromanbieter lichtblick plant daher bis zu 100.000 kleine kwk-Anlagen in wohnhäusern. Diese dezentralen kraft-wärme-kopplungs-Anlagen sind eine wichtige Übergangstechnologie. sie produzieren gleichzeitig wärme und strom und zwar effizient, flexi-bel und wetterunabhängig.

Als speichermedium ist windgas eine besonders interessante ent-wicklung: Durch windstrom wird wasser in sauerstoff und wasser-stoff aufgespaltet. Der wasserstoff kann dann ins erdgasnetz ein-gespeist und bei bedarf „rückverstromt“ werden. so wird aus dem bereits vorhandenen erdgasnetz ein gigantischer stromspeicher. Zu-dem kann windgas zum Antrieb von Fahrzeugen, zum kochen oder Heizen genutzt werden.

greenpeace energy investiert in diese technik: Das Ökostrom-un-ternehmen baut elektrolyse-Anlagen in der nähe von windrädern, die den windstrom nutzen, um wasserstoff abzuspalten. Ab 2012 soll mit windgas gemischtes erdgas verkauft werden.

energiesparen und energieeffiziente technologien werden oft als die „ungenutzten brückentechnologien“ bezeichnet. „20 bis 40 Prozent des stroms könnten wir einsparen“, sagt klimaforscher Hans Joa-chim schellnhuber vom Potsdam-institut für klimafolgenforschung in der taz. gute Ökostromanbieter fördern explizit das energiesparen und die Anschaffung energieeffizienter geräte.

eigentlich will ein energieanbieter ja viel energie verkaufen: Je mehr strom seine kunden verbrauchen, umso besser.

eine gute idee hatte der Ökostromanbieter greenpeace energy. Dieser hat seine verträge so gestaltet, dass die grundgebühr eines kunden alle kosten bis auf den stromeinkauf deckt. Damit ist der Ökostromanbieter nicht auf einen hohen energieverbrauch seiner kunden angewiesen. so kann das unternehmen seine kunden aktiv beim stromsparen unterstützen, zum beispiel durch den kostenlosen verleih von strommessgeräten.

Andere Anbieter unterstützen die nutzung effizienter technologien. Die elektrizitätswerke schönau zum beispiel fördern den Austausch alter Heizungspumpe. Für jede Altpumpe, die durch eine neue hoch-effiziente geregelte Heizungsumwälzpumpe ersetzt wird, erhält der ews-kunde einen Zuschuss von 75 euro.

Auch die stadtwerke münchen unterstützen das energiesparen: sie bieten unter anderem eine energiesparberatung für Haushalte mit geringem einkommen und einen Ökobonus beim ersatz von Öl-heizungen durch erdgas-brennwertkessel. Auf ihrer webseite hat die swm tipps und Filme zum thema energiesparen.

Energiesparen und Energieeffizienz

� Investitionen in eine erneuerbare Zukunft

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ein Problem des deutschen und europäischen strommarktes ist die machtkonzentration in den Händen der großen energiekonzerne. Daher kann auch die größe eines energieunternehmens in die Auswahl des ge-eigneten Ökostromanbieters einfließen. ein massenhafter wechsel weg von den stromriesen, hin zu kleineren, unabhängigen Anbietern könnte das oligopol der energieriesen entzerren und die verflechtung zwischen Politik und energiekonzernen aufbrechen.

Die vier großen konzerne rwe, e.on, enbw und vattenfall kontrol-lieren etwa 80 Prozent der deutschen stromproduktion. Doch verän-derung kommt aus dem kleinen und nicht von oben.

nicht die großen energieunternehmen haben die erfolgsgeschich-te der erneuerbaren energien geschrieben: viele Privatleute, klein- und mittelständische unternehmen sowie bürgerprojekte haben die energiewende eingeleitet.

Die Atomkonzerne dagegen beharren auf dem für sie sehr einträg-lichen status quo. Als eine der wichtigsten lobbygruppen in Deutsch-land und der eu setzten sie ihre interessen gegen jedes gemeinwohl-interesse rücksichtslos durch. Aufgrund ihrer machtkonzentration beeinflussen sie politische entscheidungen.

Politiker wie rezzo schlauch, Joschka Fischer oder gerhard schrö-der engagieren sich nach ihrem Auszug aus den Parlamenten nicht etwa bei Ökostromanbietern, sondern arbeiten für die Atom-, gas- und kohleindustrie. nur durch die verquickung von wirtschaft und Politik konnte es zu solch undemokratischen volten wie der laufzeit-verlängerung kommen.

wie bei allen anderen Produkten sollte man auch beim strom mög-lichst regional einkaufen, also bei den örtlichen stadtwerken. Diese decken nicht nur den strombedarf, sondern übernehmen oft auch andere infrastrukturleistungen der gemeinde wie wasser- und Ab-wasserversorgung, Fernwärme, müllentsorgung, bäder oder den nahverkehr. Ziel der kommunalen unternehmen ist die Daseinsvor-sorge, das heißt die grundversorgung der bürger.

Da die stadtwerke also einen „öffentlichen Zweck“ erfüllen müs-sen, ist gewinnmaximierung nicht ihr vorrangiges Ziel. so kommt es nicht zu übertriebenen Preiserhöhungen, wie dies bei privaten wirtschaftsunternehmen gerade in den letzten zwei Jahren zu be-obachten war. Die erzielten gewinne kommen der kommune zugute, die damit öffentliche einrichtungen finanziert.

Auch demokratische kontrolle ist in kommunalen unternehmen leichter durchsetzbar. letztlich wirtschaften sie ja mit öffentlichen geldern, ihre Aktivitäten unterliegen daher der Überwachung durch kommunale Politik und bürger. so ist transparenz und mitsprache bei stadtwerken besser durchsetzbar als bei Privatunternehmen.

Allerdings hängt die demokratische einflussnahme auf die ent-scheidungen der stadtwerke immer davon ab, dass sich bürger informieren und engagieren. Die menschen sollten also ihre stadt-werke unter die lupe nehmen und deren entwicklung kritisch beglei-ten. wie die vielen initiativen auf gemeindeebene zeigen, ist das interesse der bürger an der kommunalen energieversorgung hoch. sie fühlen sich ihrem stadtwerk verbunden und wollen die energie-wende auf lokaler ebene mitgestalten.

Öfter mal abschaltenwie immer wird es dem verantwortungsbewussten verbraucher nicht leicht gemacht. es ist schwierig, das „richtige im Falschen“ zu finden. wie im gesamten ethischen segment gibt es schwarze schafe, die auf der grünen welle surfen. Daher ist der oberste leit-satz eines jeden Ökostromaktivisten: „Öfter mal abschalten!“

Text: Antje Wagner

Illustration: Germanwatch e.V. / Michael Hüter

Small is beautiful Regionale Energie

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Die Wiederentdeckung der kommunalen EnergiewirtschaftDie atomare Katastrophe in Japan hat zu einem radikalen Umdenken in der deutschen Regierungspolitik geführt. Der schrittweise Atomausstieg bis Ende 2022 wurde beschlossen und die Energiewende angestoßen. Welche Wege werden dazu eingeschlagen und welche Akteure werden in Zukunft welche Rolle spielen?

Der ökologische umbau der energie-wirtschaft benötigt vor allem viele Akteure vor ort. so könnten die

zahlreichen stadt- und gemeindewerke in Deutschland die gewinner der energiewen-de werden. sie sollten die Chance ergreifen und sich den Herausforderungen stellen.

Ein Blick zurück in die vergan-genen zehn Jahrein den 1990er Jahren fand eine große Pri-vatisierungswelle in der energiewirtschaft statt. mit beginn der liberalisierung des energiemarkts vor etwa zehn Jahren wurde das sterben vieler bestehender regionaler energieversorger bzw. stadtwerke prophe-zeit. Doch die stadtwerke konnten sich wi-dererwartend als regionale marke behaup-ten, obwohl sich die energiewirtschaft in Deutschland durch die von der eu forcierten liberalisierung und die novellierung des deutschen energiewirtschaftsrechtes stark verändert hat.

Jeder strom- und gaskunde kann sich ei-nen lieferanten seiner wahl suchen und bin-nen weniger wochen den Anbieter wechseln. Die vielen kleinen und mittleren energiever-sorger haben mit einer wechselquote von etwa zehn Prozent im vergleich zu den großen konzernen relativ wenig kunden verloren und gelten als garant für einen funktionierenden wettbewerb. bei der stromerzeugung spie-len sie hingegen keine nennenswerte rolle. Diese ist in Deutschland von einem oligopol geprägt und basiert heute überwiegend auf zentralen großkraftwerken, darunter bisher 17 Atomkraftwerke.

vor zehn Jahren wurde der Ausstieg aus der Atomenergie schon einmal beschlossen. Das kraft-wärme-kopplungsgesetz und das gesetze für den vorrang erneuerbarer energien (eeg) wurden damals ebenfalls verabschiedet. Dies verhalf der dezentralen

energieerzeugung und dem Ausbau der er-neuerbaren energien zu einem beachtlichen Aufschwung. Jedoch konterkarierte die im oktober 2010 beschlossene laufzeitverlän-gerung der Atomkraftwerke den umbau der kraftwerkslandschaft.

Die ereignisse in Japan haben nun eine weitere kehrtwende ausgelöst, die ge-sellschaftspolitisch wohl auch nicht mehr revidiert werden kann. Die acht vom netz genommenen Atomkraftwerke bleiben ab-geschaltet und die neun noch in betrieb be-findlichen Atommeiler werden schrittweise vom netz gehen. Die karten werden wieder neu gemischt. inwieweit kleinteilige struk-turen und/oder regenerative großprojekte gefördert werden, wird die Zukunft zeigen.

Zukunftsaussichten und Mega- trends der EnergieversorgungDer klimaschutz ist einer der ganz großen treiber in der energiewirtschaft und mitt-lerweile in der europapolitik fest verankert. Die notwendigkeit des klimaschutzes ist politisch unumstritten. ob hierbei die dro-hende klimaveränderung oder der wunsch nach unabhängigkeit von fossilen energie-trägern der vater des gedankens ist, sei dahingestellt. Die megatrends energieef-fizienz, Ausbau der erneuerbaren energie-erzeugung und die vision von intelligenten netzen (smart grid) haben jedenfalls den klimaschutz zum Ziel.

Da die kundenbindung zu lokalen ener-gieversorgungsunternehmen relativ stabil ist, leiden die vier großen energiekonzerne (e.on, rwe, vattenfall und enbw) unter einem enormen vertrauensverlust. Dieser geht mit dem wunsch einher, die klima- und energiepolitik auf lokaler ebene selbst in die Hand zu nehmen. viele regionen in Deutsch-land haben sich mittlerweile das Ziel einer zu 100 Prozent erneuerbaren energiever-

sorgung gesetzt. Folglich ist auch ein trend zur rekommunalisierung der energieversor-gung, also der wiederentdeckung der kom-munalen energiewirtschaft im sinne einer modernen Daseinsvorsorge zu beobachten. Dies kann als gegentrend zu der über viele Jahre vorherrschenden Privatisierung in der energiewirtschaft interpretiert werden.

es ist offensichtlich geworden, dass die gemeinden, die über ein stadt- oder ge-meindewerk verfügen, mehr gestaltungs-optionen und einflussmöglichkeiten haben als gemeinden, die ihr unternehmen priva-tisiert haben. stadt- und gemeindewerke sind wieder gefragt und neue kommunale versorger werden gegründet.

in berlin denkt die regierung darüber nach, die vattenfall-Anteile zurückzukau-fen. Die stadt landsberg am lech hat sich entschlossen, ein eigenes stadtwerk zu etablieren und macht mittlerweile der rwe-tochter lew lechwerke Ag konkurrenz. Zahlreiche gemeinden möchten sich neben dem engagement im wasserzweckverband auch aktiv mit einer autarken energieversor-gung beschäftigen.

Chance für die KleinenDie energiewende und der umbau der ener-gieerzeugung bieten insbesondere den klei-nen und mittleren stadtwerken durch ihre regionale verankerung und die dezentralen strukturen eine besondere marktchance. Auf der anderen seite führt die Anreizre-gulierung der bundesnetzagentur zu einem enormen kostendruck.

Die heutigen Anforderungen an einen energieversorger im liberalisierten energie-markt und die gesetzlichen Pflichten eines netzbetreibers werden von newcomern häufig unterschätzt. kommunale netzwerke und horizontale kooperationen können da-bei helfen, notwendige synergieeffekte zu

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erzielen, um mit den vorgegebenen effizi-enzsteigerungen am energiemarkt bestehen zu können.

Energiewende und Atom- ausstiegseffekteende mai 2011 waren in Deutschland nur noch vier Atomkraftwerke in betrieb. Die elektrizitätsversorgung ist in dieser Zeit nicht zusammengebrochen. Dennoch ist klar, dass allein mit dem Abschalten der Atomkraftwerke die energiewende noch nicht erreicht ist.

ein gestufter Atomausstieg bis 2022 ist unter versorgungstechnischen gesichts-punkten machbar sowie aus volkswirt-schaftlicher sicht vertretbar. eine jüngst vom verband kommunaler unternehmen (vku) veröffentlichte studie von enervis en-ergy advisors gmbH belegt, dass ein schnel-ler Atomausstieg eine verlässliche und be-zahlbare stromversorgung in Deutschland zu keinem Zeitpunkt gefährdet. ein schnel-ler Atomausstieg führt zu einem starken investitionsanreiz und fördert dadurch die modernisierung des kraftwerkparks, die damit verbundene effizienzsteigerung sowie den Ausbau der kraft-wärme-kopplung. er ist also ganz im sinne der gesetzten klima-schutzziele.

Dimension Kraftwerksumbau – InvestitionsmaßstäbeDamit ganz bayern ab 2022 ohne Atom-strom auskommt und der strombedarf durch regenerative erzeugungsanlagen gedeckt wird, sind bayernweit entsprechende inves-titionen notwendig.

Das investitionsfenster ist jetzt geöffnet und bietet insbesondere den stadtwerken die Chance, eigene stromerzeugungska-

pazitäten im regenerativen und regionalen bereich für die zukünftige und eine klima-verträgliche versorgung ihrer kunden auf-zubauen. Die stadtwerke sind durch ihre kommunale verankerung und durch den ausgeprägten regionalen bezug für eine dezentrale und effiziente energieversorgung geradezu prädestiniert.

Die stadtwerke münchen haben bereits 2010 die „Ausbauoffensive erneuerbare energien“ gestartet, mit der Zielsetzung in-nerhalb der nächsten zehn bis 15 Jahre eine vollständige regenerative stromerzeugung aufzubauen. Hierzu ist ein investitionsvolu-men von neun milliarden euro eingeplant.

Die möglichkeiten und die bereitschaft der vielen kleinen und mittleren energieversor-ger in bayern entsprechende investitionen zu tätigen, ist schwer einzuschätzen. Die Anforderungen und wünsche der rathäuser an ein kommunales Querverbund-unterneh-men, dass verlustbringer wie badebetriebe oder der öffentliche Personennahverkehr durch gewinne der sparte energieversor-gung mitgetragen werden sollen, vermin-dern die spielräume erheblich.

Akzeptanz der neuen Kraft- werke schaffenDer Ausbau der regenerativen energiequel-len wird vom großteil der bevölkerung be-fürwortet. wobei biomasse- und windanla-gen vor der eigenen Haustür nicht immer auf verständnis stoßen, sondern auch massiven widerstand auslösen.

Das bayerische energiekonzept „energie innovativ“ hält in den nächsten zehn Jahren die errichtung von ca. 1500 neuen wind-energieanlagen für realistisch und erfor-derlich. Das bedeutet für jeden bayerischen landkreis durchschnittlich rund 20 stück.

um regenerative kraftwerke im notwen-digen umfang realisieren zu können, muss aber die nötige Zustimmung in der bevölke-rung vorhanden sein. Denn der umbau der energieerzeugung ist zwar mit überschau-baren, aber dennoch mit beeinträchtigungen verbunden, die akzeptiert werden müssen.

Das engagement der gemeinde bzw. deren stadtwerke und die beteiligung der bürger über genossenschaften könnte die notwendige Akzeptanz in der bevölkerung im vergleich zum Auftreten unbekannter Fi-nanzinvestoren erhöhen.

Die Kommunalpolitik ist gefragtes bleibt zu hoffen, dass die regionalen versorger die erforderlichen investitionsmit-tel bereitstellen können, um eine moderne Daseinsvorsorge aufzubauen, die den ökolo-gischen Anforderungen gerecht wird.

Die nahe Zukunft wird zeigen, wer im spiel der kräfte gewinnt und ob die stadt-werke ihre Chance nutzen können. Die Poli-tik hat die weichen für den umbau in eine regenerative energieerzeugung gestellt.

es liegt nun an den einzelnen rathäusern maßgebliche schlüsselentscheidungen zu treffen, um stadtwerke so fit zu machen, dass diese nicht nur als melkkuh für klam-me Haushalte auf kosten der bestehenden substanz herhalten müssen, sondern dass vor allem investitionen getätigt werden, um die strategischen Ziele zu erreichen. Die kommunalpolitik ist jetzt am Zug.

Text: Achim Thiel

Geschäftsführer bei der Energieallianz Bayern

GmbH & Co. KG

Fotos: SWM

Als kommunaler Energieversorger der Stadt München betreibt die SWM eigene Ökostromanlagen.

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Strom der Stadtwerke München

Die stadtwerke münchen (swm) haben sich das ehrgeizige Ziel ge-setzt, den gesamten strombedarf

der landeshauptstadt bis 2025 in eigenen regenerativen kraftwerken zu produzieren. Damit will münchen weltweit die erste mil-lionenstadt sein, die sich zu 100 Prozent mit Ökostrom versorgt.

münchen verbraucht circa 7,5 milliarden kwh/Jahr. Aktuell liegt die Ökostrom-Pro-duktion bei 700 millionen kwh/Jahr, sie deckt also etwa neun Prozent des gesamten münchner strombedarfs. spätestens 2014 wollen die stadtwerke über eine erzeu-gungskapazität von rund 2,4 milliarden kwh Ökostrom in eigenen Anlagen verfügen.

mit dieser menge könnten die swm dann die rund 800.000 münchner Privathaushalte versorgen und darüber hinaus den bedarf von u-bahn und tram decken.

Zwei Ökostromtarife Die stadtwerke münchen bieten zwei Öko-stromtarife an:

1. Der empfehlenswerte „m-Ökostrom aktiv“, der etwas teurer ist als der normal-tarif, wird ausschließlich in eigenen swm-

wasserkraftwerken produziert. Pro kilo-wattstunde fließen 1,53 Cent in den Ausbau erneuerbarer energien.

2. Der weniger ambitionierte, dafür sehr günstige „m-Ökostrom“ kommt zwar aus wasserkraft. reicht jedoch die strompro-duktion der eigenen Anlagen nicht aus, wer-den Zertifikate zugekauft. eine Förderung von neuanlagen ist nicht vorgesehen.

Bau von Neuanlagen vorrangig in der Regionbei investitionen in regenerative kraftwerke haben laut swm Projekte in der region klaren vorrang. vor allem wasserkraftanla-gen werden in und um münchen gebaut: so wurde mit dem Praterkraftwerk ein neues wasserkraftwerk in der isar installiert, drei neue wasserkraftwerke sind in Planung, die wasserkraftwerke isarwerk 1 und 2 sowie das maxwerk werden modernisiert.

Für eine zusätzliche windkraftanlage auf dem müllberg in Fröttmaning soll eine ge-nehmigung beantragt werden, über weitere windkraftanlagen in der region wird mit gemeinden verhandelt, zwei biogasanlagen und eine geothermieanlage sind im bau.

viele investitionen werden jedoch nicht in der region, sondern deutschland- oder eu-ropaweit getätigt. so besitzen beziehungs-weise planen die swm in Deutschland zwei Photovoltaikanlagen sowie zwei on- und zwei offshore-windparks, sowie ein solar-kraftwerk in südspanien und einen wind-park in großbritannien.

Doch trotz der ambitionierten investitionen in erneuerbare energien, sind die swm bekanntermaßen auch ins Atomgeschäft verwickelt. Die stadt ist mit 25 Prozent am Atomkraftwerk isar 2 beteiligt, was im rot-grünen rathaus allerdings niemanden so richtig freut. Die stadt münchen beteuert seit langem, ihre Anteile am Atomkraft-werk abstoßen zu wollen. im strommix der stadtwerke wird der Atomstrom jedenfalls nicht ausgewiesen, da der Atomstrom laut swm ausschließlich an der strombörse ver-kauft und daher nicht für die versorgung der swm-kunden benötigt wird.

Text: Antje Wagner

Foto: SWM

Die SWM plant, 2025 ganz München aus regenerativen Kraftwerken zu versorgen.

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„Abschalten, abschalten!“Zwei große Anti-Atom-Demos und zahlreiche Mahnwachen für die Opfer der Atomkatatstrophe in Fukushima trieben in den vergangenen Monaten Münchner Bürgerinnen und Bürger auf die Straße. Hier ein kleiner Rückblick in Bildern:

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Die Stromrebellinmit ihrem einsatz für eine nachhaltige energieversorgung begann ursula sladek nach dem reaktorunfall in tschernobyl 1986. wie viele andere sorgte sich die fünffache mutter um die sicherheit und Zukunft ihrer jungen Familie.

Zehn Jahre nach dem reaktorunglück nutzte die von ihr, ihrem mann und engagierten schönauer bürgern gegründete energieinitiative eine einmalige gelegenheit: Der vertrag für die nutzung des schönauer stromnetzes mit dem regionalen stromnetzbetreiber kraftübertragungswerke rheinfelden Ag (kwr) sollte erneuert werden. gemeinsam mit zahlreichen

unterstützern brachte die initiative das geld für den netzkauf auf und bewirkte in zwei bürgerentscheiden die Übernahme. so gründete das ehepaar sladek den ersten bürgereigenen stromnetzbetreiber, die elektrizitätswerke schönau (ews), und liefert heute an über 115.000 Privathaushalte und be-triebe atomfreien und klimafreundlichen strom.

Für ihren bedeutenden beitrag zur Demokratisierung der stromversorgung erhielt ursula sladek am 11. April 2011 in san Francisco den goldman environmental Prize, einen der wichtigsten umweltpreise weltweit.

Ursula Sladek, Gründerin und Geschäftsführerin der Elektrizitätswerke Schönau (EWS), realisierte in Schönau im Schwarzwald, was sich Deutschland jetzt zum Ziel gesetzt hat: Die Energieversorgung ohne Kohle- und Atomstrom.

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Mit Ihrer Vision von einer regionalen Stromversorgung ohne Atom- und Koh-lestrom waren Sie Ihrer Zeit weit vor-aus. In Schönau ist sie heute Wirklich-keit. Was machte Sie so sicher, dass die Energiewende gelingen würde?wir waren nicht von Anfang an sicher. wir wollten etwas tun, statt nur dazusitzen und abzuwarten, dass die regierung handelt und initiierten energiesparprojekte. Parallel dazu überlegten wir, wie die großen kraftwerke ersetzt werden können. großkraftwerke sind extrem verschwenderisch, da nur ein Drittel der erzeugten energie verwendet wird. Der rest verpufft ungenutzt. schließ-lich gründeten wir eine kleine Firma, mit der wir alte wasserkraftwerke reaktivierten und blockheizkraftwerke bauten. Dabei machten wir eine tolle entdeckung, die ganz wichtig war, für alles was danach passiert ist.

Und zwar?Die leute stecken ihr geld gerne in konkrete Projekte, weil sie dort sehen, was damit passiert. wer uns geld gab, konnte das re-aktivierte wasserkraftwerk am sonntag mit der Familie anschauen und genau sehen, wofür die investition verwendet wird. uns gab das die sicherheit, dass es uns nicht an investitionen mangeln würde, wenn wir et-was gutes tun und es uns gelingt, das auch so darzustellen.

Mit der Übernahme des Stromnetzes halsten Sie sich eine enorme Verant-wortung auf. Welche Rolle spielte die Angst zu scheitern? klar, die hatten wir. nach der Übernahme des schönauer stromnetzes konnten wir nicht mehr zurück. so viele menschen hat-ten ihre Hoffnung in uns gesetzt. es wäre fürchterlich gewesen, wenn das Projekt nicht geglückt wäre. Aber gerade weil so viele menschen uns als wichtiges symbol in der Anti-Akw-bewegung empfanden, erhielten wir auch unglaublich viel unter-stützung. so, dass wir uns schließlich gegen alle widerstände durchsetzen konnten.

Für Ihr Vorhaben ernteten Sie viel Be-wunderung aus ganz Deutschland, aber auch Kritik. Welche positiven und wel-che negativen Reaktionen berührten Sie damals am stärksten?

ich bin unwahrscheinlich stolz auf die schönauer, dass sie so mutig entschieden haben. Die energieversorgung an eine bür-gerinitiative zu geben, machte ja zunächst auch in der bevölkerung Angst.

ein großer Arbeitgeber in schönau befürch-tete damals, seine Produktion einstellen zu müssen, wenn wir scheitern. seine beden-ken kann ich heute viel besser nachvollzie-hen. Denn gerade für jemanden, der sich mit energieversorgung nicht so gut auskennt, war es ja nicht selbstverständlich, dass wir dieselbe stromsicherheit gewährleisten können, wie die etablierten energiekon-zerne. Der gleiche unternehmer sagte ein Jahr später in einem swr-interview, dass seine Ängste unbegründet gewesen seien. Dass aus anfänglicher skepsis eine so un-eingeschränkte Zustimmung wird, hat mich am allermeisten gefreut.

Heute leiten Sie eine der größten Ener-gie-Genossenschaften in Europa und versorgen über 115.000 Haushalte und Betriebe mit Strom. Was macht Ihren Erfolg aus?erst einmal unsere geschichte: Die leute sehen, dass wir kein unternehmen sind, das gegründet wurde um viel geld zu verdienen. wir hatten von Anfang an eine vision, die viel Ausdauer und einsatz verlangte. und natürlich unsere Produkte: ews-Ökostrom genügt höchsten Ansprüchen. Dazu kommt die Förderung von neuanlagen. Aus alldem fügt sich das gesamtbild der ews.

Was macht die hohe Qualität Ihres Ökostroms aus?Ökostrom ist ein ungeschützter begriff. Jeder stromanbieter kann sein Produkt so nennen. Für uns sind jedoch vor allem zwei Dinge wichtig: Die ökologische Qualität, die nur entsteht, wenn neue Anlagen gebaut werden. nur wasserkraft aus alten Anlagen zu verkaufen, ist für mich eine Art green-washing. man gaukelt den leuten vor, sie würden mit diesem strom etwas gutes tun,

aber genau so gut könnten sie auch Atom- oder kohlestrom kaufen, weil sie damit kei-nen beitrag zur energiewende leisten.

Das zweite wichtige kriterium ist, dass wir keinen Ökostrom bei unternehmen kau-

fen, die irgendwie mit der Atomkraft ver-flochten sind. sonst fließt das geld indirekt wieder Akw-betreibern zu und unterstützt letztlich deren umweltfeindliche Politik.

Deshalb haben wir uns vertraglich ver-pflichtet, strom ausschließlich von Produ-zenten zu beziehen, die weder an Atom-kraftwerksbetreibern noch irgendwelchen tochterunternehmen beteiligt sind.

Sie haben sich verpflichtet keine Atom-kraft zu beziehen. Betrifft das auch Kohle?im Prinzip nur Atomkraft, aber die Akw-be-treiber besitzen meist auch die kohlekraft-werke. was die Auswahl für uns natürlich sehr einengt. in Deutschland gehören fast alle Anlagen den großen vier (rwe, e.on, enbw und vattenfall). in Österreich gibt es den österreichischen bund, in dem auch rwe und Co. beteiligt sind. in der schweiz existieren so gut wie keine unabhängigen stromproduzenten.

schließlich wurden wir in norwegen fün-dig. Dort gibt es viele kommunale, wirklich unabhängige stromproduzenten, die zudem viele neuanlagen betreiben.

Wie setzt sich der EWS-Ökostrom ge-nau zusammen?Derzeit beziehen wir außer dem wasser-kraftstrom, der hier in schönau erzeugt wird, den wasserkraftstrom aus norwegen und einen kleinen teil windkraft. insgesamt sind mindestens zwei Drittel neuanlagen im ews-strom-mix enthalten. Diese dürfen per Definition des Freiburger Öko-institut e.v. nicht älter als sechs Jahre sein. Da sie noch nicht abgeschrieben sind, kostet uns der strom natürlich etwas mehr.

Zusätzlich haben wir noch einen kleinen Anteil kraftwärmekopplungsstrom, mit dem

„Nur eine verlässliche Gesetzgebung führt zu Planungs- und Investitionssicherheit für die Erneuerbaren Energien.“

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wir auch unsere regel- und Ausgleichsener-gie abdecken. Auf diese weise können wir unseren kunden garantieren, dass ihr strom keine einzige kilowattstunde Atom- oder kohlestrom enthält.

Bisher gibt es ja noch keine direkte Stromleitung von Norwegen nach Deutschland. Wie kommt der Wasser-kraftstrom zu uns?Ja das ist richtig, aber über leitungen von norwegen in die niederlande und nach Dänemark besteht eine verbindung zu kon-tinentaleuropa. so kann auf alle Fälle auch strom von norwegen nach Deutschland kom-men. Allerdings – und das ist immer so, egal in welchem land man seinen strom einkauft – stellt man dadurch erst einmal nur sicher, dass der strom produziert und ins stromnetz eingespeist wird, denn elektrische grenz-flüsse richten sich nach Aspekten der netz-stabilität und des spannungsaustausches, egal ob norwegen, schweiz, Österreich etc.

Wie sieht es mit dem Bau von Neuanla-gen in Deutschland aus?unser Ökostromtarif beinhaltet einen son-nencent mit dem wir 1800 neue ökologische stromerzeugungsanlagen gefördert haben und somit dafür sorgen, dass durch den Ökostromkauf auch in Deutschland neue An-lagen entstehen. im letzten halben Jahr ha-ben wir 1,3 megawatt Photovoltaik-Anlagen errichtet. Außerdem bauen wir gerade mit anderen umweltorientierten Firmen neue windkraft- und wasserkraftanlagen.

Nach der Katastrophe von Fukushima stieg die Nachfrage nach Atomstrom rasant. Wie viel mehr Neuanmeldungen hatten Sie seither? von mitte märz bis ende April ungefähr acht mal so viele. im moment flacht es zwar wie-der leicht ab, trotzdem ist der neuzulauf im-mer noch bedeutend höher, als er sonst um diese Zeit war. ich beobachte dies jedoch mit einem lachenden und einem weinenden Auge, da ich weiß, welchem fürchterlichen ereignis wir dies verdanken. Darauf hätte ich lieber verzichtet, das muss ich ganz ehrlich sagen. ich finde es schrecklich, dass es nach tschernobyl fast auf den tag genau 25 Jahre später noch mal eines so großen unglückes bedurfte, damit die menschen ein bisschen

aufwachen und selber etwas tun. Die Deut-schen waren ja schon früh gegen Atomkraft eingestellt, aber das Handeln hinkt leider manchmal hinterher.

Hatten Sie aufgrund der hohen Nach-frage Lieferschwierigkeiten? nein, da wir unseren strombedarf mit Hilfe einer Prognose errechnen. nach dem un-glück von Fukushima mussten wir natürlich eine neue Prognose erstellen und die strom-differenz nachkaufen. Aber unsere liefe-ranten haben ausreichend kapazitäten.

Inzwischen überschlagen sich die Pro-gnosen zum frühestmöglichen Atomaus-stieg. Die Regierung peilt 2022 an.

a) Was muss die Politik tun, damit der Ausstieg gelingt?Das wichtigste ist, einen eindeutigen be-schluss zu fassen und zwar einen unumkehr-baren. Dass es keine dauerhaft verbindliche regelung gibt, macht die energiepolitik erst so schwierig. nur eine verlässliche gesetz-gebung führt zu Planungs- und investitions-sicherheit für die erneuerbaren energien.

Zudem muss die bundesregierung ehrgei-zigere Ziele vorgeben. im energiekonzept vom Herbst 2010 gab sie die vision her-aus, der Anteil der erneuerbaren energien am energiemix solle bis zum Jahr 2020 35 Prozent betragen. noch unter der Prämisse der laufzeitverlängerung. obwohl die Akw jetzt abgeschaltet werden sollen, hält man daran fest. Das geht nicht. Das Ziel muss auf mindestens 50 Prozent hochgesetzt wer-

den. Dies entspricht auch dem Anteil, der in unterschiedlichsten studien als machbar ermittelt wurde.

und wir brauchen ein konzept für den netzausbau, das die Dezentralität berück-sichtigt. Derzeit schwirren unterschiedlichs-te Zahlen von 3600 km Hochspannungslei-tungen bis zu gerade mal 800 km herum. Je mehr dezentrale Anlagen es gibt, desto weniger netze brauchen wir und desto ge-ringer fallen die kosten aus. bisher werden nur die großen stromerzeuger unterstützt. so sollen offshore-windanlagen eventuell noch mehr vergütung bekommen. Doch ir-gendwie muss der strom von nord- und ost-see ja in den süden kommen. Zur netzstabi-lität werden wir sicher auch große Anlagen brauchen, aber bestimmt weniger, als man derzeit annimmt.

b) Welche Verantwortung haben die großen Energiekonzerne?wenn sie ihre verantwortung zum Atom-ausstieg wirklich ernst nehmen, müssen sie sich von ihren Akw verabschieden. Da sie an denen jedoch pro tag laufzeit rund 1 million euro verdienen, wird das sicher-lich nicht einfach. wir werden gemeinsam überlegen müssen, wo der Platz der großen energiekonzerne künftig sein soll. man wird sie nicht gewinnen können, wenn man ihnen alles wegnimmt.

c) Wie können Bürger aktiv werden?stichwort energiesparen und energieeffizi-enz: Hier können bürger viel tun und davon nicht nur ökologisch, sondern auch öko-

Ursula und Michael Sladek gründeten 1994 die Elektrizitätswerke Schönau.

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nomisch profitieren. Durch energiesparen lassen sich zum beispiel gestiegene Preise kompensieren. ebenso wichtig ist es, rich-tig zu investieren. es gibt in Deutschland so viel geld in der privaten Hand, das kann man sich gar nicht vorstellen. bürger sollten sich überlegen, wie sie ihr geld in ökologische Dinge anlegen können und nicht in techno-logien von vorgestern.

und Drittens das politische engagement: Die große Politik ist sicher nicht jedermanns sache, man kann aber auch im kleinen viel bewegen. wenn im eigenen ort ein gebiet für windkraftanlagen ausgewiesen werden soll, kann man als bürger dem gemeinde-rat signalisieren, dass man dafür ist. und natürlich kann jeder den stromversorger wechseln. Damit zeigt man den großen auch, dass man mit ihrem Handeln nicht einverstanden ist.

Sie sind ein alter Hase in Sachen Ener-giewende. In Schönau hat geklappt, was Deutschland noch vor sich hat. Was werden aus Ihrer Erfahrung die schwersten Hürden sein?Der widerstand der großen energiekon-zerne. Die werden natürlich mit Zähnen und klauen an der ist-situation festhalten wol-len. rund 85 Prozent der gesamten strom-erzeugung in Deutschland kommt noch aus Anlagen, die den großen vier (e.on, rwe, vattenfall und enbw) gehören.

Das sind überwiegend Atom- und koh-lekraftwerke. und wir wollen ja nicht nur aus der Atomenergie aussteigen, sondern langfristig auch aus der kohleenergie. Das heißt, die großen müssen alles abgeben, was ihnen lieb und teuer ist. Dass es da wi-derstand geben wird, kann man sich nur zu gut vorstellen.

Deshalb müssen wir alle kräfte mobilisie-ren und diesen widerstand gemeinsam bre-chen. und natürlich auch die widerstände in der bevölkerung gegen unpopuläre maß-nahmen auflösen. Denn trotz aller Dezent-ralität werden wir neue stromtrassen und speicherkraftwerke brauchen. beides sind immer noch reizworte in der bevölkerung.

Was entgegnen Sie Kritikern, die eine Einschränkung der Natur durch Wind-räder und Hochspannungsleitungen fürchten?

wenn einer bemängelt, dass windräder den schwarzwald verschandeln, kann ich lange erzählen, dass ich windräder schön finde. vielleicht beeindruckt es ihn aber, dass der schwarzwald stark vom klimawandel be-troffen sein wird und sich das landschafts-bild noch viel mehr verändern würde?

wir werden Überzeugungsarbeit leisten müssen. Dabei dürfen wir nicht als bes-serwisser auftreten, sondern müssen die menschen gewinnen und von beginn an teilhaben lassen. Dann wird es viel weniger widerstand geben, als wenn man den men-schen getroffene entscheidungen vor den latz knallt. Die energiewende ist eine große gemeinschaftsaufgabe. Aber auch eine große Chance für Deutschland. wir könnten vorreiter werden, Arbeitsplätze schaffen und zeigen, dass sogar ein energieinten-sives industrieland wie Deutschland aus der Atomenergie aussteigen kann.

bei der Preisverleihung goldman environ-mental Prize in washington bestätigte mir der deutsche botschafter, dass die Ameri-kaner sehr genau darauf achten, was sich in europa und vor allem in Deutschland mit den erneuerbaren energien tut. Je nach dem wie hier unsere erfahrungen sein werden, wird das auch auf andere große Auswir-kungen haben.

Sie erhielten den Goldman Environ-mental Prize, eine Art Nobelpreis des Umweltschutzes, für Ihren Kampf ge-gen Atomstrom. Was bedeutet Ihnen diese internationale Anerkennung und welche Verpflichtung sehen Sie darin?wir alle bei ews haben uns sehr gefreut. Für mich persönlich war es außerdem ein tolles erlebnis. ich konnte mit dem ameri-kanischen Präsidenten sprechen und ihm unsere „100 guten gründe“ in die Hand drü-cken. mit der bitte, sie auch zu lesen. was uns in schönau gelungen ist, wäre the-oretisch überall denkbar, deshalb wird unser Projekt sicher auch in anderen ländern be-geisterung hervorrufen. weil man sieht, wie gut es funktioniert, wenn sich bürger an der energieversorgung beteiligen und mitver-dienen können.

wir haben eine bremse eingebaut. Damit die ews-genossen nicht übermäßig verdie-nen, werden nie mehr als sechs Prozent aus-

geschüttet. Der gewinnüberschuss wird in neue Anlagen oder strukturveränderungen investiert.

Wie wird die EWS im Jahr 2025 aus-sehen, welche Ziele verfolgen Sie für die Zukunft? wir sind ja nicht nur Ökostromlieferant, son-dern auch netzbetreiber. neben dem strom-netz in schönau haben wir inzwischen fünf weitere und beteiligen uns bei stromnetzen von kommunen. gerade haben wir eine ko-operation mit den stadtwerken in neustadt vereinbart, wo wir gemeinsam mit der stadt das stromnetz erwerben wollen. Das ist das erste mal, dass eine kommune ihre bürger mitbeteiligt und so die Dezentralisierung und Demokratisierung der stromversorgung vorantreibt. im bereich der stromerzeu-gungsanlagen wollen wir künftig noch stär-ker investieren und stellen dafür zusätzlich leute ein. Damit wir dem Ziel 100 Prozent erneuerbare energien in Deutschland so schnell wie möglich nahe kommen.

Text: Katja Bachert

Fotos: The Goldman

Environmental Prize, EWS

Nach dem Unfall im AKW Fukushima vervielfachten sich die Neuanträge für EWS-Ökostrom.

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Die Münchner Stadtgespräche entstehen in Zusammenarbeit und mit Förderung des referates für gesundheit und umwelt der landeshauptstadt münchen.

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10 Jahre ÖBZ - Erlebnistag „Lebenswerte Stadt“Zahlreiche Aktionen und informationen zu urbanen themen wie stadtplanung, mobilität, gärtnern in der stadt, Parks als lebensräume oder dem Ökologischen Fußabdruck erwarten die besucher zum 10-jährigen Jubiläum im ÖbZ. gemeinsam mit vielen koope-rationspartnern will das Ökologische bildungszentrum zeigen, wie man sich für den umweltschutz in seiner stadt einsetzen kann. Das umweltinstitut münchen ist mit einem infostand dabei. ort: ÖbZ, englschalkinger str. 166, so., 3. Juli, 11-18 uhr

Reaktorsicherheit, Restrisiko, Endla-gerung – Fukushima und die Folgennach der reaktorkatastrophe von tschernobyl behaupteten die befür-worter der Atomenergie, ein derartiger unfall könne in technologisch hoch entwickelten ländern nicht passieren. mit der kernschmelze in Fukushima ist diese Überzeugung dahin geschmolzen. Der vortrag von michael sailer, mit-glied reaktorsicherheitskommission, beleuchtet das restrisiko der kernener-gie. Prof. Dr. markus vogt, lehrstuhl für sozialethik (lmu), diskutiert risikomündigkeit und energiewende im gesellschaftlichen kontext. ort: evangelische Akademie tutzing, schloss-straße 2+4, 82327 tutzingmo., 4. Juli, 18 uhr

Pavillon des grünen Protestsnoch bis zum 17. Juli stellen sich auf dem tollwood-sommerfestival münch-ner umweltschutzorganisationen und -initiativen vor. im „Pavillon des grünen Protests“ erhalten besucher aus erster Hand informationen zum engagement für mensch, umwelt und natur und erfahren, wie sie selbst aktiv werden können. wer mehr über das umweltins-titut münchen erfahren möchte, kommt vom 28. bis zum 30. Juni im grünen Pavillon vorbei. ort: tollwood, olympiapark. bis so.,17. Juli, mo.-Fr. 14-1 uhr, sa./so. 11-14 uhr

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