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3 Die Alltagssprache ist voller abwertender und deshalb ausgrenzender diskriminieren- der Redewendungen. Da kommt einem manches »spanisch«vor, da sieht es aus wie bei dem »Polacken«oder jemand wird zum »Spasti«. Rassistisch sind solche Äußerun- gen, wenn mit ihnen nicht nur generalisie- rende Abwertungen vorgenommen werden, sondern die Zuschreibung von negativen oder sogar minderwertigen Eigenschaften und Verhaltensweisen zusätzlich auf geneti- sche Unterschiede zurückgeführt werden – was biologisch gesehen jedoch gar nicht geht. Redewendungen wie »herumzigeu- nern«, »Zigeunerleben«, ja selbst der Aus- druck »Zigeuner« bis hin zu Karnevalsrufen wie »Zack-Zack-Zigeunerpack« sind Zeichen eines »Antiziganismus« und damit spezifi- scher Vorurteile gegen die Minderheit der Sinti und Roma. Damit verbunden ist die Bezeichnung dieser Minderheit als Auslän- der, obwohl sie seit mehr als 600 Jahren in Deutschland leben und hier sesshaft gewor- den sind. Allerdings sollte man wissen, dass ihre Vorfahren 300 Jahre lang offiziell keine Erlaubnis zur Ansiedlung in Deutschland bekamen, sondern nur eine Genehmigung zu ambulantem Gewerbe. Solche Vorurteile zerstören die Möglichkeiten, Menschen in ihrer Individualität persönlich kennen zu lernen und tragen zur Ausgrenzung bei. Die Blickrichtung soll auf diesem Weg auf die Vorurteilsgeschichte der Mehrheitsgesell- schaft und auf die Reflexion des eigenen Umgangs mit Ängsten (und romantischen Wunschvorstellungen) gerichtet werden. Eine 1992 durchgeführte Umfrage des Allensbacher Instituts für Meinungsfor- schung zeigte, dass 64 Prozent der Deut- schen eine negative Meinung über Roma hatten – ein höherer Prozentsatz als über jede andere ethnische oder religiöse Gruppe. Eine Untersuchung des EMNID Instituts von 1994 zeigte, dass etwa 68 Prozent der Deutschen keine Sinti und Roma als Nach- barn haben wollen. Eine 1995 an deutschen Schulen durchgeführte Umfrage wies deut- liche Anti-Roma Einstellungen auch unter der jüngeren Generation nach: 38 Prozent der Studenten im Westen und 60,4 Prozent in Ostdeutschland hatten negative Einstel- lungen gegenüber Sinti und Roma. Eine Studie des Europäischen Migrationszen- trums (EMZ) in Berlin aus 2001 zeigte ein Muster fortdauernder Vorurteile gegenüber sowie Ausgrenzung von Sinti und Roma auf. Gleichzeitig besteht auf offizieller Ebene eine Tendenz, das Bestehen von Diskrimi- nierung gegenüber Minderheiten zu leug- nen und gegen Minderheiten gerichtete Ein- stellungen gleichzusetzen mit denen gegen Ausländer, ungeachtet der Tatsache, dass solche Einstellungen oftmals gegen Minder- heitenangehörigen gerichtet sind, die so- wohl im Besitz eines deutschen Passes sind als auch auf eine längere Familienge- schichte in Deutschland zurückblicken als manche andere deutsche Familie. So behan- deln öffentliche Einrichtungen wie das Bun- desministerium des Innern und die Aus- länderbeauftragten die Angelegenheiten von Minderheiten und von Ausländern als zusammengehörig . »Sinti und Roma« ist die Selbstbezeichnung einer überwiegend in Europa beheimateten Minderheitengruppe von ca. 12 Millionen Menschen. Das Wort »Roma« meint »Men- schen« (männlich Singular Rom, weiblich Singular Romni). Das Wort »Sinti« (Einzahl Sinto, weiblich Sintezza) stammt mög- ntiziganismus – Alltagsrassismus A Erarbeitet von Andreas Hoffmann-Richter. Redaktion: Hartmut Rupp Theologisch-didaktische Überlegungen

ntiziganismus – Alltagsrassismus · licherweise von dem indischen »Sindh« und weist auf die indischen Vorfahren dieser Minderheit. Die Sinti und Roma sind wohl besonders um 800

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Die Alltagssprache ist voller abwertenderund deshalb ausgrenzender diskriminieren-der Redewendungen. Da kommt einemmanches »spanisch«vor, da sieht es aus wiebei dem »Polacken«oder jemand wird zum»Spasti«. Rassistisch sind solche Äußerun-gen, wenn mit ihnen nicht nur generalisie-rende Abwertungen vorgenommen werden,sondern die Zuschreibung von negativenoder sogar minderwertigen Eigenschaftenund Verhaltensweisen zusätzlich auf geneti-sche Unterschiede zurückgeführt werden –was biologisch gesehen jedoch gar nichtgeht. Redewendungen wie »herumzigeu-nern«, »Zigeunerleben«, ja selbst der Aus-druck »Zigeuner« bis hin zu Karnevalsrufenwie »Zack-Zack-Zigeunerpack« sind Zeicheneines »Antiziganismus« und damit spezifi-scher Vorurteile gegen die Minderheit derSinti und Roma. Damit verbunden ist dieBezeichnung dieser Minderheit als Auslän-der, obwohl sie seit mehr als 600 Jahren inDeutschland leben und hier sesshaft gewor-den sind. Allerdings sollte man wissen, dassihre Vorfahren 300 Jahre lang offiziell keineErlaubnis zur Ansiedlung in Deutschlandbekamen, sondern nur eine Genehmigungzu ambulantem Gewerbe. Solche Vorurteilezerstören die Möglichkeiten, Menschen inihrer Individualität persönlich kennen zulernen und tragen zur Ausgrenzung bei. DieBlickrichtung soll auf diesem Weg auf dieVorurteilsgeschichte der Mehrheitsgesell-schaft und auf die Reflexion des eigenenUmgangs mit Ängsten (und romantischenWunschvorstellungen) gerichtet werden.

Eine 1992 durchgeführte Umfrage desAllensbacher Instituts für Meinungsfor-schung zeigte, dass 64 Prozent der Deut-schen eine negative Meinung über Roma

hatten – ein höherer Prozentsatz als überjede andere ethnische oder religiöse Gruppe.Eine Untersuchung des EMNID Institutsvon 1994 zeigte, dass etwa 68 Prozent derDeutschen keine Sinti und Roma als Nach-barn haben wollen. Eine 1995 an deutschenSchulen durchgeführte Umfrage wies deut-liche Anti-Roma Einstellungen auch unterder jüngeren Generation nach: 38 Prozentder Studenten im Westen und 60,4 Prozentin Ostdeutschland hatten negative Einstel-lungen gegenüber Sinti und Roma. EineStudie des Europäischen Migrationszen-trums (EMZ) in Berlin aus 2001 zeigte einMuster fortdauernder Vorurteile gegenübersowie Ausgrenzung von Sinti und Roma auf.

Gleichzeitig besteht auf offizieller Ebeneeine Tendenz, das Bestehen von Diskrimi-nierung gegenüber Minderheiten zu leug-nen und gegen Minderheiten gerichtete Ein-stellungen gleichzusetzen mit denen gegenAusländer, ungeachtet der Tatsache, dasssolche Einstellungen oftmals gegen Minder-heitenangehörigen gerichtet sind, die so-wohl im Besitz eines deutschen Passes sindals auch auf eine längere Familienge-schichte in Deutschland zurückblicken alsmanche andere deutsche Familie. So behan-deln öffentliche Einrichtungen wie das Bun-desministerium des Innern und die Aus-länderbeauftragten die Angelegenheitenvon Minderheiten und von Ausländern alszusammengehörig .

»Sinti und Roma« ist die Selbstbezeichnungeiner überwiegend in Europa beheimatetenMinderheitengruppe von ca. 12 MillionenMenschen. Das Wort »Roma« meint »Men-schen« (männlich Singular Rom, weiblichSingular Romni). Das Wort »Sinti« (EinzahlSinto, weiblich Sintezza) stammt mög-

ntiziganismus – AlltagsrassismusAErarbeitet von Andreas Hoffmann-Richter. Redaktion: Hartmut Rupp

Theologisch-didaktische Überlegungen

Page 2: ntiziganismus – Alltagsrassismus · licherweise von dem indischen »Sindh« und weist auf die indischen Vorfahren dieser Minderheit. Die Sinti und Roma sind wohl besonders um 800

licherweise von dem indischen »Sindh« undweist auf die indischen Vorfahren dieserMinderheit. Die Sinti und Roma sind wohlbesonders um 800 und 1000 n. Chr. ausihrer ursprünglichen Heimat in Nordwest-indien ausgewandert oder durch zuströ-mende Araber bzw. Perser zur Auswande-rung gezwungen worden. Das Wort »Roma«im weiteren Sinn kann als allgemeineSelbstbezeichnung angesehen werden,Sinti als spezielle Selbstbezeichnung derfrüh in den deutschen Sprachraum einge-wanderten Teilgruppe. Eine zweite undengere Verwendung des Wortes »Roma« hatsich im speziellen Sprachgebrauch derdeutschen Sinti für die überwiegend erstnach 1840 nach Deutschland Eingewander-ten eingebürgert. In Deutschland leben der-zeit etwa 50000 Sinti und 20000 Roma indiesem engeren Sinne. Sinti und Romahaben eine eigene Sprache, das »Romanes«,das sich aus dem Sanskrit entwickelt hat.

Sinti und Roma verstehen die Bezeich-nung »Zigeuner« als diskriminierend. Hierklingen für sie die Vorurteile der Mehr-heitsbevölkerung an. Diese Bezeichnungdient nach ihrer Erfahrung zur Diskrimi-nierung. Das Wort »Zigeuner« stammt nichtaus dem Romanes und wird heute von derAntiziganismusforschung überwiegend alsgeschichtlich je verschieden gefülltes (per-sisches, griechisches usw.) Sammelwort derjeweiligen Mehrheitsbevölkerung für Pro-jektionen auf und Vorurteile gegen die Min-derheit verstanden.

Sinti und Roma sind um 1400 nach Mit-teleuropa eingewandert und wurden seit-dem auch hierzulande diskriminiert und imDritten Reich wie Juden verfolgt, in Kon-zentrationslager deportiert und ermordet.Zu konstatieren ist, dass dieser – letztlichtrotz allen Erklärungsversuchen nicht be-greifbare – Völkermord immer noch nichtausreichend beachtet wird und die altenKlischees noch immer wirken. Der Rechts-schutz der Minderheit reicht noch immernicht aus.

Die kulturelle Identität der Sinti undRoma gründet in der eigenen Sprache, inder je eigenständigen Verbindung von Ab-grenzung und Aufnahme von Kulturelemen-ten der Mehrheitsbevölkerung und in derErfahrung Jahrhunderte langer Verfolgung.Sie ist unter anderem gekennzeichnet durcheinen reichen Schatz an Erzählungen, Mär-chen und Liedern, durch künstlerische, be-

sonders musikalische und handwerklicheTraditionen (wie Kupfer- und Goldschmie-dekunst, Korbflechterei, Holz- und Leder-bearbeitung). Entgegen allen Vorurteilensind Sinti und Roma in Deutschland undanderen Ländern ebenso sesshaft wie dieMehrheitsbevölkerung.

Schülerinnen und Schüler dürften an denVorurteilen, möglicherweise auch an derFremdenangst Anteil haben. Sie haben sichin der Regel mit der Geschichte und mitdem Leben von Sinti und Roma noch nichtauseinandergesetzt. Für sich selbst nehmendie Schülerinnen und Schüler zu Recht Ein-maligkeit, Besonderheit und Gleichheit inAnspruch, letztlich also Menschenwürde. Eswird darauf ankommen sie in dieser Sichtzu bestärken, gleichzeitig aber darin zu ver-gewissern, dass dieser Anspruch für alleMenschen gilt, gerade auch für solche, dieanders sind und anders wirken. Dazu be-darf es der Auseinandersetzung mit Prinzi-pien moralischen Handelns und des empa-thischen Nacherlebens diskriminierenderErfahrungen. So kann eine »Ideologie«(Erikson) reifen, in der alle Menschen alsEbenbild Gottes gesehen werden, die Res-pekt verdienen und Beistand brauchen,wenn ihnen Menschenwürde und selbstver-ständliche Menschenrechte vorenthaltenwerden.

Die vorgeschlagene Unterrichtseinheit willmit ihren Bausteinen sensibel machen fürden alltäglichen Rassismus gegenüberSinti und Roma und damit Hilfestellunggeben, weitere Formen von Diskriminie-rung und Rassismus im Alltag zu ent-decken. Es gilt Ursachen und Wirkungenherauszuarbeiten und dabei auch christ-liche – kirchliche – Anteile zu entdecken.Wie bei dem Genozid an Juden haben auchhier die christlichen Kirchen und Gemein-den überwiegend geschwiegen. Schließlichsoll es darum gehen, auf der Grundlageeiner biblisch begründeten Menschenwür-de eigene Handlungsmöglichkeiten zu ent-decken und zu bestimmen.

Die Unterrichtseinheit nimmt Ansätzeder Lehrplaneinheit Gymnasium 10.6.W.»Christen gegen den Rassismus« auf (Lehr-plan von 1994) und liefert sowohl konkreteals auch aktuelle Inhalte für den Erwerbeiner ethischen Kompetenz, wie sie in den

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Bildungsplänen in Baden-Württemberg von2004 für das Gymnasium und die Haupt-schule beschrieben sind:

»Schülerinnen und Schüler können zen-trale ethische Aussagen der Bibel … in einenormenkritische Urteilsbildung einbezie-hen« und »kennen daraus sich ergebendeHerausforderungen für die eigene Lebens-führung und die Mitgestaltung der Gesell-schaft« (Bildungsplan für das GymnasiumKlasse 10).

»Schülerinnen und Schüler kennen Wei-sungen der jüdisch-christlichen Traditionfür das Handeln der Menschen … und kön-nen sie auf aktuelle Problemfelder bezie-hen«, sie »wissen, dass sie immer Teil einerGemeinschaft und mit ihrem Handeln fürsich und andere verantwortlich sind. Siesind in der Lage sich in andere Menscheneinzufühlen. Sie sehen Möglichkeiten ande-ren Menschen zu helfen« (Bildungsplan fürdie Hauptschule Klasse 9).

Die Unterrichtseinheit gliedert sich in fol-gende Aspekte:) Diskriminierung und Alltagsrassismus

bei uns) Rassismus gegen Sinti und Roma) Ursachen und Folgen des Antiziganis-

mus in Deutschland) Handlungsmöglichkeiten.

Literatur

FÜR DIE HAND DER LEHRERINNEN UND LEHRER

Awosusi, A. (Hg.): Zigeunerbilder in der Kinder- undJugendbuchliteratur, Heidelberg 2000.

Dies.: Die Musik der Sinti und Roma. 3 Bände, Hei-delberg 1996–1998.

Dies.: Stichwort Zigeuner. Zur Stigmatisierung vonSinti und Roma in Lexika und Enzyklopädien,1998.

Ehmann, A. / Bamberger, E. (Hg.): Kinder undJugendliche als Opfer des Holocaust, Schriften-reihe des Dokumentations- und KulturzentrumsDeutscher Sinti und Roma, Heidelberg 1995.

Hackl, E.: Abschied von Sidonie, Zürich 1989 (dazu:Fischer R. / Krapp G.: Abschied von Sidonie,Lehrerheft mit Unterrichtsvorschlägen, Mate-rialien und Schülerheft).

Krausnick, M.: Wo sind sie hingekommen? Derunterschlagene Völkermord an den Sinti undRoma, Gerlingen 1995.

Krausnick. M.: Auf Wiedersehen im Himmel, Mün-chen 2001/Taschenbuchausgabe Würzburg 2005.

Landeszentrale für politische Bildung Baden-Würt-temberg und Verband Deutscher Sinti undRoma, Landesverband Baden-Württemberg

(Hg.): »Zwischen Romantisierung und Rassis-mus« Sinti und Roma – 600 Jahre in Deutsch-land, Stuttgart 1998; http://www.lpb.bwue.de

Rose, R. (Hg.): Den Rauch hatten wir täglich vorAugen. Der NS-Völkermord an Sinti und Roma.Katalog zur ständigen Ausstellung im Doku-mentations- und Kulturzentrum DeutscherSinti und Roma, Heidelberg 1999.

Solms, W./Strauß, D. (Hg.): »Zigeunerbilder« in derdeutschsprachigen Literatur, Schriftenreihe desDokumentations- und Kulturzentrums Deut-scher Sinti und Roma, Heidelberg 1995.

Strauß, D.: Die Sinti/Roma-Erzählkunst im Kontexteuropäischer Märchenliteratur, Schriftenreihedes Dokumentations- und Kulturzentrums Deut-scher Sinti und Roma, Heidelberg1992.

Widmann, P.: An den Rändern der Städte. Sinti undJenische in der deutschen Kommunalpolitik,Berlin 2001 (Beispiel Freiburg i.Br.).

Winckel, Ä.: Antiziganismus. Rassismus gegenRoma und Sinti im vereinigten Deutschland,Münster 2002.

GANZSCHRIFTEN ALS SCHÜLERLEKTÜRE

Rosenberg, O.: Das Brennglas, aufgezeichnet vonUlrich Enzensberger, Berlin 1998, 128 Seiten.

Hackl, E.: Abschied von Sidonie, Zürich 1989, 127Seiten.

AV-Medien

VIDEO/DVD:

»Pappo, der Schausteller«, zu bestellen beim Lan-desverband Deutscher Sinti und Roma Baden-Württemberg (s.u.).

»Sidonie«, Spielfilm von Karin Brandauer, 88 Min.,Evang. Medienzentrale Stuttgart VS 2022 (mitBegleitheft).

»Auf Wiedersehen im Himmel. Die Sinti-Kinder vonder St. Josefspflege«, Deutschland 1994, 45 Min.Drehbuch: Michael Krausnick. Zu beziehen z.B.über die Evang. Medienzentrale Stuttgart(VC2445)

Adressen

www.sintiundroma.dewww.lpb.bwue.de

FÜR AKTUELLE PRESSESCHAU UND ZUM AUFFINDEN

DISKRIMINIERENDER PRESSEARTIKEL:

www.kath-zigeunerseelsorge.deLandesverband Deutscher Sinti und Roma Baden-

Württemberg, Bluntschlistraße 4 (Beratung),69115 Heidelberg, Tel. 06221-13860-0, FAX -14,E-Mail: [email protected] // www.sinti-roma-bawue.de

Dokumentations- und Kulturzentrum DeutscherSinti und Roma, Bremeneckgasse 2, Heidelberg(ständige Ausstellung); Kontakt s.o.

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Diskriminierung und Alltagsrassismus bei uns

Zu Beginn der Unterrichtseinheit soll Raum gegeben werden, möglichen Vorurteilen auf die Spur zukommen und von da aus auf die Sichtweisen von Sinti und Roma einzugehen.

■ Ein Fall vor dem Amtsgericht1. L. informiert: Ein Vermieter lehnt es ab, seine Wohnung an eine Sinti-Familie zu ver-

mieten. Seine Begründung lautet: »Das sind Zigeuner!« Die Sinti-Familie geht vorGericht. Die Klasse formuliert in GA das angemessene Gerichtsurteil.

2. Vergleich der Sch.-Urteile.3. Vergleich mit dem »echten« Urteil M 1. Suche nach Gründen für dieses Urteil.4. Klärung, wer Sinti und Roma sind. Textarbeit an M 2 »Wer sind Sinti und Roma?« ent-

lang den Begriffen Sinti, Roma, Zigeuner, Gipsys, Sprache, Familie, Musik.

■ Mobbing-Spiel1. Einstieg: Zwei Freiwillige gehen vor die Tür (keine, die häufig gemobbt werden!). Sie

bekommen den Auftrag, nach der Rückkehr in das Zimmer die anderen Sch. anzuspre-chen. Die Mehrheit bekommt den Auftrag, sich in Grüppchen wie im Schulhof frei zuunterhalten, jedoch die beiden Freiwilligen nicht zu beachten. Auswertung zunächst mitden Ausgeschlossenen: Wie ging es euch? Wie habt ihr reagiert? Dann mit den anderen:Wem fiel der Ausschluss besonders schwer? (Freunden.)

2. Gespräch: Wir danken denen, die sich dem Mobbing ausgesetzt haben! Schon im Spiel istdas nicht einfach. Wozu haben wir dieses Spiel wohl gemacht?

3. Kontaktspiel M 3.4. Die Sch. tragen Vorwissen über Sinti und Roma zusammen. Sie überlegen, wie diese die

Bevölkerungsmehrheit erleben müssen. Herausfinden, ob es Beziehungen zu Sinti undRoma in der Klasse gibt, aber auch, welche Vorurteile auftauchen.

5. Erarbeitung des Textes »Wer sind Sinti und Roma?« M 2 (s.o.).

■ Vorwissen rekonstruieren1. UG: Assoziationen zu »Sinti und Roma« sowie zu »Zigeuner«, evtl. Recherche im Bekann-

tenkreis.2. Sch. bearbeiten den Fragenkatalog M 4 in PA.3. Sch. vergleichen ihr Vorwissen mit den Informationen M 2 in EA oder PA. Sie unter-

streichen, was neu ist und was eigentlich alle wissen müssten.4. Sch. überlegen, wie Sinti und Roma hiesige Verhältnisse erleben.5. Klärung im UG, was Diskriminierung ist. Eigene Definitionsversuche, anschließend Ver-

gleich mit Definition M 5.

■ Einladung an Sinti und Roma1. Sch. recherchieren im Internet Informationen zu Sinti und Roma und formulieren Fra-

gen, die sich daraus ergeben.2. Sch. überlegen, wie man einen Gesprächspartner, eine Gesprächspartnerin gewinnen

kann (E-Mail: [email protected]).3. Sinti und Roma erzählen von ihrer Lebenssituation, ihrer Geschichte, ihren Wünschen

und ihren Ängsten.4. Bericht für die Schülerzeitung schreiben.

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Thematische Aspekte und Bausteine

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Rassismus gegen Sinti und Roma

Rassismus gegen Sinti und Roma in Geschichte und Gegenwart ist unter uns vielfach unbewusst, ver-drängt oder »unbekannt«. Der Bewusstwerdung dient die Begegnung mit einem konkreten Beispiel(hier mit dem Verhalten der kirchlich und schulisch Verantwortlichen gegenüber den Kindern der St.Josefspflege in Mulfingen).

■ Film: Auf Wiedersehen im Himmel (von Michail Krausnick)1. Sch. betrachten gemeinsam den Film.2. Anschließend notieren die Sch. in EA die Handlung des Films. Sie rekonstruieren im UG

das Geschehen und vergleichen die Rekonstruktion mit der Inhaltsangabe M 6.3. UG: Sch. beurteilen die Rolle des Pfarrers und der Schwestern. Welche Alternativen hät-

ten sie gehabt?4. Szenische Lesungen aus M 8; dabei auch Suche nach passenden Bildern und passender

Musik evtl. einer anderen Klasse vorstellen.

■ Die Kinder von der St. Josefspflege1. L informiert über das Kinderheim St. Josefspflege anhand von M 7.2. Sch. lesen Text M 8 in EA, gliedern ihn in Zeitabschnitte und markieren die Aussagen

von Amalie Schaich und Angela Wagner zur Vorbereitung für eine szenische Lesung.3. Gemeinsames Klären der Inhalte anhand von Terminen 1936, Januar 1944, 9. Mai 1944,

12. Mai 1944.4. Aus dem Text eine szenische Lesung entwickeln (s.o.).

■ Geschichte der Sinti und Roma (M 9)1. Sch. erarbeiten in sechs Gruppen den Text »Die Geschichte der Sinti und Roma« (M 9)

mit den Unterthemen Sinti und Roma 15. bis 19. Jh., Sinti und Roma vor 1933, Sinti undRoma nach 1933, Sinti und Roma nach 1935, Sinti und Roma nach 1943, Sinti und Romanach 1945.

2. Jede Gruppe präsentiert ihre Ergebnisse in Form eines Plakates, gegebenenfalls werdendie Plakate auch anderen Klassen oder in einer Schulausstellung gezeigt.

3. Evtl. Vergleich mit Zeittafel M 10.

■ Begriffsklärungen1. Sch. erhalten Texte zu Diskriminierung (M 5), Alltagsrassismus (M 11), Antiziganismus

(M 12) und Rassismus (M 13).2. Sie definieren in arbeitsteiliger GA diese Begriffe, erläutern sie den anderen und ordnen

sie dann gemeinsam einander zu (z.B. durch überschneidende Kreise: TA).3. Anschließend Suche nach Gründen und nach möglichen Gegenmaßnahmen.

■ ExkursionDauerausstellung beim Dokumentationszentrum Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg(Adresse s.o.).

Ursachen und Folgen des Antiziganismus in Deutschland

Die Antiziganismusforschung geht der Frage nach, aus welchen Gründen die deutsche Mehrheit zurjeweiligen Zeit eigene Negativbilder auf die deutschen Sinti und Roma projizierte (für eine kurzeZusammenfassung einiger Aspekte siehe M 18). Es stellt sich heraus, dass es beim Antiziganismus inerster Linie um ein Manko der Mehrheitsbevölkerung – einschließlich der Christen und Kirchen –geht. Dies zu akzeptieren bedeutet, die Geschichte mit den Augen der Opfer dieses spezifischen Ras-sismus neu sehen zu lernen und an der eigenen Einstellung bewusst zu arbeiten.

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■ Stammtischgespräch (M 14)1. Sch. lesen jede/r für sich den Zeitungsartikel M 24.2. Anschließend spielen drei Sch. das »Stammtischgespräch« (M 14) zu dem Vorgang mit

verteilten Rollen.3. UG: Sch. bewerten das Gespräch emotional: Was hat euch geärgert? Wozu könnte ich ja

sagen?4. Sch. charakterisieren Person A, B und C. Sie überlegen , wem sie sich näher fühlen.5. Sch. stellen in GA Regeln auf, was man selber tun kann und tun will. Ergebnis als TA.

■ Bericht eines Dekans (M 15)1. Quellenstudium anhand M 15: Sch. finden heraus, was passiert ist und worum es dem

evangelischen Dekan geht.2. Beurteilung: Hätte er sich anders verhalten müssen bzw. können?3. UG: Was kann und sollte Kirche heute tun?

■ Bibelarbeit: Jesus und die Diskriminierung (M 16)Sch. vergleichen die beiden Texte (M 16) in PA. Sie finden im UG gemeinsam heraus, wel-cher der beiden Texte zu Jesus passt, vergleichen dann mit dem Bibeltext, überlegen, wasJesus verändert hat und bedenken, was Christen daraus folgern können.

■ Alltagssprache1. L. präsentiert Redewendungen (M 17) als Arbeitsbogen oder Folie. Sch. ergänzen. Was

steckt hinter solchen Redewendungen?2. UG: Wie konnte es zu dem Antiziganismus kommen?3. L.-Referat auf Grundlage von M 18.4. UG: Was kann ich tun, damit sich etwas ändert?5. Hausaufgabe oder Sch.-Referat: Text »Diskriminierung und Behördensprache« (M 19).

■ GanzschriftlektüreEin/e Sch. stellt eine Ganzschrift zum Thema als Referat vor: Otto Rosenberg, Das Brenn-glas, und/oder Erich Hackl, Abschied von Sidonie. Andere können durch Internetrechercheergänzen.

Entdecken von Handlungsmöglichkeiten im Sinne der Menschenachtung

Die Achtung der Sinti und Roma ist noch nicht weit verbreitet. Auch die kirchliche und schulischeKooperation mit dem Landesverband deutscher Sinti und Roma (und vermittelt durch diesen gegebe-nenfalls mit Sinti und Roma vor Ort) hat zahlreiche Aufgaben noch vor sich.

■ Die älteste Menschenrechtserklärung der Welt1. L. erzählt von der Situation des Volkes Israel im babylonischen Exil.2. Zwei Sch. lesen Sprechszene (M 20) mit verteilten Rollen vor.3. Sch. ermitteln das implizite Menschenbild und halten es als Präambel eines neuen

Grundgesetzes fest: »Paragraph 1: Jeder Mensch ist …«4. Sch. wenden diesen Grundsatz auf Sinti und Roma an: »Jeder Sinti und Roma ist …«5. UG: Was können wir selbst in unserem Alltag für die Würde jedes Menschen tun?

■ Europäisches Rahmenabkommen zum Schutz nationaler Minderheiten (M 21 b)1. Textanalyse M 21 b mit Hilfe der Zwei-Spalten-Methode: »Wofür/wogegen wendet sich

der Text?«2. Sch. formulieren in Kleingruppenarbeit eine Präambel, die diese Artikel begründen kann.3. Alternativ: Sch. erarbeiten aus der Präambel M 21 a einen Gesetzestext (GA – zunächst

zur Hilfe ein Beispiel mit der Klasse gemeinsam).

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4. Die Sch. formulieren gemeinsam Konsequenzen für Schule und Polizei in Form von Grun-dregeln für den Umgang mit Sinti und Roma und halten sie schriftlich fest.

■ Diskriminierung entdecken und Gegenmaßnahmen bestimmen1. Sch. lesen den Artikel aus der Süddeutschen Zeitung (M 22) und werten aus, welche

Informationen vermittelt werden.2. Sie vergleichen den Artikel mit dem Pressekodex des Deutschen Presserates (M 23 a).

Evtl. als Ergänzung Schülerflugblatt (M 23 b).3. Sch. recherchieren im Internet ähnliche Presseartikel (z.B. im Pressedienst www.kath-

zigeunerseelsorge.de).4. Sch. entwerfen einen Leserbrief an die »katholische Zigeunerseelsorge«. Dabei sollte auch

bedacht werden, wie die Internetadresse lautet!

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»Diese ethnische Gruppe ist traditionellvornehmlich rastlos und … ist eindeutignicht repräsentativ für den durchschnitt-lich geeigneten Mieter mit entsprechendenZukunftsperspektiven, so dass die Erwar-tungen auf weitere fruchtbare Verhandlun-gen seitens der Kläger völlig unbegründetund unhaltbar waren.«

Der Zentralrat Deutscher Sinti undRoma legte beim Europäischen Gerichtshoffür Menschenrechte Beschwerde gegen die-

ses Urteil ein, der Antrag wurde jedochals unzulässig erklärt, da die Antragsstel-ler (der Zentralrat und Romani Rose) indiesem Falle nicht persönlich betroffenwäre.

Aus: Open Society Institute. EU Accession Moni-toring Program (Hg.), Monitoring des Minder-heitenschutzes in der Europäischen Union: DieLage der Sinti und Roma in Deutschland 2002,Gesellschaft für bedrohte Völker, Göttingen 2003,S. 119 und 88–89

URTEIL DES AMTSGERICHTES BOCHUMVOM 25. SEPTEMBER 1996M 1

Als Sinti und Roma bezeichnen sich die weltweitverbreiteten, überwiegend aber in Europa (vorallem im ehemaligen Jugoslawien, in Rumänien,Ungarn, Frankreich, Spanien und Deutschland)beheimateten Minderheitengruppen mit (1990)schätzungsweise 12 Millionen (in Europa allein8 Millionen) Angehörigen selbst. Die Bezeich-nung »Sinti« (für die mitteleuropäischen Grup-pen, Einzahl: Sinto, weiblich: Sintezza) leitetsich möglicherweise von der Herkunft ihrer Vor-fahren aus der nordwestindischen Region Sindhab.

Die Bezeichnung Roma (»Menschen«, Ein-zahl: der Rom, weiblich: die Romni) ist ein allge-meiner Sammelname außerhalb des deutschenSprachraums, die in Deutschland überwiegendfür Gruppen südost-europäischer Herkunft ge-braucht wird.

Im englischen Sprachraum werden Sinti undRoma als »Gypsies«, im spanischen als »Gitanos«bezeichnet.

In Deutschland leben heute etwa 50 000Sinti und 20 000 Roma – überwiegend katholi-scher Konfession – auf dem Gebiet des ehemali-gen Jugoslawien; in Bulgarien, Iran und derTürkei gibt es muslimische, in anderen südost-und osteuropäischen Ländern griechisch-ortho-doxe oder russisch-orthodoxe Roma.

Geschichte und Herkunft der Sinti und RomaDie Sinti und Roma waren wohl zwischen 800und 1000 n. Chr. aus ihrer Heimat in Nordwest-Indien durch das Einströmen arabischer Volks-stämme zur Auswanderung gezwungen worden.Wichtigster Zeuge dieser Herkunft aus Indienist ihre Sprache, das Romanes.

Die große Mehrheit der Vorfahren der heuti-gen europäischen Sinti und Roma ließen sichzwischen dem 11. und 14. Jahrhundert auf demBalkan (um 1100 von einem Mönch auf demBerg Athos erstmals erwähnt), im MittlerenOsten und in Osteuropa nieder. Die Westwande-rung erreichte um 1400 Mitteleuropa (1407 Hil-desheim, 1414 Basel), bald nach 1500 dann Eng-land und um 1715 Nordamerika.

Kultur der Sinti und RomaSinti und Roma bilden selbst innerhalb vonNationalstaaten keine homogene Einheit. Trä-ger der sozialen Organisation und kulturellenÜberlieferung ist die Familie. Die ältere Gene-ration genießt die besondere Achtung der Jün-geren. Die kulturelle Identität gründet in dereigenen Sprache (Romanes), in der eigenständi-gen Auseinandersetzung mit der Kultur derMehrheitsbevölkerung und in der Erfahrungjahrhundertelanger Verfolgung. Sie ist unteranderem gekennzeichnet durch einen reichenSchatz an Erzählungen, Märchen und Liedern,durch künstlerische, besonders musikalischeFähigkeiten und handwerkliche Traditionen(vor allem Kupfer- und Goldschmiedekunst,Korbflechterei, Holz- und Lederbearbeitung)Entgegen allen Vorurteilen sind Sinti und Romain Deutschland und in anderen Ländern seitGenerationen ebenso sesshaft wie die Mehr-heitsbevölkerung.

Aus: Ch. Ortmeyer / D. Strauß (Hg.), Antiziganis-mus, FTh 523, LEU Stuttgart Juni 2002,S. 141–146

WER SIND SINTI UND ROMA?M 2

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KONTAKTM 3

Anleitung:1. Setze die Bezeichnung für Menschengruppen und die sozialen Begriffe an den Ort, der

dir für dein Empfinden zur Zeit passend erscheint.2. Stelle deine Einordnung anderen vor und begründe sie.3. Wiederhole dasselbe nach Ende der Unterrichtsreihe und stelle dann fest, ob sich für

dein Empfinden etwas verändert hat.

Jene

gehe

nmich

ncihts

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größ

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bleh

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größte

SympathieBereich des Wohlbefindens

Spanne der Haltungen/Empfindungen

– Fremde– Afrikaner– Türken– Araber– Italiener– Juden– meine Kollegen– Weiße– Lateinamerikaner– Chinesen

– Schwarze Amerikaner– meine Familie– Gott– Marokkaner– Pluralismus– Ehrlichkeit– Anständigkeit– meine Nachbarn– Griechen– Iren

– Japaner– Autorität– alte Menschen– Freiheit– Nationalismus– Amerikaner– Gleichheit– »Zigeuner«– Sinti und Roma

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1. Woran liegt es deiner Auffassung nach, dass 68 Prozent der Deutschen eine schlechteMeinung über Sinti und Roma haben?

2. Was ist dir von der 600-jährigen Geschichte der Sinti und Roma in Deutschland bekannt(in Stichworten)?

3. Welche Ursachen für den Antiziganismus sollte man deiner Meinung nach insbesonderezu beseitigen versuchen?

4. Sollen Christen/Kirchen dabei eine Rolle spielen? Wenn ja, warum? Was kannst du selbstdabei tun?

FRAGENKATALOGM 4

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Diskriminierung ist die ungleiche Behand-lung von Menschen aufgrund von Merkmalenwie Herkunft, Hautfarbe, Nationalität, Ge-schlecht, sexueller Orientierung, Kultur oderReligionsausübung. Diskriminierendes Ver-halten kommt sowohl im Alltag, z.B. in derSchule, am Arbeitsplatz oder in öffentlichenVerkehrsmitteln, als auch in den Medien,Gesetzen oder öffentlichen Einrichtungenvor.

Nicht jede Ungleichbehandlung ist gleichDiskriminierung: Wenn z.B. Jugendlichenunter 18 Jahren der Zutritt zu einer Disko-thek verweigert wird oder jemand nicht Taxi-fahrer werden kann, weil er oder sie keinenFührerschein hat, ist das völlig in Ordnung.Wenn aber Menschen mit bestimmten Merk-malen der Eintritt in die Disco oder ein Jobverweigert wird, z.B. weil er oder sie keinendeutschen Pass hat, eine Frau, schwarz oderhomosexuell ist, dann handelt es sich um Dis-kriminierung.

Diskriminierung ist also die ungerechtfer-tigte Benachteiligung oder Schlechterbehand-lung einzelner oder Gruppen.

Die deutsche Verfassung wendet sich aus-drücklich gegen Diskriminierung: Gemäß

Artikel 3, Absatz 3 des deutschen Grund-gesetzes darf niemand »wegen seines Ge-schlechts, seiner Abstammung, seiner »Ras-se«, seiner Sprache, seiner Heimat und Her-kunft, seines Glaubens, seiner religiösen oderpolitischen Anschauungen benachteiligt oderbevorzugt werden«.

So klar dieser Grundgesetzartikel klingt,in der Praxis bietet er Betroffenen leiderkaum rechtlichen Schutz, um gegen Diskrimi-nierung vorzugehen. Dazu wären eigene Anti-Diskriminierungsgesetze erforderlich, wie siez.B. in Großbritannien oder den Niederlan-den bestehen und seit Jahren von verschiede-nen Anti-Diskriminierungs- und Menschen-rechtsgruppen in Deutschland gefordert wer-den. Dennoch, wer andere diskriminiert, ver-stößt eindeutig gegen die Grundwerte derdeutschen Verfassung.

Aus der Broschüre »Rassismus begreifen. Was ichimmer schon über Rassismus und Gewalt wissenwollte«, hg. u.a. von der Aktion Courage – SOS Ras-sismus/Schule ohne Rassismus in Bonn und derArbeitsgruppe SOS Rassismus NRW (c/o Amt fürJugendarbeit der Evangelischen Kirchen von West-falen, Ralf-Erik Posselt, Haus Villigst, 58239Schwerte), Villigst 1997, S. 18

DEFINITION »DISKRIMINIERUNG«M 5

Der Film, »Auf Wiedersehen im Himmel«wurde 1994 gedreht und ist aus der Zusam-menarbeit zwischen den Zeitzeugen undÜberlebenden des Holocaust Amalie Schaich,Angela Wagner, Emil Reinhardt, dem Doku-mentations- und Kulturzentrum DeutscherSinti und Roma sowie Michail Krausnick(Drehbuchautor) entstanden.

In Berichten, Fotos und mit Original-Filmausschnitten aus der Zeit zwischen 1938und 1944 wird das Schicksal von 39 Sinti-Kindern und -Jugendlichen geschildert.Diese waren von den »Rasseforschern« EvaJustin und Robert Ritter ausgewählt worden,um an ihnen Forschung zu betreiben.

In dieser Zeit lebten die Kinder in der »Hei-ligen St. Josefspflege«, einem Heim, das unterder Leitung der katholischen Kirche standund von katholischen Schwestern geführt

wurde. Die Ergebnisse der so genannten»Rasse-Untersuchungen« an diesen Kindernverhalfen Eva Justin zu Doktorwürden. DieGutachter waren Robert Ritter und EugenFischer. Robert Ritter war nach dem Kriege imFrankfurter Gesundheitsamt beschäftigt, spä-ter wurde auch Eva Justin dort eingestellt.

Die Kinder wurden 1943 von ihren Elterngetrennt, die ihrerseits von Polizei, SD undSS in die Konzentrationslager Buchenwald,Ravensbrück oder in andere Konzentrations-lager verschleppt wurden. Für die Kinderwurde dieses Schicksal nur um ein Jahr auf-geschoben, dann ging von Mulfingen aus einTransport in das Vernichtungslager Ausch-witz-Birkenau. Der Film macht den Prozessdes Völkermordes an den Sinti und Romaund die rassistischen Motive der Täter inbesonders beeindruckender Weise deutlich.

INFORMATIONEN ZU DEM FILM »AUF WIEDERSEHEN IM HIMMEL«M 7

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Das Kinderheim der St. Josefspflege war einkatholisches Kinderheim, in das seit 1938ausschließlich Sinti-Kinder eingewiesenwurden. Dies hatte folgenden Grund:

»In einem württembergischen Erlass vom7.11.1938, der seiner Bedeutung halber aufder ›Württembergischen Anstaltstagung‹vom 8.11.1938 bekannt gegeben wurde,wurde erstmals im Deutschen Reich, undzwar landesweit verbindlich, eine Eintei-lung aller in Heim- und Familienerziehungbefindlichen Kinder und Jugendlichen infünf Gruppen vorgeschrieben, die, separiertvoneinander, in genau benannten Heimenuntergebracht werden sollten.«1

Diese Einteilung in fünf Gruppen wurdeauch durchgeführt, wobei für die erstenvier Gruppen Begriffe wie »Verwahrlo-sung«, »Schwachsinn«, »Körperbehinde-rung«, »schwere Psychopathie« verwendetwurden. Eine fünfte Gruppe war eigens fürdie »Zigeuner« eingerichtet.Das katholische Kinderheim in Mulfingenhatte die Aufgabe übernommen, die Kinderso lange aufzunehmen, bis sie von dort nachAuschwitz transportiert wurden.Wie dieses Heim als »Durchgangslager« fürKinder funktionierte, soll am Beispiel derGeschichte der Familie Delis aus Wiesbadendargestellt werden.

Johanna Schneck, 1903 in Württemberggeboren, lebte seit 1928 in Wiesbaden. Hierbrachte sie auch ihren zweiten Sohn Sieg-fried 1929 zur Welt und 1933 ihre TochterLuana. Ihr ältester Sohn war 1926 geborenworden. Mitte der 30er Jahre heiratete sieden aus Bildstock/Saarland stammendenPaul Delis. Dieser Ehe entstammen zweiweitere Kinder: Rudi und Maria. Erfasstund registriert wurden die Familienmit-glieder am 31. Januar 1938, als die Rassen-forscher in Wiesbaden ihre Messkartenausfüllten. Johanna Schneck wurde als»Z3/4« klassifiziert, ihr Mann als »Z 1/2«, dasheißt in der NS-Terminologie galten beide

als »Zigeunermischlinge«, entsprechendihre Kinder.

Schon 1939 wurde die Familie ausein-andergerissen. Paul Delis erkrankte undwurde am 8. Dezember 1939 in die Landes-heilanstalt Eichberg eingewiesen. Die Dia-gnose lautete »Religiöser Wahn«. Wasimmer der Anlass oder der Hintergrund fürdiese Diagnose war, entzieht sich unsererKenntnis. 1940 bedeutete die Einweisungin ein Psychiatrisches Krankenhaus sehrschnell den Tod durch Vergasen. Seit 1940setzten die Nationalsozialisten verstärktihre Idee eines gereinigten deutschen»Volkskörpers« durch, indem sie psychischkranke oder behinderte Menschen inbesonderen Anstalten, wie etwa Hadamar,töteten. Um die Ermordung zu vertuschen,wurden von den Anstaltsärzten gefälschteTotenscheine ausgestellt. Danach ist PaulDelis am 29. Januar 1941 verstorben.

Im Mai 1940 war die Familie – ohne denEhemann und Vater – für die Deportationnach Polen vorgesehen.

Im September 1940 wurde JohannaDelis verhaftet und in das Frauenkonzen-trationslager Ravensbrück deportiert.

Der Bruder von Johanna Delis, AdamSchneck, war zusammen mit seiner Frauals Nr. 102 bzw. Nr. 100 von Mainz aus am16. Mai 1940 in das so genannte General-gouvernement deportiert worden.

Nach den Deportationen waren die Kin-der allein in Wiesbaden. Sie kamen deshalbzu den Großeltern nach Bad Mergentheimin Württemberg.

Am 5. November 1941 wurden die Kin-der den Großeltern weggenommen und indas Kinderheim St. Josefspflege in Mulfin-gen in die Fürsorgeerziehung gebracht.Hier lebten sie bis zum 8. oder 9. Februar1944. Dann wurden sie als erste Kinder vonMulfingen in das Vernichtungslager Ausch-witz deportiert.2

Aus: Landesinstitut für Erziehung und Unterricht(Hg.), Antiziganismus. Geschichte und Gegenwartdeutscher Sinti und Roma, Stuttgart 2002, S. 121.

DAS KINDERHEIM DER ST. JOSEFSPFLEGEM 6

1 Wolfram Schäfer (Marburg/Institut für Erziehungswissenschaft): Siebung, Sichtung und Lenkung vonjugendlichen Verwahrlosten und Dissozialen, in: 10 Jahre Jugendkonflikthilfe, Marburg 1996.

2 Aus: Udo Engbring-Romang: Wiesbaden. Auschwitz. Zur Verfolgung der Sinti in Wasbaden, Darmstadt1997 (Reihe: Hornhaut auf der Seele, Hg. Adam Strauß, Band 3), S. 110–115.

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Offiziell waren sie zu Fürsorgezöglingenerklärt worden. Die NS-Behörden sprachenvon »verwahrlosten«, von »schwer erziehba-ren Kindern«, ja sogar von Waisenkindern.Die Eltern seien »mit unbekanntem Aufent-haltsort abwesend«. Doch das war die Spra-che der Verfolger, die Sprache des DrittenReichs.

Die Wahrheit sah anders aus: Die Nazishatten seit 1936 die Familien zerstört unddie Väter und Mütter als Sklavenarbeiterin die Konzentrationslager, zunächst vorallem nach Dachau und Ravensbrück, de-portiert. Die elternlos gemachten Jungenund Mädchen aber kamen als »Zigeuner-kinder« in Kinderheime, Erziehungsanstal-ten und Jugendkonzentrationslager.

Im Januar 1944 sprachen Beamte derStuttgarter Gestapo in der St. Josefspflegevor. Sie erklärten der Oberin, der Schwe-ster Eutychia, dass sie den Auftrag hätten,die Personalien der im Heim lebenden»Zigeunerkinder« zu überprüfen. In Wirk-lichkeit waren die Beamten gekommen, umfür jedes einzelne Kind die vorgeschriebe-nen »Haftunterlagen« fertig zu stellen,Nach der Anweisung des Reichskriminalpo-lizeiamtes war die vorgedruckte »Einliefe-rungsanzeige des Konzentrationslagers«bei allen über sechs Jahre alten Personenmit einem Abdruck des rechten Zeigefin-gers zu versehen. Die Beamten hattendabei zu beachten, »dass die beabsichtigteFestnahme vorher der zigeunerischen Per-son nicht bekannt wird«.

Wenige Wochen später gab eine Stutt-garter Polizeidienststelle der St. Josefspfle-ge bekannt, dass sämtliche »Zigeunerkin-der« in den Morgenstunden des 9. Mai 1944abgeholt würden. Der Ortspfarrer, der zu-gleich der Verwalter des Heims war, hatteden Transport vorzubereiten. Er wusste,dass es sich um eine Reise ohne Wiederkehrhandelte.

Einen Tag vor dem Abtransport schreibtder Caritasverband für Württemberg an das»Hochwürdigste Bischöfliche Ordinariat« inRottenburg einen Brief »Betr.: JosefspflegeMulfingen«. Darin heißt es: »Der Leiter derJosefspflege Mulfingen, H. H. Pfarrer Volz,teilt dem Caritasverband mit, dass in näch-ster Zeit 30 Zigeunerkinder wegkommen

sollen. Dadurch wird die Anstalt ziemlichunterbelegt. Er bittet den Caritasverbanddarauf hinzuwirken, dass durch die ent-sprechenden Behördenstellen eine Vollbele-gung wieder raschestens erfolgt.«

Der um die erneute »Auffüllung« seinesHeims besorgte Pfarrer nutzte die verblei-benden Tage, um die Kinder mit einem ver-kürzten Kommunionsunterricht auf ihrEnde vorzubereiten. Im letzten Gottes-dienst am Vorabend empfingen auch dieKinder, die eigentlich noch zu jung waren,die Sakramente.

Die Notkommunion in der Hauskapelleaber blieb die einzige Hilfeleistung derKirche. Die Schwestern sagten den Kin-dern, dass sie ihre besten Kleider anziehenund sich für einen Ausflug fein machensollten. Einige Kinder aber ahnten dochetwas. Eine Überlebende, die damals 9Jahre alte Angela Wagner, geborene Rein-hardt, berichtet: »Und dann ist ein Gerederumgegangen, dass wir Zigeunerkinderwegkommen. Da haben sich dann die Kin-der alle möglichen Sachen erzählt. Siehaben nämlich auch schon etwas gewusstvom KZ. Ja, ich hab das gehört. Aber dannhaben sie wieder gesagt, das stimme ja garnicht, sie machten einen schönen Ausflug.Ja, und daran habe ich dann geglaubt, anden Ausflug. Als die Polizeibeamten ge-kommen sind und die Fingerabdrücke ge-macht haben, damals wollte ich mich auchschon dazwischenschleichen, in die Reihe.Aber dann hat mich eine Schwesterherausgerufen. Ich sollte nicht mit.«

Am Vormittag des 9. Mai fuhr ein Post-bus im Hof der St. Josefspflege vor. Sechsuniformierte Polizisten aus Künzelsau stie-gen aus. Sie hatten den Befehl, die Kinderabzuholen. Die Kinder wurden aus demHeim herausgeführt: sie trugen etwasHandgepäck bei sich. Auf Anweisung mus-sten sie sich in einer Reihe aufstellen. Dannwurden ihre Namen aufgerufen, um dieVollständigkeit der Gruppe zu überprüfen.Der Mulfinger Ortspolizist Karl K., heißtes, habe »Tränen in den Augen« gehabt,aber Befehl sei eben Befehl gewesen.

Aus dem Blickwinkel der neunjährigenAngela, die unbedingt am vermeintlichenAusflug teilnehmen wollte, sah das etwas

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MICHAIL KRAUSNICKDIE SINTI VON DER ST. JOSEFSPFLEGEM 8

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anders aus: »Ja, ich wollte doch absolutmit! Das können Sie gar nicht glauben, wiegern ich da mitfahren wollte!« Aber dieSchwester, die hat mich gesehen und hatmir gleich eine Ohrfeige gegeben. »Dugehörst nicht dazu!«, hat sie zu mir gesagt:»Jetzt gehst du sofort rauf in den Schlaf-saal, in dein Bett und lässt dich nicht mehrsehen.«

Und ich war noch wütend über die Ohr-feige und trotzig zu der Schwester! Ach ja,was habe ich denn schon gewusst? Also, ichbin dann rauf, aber statt mich ins Bett zulegen, hab ich alle zwei Fenster aufgemachtund runtergeguckt, was da unten passiert.Die Kleineren haben sich gefreut, die habenan den Ausflug geglaubt. Jedes Kind hatdann so ein kleines Täschle aus Stoff be-kommen, das man oben zuziehen und auf-machen konnte, und ich habe zu meinerFreundin runtergerufen: ›Was hast du dennda drin, in dem Geschenkle?‹ Und da hat siees aufgemacht, einen Apfel rausgenommenund sofort reingebissen. Und hat gelachtdabei. Das kann ich nicht vergessen. Aberdie größeren Kinder, die haben was gewus-st. Da haben ja einige auch geschrieen undsich gesträubt, in den Bus hineinzusteigen.Und einer wurde geschlagen, bis sichschließlich die Schwester Oberin bereiterklärt hat, mitzufahren.«

Die Lehrerin Johanna Nägele erinnertsich, dass sich die 16-jährige JohannaKöhler auf ihr Bett warf, weinte und klag-te: »Warum muss ich sterben, ich bin dochnoch so jung?«

Amalie Schaich gehörte zu den Kindern,die in den Bus steigen mussten: »Der Ab-transport war ein Chaos. Instinktiv habenwir gespürt, da ist etwas im Gang. Aberwas …? Offiziell hat man uns halt bloßgesagt: ›Dort, wo ihr hinkommt, geht’s euchgut.‹ Wir mussten dann in den Bus steigenund wurden bis zum Bahnhof Crailsheimgefahren. Wir haben überhaupt nicht ge-wusst, was los ist. Die Schwestern habenuns nichts vorher gesagt und auch die Poli-zei nicht.«

Angela Wagner, die damals nicht »mitdurfte«, quält sich bis heute mit der Frage,weshalb ausgerechnet sie ausgespart undvon einer Schwester beiseite genommenwurde: »Und am Abend, als wir uns hinge-kniet haben zum Nachtgebet, hat dieSchwester gesagt, ich sollte für die Kindermitbeten. Ich sollte beten für die Kinder! Da

hab ich die Schwester gefragt: »Schwester,wo sind die Kinder denn hingekommen?«Dann hat sie mir sehr, sehr lang in dieAugen geschaut und gesagt: ›Angela, seibrav, dass du nicht auch da hinkommst, wodie anderen hingekommen sind.‹ Mehr hatsie mir nicht gesagt.«

Nicht nur die Schwester Oberin, auch dieLehrerin Johanna Nägele musste zur Beru-higung der Kinder den Transport begleiten.Nach der Fahrt durch die blühende Früh-lingslandschaft gab es in Künzelsau imWartesaal des Bahnhofs einen längerenAufenthalt. Verwundert betrachteten dieanderen Reisenden die von der Polizeibewachte Kindergruppe. Nach einiger Zeitwurden die Kinder zu einem Waggongeführt, der auf einem Abstellgleis stand. Eswar ein »Gefangenenwagen« mit vergitter-ten Fenstern und abschließbaren Türen.Die Kinderfragten: »Warum fahren wir in soeinem komischen Wagen, warum mit derPolizei?«

Die Polizisten gaben der Lehrerin dieAnweisung, dass die Kinder an den Bahn-höfen von den Fenstern ferngehalten wer-den müssten. Von Künzelsau über die Sta-tionen Waldenburg, Schwäbisch Hall, Hes-sental bis Crailsheim wurde der Wagenjeweils an die fahrplanmäßigen Züge an-gehängt. Während der Wartezeiten sangendie Kinder Lieder oder sagten Gedichte auf,die sie für den Namenstag der SchwesterOberin vorbereitet hatten.

Auf dem Crailsheimer Bahnhof erschie-nen Männer in der Uniform der Waffen-SS.Ihnen wurde die Transportliste übergeben;sie prüften die Zahl der Kinder erneut nach.Angehörige der Sicherheitspolizei brachtenweitere Sintifrauen mit kleinen Kindernaus dem Heim in Hürbel zum Gefangenen-wagen.

»Es waren schwangere Frauen dabei,mit Kindern, die wurden dazugeladen. DieKinder haben einige von ihnen gekannt.Dann kamen Männer in schwarzen Unifor-men und haben die Grünen abgelöst.«

Die Lehrerin und die Schwester Oberinwurden gedrängt, sich von den Kindern zuverabschieden und »es kurz zu machen«:

»Wir mussten hilflos dabei stehen undkonnten nichts tun. Das ist das Schlimmste,was einem Menschen passieren kann (…).Als der Transport losgefahren ist, habe ichnatürlich geahnt, dass die Zigeunerkindernach Auschwitz kommen. Ich musste die

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Zähne zusammenbeißen, um nicht loszu-heulen.«

Über den Weitertransport berichtetAmalie Schaich: »In Dresden haben wireinen Bombenangriff miterlebt. Da warFliegeralarm. Die SS-Männer haben unse-ren Gefängniswagen einfach abgesperrt,auf dem Gleis stehen lassen und sind fort-gelaufen. Und wir Kinder waren ganzallein. Überall sind da die Bomben einge-schlagen, und wir hatten natürlichschreckliche Angst. Das werde ich niemalsvergessen, diese Angst. Unsere Bewacheraber befanden sich, als die Bomben fielen,in einem sicheren Bunker. Auf der Weiter-fahrt habe ich einen SS-Mann so bearbei-tet, bis er mir gesagt hat: ›Ihr kommt zueuren Eltern, da geht’s euch gut.‹«

Doch am 12. Mai 1944 traf der Transportin Auschwitz ein. Dort wurde registriert:

»12.5. Aus dem Kinderheim »St. Josefs-pflege« in Mulfingen wurden 39 Zigeuner-kinder eingeliefert.

20 Knaben bekamen die Nr. Z-9873 bisZ-9892, 19 Mädchen die Nr. Z-10629 bis Z-l 0647.«

Im Schülerverzeichnis der St. Josefs-pflege machte die Lehrerin Johanna Nä-gele in diesen Tagen neununddreißigmalden gleichen Eintrag: »eingewiesen nachAuschwitz«.

Amalie Schaich, die zu den Deportiertengehörte, ist eines der vier Kinder, die über-lebt haben, weil sie über vierzehn warenund zur Arbeit in der Rüstungsindustrieausgesondert wurden. Über die Ankunft inAuschwitz berichtet sie:

»Nach etwa vier oder fünf Tagen trafenwir mit dem Zug in Auschwitz ein. Da gingplötzlich die Türe von unserem Waggon auf.Und vor uns auf der Rampe standen lauterSS-Leute mit dem Gewehr im Anschlag.Aber als sie uns Kinder sahen, haben siegleich die Gewehre sinken lassen.

Nachdem uns die Häftlingsnummernauf den Armen eintätowiert waren, kamenwir in das ›Zigeunerlager‹ des Konzentra-tionslagers Auschwitz-Birkenau.

Dort waren wir Mulfinger Kinder nochvierzehn Tage im Block 16 zusammen.Doch dann haben sie uns getrennt. DieKinder, die über vierzehn waren, sindgeblieben, und die jüngeren kamen inden Kinderblock, den ›Waisenblock‹. WirGrößeren wurden zum Straßenbau abkom-mandiert.

Als ich meine jüngeren Geschwister dasletzte Mal sah, da hat mein Schwesterlebeim Abschied gesagt: ›Du gehst und wirwerden verbrannt.‹ Das waren die letztenWorte, die ich von ihr hörte. Das vergesseich nie!«

Die Nacht zum 3. August 1944 war dieNacht, in der das Zigeunerlager Auschwitz-Birkenau »liquidiert« wurde – so die Spra-che der Nazis. 2897 Sinti und Roma, vorallem ältere Menschen, Frauen und Kinder,wurden in dieser Nacht in die Gaskammerngetrieben. Unter ihnen die Geschwister vonAmalie Schaich und alle anderen Sinti-kinder der St. Josefspflege.

Heute erinnert ein Gedenkstein vor demHeim an die Namen der Ermordeten:

»Amandus, Martin, Friedrich, Ferdin-and, Sofie, Wilhelm, Rosa, Johann, Elise,Anton, Franz, Olga, Johanna, Anton, Josef,Thomas, Sonja, Otto, Elisabeth, Karl,Luise, Martha, Klara, Ottilie, Andreas,Adolf, Amalie, Anton, Scholastika, Karl,Josef, Maria, Rosina, Rudi, Maria, Sieg-fried, Luana.«

Amalie Schaich wurde nach Ravens-brück deportiert. Dort erlebte sie, wie diemeisten Sintifrauen und -mädchen ihresTransportes brutal und ohne Betäubungsterilisiert wurden. Gegen Kriegsende kamsie in das KZ Bergen-Belsen. Dort musstesie die Misshandlung und Ermordung ihrerMutter miterleben. Amalie Schaich lebtheute in Süddeutschland.

Aus: Michail Krausnick, Wo sind sie hingekommen?Der unterschlagene Völkermord an den Sinti undRoma, © Psychosozial-Verlag/Haland & Wirth,Gießen

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Vor 1900

Bereits in der durch Stände und Zünftestarr strukturierten Gesellschaft des spä-ten mittelalterlichen Europas wurden dieSinti und Roma ausgegrenzt.

Zunächst geduldet wurden Sinti undRoma im Laufe des 15. Jahrhundertszunehmend unterdrückt und aus manchenGebieten vertrieben (Luzern 1471, Bran-denburg 1482, Spanien 1484). Auf demReichstag 1496/97 wurden sie im HeiligenRömischen Reich Deutscher Nation fürvogelfrei erklärt, geächtet und zur Verfol-gung und Folterung, zur Haft und Tötungfreigegeben. Anfang des 16. Jahrhundertsfolgten Holland, Portugal, England, Frank-reich, Schottland, Flandern, Dänemark,Böhmen, Polen und Litauen mit einer ähn-lichen Gesetzgebung 1561 beschloss dasParlament zu Orleans, sie »mit Feuer undSchwert« auszurotten. Die härtesten Geset-ze wurden in Deutschland erlassen; zwi-schen 1497 und 1774 waren es 146 Edikte,die alle Arten der physischen und psychi-schen Gewalt an Sinti und Roma zuließen.

Als zwischen 1837 und 1856 in derMoldau und der Walachei nach und nachdie Leibeigenschaft aufgehoben wurde,zogen rund 200.000 befreite Roma west-wärts.

Aufgrund der unterschiedlichen Unter-drückungsgeschichten, Kulturen und Dia-lekte bewahrten Sinti und Roma ihreSelbstständigkeit. Von der sich zum Jahr-hundertende hin verschärfenden Unter-drückung und »Sondererfassung« aberwaren beide Gruppen in gleicher Weisebetroffen. Nach der Gründung des Deut-schen Reiches 1871 wurden die innenpo-litischen Kontroll- und Überwachungs-instrumente durch neu gegründete repres-sive Institutionen verschärft. Nach 1899setzte im deutschen Reich eine systemati-sche Bekämpfung der Sinti und Roma ein;seit 1906 war in Preußen eine Ministerial-anweisung Grundlage zur Verfolgung derSinti und Roma. 1926 wurde in Bayern dassogenannte »Arbeitsscheuengesetz« erlas-sen, das den Vorwand bot, auch gegen Alt-eingesessene mit rücksichtsloser Härte vor-zugehen.

Andererseits wurden in der Unterhal-tungsliteratur und in Operetten im 19. undzu Beginn des 20. Jahrhunderts vor allemdie südosteuropäischen Roma zu stilisier-ten Kunstfiguren verklärt und ihre ver-meintlich naturwüchsigen Lebensverhält-nisse als Versinnbildlichung antizivilisato-rischer Sehnsüchte dargestellt. In dieserVerbindung von Faszination und Ableh-nung blieb für die Mehrheit der Gesell-schaft »der Zigeuner«, »die Zigeunerin« derInbegriff von kultureller Fremdartigkeit.Diese Sichtweise trug wesentlich dazu bei,dass die Verfolgung der Sinti und Romadurch das nationalsozialistische Regime inder Bevölkerung kaum auf Widerstandstieß.➊

Seit über 600 Jahren leben Sinti inDeutschland, seit rund 150 Jahren Roma.Sie sprechen Romanes, eine Sprache, diemit dem indischen Sanskrit verwandt ist.Mit Beginn der nationalsozialistischenHerrschaft wurden sie als sogenannte»Fremdrassige« systematisch ausgegrenzt,entrechtet, verfolgt und schließlich Opferdes Holocaust. Schon im Mittelalter wur-den Sinti verfolgt, wurden Opfer einesgesellschaftlichen Antiziganismus. In derZeit der Romantik verstärkte das verklärteBild des »Zigeuners« eine »Entfremdung«der Mehrheitsbevölkerung gegenüber denSinti und Roma. Im wilhelminischenDeutschland wurden Sinti und Roma mitGesetzen, Verordnungen und ersten soge-nannten »Zigeunerkarteien« – wie dem inMünchen um die Jahrhundertwende ge-gründeten »Nachrichtendienst in Bezugauf die Zigeuner« – diskriminiert und ver-folgt.

Nach 1900

In der Weimarer Republik entstanden ver-schiedene »Zigeunergesetze«. Nach demRunderlass des bayerischen Innenministe-riums vom 3. November 1927 wurden bei-spielsweise von Sinti und Roma grundsätz-lich Fingerabdrücke genommen. 1929wurde im Volksstaat Hessen das »Gesetzzur Bekämpfung des Zigeunerunwesens«verabschiedet. Die gegen Sinti/Roma ge-

DIE GESCHICHTE DER SINTI UND ROMAM 9

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richtete Ausgrenzungspolitik erhielt durchdie NS-Rassenideologie der Nationalsoziali-sten eine neue Dimension. Jetzt zielten allegegen Sinti und Roma gerichteten Verord-nungen darauf ab, diese ebenso wie diejüdische Bevölkerung von der deutschenGesellschaft systematisch »abzusondern«und die »Endlösung« – wie die Nationalso-zialisten das zynisch nannten – propagan-distisch und organisatorisch vorzubereiten.»NS-Auskunftei« des »SD des ReichsführersSS« bereits 1931 in München Bereits vorihrer Machtergreifung 1933, nämlich imJahre 1931, begann die NSDAP, in einersogenannten »NS-Auskunftei« des »SD desReichsführers SS« in München Namen undDaten deutscher Sinti und Roma zu sam-meln. Damit knüpften die Nationalsoziali-sten an früheren »Zigeunergesetzen« an,zielten aber jetzt auf die totale Erfassungals Vorbereitung für die Verfolgung undVernichtung »aus Gründen der Rasse«.

Merke: Erhebungen über die beiden »auße-reuropäischen Fremdrassen« in Deutsch-land (Juden und »Zigeuner«) »aus Gründender Rasse« 1931

Nach 1933

Mit dem Jahre 1933 begannen die Versu-che, Sinti und Roma aus ihren Berufen zuverdrängen. Durch das »Berufsbeamtenge-setz« wurden Sinti und Roma aus demStaatsdienst und dann auch aus denBerufsorganisationen ausgeschlossen. DieArbeitsämter verhinderten, dass jugend-liche Sinti und Roma nach ihrem Schulab-schluss eine Lehre beginnen konnten. Sintiund Roma mussten ihre Geschäfte aufge-ben oder wurden als Arbeiter und Ange-stellte von ihren Arbeitsplätzen verdrängt.Sinti und Roma verloren ihren Anspruchauf Lohnfortzahlung bei Krankheit und anFeiertagen. Bis zu ihrer Deportation nachAuschwitz mussten Sinti und Roma 15 Pro-zent ihres Einkommens als Sonderzuschlagzur Einkommenssteuer zahlen.

»1928 wurde ich in Elbing (West-preußen) eingeschult. Dass wir Sinti-Kin-der zur damaligen Zeit Diskriminierungenirgendwelcher Art erlebt hätten, kann ichnicht sagen. Mein Vater war Musiker undInstrumentenbauer, und es ging uns nachden damaligen Verhältnissen recht gut. …

Mein Vater lehrte 1918 einen Herrn Neu-mann, der später in den Jahren 1936/37 inAllenstein (Ostpreußen) mein Lehrmeisterwar. Von meinem Vater her hatte ich natür-lich schon Talent mitgebracht; ich musstemeine Lehre jedoch nach 14 Monaten aufVeranlassung der Partei (Reichslehrin-nung) aufgeben. Als Nicht-Gelernter mus-ste ich in einer Maschinenfabrik arbeiten.«

Merke: Das »Berufsbeamtengesetz« sah vor,dass Beamte, die »nichtarischer Abstam-mung« waren, in den Ruhestand zu verset-zen sind. Das betraf Sinti und Roma in glei-cher Weise wie Juden. In der Folgezeit wur-den Sinti und Roma aus Berufsorganisatio-nen ausgeschlossen, da sie keinen »Arier-nachweis« erbringen konnten 1933

Das im Juli 1933 verabschiedete Gesetz zur»Verhütung erbkranken Nachwuchses«wurde auch auf Sinti und Roma ange-wandt, um sie zwangsweise zu sterilisieren.

Merke: Gesetz zur »Verhütung erbkrankenNachwuchses« Juli 1933

Ab 1935

Am 15. September 1935 wurde das so-genannte »Blutschutzgesetz« beschlossen,welches die Eheschließung zwischen»Ariern und Nicht-Ariern« verbot. So wur-den Heiraten zwischen Sinti/Roma undNichtsinti/ roma verboten. In der Folgezeitwurden Sinti und Roma die diesem Gesetzzuwiderhandelten, wegen »Rassenschan-de« (siehe Rassenideologie und Rassen-hygienische Forschungsstelle beim Reichs-gesundheitsamt) in Konzentrationslagerdeportiert. Selbst Nicht-Sinti, die mit Sintiverheiratet waren, waren »Verfolgungs-maßnahmen betroffen oder wurden inLager verschleppt. So wurde beispielsweiseder Sinto Wilhelm Hoff, der in Köln wohn-te, unter Androhung von KZ-Haft gezwun-gen, sich von seiner »deutschblütigen«Lebensgefährtin zu trennen. Er wurde fest-genommen und in das KonzentrationslagerBuchenwald verschleppt, wo er ermordetwurde. Seine Lebensgefährtin kam inUntersuchungshaft. Nach Kriegsbeginnwurde auch in den von Deutsch landbesetzten Gebieten entsprechende Bestim-mungen erlassen.

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Merke: 1. Ausführungsverordnung zum»Blutschutzgesetz« § 6 »Eine Ehe soll fer-ner nicht geschlossen werden, wenn ausihr eine die Reinerhaltung des deutschenBlutes gefährdende Nachkommenschaft zuerwarten ist« 14. November 1935

Ausschluss aus dem öffentlichen Leben: Am15. September 1935 wurde auf dem Nürn-berger Parteitag der NSDAP auch das soge-nannte »Reichsbürgergesetz« verkündet,welches alle Staatsbürger jüdischen Glau-bens zu Menschen mit eingeschränktenRechten herabwürdigte. Mit den »Nürnber-ger Gesetzen« und den darauf folgenden 13Durchführungsverordnungen wurden auchSinti und Roma immer mehr aus demöffentlichen Leben ausgeschlossen. In vie-len Städten durften Sinti und Roma nurnoch zu festgesetzten Zeiten und in weni-gen ausgewählten Geschäften einkaufenoder nur bestimmte Verkehrsmittel benut-zen. Vermieter wurden unter Druckgesetzt, keine Mietverträge mit Sinti undRoma mehr abzuschließen und bereitsbestehende zu lösen. Im schwäbischenReutlingen wurden beispielsweise Hausbe-sitzer, die an Sinti und Roma vermieteten,listenmäßig erfasst. Zwischen 1937 und1942 wurden Sinti und Roma aus der Wehr-macht ausgeschlossen. In vielen Orten istder Ausschluss von Sinti-Kindern und -Jugendlichen aus den öffentlichen Schulendokumentarisch belegt. Teilweise kamensie in sogenannte »Zigeunerklassen«, soz.B. in Köln in die jüdische Schule Löwen-gasse.

Merke: Runderlass des Reichs- und Preußi-schen Ministers des Inneren, Frick, »Überdas Verbot von Rassemischehen« »der Stan-desbeamte (hat) das Ehetauglichkeitszeug-nis nur zu verlangen, (wenn) eine für dasdeutsche Blut ungünstige Nachkommen-schaft (zu) befürchten (ist), z.B. bei deutsch-blütigen Personen mit Zigeunern« 26.November 1935

»Ich bin in Koblenz in die Schule gegangen.Mit sieben Jahren bin ich in die Schulegekommen, und zwar in die Thielen-Schule.Drei Jahre war ich dort in der Schule. Dasist etwas, an das ich mich genau erinnere,mein erster Tag, als ich zur Schule gehenkonnte… Zur Schule gehen zu können, dar-auf war ich stolz. Das war für mich

schlimm, sehr sehr schlimm, nicht mehrzur Schule gehen zu dürfen… die Jahre, indenen ich hätte etwas lernen können, diesind so verstrichen, ohne dass ich eine Mög-lichkeit gehabt hätte … Es war damals imMai 1940. Wir sind morgens früh, um sechs,sieben Uhr, von der Gestapo oder Kriminal-polizei, die Männer waren in Zivil, aus derWohnung herausgeholt worden. Wir sind ineine Schule gekommen, wo die ganzen Sintivon Koblenz gesammelt wurden, minde-stens 25 Familien.«

Sinti und Roma wurde auch die Auf-nahme in Krankenhäusern untersagt. Sowurden z.B. in Köln »krankenhauspflege-bedürftige Zigeuner in allen Fällen demisraelitischen Asyl in Köln-Ehrenfeld über-wiesen«. Auch der Besuch von Lokalen,Kinos oder Theatern war vielerorts ver-boten.

»Ich wollte mal mit den anderen Kolle-gen ins Kino gehen. Und der T. (Gestapo-mann, Verf.) stand an der Kasse. Er hatmich nicht ins Kino gelassen. ›Für Dich istdas verboten. Du weißt das doch. Du bistdoch ein Zigeuner.‹ Ich habe noch gesagt,dass ich die gleichen Pflichten wie jederDeutsche (habe), mein Vater ist Soldat, derist an der Front, dann möchte ich auch diegleichen Rechte haben wie jeder Deutsche.Dann hat er zu mir gesagt: ›Kerl, hau ab,sonst schlage ich Dir in die Fresse.‹ Danachbin ich nie wieder zum Kino gegangen. Derhätte mich schon vorher ins KZ bringen las-sen …

Aus dem Kommentar zu den sogenann-ten »Nürnberger Gesetzen« von Stuckartund Globke: »Grundsätzlich sollen nurStaatsangehörige deutschen oder artver-wandten Blutes das Reichsbürgerrechterlangen (…) Artfremdes Blut ist alles Blut,das nicht dem deutschen Blute verwandtist. Artfremdes Blut sind in Europa regel-mäßig nur Juden und Zigeuner. Artfremdeerhalten das Reichsbürgerrecht grundsätz-lich nicht.« 1936

Ausführungserlass von Reichsinnenmi-nister Frick: »Zu den artfremden Rassengehören in Europa außer den Juden regel-mäßig nur die Zigeuner.« 3. Januar 1936

Auf Grund des »Reichsbürgergesetzes«vom 15.9.1935 wurde Sinti und Roma dasWahlrecht entzogen.

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Nach 1943

»2. Verordnung über die Deutsche Volksli-ste und die deutsche Staatsangehörigkeit inden eingegliederten Ostgebieten« »Juden,Zigeuner sowie jüdische Mischlinge« erfül-len die Voraussetzungen zur Aufnahme indie Deutsche Volksliste grundsätzlich nicht,»ohne dass es einer bestimmten Feststel-lung bedarf.« 31.Januar 1942

In der 12. Verordnung vom 25.4.1943wurde Sinti und Roma, nachdem sie ohne-hin schon nur den minderen Rechtsstatusals »Staatsangehörige des Deutschen Rei-ches« hatten, auch dieser aberkannt. Zudiesem Zeitpunkt waren bereits fast alledeutschen Sinti und Roma in das Vernich-tungslager Auschwitz-Birkenau deportiertworden.

Kommunale Konzentrationslager fürSinti und Roma: Vor den Olympischen Spie-len in Berlin im Jahre 1936, wurde alserstes kommunale NS-Zwangslager fürSinti und Roma das Lager Berlin-Marzahnerrichtet. In den folgenden Jahren wurdenderartige Lager in vielen deutschen Städteneingerichtet, so in Köln, Düsseldorf, Kiel,Frankfurt/Main. Erklärtes Ziel war die voll-ständige Isolation der Minderheit. JederKontakt zur übrigen Bevölkerung sollteunterbunden werden. Zugleich dienten diekommunalen Konzentrationslager als Sam-mellager für die späteren Deportationen.

»In einem großen Lastauto wurden wiralle gemeinsam zu einem Internierungsla-ger für Sinti und Roma in die Dieselstraße(Frankfurt/M.) gebracht. Meine Familie,die zuvor in einer Fünfzimmerwohnunggewohnt hatte, wurde gezwungen, in einemprimitiven Bauwagen zu leben. Dort gab eskein Licht, kein Gas, keine Elektrizität, garnichts. Es waren keine Toiletten vorhan-den, kein Wasser – es war grausam. Es gabnur einen alten Tisch, zwei Stühle, und hin-ten waren zwei Bretter aufgestellt, das soll-te offenbar das Schlafzimmer sein, für neunPersonen. Die beiden HauptwachtmeisterHimmelheber und Maiwald haben unsereNamen notiert und uns zu den Bauwagengebracht. Jeden Abend mussten wir raus-treten zum Appell, wo wir alle durchgezähltwurden; ab 10 Uhr musste absolute Ruhesein. Während der Nacht sind Polizeistrei-fen mit Hunden gelaufen, damit niemandüber den Zaun, mit dem das Lager umge-ben war, fliehen konnte. Für uns Kinder

gab es ein generelles Verbot, das Lager zuverlassen.«

»Betr.: Umsiedlung von Zigeunern« »DieVerschubung der in Mainz zurückgebliebe-nen Zigeuner und Zigeunerinnen, insge-samt 16 Personen, erfolgt am 24.6.40. Ein-treffen in Frankfurt/M. Zigeunerlager, Die-selstraße 40: 24.6.40 um 9 Uhr« 20. Juni1940

Antiziganistische Hetzpropaganda: DieNationalsozialisten nutzten Presse, Funk,Film und Schulbücher zur Schürung desAntiziganismus. Sinti und Roma wurdensystematisch rassistisch diffamiert undkriminalisiert. So sollten sie nach undnach von ihren Nachbarn isoliert werden;die Deportationen von Isolierten und Ver-femten war so für das Regime ohne Risikodurchzuführen. Sie mussten keine Solida-risierung der Bevölkerung mit den Verfolg-ten befürchten.

Anordnung von ReichsinnenministerFrick für die Presse: In »allen Fällen, indenen strafbare Handlungen von Juden be-gangen (worden), sind, (ist) dies auchbesonders zum Ausdruck zu bringen«.7. Dezember 1935

Dies wurde in gleicher Weise auf Sintiund Roma angewandt.

Stereotypen der sogenannten »rassi-schen Fremdheit« als scheinbare Rechtfer-tigung dieser Hetze gegen Sinti und Romawaren in der Öffentlichkeit weit verbreitet,in der NS-Presse ebenso wie in medizini-schen Fachzeitschriften oder in den Lehr-büchern der Schulen. So hieß es zum Bei-spiel in Zeitungsartikeln: »Zigeuner undAffen«, »Fremdlinge unter uns«, »Wir kön-nen mitten unter uns keine Fremdkörperdulden«, »Ratten, Wanzen und Flöhe sindauch Naturerscheinungen, ebenso wie dieJuden und die Zigeuner«. Die Sprache die-ser Hetzartikel – in denen Sinti und Romaals »minderwertig« diffamiert und auf eineStufe mit Tieren gestellt wurden – nimmtbereits jene Entmenschlichung vorweg, diewenige Jahre später in den Vernichtungs-lagern grausame Realität werden sollte.Jahrelange Indoktrination der Bevölke-rung durch NS-Journalisten und -Autorentrug dazu bei, ein gesellschaftliches Klimazu schaffen, in welchem die Verschleppungder Sinti und Roma aus ihren Heimatortenin die Lager und ihre Ermordung schließ-lich ohne Proteste hingenommen wurde.Die öffentliche Präsenz des antiziganisti-

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schen »Zigeuner-»Bildes – nicht nur in derNS-Propaganda – förderte insofern nach-haltig die staatlichen Verfolgungsmaßnah-men.

Schritte zur »endgültigen Lösung derZigeunerfrage: Durch eine Kombinationvon Gesetzen und Maßnahmen auf Reich-sebene mit zahllosen regionalen oder loka-len Verordnungen und Bestimmungengegen Sinti und Roma wurde deren Le-benskreis systematisch immer weiter ein-geengt. Schließlich wurde ihnen das Exis-tenzrecht abgesprochen. Die zahllosengegen Sinti und Roma gerichtete Sonderbe-stimmungen werden in überlieferten Aktensichtbar und lassen vielleicht erahnen, wases für die Betroffenen bedeutete, tagtäglicheiner nahezu schrankenlosen Willkür aus-geliefert zu sein. Parteistellen, staatlicheStellen und sogenannte »Rasseforscher« imDienste der »rassenideologischen« Zielset-zung der Nationalsozialisten arbeiteten engzusammen, um Sinti und Roma zu erfas-sen, auszugrenzen, zu kennzeichnen, zudeportieren und zu vernichten. Als Hein-rich Himmler, Reichsführer SS und Chefder Deutschen Polizei, in einem Runderlassvom 8. Dezember 1938 erklärte, die »Rege-lung der Zigeunerfrage aus dem Wesen derRasse heraus in Angriff zu nehmen«, warenbereits viele Sinti und Roma in die Konzen-trationslager Dachau, Buchenwald, Sach-senhausen und Mauthausen deportiertworden. Bis zum Mai 1945 wurden hun-derttausende Sinti und Roma Opfer desHolocaust.

»Wir sind in solchen Viehwaggons nachPolen gekommen, das heißt in das be-setzte Polen, in das Generalgouvernement,wie es die Nazis nannten. Der Transportging über Köln, dort war eine der zentralenSammelstellen für Westdeutschland. Inden Kölner Messehallen waren hunderteSinti zusammengebracht worden, und vondort aus ging der Zug nach Polen. Ichwar zehn Jahre alt, an viele Einzelheitenkann und will ich mich nicht mehr entsin-nen …«

Runderlass: Es sei »die Regelung derZigeunerfrage aus dem Wesen der Rasseheraus in Angriff zu nehmen.« Die »Fest-stellung« der »Zigeuner«-Zugehörigkeittreffe das »Reichssicherheitshauptamt«aufgrund Robert Ritters »Rassegutachten«8. Dezember 1938.➋

Nach 1945

Ausgebürgert, enteignet und mittelloskehrten die Überlebenden in ihre Heimatzurück. (…) Angesichts der ohnehin schwie-rigen ökonomischen Lage in der Nach-kriegszeit kann die Situation der Minder-heit nur als absolut desolat bezeichnet wer-den. Entschädigungsleistungen wären indieser Lage nicht nur eine moralische Aner-kennung, sondern vielmehr eine notwendi-ge Grundlage künftiger Existenzsicherunggewesen. Allein, sie blieben aus.

Bereits im Februar 1950 gab der Finanz-minister von Baden-Württemberg mit sei-nem Runderlass E 19 folgende Anwei-sung an die Wiedergutmachungsbehördenheraus, den Rose im folgenden zitiert: »DiePrüfung der Wiedergutmachungsberechti-gung der Zigeuner und Zigeunermischlinge(so der alte Nazijargon R.R.) nach den Vor-schriften des Entschädigungsgesetzes hatzu dem Ergebnis geführt, dass der genanntePersonenkreis überwiegend nicht aus rassi-schen Gründen, sondern wegen seiner aso-zialen und kriminellen Haltung verfolgtund inhaftiert worden ist. Aus diesen Grün-den ordnen wir hiermit an, dass Wieder-gutmachungsanträge von Zigeunern undZigeunermischlingen zunächst dem Lan-desamt für Kriminalerkennungsdienst inStuttgart zugeleitet werden.«

Solche und ähnliche ministerielle An-weisungen entstanden nach 1945 vor allemauf Betreiben derjenigen Polizeibeamten,die unter Himmler im RSHA für die Depor-tationen verantwortlich waren. Das hatteernste Folgen für die Betroffenen; RomaniRose dokumentiert ein Beispiel: »Als AnnaEckstein 1951 in Karlsruhe einen Antragauf Wiedergutmachung stellt, wird sie vonder Kriminalpolizei vorgeladen und stehtplötzlich vor Leo Karsten, dem ehemaligenSS-Mann und Leiter der ›Dienststelle fürZigeunerfragen‹ im Berliner Polizeipräsidi-um. (…) Wie damals wird sie erkennungs-dienstlich behandelt. (…) In den ›altenZigeunerakten‹ finden sich auch ihreDeportationsnummer und sämtliche Anga-ben über ihre Familie. Am Ende wird AnnaEcksteins Antrag mit der Bemerkung abge-lehnt, dass sie im Mai 1940 ja doch lediglich›aus Sicherheitsgründen‹ nach Polen ›eva-kuiert‹ worden sei.«

Die Wiedergutmachungsämter hattensich für die erforderlichen Gesundheitsun-

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tersuchungen an Ärzte und Gutachtergewandt, an die Sinti und Roma furchtbareErinnerungen hatten; viele waren an denrassehygienischen Untersuchungen betei-ligt gewesen oder vertraten biologistischeErklärungsmodelle. Sie traten bis in diesechziger Jahre hinein in Wiedergut-machungsverfahren als Gutachter auf. IhreAblehnungsstrategien variierten z.B. darin,dass Verfolgungsschäden als »anlagebe-dingt« zurückgewiesen wurden oder indemregelmäßig eine verfolgungsbedingte Er-werbsminderung von weniger als 25 % be-scheinigt wurde. In diesen Fällen konntendie Behörden Renten oder Vergleichszah-lungen für Gesundheitsschäden ablehnen.

Das antiziganistische Skandalurteil desBundesgerichtshofes (BGH) vom Januar1956 wies die Ansprüche einer Überleben-den ab, indem ihre Deportation als, Um-siedlung‹ gewertet wurde, die keine na-tionalsozialistische Gewaltmaßnahme imSinne des § 1 des Bundesentschädigungs-gesetzes darstelle. In der Urteilsbegrün-dung wird der antiziganistische Gehaltoffenkundig: »Die Zigeuner neigen zur Kri-minalität, besonders zu Diebstählen undzu Betrügereien. Es fehlen ihnen vielfachdie sittlichen Antriebe zur Achtung vorfremdem Eigentum, weil ihnen wie primiti-ven Urmenschen ein ungehemmter Okku-pationstrieb eigen ist.« (…)

Der Bundestag eröffnete 1965 durcheine entsprechende Gesetzesänderung eineerneute Antragsmöglichkeit für die »Zigeu-ner, deren Entschädigungsanspruch für diezwischen 1938 und 1943 erlittene Verfol-gung aufgrund des BGH-Urteils von 1956rechtskräftig abgelehnt worden ist, …« (…)

Als die Bürgerrechtsbewegung der Sintiund Roma ab 1979 mit einer Kundgebungim ehemaligen KZ Bergen-Belsen und be-sonders 1980 mit einem Hungerstreik imKZ Dachau zunehmend öffentliche Auf-merksamkeit fand, veranlasste dies denBundestag 1981, eine außergesetzliche Re-

gelung in Form einer Pauschalentschädi-gung von bis zu DM 5.000,– für bisher nochnicht entschädigte und noch lebende Ver-folgte des NS-Regimes zu treffen: Die soge-nannte »Härteregelung«, ein Fond, überden der Bundesfinanzminister nach denvom Parlament festgelegten Richtlinienentscheidet. Die »Härteregelung« von 1981schließt aber von den Nazis verfolgte Sintiund Roma, die bereits vom alten Entschädi-gungsgesetz wegen den NS-Kategorien wie»Spione«, »Asoziale« u.a. abgelehnt wurdenoder auch nur so erstaunliche Entschädi-gungssummen wie DM 53,– oder DM 124,–(als Rückerstattung »Rassen-Sondersteuer«bei der Lohnsteuer) erhalten hatten, vonneuem aus. Erst in den letzten Jahren ist ineinigen Bundesländern eine veränderteWiedergutmachungspolitik sichtbar gewor-den.

Mit einer kleinen Pauschale wurden2001 und 2002 Zwangsarbeiter entschädigt,die noch immer lebten und für die entspre-chende Nachweise vorlagen, außerdem, werin Auschwitz und anderen Konzentrations-lagern war, dies belegen konnte und bislangkeinerlei Entschädigung erhalten hatte.

Wer jedoch vom Schulbesuch ausge-schlossen und deportiert wurde, aber ent-kam, bekommt für die Zeit der Ausgren-zung bis heute nichts. Die Beweislast liegtbeim Antragsteller.➌

Zusammengestellt aus Texten von Daniel Strauß:1 Geschichte antiziganistischer Verfolgung, in:

Landesinstitut für Erziehung und Unterricht(Hg.), Antiziganismus. Geschichte und Gegen-wart deutscher Sinti und Roma, Stuttgart 2002,S. 142.

2 Ebd., S. 42-46.3 »da muss man wahrhaft alle Humanität aus-

schalten …«. Zur Nachkriegsgeschichte derSinti und Roma in Deutschland, in: Landeszen-trale für politische Bildung Baden-Württembergund Verband Deutzscher Sinti und Roma, Lan-desverband Baden-Württemberg (Hg.), »Zwi-schen Romantisierung und Rassismus«, Sintiund Roma, 600 Jahre in Deutschland, Stuttgart1998.

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1931Beginn der Erhebungen über die beiden »außereuropäischen Fremdrassen« inDeutschland (Juden und »Zigeuner«) durch die »NS-Auskunftei« des »SD des Reichs-führers SS« in München.

1933Forderung des »Rasse- und Siedlungsamtes« der SS in Berlin, die »Zigeuner undZigeunermischlinge« zu sterilisieren. In der Folgezeit Berufsverbote und zahlreicheweitere Maßnahmen zur Ausgrenzung der Minderheit aus allen Bereichen des öffent-lichen Lebens.

15. September 1935Verkündung der »Nürnberger Rassegesetze«. Dazu Reichsinnenminister Frick am 3.Januar 1936: »zu den artfremden Rassen gehören … in Europa außer den Judenregelmäßig nur die Zigeuner«. Die Heirat von Sinti mit Nicht-Sinti wird verboten.«

November 1936Einrichtung der »Rassenhygienischen Forschungsstelle« unter Leitung von Dr. RobertRitter im Reichsinnenministerium.

August 1938Himmlers »Rassenforscher« Dr. Adolf Würth: »Die Zigeunerfrage ist für uns heute inerster Linie eine Rassenfrage. So wie der nationalsozialistische Staat die Judenfragegelöst hat, so wird er auch die Zigeunerfrage grundsätzlich regeln müssen.«

13.–18. Juni 1938Weitere Deportationen nach dem Kriterium »Zigeuner, erwachsen und standesamt-lich nicht verheiratet« in die Konzentrationslager Sachsenhausen, Dachau,Buchenwald und später nach Mauthausen.

1. Oktober 1938Übernahme der NS-»Zigeunerpolizeistelle« München in das Reichskriminalpolizeiamt(ab 27.9.1939 Amt V des »Reichssicherheitshauptamtes«, RSHA) unter Leitung vonSS-Oberführer Arthur Nebe, dem nun auch Ritter untersteht. Die Deportation derJuden und »Zigeuner« führt Adolf Eichmann im Amt IV, B4 durch. Die Gestapo ziehtdas bei den Deportationen geraubte Vermögen der Sinti und Roma ein.

Dezember 1938Himmlers »Grunderlass«: Es sei »die Regelung der Zigeunerfrage aus dem Wesen derRasse heraus in Angriff zu nehmen«. Die »Feststellung« der »Zigeuner«-Zugehörigkeiterfolgt aufgrund Ritters »Rassegutachten«.

März 1939Im »Altreich« werden Verordnungen zur besonderen Kennzeichnung der Sinti undRoma erlassen und besondere »Rasseausweise« ausgegeben. Später werden auch inden besetzten Gebieten entsprechende Vorschriften für Sinti und Roma verfügt: IhreAusweise werden mit einem »Z« versehen; vielerorts müssen sie wie die Juden beson-dere Armbinden tragen.

21. September 1939Besprechung des Amtschefs der Sicherheitspolizei und der Leiter der Einsatzgruppenunter Vorsitz Heydrichs zur Vorbereitung der Deportation der »restlichen 30.000Zigeuner« aus dem Reichsgebiet ins besetzte Polen.

CHRONOLOGIEDES VÖLKERMORDES AN SINTI UND ROMAM 10

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13. Oktober 1939SS-Hauptsturmführer Braune benachrichtigt Eichmann, SS-Oberführer Nebe bitte»um Auskunft, wann er die Berliner Zigeuner schicken kann«.

16. Oktober 1939Der »SD Donau« teilt SS-Oberführer Nebe mit, dem ersten, am 20. Oktober 1939 vonWien abgehenden »Judentransport können drei bis vier Waggon Zigeuner angehängtwerden. Transporte gehen regelmäßig von Wien, Mährisch-Ostrau und Kattowitz ab.«

17. Oktober 1939Himmlers »Festschreibungserlass«. Allen Sinti und Roma wird unter Androhung vonKZ-Haft verboten, ihre Heimatorte zu verlassen. Die dem »Reichssicherheitshaupt-amt« unterstellten 21 »Zigeunerleitstellen« von Königsberg, Prag, Wien, München bisHamburg haben KZ-ähnliche Sammellager zur Vorbereitung der Abtransporte in dieKonzentrationslager einzurichten.

30. Januar 1940Konferenz Heydrichs mit SS-Führern zur Deportation von »sämtlichen Juden derneuen Ostgaue und 30.000 Zigeunern aus dem Reichsgebiet in das Generalgouverne-ment«.

27. April 1940Himmlers Anordnung zur Deportation von 2500 deutschen Sinti und Roma in dasbesetzte Polen. Die Deportationszüge mit den Sinti- und Roma-Familien in das»Generalgouvernement« gehen im Mai von Hamburg Köln und Hohenasperg beiStuttgart ab.

1940Im KZ Lackenbach südlich von Wien ermordete Sinti und Roma werden auf dem jüdi-schen Friedhof in Massengräbern beerdigt, die anderen 1941 über das Ghetto vonLodz in das Vernichtungslager Chelmno deportiert.

7. August 1941 Erlass Himmlers: Über weitere KZ-Deportationen deutscher Sinti und Roma »ent-scheidet das Reichskriminalpolizeiamt aufgrund eines Rassegutachtens«. Die »Ras-senhygienische Forschungsstelle« erstellt bis Ende 1944 rund 24.000 »Gutachten«.

Ab Sommer 1941Sinti und Roma werden hinter der Ostfront systematisch von den sogenannten Ein-satzgruppen sowie Einheiten der Wehrmacht und der Ordnungspolizei erschossen.SS-Einsatzgruppenleiter Otto Ohlendorf am 15. September 1947 im NürnbergerKriegsverbrecherprozess: »Es bestand kein Unterschied zwischen den Zigeunern undden Juden, für beide galt damals der gleiche Befehl.«

10. Oktober 1941Besprechung unter der Leitung Heydrichs »über die Lösung der Judenfrage« und »diezu evakuierenden Zigeuner« im »Protektorat Böhmen und Mähren«.

Januar 1942Die letzten überlebenden Sinti und Roma aus dem Ghetto Lodz werden im Vernich-tungslager Chelmno in Vergasungswagen ermordet. Im Februar werden alle ost-preußischen Sinti- und Roma-Familien, meist Bauern mit Höfen und Vieh, in das KZBialystok und von dort 1943 nach Auschwitz deportiert.

7. Juli 1942Der Reichskommissar für das »Ostland« über die »Zigeuner«: »Ich bestimme, dass siein der Behandlung den Juden gleichgestellt werden.«

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29. August 1942Aufzeichnung der deutschen Militärverwaltung in Serbien: Dort sei u. a. mit Hilfe vonVergasungswagen die »Judenfrage und die Zigeunerfrage gelöst«.

14. September 1942Reichsjustizminister Thierack protokolliert zur Besprechung mit Goebbels: »Hin-sichtlich der Vernichtung asozialen Lebens steht Dr. Goebbels auf dem Standpunkt,dass Juden und Zigeuner: schlechthin vernichtet werden sollen. Der Gedanke der Ver-nichtung durch Arbeit sei der beste.« Am 18. September 1942 erörtert Thierack mitHimmler, Streckenbach und anderen SS-Führern die Durchführung des Programmsin SS-Unternehmen, deutschen Rüstungsbetrieben und Konzentrationslagern.

2. Dezember 1942Geheimes Schreiben des Leiters der Partei-Kanzlei, Martin Bormann, aus dem »Füh-rerhauptquartier« an Himmler im »Reichssicherheitshauptamt«, »der Führer würdees nicht billigen«, einzelne »Zigeuner« für die »Erforschung germanischen Brauch-tums« von den »derzeitigen Maßnahmen« der Vernichtung auszunehmen.

16. Dezember 1942Himmlers »Auschwitz-Erlass« für die Deportation von 22.000 Sinti und Roma ausEuropa, davon die letzten J 10.000 aus dem Reichsgebiet, in den als »Zigeunerlager«bezeichneten Abschnitt des KZ Auschwitz-Birkenau.

Mai 1943Dr. Josef Mengele wird SS-Lagerarzt von Auschwitz. Als erstes schickt er mehrerehundert Sinti und Roma ins Gas. Seine von der Deutschen Forschungsgemeinschaftund dem Kaiser-Wilhelm-Institut geförderte »Zwillingsforschung« setzt er durchTötung von Juden- und Sinti-Kinder fort.

16. Mai 1944Der Versuch der KZ-Kommandantur, die noch lebenden 6000 Sinti und Roma des»Zigeunerlagers« in die Gaskammern zu bringen, scheitert am Widerstand der mitSpaten, Stangen und Steinen sich wehrenden Männer.

2. August 1944Auflösung des »Zigeunerlagers« in Auschwitz-Birkenau. Von den im Juli 1944 nochlebenden 6000 Sinti und Roma werden 3000 in andere Konzentrationslager depor-tiert, die anderen 3000 – meist Kinder, Frauen und Alte – werden in der Nacht aufden 3. August in den Gaskammern ermordet.

Mai 1945Die Zahl der in Europa bis Kriegsende in Konzentrationslagern und von SS-»Ein-satzgruppen« ermordeten Roma und Sinti wird auf eine halbe Million geschätzt. Vonden durch die Nazis erfassten40.000 deutschen und österreichischen Sinti und Roma wurden über 25.000 ermordet.

Aus: Romani Rose (Hg.): »Den Rauch hatten wir täglich vor Augen«. Der nationalsozialistische Völkermord anden Sinti und Roma, Heidelberg 1999, S. 362–365.

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Mit diesem Begriff, der erst in den 1980erJahren geprägt wurde, werden spezifischeVorurteile gegen die Minderheit der Sinti undRoma bezeichnet, die weitaus massiver, lang-lebiger und ausgrenzender sind als die gegenandere nationale, ethnische und religiöseMinderheiten. Es handelt sich dabei nichteinfach um eine beliebige Form der Vorbehal-te gegenüber Fremden, sondern um ein nebendem Antisemitismus zweites Grundmusterder Xenophobie. Mit Antiziganismus bezeich-net man sowohl die Gegnerschaft gegenüberSing und Roma im Rahmen politischer Bewe-gungen mit nationalistischen und rassisti-schen Programmen als auch die Gesamtheitder Bilder und Mythen vom »Zigeuner«, diegängigen Klischees, die Bestandteil des kultu-rellen Erbes in Literatur, Musik usw. gewor-den sind. Der traditionelle Antiziganismusgreift auf jahrhundertealte, überwiegendnegative Stereotypen zurück. Die politischeKonsequenz dieses Antiziganismus Ende des15. Jahrhunderts waren u.a. Verordnungenund Erlasse, nach denen Sinti als »Vogelfreie«jederzeit straffrei ausgepeitscht, eingesperrtoder getötet werden konnten. Auf ökonomi-schem Gebiet führte Antiziganismus zurNichtaufnahme in die Zünfte, zum Verbot desErwerbs von Grundbesitz. Der rassistischeAntiziganismus des 19. und 20. Jahrhundertsorientierte sich nicht mehr an den alten Sche-mata antiziganistischer Vorurteilsbildung.

Die nationalsozialistischen Völkermordver-brechen gründeten in einer Verwissenschaftli-chung des Rassismus. Erst der biologistischeRassenbegriff hat das Umschlagen der tradi-tionellen Zigeunerdiskriminierung in die Ver-nichtungs- und Völkerrmordpolitik des natio-nalsozialistischen Regimes ermöglicht. Auchnach 1945 existierte eine auf Antiziganismusbegründete Politik. Diese kam unter anderemin der Fortführung von »Zigeuner-» und»Landfahrer«-Karteien, in der jahrzehntelan-gen Verweigerung von Wiedergutmachungs-leistungen – zum Teil mit offen rassistischenArgumenten, wie sie sich beispielsweise ineinem Urteil des Bundesgerichtshofes von1956 zeigten und nicht zuletzt in der Leug-nung eines systematischen Völkermordes anden Sinti und Roma zum Ausdruck kommen.Mit der sogenannten Zigeunerforschung, dienach 1945 in den überlieferten antiziganisti-schen Traditionen fortgeführt wurde, wurdeder Versuch unternommen, antiziganistischeBilder mit Hilfe der Völkerkunde zu verlegen.Sinti/Roma werden so zu Studienobjektengemacht.

Umfragen von Meinungsforschungsinstru-menten belegen bis heute einen erheblichenAnteil von Hass und Vorurteilen bei der Mehr-heitsentwicklung gegenüber Sinti/Roma. Nacheiner EMNID-Umfrage von 1994 bekanntensich 68 % der Befragten offen zu ihren Vorur-teilen gegenüber »Zigeunern«.

ANTIZIGANISMUSM 12

Alltagsrassismus ist die Übernahme von Ras-sismus in alltägliche Situationen durch Denk-und Handlungsformen, die die dahinter lie-genden Machtstrukturen stabilisieren undverfestigen. Es handelt sich dabei um einenununterbrochenen Prozess, bei dem Rassis-mus in all seinen Ausformungen nicht mehrbefragt wird und von den dominierendenGruppen als »normal« und allgemein ge-bräuchliches Verhaltensmuster betrachtetwird.

Allein in der Sprache finden sich viele häu-fig gebrauchte Redewendungen, die z.B.Migrantinnen und Migranten, Frauen oderBehinderte diskriminieren (…).

Eine typische Rassismusfalle beginnt z.B.auch mit dem Wörtchen »aber«: »Ich habe zwar

nichts gegen Afrikaner, aber…« . Deutlich wirdder eingeleitete Widerspruch zu dem vorhergesagten, bei dem wir – fast ohne es zu merken– plötzlich die Gegenposition beziehen.

Wenn rassistische Vorstellungen undHandlungen das tägliche Leben durchziehenund zum Bestandteil der Aufrechterhaltunggesellschaftlichen Lebens werden, dann hatdie Gesellschaft begonnen, Alltagsrassismuszu produzieren und ihn zu rechtfertigen.Aus der Broschüre »Rassismus begreifen. Was ichimmer schon über Rassismus und Gewalt wissenwollte«, hg. u.a. von der Aktion Courage – SOS Ras-sismus/Schule ohne Rassismus in Bonn und derArbeitsgruppe SOS Rassismus NRW (c/o Amt fürJugendarbeit der Evangelischen Kirchen von West-falen, Ralf-Erik Posselt, Haus Villigst, 58239Schwerte), Villigst 1997, S. 19

ALTAGSRASSISMUSM 11

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Rassismus ist der Glaube, dass menschlichePopulationen sich in genetisch bedingtenMerkmalen von sozialem Wert unterschei-den, so dass bestimmte Gruppen gegenüberanderen höherwertig oder minderwertigsind. Es gibt keinen überzeugenden wissen-schaftlichen Beleg, mit dem dieser Glaubegestützt werden könnte.Die Revolution in unserem Denken überPopulationsgenetik und molekularer Gene-tik hat zu einer Explosion des Wissens überLebewesen geführt. Zu den Vorstellungen,die sich tiefgreifend gewandelt haben,gehören die Konzepte zur Variation desMenschen. Das Konzept der »Rasse«, dasaus der Vergangenheit in das 20. Jahrtau-send übernommen wurde, ist völlig obsoletgeworden. Dessen ungeachtet ist diesesKonzept dazu benutzt worden, gänzlichunannehmbare Verletzungen der Men-schenrechte zu rechtfertigen. Ein wichtigerSchritt, einem solchen Missbrauch geneti-scher Argumente vorzubeugen, bestehtdarin, das überholte Konzept der »Rasse«durch Vorstellungen .und Schlussfolgerun-gen zu ersetzen, die auf einem gültigen Ver-ständnis genetischer Variationen beruhen,das für menschliche Populationen ange-messen ist.

»Rassen« des Menschen werden traditio-nell als genetisch einheitlich, aber unter-einander verschieden angesehen. DieseDefinition wurde entwickelt, um mensch-liche Vielfalt zu beschreiben, wie sie bei-spielsweise mit verschiedenen geographi-schen Orten verbunden ist. Neue, auf denMethoden der molekularen Genetik undmathematischen Modellen der Populations-genetik beruhende Fortschritte der moder-nen Biologie zeigen jedoch, dass diese Defi-nition völlig unangemessen ist. Die neuenwissenschaftlichen Befunde stützen nichtdie frühere Auffassung, dass menschlichePopulationen in getrennte »Rassen« wie»Afrikaner«, »Eurasier« (einschließlich ein-geborener Amerikaner) oder irgendeinegrößere Anzahl von Untergruppen klassifi-ziert werden könnten.

Im einzelnen können zwischen denmenschlichen Populationen, einschließlichkleineren Gruppen, genetische Unterschie-de festgestellt werden. Diese Unterschiede

vergrößern sich im allgemeinen mit dergeographischen Entfernung, doch diegrundlegende genetische Variation zwi-schen Populationen ist viel weniger ausge-prägt. Das bedeutet, dass die genetischeDiversität beim Menschen gleitend ist undkeine größere Diskontinuität zwischen denPopulationen anzeigt. Befunde, die dieseSchlussfolgerungen stützen, widerspre-chen der traditionellen Klassifikation in»Rassen« und machen jedes typologischeVorgehen völlig unangemessen. Darüberhinaus hat die Analyse von Genen, die inverschiedenen Versionen (Allelen) auftre-ten, gezeigt, dass die genetische Variationzwischen den Individuen innerhalb jederGruppe groß ist, während im Vergleichdazu die Variation zwischen den Gruppenverhältnismäßig klein ist.

Es ist leicht, zwischen Menschen ausverschiedenen Teilen der Erde Unterschie-de in der äußeren Erscheinung (Hautfarbe,Morphologie des Körpers und des Gesichts,Pigmentierung etc.) zu erkennen, aberdie zugrundeliegende genetische Variationselbst ist viel weniger ausgeprägt. Obwohles angesichts der auffälligen genetischdeterminierten morphologischen Unter-schiede paradox erscheint, sind die geneti-schen Variationen in den zugrundeliegen-den physiologischen Eigenschaften undFunktionen sehr gering, wenn Popula-tionsdurchschnitte betrachtet werden. Mitanderen Worten: die Wahrnehmung vonmorphologischen Unterschieden kann unsirrtümlicherweise verleiten, von diesen aufwesentliche genetische Unterschiede zuschließen. Befunde deuten daraufhin, dasses im Verlauf der Evolution des modernenMenschen relativ wendig Veränderungenin der genetischen Grundausstattung derPopulation gegeben hat. Die molekularenAnalysen von Genen legen außerdem sehrnahe, dass der moderne Mensch sich erstvor kurzer Zeit in die bewohnbaren Gebieteder Erde ausgebreitet hat und an diesemProzess während einer relativ kurzen Zeit-spanne an sehr unterschiedliche und zu-weilen extreme Umweltbedingungen ange-passt worden ist (z.B. an rauhes Klima).Die Notwendigkeit der Anpassung anextreme unterschiedliche Umweltbedin-

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RASSISMUSM 13

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gungen hat nur in einer kleinen Unter-gruppe von Genen, die die Empfindlichkeitgegenüber Umweltfaktoren betrifft, Verän-derungen bewirkt. Es ist wert zu erwäh-nen, dass die Anpassungen als Antwort aufUmweltbedingungen größtenteils histo-risch zu verstehen sind und keine Kon-sequenzen für das Leben in der modernenZivilisation haben. Nichtsdestowenigerwerden sie von einigen so ausgelegt, alsspiegelten sie wesentliche Unterschiedezwischen Menschengruppen wider, wo-durch sie zum Konzept der »Rassen« bei-tragen.

Nach wissenschaftlichem Verständnisist die Einteilung von Menschen anhandder Verteilung von genetisch determinier-ten Faktoren daher einseitig und fördert

das Hervorbringen endloser Listen vonwillkürlichen und missleitenden sozialenWahrnehmungen und Vorstellungen. Darü-ber hinaus gibt es keine überzeugendenBelege für »rassische« Verschiedenheit hin-sichtlich Intelligenz, emotionaler, motiva-tionaler oder anderer psychologischer unddas Verhalten betreffender Eigenschaften,die unabhängig von kulturellen Faktorensind. Es ist allgemein bekannt, dass be-stimmte genetisch bedingte Merkmale, diein einer Lebenssituation nützlich sind, ineiner anderen nachteilig sein können.

Erklärung von 16 internationalen Biologen undGenetikern, übers. von Ulrich Kattmann. Aus: »DieBrücke« Forum für antirassistische Politik und Kul-tur, Heft 1997/2 Seite 23 f.

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A Noch ein Bier bitte! (Kellner bringt Bier)Bin ich froh, dass das mit der Anzeigewegen Volksverhetzung nicht in unse-rem eigenen Faschingsumzug war! Gut,»Zack, zack, Zigeunerpack« wie hier,steht auf unserem Wagen nicht. Aber als»Zigeuner« Verkleidete haben wir auchdabei.

C Halt! Das Wort »Zigeuner« ist einSchimpfwort, das viele Sinti in Deutsch-land verletzt.Das Wort gibt es in ihrer Sprache nicht.Sie nennen sich stattdessen Sinti undRoma und wollen als solche geachtetsein. (Sie wollen doch auch nicht nurunter einem Schimpfwort »rangieren«oder?)

A Entschuldigung, so war das nichtgemeint. Ich halte mich da raus.

B Anders herum, der die Anzeige erstattethat, kann froh sein, dass das nicht beiuns war. Der hätte sonst von mir »einsauf den Deckel« bekommen! Undschließlich bieten sie doch mittags hierauch scharfe »Zigeunerschnitzel« anund lassen »Zigeunermusik« laufen,oder? Darf man das denn alles nichtmehr sagen?

A Ich glaube, die haben sich einfach nichtsdabei gedacht.

C Das ist ja das Problem, dass die Leutenicht daran denken, was sie bei denOpfern anrichten. Wer durch 68 Prozentder Bevölkerung diskriminiert wird undvon wessen Angehörige durch Deutscheunter ähnlichen Slogans verfolgt undermordet worden sind, für den hat auchbeim Fasching an dieser Stelle der Spaßein Ende.

B Das sind mir schöne Opfer. Es hat michmal so eine betrogen und mir das Blauevom Himmel herunter wahrgesagt. Diehat mir Glück versprochen und jetzt hatmich meine Alte doch sitzen lassen.

C Wie reden Sie denn von ihrer Frau? Undwoher wissen sie denn, dass jene Frauauf dem Jahrmarkt von den Sinti war?

B Das sieht man doch gleich.

C Das stimmt nicht. Es gibt auch blondeSinti.

B Dann war sie eben ein Mischling. Diegehören alle zu einer anderen Rasse.

C Bei Menschen gibt es nach neuesterErkenntnis gar keine Rassen.

B Egal, mit denen hab ich auf jeden Fallnichts am Hut. Die sollen machen, dasssie weg kommen. Ich hab mal gehört, inSpanien sollen sogar schon kleine Kin-der der Gitanos Banken ausrauben.

C Die Unterstellung habe ich damals auchgelesen. Aber hinterher hat sich heraus-gestellt, dass der Täter, ein Bankange-stellter, die Anwesenheit von Roma unddie allgemeinen Vorurteile genutzt hat,den Verdacht auf die Kinder der Romazu lenken.

B Dann war das eine Ausnahme! Was manvon denen zu halten hat, weiß man doch.Und schließlich: Wo kommt man auchhin, wenn man an Fasching keinen Spaßmehr machen darf?

A Ich finde, man fährt am besten mit demSchwamm darüber und lässt die Sacheauf sich beruhen. Die Kirchenfrauen mitihrem Faschingswagen sind bestimmtgenug gestraft mit der Öffentlichkeit,die sie da erregt haben.

C Egal, wie es den Opfern damit geht? DerFaschingswagen mit der herabsetzen-den und den zerlumpten Frauen gingbekanntlich in der Nähe des Wohnge-biets der Sinti vorbei.

B Ach die haben die Anzeige erstattet.Denen dreh ich auch eine Anzeige rein,das haben sie verdient!

SZENISCHES SPIEL: STAMMTISCHGESPRÄCHM 14

Vgl. den Zeitungsartikel »Staatsanwalt ermittelt wegen Volksverhetzung« (M 25).Lesung in verteilten Rollen A bis C.

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C Nein, die Anzeige hat jemand anderserstattet. Die Sinti selbst fürchten jetztaber, dass wegen jener Anzeige die Vor-urteilsspirale gegen sie weitergeht. Ja,dass irgendwelche Faschingsnarren siedas später auf andere Weise werdenspüren lassen – mit Zustimmung vieler,die noch die alten Vorurteile haben.

B Grad recht.

C Merken sie nicht, dass Sie selber Vorur-teile gegen Sinti und Roma haben?

A Ruhe am Stammtisch!

A Woher kommen dann eigentlich dieganzen Vorurteile gegen die Sinti? Ist danicht doch etwas dran?

C Wo die Vorurteile herkommen? DieMehrheit hat sich in den letzten 600Jahren für ihre eigenen Ängste immereinen Sündenbock außerhalb gesucht. Inder Regel haben sie dafür Menschengesucht, die in irgendeiner Weise anderswaren, die zum Beispiel Romanes alsMuttersprache sprachen oder Friesischoder Sorbisch.

B Das sind doch alles gar keine Deutschen.

C Doch, die Friesen und Sorben lebensogar länger in Deutschland als die mei-sten anderen Deutschen.

B Und deswegen ziehen sie auch umherund stehlen?

C Die deutschen Kaiser, die damals übri-gens selber umherzogen von Kaiserpfalzzu Kaiserpfalz, verboten den Sinti inihren mittelalterlichen »Schutzbriefen«Jahrhunderte lang, dass sie sich irgend-wo in Deutschland auf Dauer niederlas-sen dürfen.

A Ach, deshalb sind die Sinti nicht sess-haft?

C Doch, sie sind alle sesshaft. Sie wurdenje nach Fürstentum vor 250 oder vor 150

Jahren von einem Tag auf den anderenfestgeschrieben und haben damit voneinem Tag auf den anderen ihre Kundenvon ihrem zuvor aufgezwungenen Wan-dergewerbe verloren.

A Und dadurch wurden sie zu Bettlern?

C Erzwungen manche, die bis zu zum Auf-bau einer neuen Arbeit am Ort nichtgenügend Ersparnisse hatten. Sie woll-ten ja nicht stehlen, auch nach der Nazi-zeit nicht, als die Leute den Überleben-den Wohnung und Unterstützung ver-weigerten.

A Das wusste ich ja gar nicht. Aber in-zwischen haben sie sicher eine großeWiedergutmachungszahlung bekommen.

C Nein, meist nicht, manchmal minimal,was oft wegen Verrechnung mit Sozial-hilfe gar nicht ausgezahlt wurde.

A Werden sie denn heute wirklich diskri-miniert?

C Ja, hinsichtlich Wohnung, Arbeitsplatz,Bildung, gegen Freundschaft und Ehe-schließung und vielfach im Alltag.

A Und niemand macht etwas dagegen?

C Sie sehen ja, wie das alles verdrängtwird. Sie selbst sagten vorher einfach:»Schwamm drüber«.

A Einmal muss die Diskriminierung dochvorbei sein.

C Die ist erst vorbei, wenn die Sinti esmerken.

B (kommt wieder:) Dieser Faschingswagenschadet bestimmt nichts!

C Es kommt darauf an, auf welche Vorur-teile er trifft.

B Ich hab gar keine. So ein Blödmann, derAnzeiger!

A Noch ein Bier bitte!

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Bericht des evangelischen Dekans vonSchorndorf (Württemberg) an den Evange-lischen Oberkirchenrat in Stuttgart am6. April 1943»Umseitigen Bericht (über den Abtransporteines Ehepaars mit vier von sechs Kindern)habe ich von dem II. Stadtpfarramt Schorn-dorf einverlangt. Die Familie, um die es sichhandelt, ist schon Jahre lang hier ansässig,und ist von guter kirchlicher Haltung. Esmag sein, dass das Zigeunerblut sich immerwieder bemerkbar machte in einer gewissenAufdringlichkeit der beiden Alten und inmannigfachen Versuchen, allerlei Handels-geschäfte zu betreiben. Sonst aber lag gegen

die Familie nichts vor. Es hat sich manchesgefreut darüber, dass durch die Hinwen-dung zum Evangelium sichtbar manchesanders geworden ist in der Familie. Um sounverständlicher ist das jetzige Vorgehen.Es scheint aber der ganzen Sache ein plan-mäßiges Vorgehen gegen die Zigeuner zu-grunde zu liegen. Nicht ganz verständlichist dann nur, dass 2 Familienmitglieder hierbleiben durften, die andern aber deportiertwurden.«

Aus dem Archiv des Evangelischen Oberkirchen-rats, Stuttgart. Eine Überlebende berichtet, dassvon den hier genannten Deportierten keinerzurückgekehrt ist.

»SONST LAG GEGEN DIE FAMILIE NICHTS VOR«M 15

– A. –»Und Jesus ging weg von dort und zog sichzurück in die Gegend von Tyrus und Sidon.

Und siehe, eine kanaanäische Frau kamaus diesem Gebiet und schrie: Ach Herr, duSohn Davids, erbarme dich meiner! MeineTochter wird von einem bösen Geist übelgeplagt. Und er antwortete ihr kein Wort.Da traten seine Jünger zu ihm, baten ihnund sprachen: Stell sie zufrieden, denn sieschreit uns nach.

Er antwortete aber und sprach: Ich binnur gesandt zu den verlorenen Schafen desHauses Israel.

Sie aber kam, fiel vor ihm nieder undsprach: Herr, hilf mir! Aber er antworteteund sprach: Es ist nicht recht, dass manden Kindern ihr Brot nehme und werfe esvor die Hunde. Sie sprach: Ja, Herr; aberdoch fressen die Hunde von den Brosamen,die vom Tisch ihrer Herren fallen.

Da antwortete Jesus und sprach zu ihr:Frau, dein Glaube ist groß. Dir geschehe,wie du willst! Und ihre Tochter wurdegesund zu derselben Stunde.«

– B. –»Und Jesus ging weg von dort und zog sichzurück in die Gegend von Tyrus und Sidon.Und siehe, eine kanaanäische Frau kamaus diesem Gebiet und schrie: Ach Herr, duSohn Davids, erbarme dich meiner! MeineTochter wird von einem bösen Geist übelgeplagt. Da traten seine Jünger zu ihr,wehrten ihr und sprachen: Schrei uns nichtnach. Unser Meister ist nur gesandt zumHause Israel.

Jesus aber wurde unwillig und sprach:Wehret dieser Frau nicht. Ich bin nichtgekommen den Gesunden zu helfen, son-dern den Kranken. Seine Jünger wurdenbeschämt.

Jene Frau aber kam, fiel vor ihm niederund sprach: Herr, hilf mir!

Da antwortete Jesus und sprach zu ihr:Frau, dein Glaube ist groß. Dir geschehe,wie du willst! Und ihre Tochter wurdegesund zu derselben Stunde.«

JESUS UND DIE DISKRIMINIERUNG – BIBELARBEIT ZU MT 15,21–28M 16

Aufgaben:• Vergleiche folgende beide Textfassungen und überprüfe Sie an Mt 15,21–28. Welche ist

original?• Was können Christen für ihr Leben daraus lernen?

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REDEWENDUNGENM 17

»Mann, bist du dämlich…«

»Diese Abrechnung ist getürkt worden …«

»Diese Sache ist gemauschelt worden …«

»… das ganze kommt mir spanisch vor.«

»… wie hoch ist ihre Buschzulage?«

»… hier gehts ja zu wie in einer Judenschule!«

»… hört endlich auf mit dem herumzigeunern …«

»… dann haben wir bald italienische Verhältnisse …«

» … typisch polnische Wirtschaft …«

»… wir sind hier doch nicht im Busch …«

»… mach mal keinen Negeraufstand …«

»… wenn du mehr Geld brauchst, zeig mir einen Juden, dem man in die Tasche greifen kann …«

»… das macht mir einen Heidenspaß.«

»… Ich bin doch nicht dein Neger …«

»… ein Bier, Fräulein«

»Schwarzfahren wird bestraft«

»… Du Spasti«

» … ihr brüllt ja wie die Hottentotten…«

Aus der Broschüre »Rassismus begreifen. Was ich immer schon über Rassismus und Gewalt wissen wollte«,hg. u.a. von der Aktion Courage – SOS Rassismus/Schule ohne Rassismus in Bonn und der Arbeitsgruppe SOSRassismus NRW (c/o Amt für Jugendarbeit der Evangelischen Kirchen von Westfalen, Ralf-Erik Posselt, HausVilligst, 58239 Schwerte), Villigst 1997, S. 19

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Während die Sinti und Roma vor den Tür-ken immer weiter nach Westen fliehen, wer-fen ihnen die einheimischen Mehrheits-gruppen im Heiligen Römischen Reich deut-scher Nation Spionage für die Türken vor.

Als Sinti und Roma versuchen, sich imHeiligen Römischen Reich deutscher Nationals freie Handwerker niederzulassen, wirdihnen in den Kaiserlichen »Schutzbriefen«nur Durchzugsrecht, d.h. nur die Möglich-keit zu ambulantem Gewerbe eingeräumt.Das heißt, sie werden zum Umherziehengezwungen.

Zugleich wenden sich Zünfte und Bür-gertum gegen das ambulante Gewerbe undzugleich gegen Bettelei. Luther führt dafürdas Berufsethos an.

Als sie Zugang zur einheimischen christ-lichen Konfession suchen, zögert man undwirft ihnen Abgötterei vor.

Zur Zeit der Aufklärung versucht mandie allgemeine Bildung zu verbessern undprojiziert auf die Sinti und Roma dasGegenbild des ungebildeten Primitiven.

Als Maria Theresia den Sinti und Romaihre Kinder planmäßig wegnehmen lässtund sie zur Zwangsadoption und mehr-heitsgemäßen Erziehung an »anständige«Familien gibt, wirft man den Sinti vor, Kin-der zu stehlen, d.h. genauer ihre eigenenKinder zurückzuholen.

In der Zeit des Absolutismus versuchtman alle Bürger zu erfassen und sieht Sintials Musterbeispiel der Nichterfassten. Sintiwerden im jeweiligen Territorium an einemStichtag örtlich festgeschrieben und Fami-lien dabei auseinandergerissen. Wer deswirtschaftlichen Überlebens willen nochseine Kunden außerhalb aufsucht oderseine getrennten Familienmitglieder tref-fen will, wird kriminalisiert. Sinti als Poli-zisten werden gegen Sinti eingesetzt.

Auf Grund der Befreiungskriege gegenNapoleon setzt sich in den KirchenDeutschlands die Ablehnung der »revolu-

tionären« allgemeinen Menschenrechtedurch, in der römisch-katholischen Kircheauch auf Grund der Säkularisation (Enteig-nung) von katholischen Kirchengütern undTerritorien. (Die Ablehnung der Menschen-rechte durch die Kirchen Deutschlandsreicht bis 1945. Die Menschenrechte hättensich theoretisch auch auf die Sinti undRoma bezogen.)

Das wirtschaftliche Fiasko für die Fami-lien, die sich vom ehemals auferlegtenambulanten Gewerbe umstellen müssen,wird ihnen selbst zur Last gelegt.

Als in der industriellen Revolution ineinem zweiten wirtschaftlichen Fiasko derSinti die neuen Töpfe billiger werden alsdas Flicken der alten Töpfe, werden dieverarmten Kesselflicker von den Unterneh-mern als Negativbild solchen Billiglohn-arbeitern vor Augen geführt, die nicht zumNiedriglohn 12 bis 14 Stunden arbeitenwollen.

Als die Gewerkschaften Wirkung entfal-ten und ein Minimaltarif eingeführt ist, alses inzwischen gebildete und wirtschafts-kräftige Sinti gibt, weiß man mancherortskeine andere Begründung mehr gegen sieals einen Rassismus. Es handle sich um»anderes Blut«.

Als nach Abschaffung der Sklaverei inder Türkei dortige Roma einen neuen Wohn-sitz und Arbeit in Deutschland suchen,führt man nach dem damaligen »völki-schen« Selbstverständnis das Blutsprinzipin das Staatsbürgerrecht Preußens ein,wonach z.B. Roma aus Siebenbürgen keinBürgerrecht erwerben können. (Dieses ras-sistische »Blutsprinzip«, 1913 im Staats-bürgerrecht des Deutschen Reiches wiederformuliert, ist bis zu Beginn des 21. Jahr-hunderts im wiedervereinigten Deutschlandnicht abgeschafft, anders als in anderenwestlichen Staaten.)

Als man im Nationalsozialismus ein rei-nes »arisches« Volk sein will, werden die

HISTORISCHE HINTERGRÜNDEDER ENTSTEHUNG ANTIZIGANISTISCHER VORURTEILEM 18

Im Wesentlichen handelt es sich bei der Entstehung der Vorurteile um Ängste und Wunsch-vorstellungen der Mehrheitsbevölkerung, die zu negativen und unangemessen romantisieren-den Projektionen auf die Minderheit geführt haben.Diese Hintergründe beleuchten also nicht die Realität der Sinti und Roma, sondern rückendie Problematik der Mehrheit in den Blick, die sich in deren »Zigeunerbild« als Inbegriff derVorurteile, angesammelt hat.

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dem arischen Sanskrit sprachlich amnächsten stehenden Sinti und Roma fürverunreinigte Arier erklärt und massen-mäßig ermordet.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wird ihreVerfolgungsgeschichte lange Zeit nicht auf-gearbeitet. So werden die überlebendenSinti und Roma zunächst abgewiesen, dannam Rand der Städte gehalten. Bis heuteschreibt vielfach die Mehrheit den Sintiund Roma für Unterschiede ein Manko zu.(Eine Gefahr, der viele schon beim Ge-brauch des Begriffes der »Integration« un-terliegen und ihn so zum neuen Diskrimi-nierungsmittel machen. Dies lässt sich beiden Begriffen der Achtung und der Aner-kennung vermeiden.)

Anmerkung:Es ist vom Antiziganismus hauptsächlich inder deutschen Geschichte die Rede gewe-sen. Jedoch darüber hinaus Bemerkungenim Blick auf das östliche Mitteleuropa und(Süd-)Osteuropa:

Als in den 90er Jahren des 20. Jahrhun-derts dort in Folge des Mauerfalls und derWirtschaftsumstellung die Arbeitslosigkeitwächst, wird diese dort überproportionalauf die Roma abgewälzt. Diejenigen, die alsAsylbewerber nach Westen kommen, wer-den zurückgeführt in ihre südöstlichen Hei-

matländer. Dies Programm scheitert dortaber am Willen der Arbeitgeber, Roma ein-zustellen.

Die Frist für die niedrige Arbeitslosen-hilfe und Sozialhilfe wird für die Betroffe-nen in vielen Ländern aus Finanzmangelsehr kurz gehalten. Viele dortige Romawerden dadurch zum Hunger, zum Bettelnund in die Schwarzarbeit gedrängt, wasman umgekehrt wiederum ihnen in dieSchuhe schiebt.

Wer auf Grund der aussichtslosen Situa-tion (nochmals) z.B. nach Deutschland,flieht, muss oft ohne Aussicht auf Sozial-hilfe leben. Wer dadurch in aussichtslosefinanzielle Lage gerät, dem wird dies nunauch hier zur Last gelegt.

Dazu kommt, dass die Deutschen Sintiund Roma mit Sorge sehen, wie um Unter-stützung bittende Familien aus Südost-europa die deutsche Mehrheitsgesellschaftveranlassen, durch Unwissen hinsichtlichdieser Zusammenhänge alte Klischeesgegen die deutschen Sinti und Roma zurechtfertigen.

Andreas Hoffmann-Richter

Vgl. Wolfgang Wippermann, Antiziganismus – Ent-stehung und Entwicklung der wichtigsten Vorur-teile, in : »Zwischen Romantisierung und Rassis-mus«, LPB 1998, 37–41

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Nach mehrfachen vergeblichen Versuchen derVerständigung und des Abbaus von Vorurteilenin den Behörden, insbesondere bei diversen Poli-zeidienststellen, warf der Zentral rat im Oktober1984 den Innenministern von Bund und Län-dern vor, ihre Polizeibehörden praktizierten eineArt »Rassenbekämpfung« gegen die gesamteMinderheit in Deutschland. Aufgebauschte, dis-kriminierende Berichte der Polizei an die Presseüber angeblich besonders typische »Zigeuner«-oder »Landfahrer«-Kriminalität – so das Schrei-ben des Zentralrates an die Minister – sorgtenverstärkt seit einem Jahr bei der Bevölkerungfür massive antiziganistische Vorurteile undFremdenhass. Polizeibehörden beschränkensich in ihrer Berichterstattung bewusst nichtauf die Tat und Tatverdächtige, sondern stelltenin ihren Meldungen und Pressegesprächengezielt die ethnische Zugehörigkeit der Minder-heit in den Vordergrund. Nach einem Bombe-nanschlag im Januar 1982 in Darmstadt auf einHaus, in dem Roma-Familien wohnten, hatte einerster Appell an die Minister keinen Erfolggefunden, der den Schutz des Rechtsstaatesauch für die Minderheit hätte gelten lassen.Statt dessen unterliefen sie alle Bemühungendes Zentralrates um die bürgerrechtliche Gleich-behandlung. Gewaltanschläge nahmen seitherim Bundesgebiet weiter zu.

Der Einsatz gegen die Kriminalisierungs-strategien der Polizei waren ein Kernpunkt derBürgerrechtsarbeit. Diese sind nicht neu, schonseit 1951 hatte sich Uschold auf die »For-schungsarbeiten der letzten Zeit« berufen, dievon Ritters Institut »mit größter Gründlichkeitvorgenommen« worden seien. Sie sollten dieBasis für die erkennungsdienstliche und polizei-liche Arbeit sein. Diese Strategien entsprachendem polizeilichen Feindbild, denn wie sein Kol-lege Georg Geyer 1957 in der bayerischen Poli-zeizeitung feststellte, »(haben) alle Maßnahmenund Verfolgungen den Lebenswillen der Zigeu-ner nicht zu brechen vermocht.« Insbesonderediese Beamten aus München setzten sich seitden 50er Jahren auf Tagungen des BKA dafürein, unter Umgehung des Grundgesetzes, bun-desweit als Synonym für »Zigeuner« den (eben-falls aus der NS-Zeit stammenden) Begriff»Landfahrer« zu verwenden. Dieser neue Begriffmeine nicht »Rasse«, sondern solle soziologischklingend den »Hang zum Umherziehen«, den»ständig geänderten Aufenthaltsort«, den »rei-senden Tatverdächtigen« oder die »unstete Le-bensweise« beschreiben; so lauteten die Legiti-mationsversuche der Polizei.

Ideologisch wie in der polizeilichen und kri-minologischen Arbeit blieb eine strenge Analogiezur NS-Rassenideologie bestehen, deren Krite-rium der Rassenzugehörigkelt nun als Zugehö-rigkeit zur ethnischen Gruppe umgedeutet

wurde. Diese projektive Verschiebung und Iden-tifikation von sozialen Verhaltensweisen auf undmit einer ethnischen oder sozialen Gruppe defi-nierte das »Zigeuner(un)wesen« als fixierte Be-zugsgröße für die ganze Minderheit. Sie schriebüber das »Wesen des Zigeuners« die sozialeUnveränderbarkeit der Sinti und Roma fest:»Bei der zu Beobachtung stehenden Personen-gruppe handelt es sich um … Zigeunermischlin-ge …, bei denen – biologisch unterstellbar – einKonzentrat negativer Erbmasse zu verzeichnensein dürfte (Verschlagenheit, Hinterhältigkeit,Brutalität, Trunksucht, Selbstmordneigungenusw.)«. »Zigeuner«, »Landfahrer«, TWE oderHAWO werden zur Täterbeschreibung und zumVolksgruppenetikett.

Wie in einem Brennglas wird hier die Struk-tur der rassistischen Konstruktion des »Zigeu-ners« aufgeworfen und die Kontinuität der NS-Ideologie weiter geschrieben. Grundsätzlichscheint hier auch die behördliche Ratio und derpolizeiliche Pragmatismus in Frage zu stehen,die offenbar auf Effektivität und unmissver-ständliche Vorgaben bedacht, jedes ethische Ver-hältnis ausschalten und damit jede Verantwort-lichkeit ausschließen. Da diese Vorgehensweisedes bürokratischen Rationalismus die Möglich-keit kommunikativen Handelns, die allein Auf-klärung versprechen könnte, ausschaltet, indemeine technische, pragmatische oder sonstigeNotwendigkeit behauptet wird, verwundert esnicht dass die Behörden – sich selbst immuni-sierend – taub gegen die Argumente der Sintiund Roma blieben und gebetsmühlenartig vonkriminologischen Erfordernissen fabulierten.

Erst 1984 teilte Staatssekretär Sprangernach einem Gespräch im Bundesinnenministeri-um mit, dass die »Landfahrer«-Erfassung been-det werde und die rassistische Bezeichnung auchim internen Sprachgebrauch nicht mehr verwen-det werde. Was hatte diesen Bewusstseinswan-del bewirkt? Tatsächlich war im Mai 1983 nachder Streichung der »Landfahrer«-Erfassung –angeblich 1980 – und des Computerkürzels »ZN«für »Zigeunername« – 1984 – im polizeilichenÜberwachungs- und Informationssystem dasneue Kürzel »HAWO« für »häufig wechselnderAufenthaltsort« in allen Bundesländern einge-führt worden. »HAWO«, hieß es, habe absolutnichts mit der Minderheit zu tun, sondern seidringend erforderlich zur Erfassung des krimino-logisch so bedeutsamen Phänomens des Umher-Reisens von Tatverdächtigen. Welche »Bedeut-samkeit« ein häufig wechselnder bzw. ständigerAufenthaltsort für einen Tatverdacht habe, bliebjedoch »Ermessenssache« der Polizei. Beurtei-lungs- oder Bewertungskriterien gab es keine.Daniel Strauß, LpB (s.o.) Forts. v.: Die Bürger-rechtsbewegung gegen Diskriminierung undbehördliches Unrecht

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DISKRIMINIERUNG UND BEHÖRDENSPRACHEM 19

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B: Was hast du da gebetet?A: »(Gott), du hast uns zu Kehricht und

Unrat gemacht unter den Völkern … Wirwerden gedrückt und geplagt mitSchrecken und Angst. Wasserbäche rin-nen aus meinen Augen über den Jammerder Tochter meines Volks. Meine Augenfließen und können es nicht lassen, undes ist kein Aufhören da« (Klagelieder 3,45.47–48).

B: Weil ihr in der jüdischen Ansiedlungleben müsst und dein Vater Zwangsarbeitmachen muss? Wir müssen doch auch inunserer Ägyptischen Ansiedlung vonZwangsarbeitern wohnen. Man muss sichdoch irgendwann mit dem Leben hierabfinden. Wir wohnen nun einmal hier.Immerhin ist es eine der fortschrittlich-sten Stätte der Welt mit dem höchstenWolkenkratzer.

A: Wir dürfen uns aber nicht frei bewegenund müssen uns dem Bildnis des Stadt-gottes Marduk hier unterwerfen.

B: Was liegt schon daran? Ich akzeptieredoch auch, dass der Marduk stärker warals unsere ägyptischen Götter. Wir müs-sen doch trotzdem unser Leben hierleben.

A: Und sich anmachen oder schlagen lassenbei der Frohnarbeit auf dem Feld? Unddas als lebendige Gegenüber Gottes? Damüssen wir Widerstand leisten, sonständert sich nichts.

B: Wie willst du das begründen? Der Gottder Babylonier war nun mal stärker,sonst hätten sie nicht gewonnen. Odermeinst du, euer Gott hätte den Sieg derBabylonier zugelassen, wenn er selbststärker gewesen wäre als der Gott derBabylonier?

A: Es ist anders als du denkst. Unsere Pro-pheten haben unsere Väter gewarnt,dass unser Gott starke Feinde schickenwird, wenn wir uns ausländerfeindlichverhalten und soziale Ungerechtigkeitdulden. Unsere Väter haben nicht daraufgehört. Jetzt lesen wir aber in unserenVersammlungen die Schriften der Pro-pheten und merken, dass Gott selbst zurStrafe und zu unserer Einsicht und

Umkehr die Babylonier gegen uns ge-schickt hat.

B: Sag das ja nicht laut, sonst bekommenwir es mit den Babyloniern zu tun!

A: Ich akzeptiere nicht, dass diese miserableStatue mehr Würde haben soll als wirlebendige Menschen. Wir erklären unse-re Würde als lebendige Bilder Gottes!Das müssen die Babylonier akzeptieren.Wir leben nicht von ihren Gnaden. Wirleben alle von dem einen Gott. Wenn dieBabylonier uns und euch und andere aufDauer herabsetzen, dann bekommen siees nicht nur mit einer Statue zu tun,dann bringen sie den lebendigen Gottgegen sich auf. Und was das heißt, dashaben wir nun erlebt.

B: Meinst du, das begreifen die?A: Der Großkönig von Babylon würde doch

nicht zulassen, dass man seine eigenenFreunde und Gesprächspartner schlägtund zur Fronarbeit heranzieht.

B: Natürlich nicht.A: Das lässt der lebendige Gott, der uns

Menschen zu seinem Gesprächsgegenü-ber erwählt hat, auch nicht zu, dass mandas mit uns macht! Gott schuf den Men-schen zu seinem Gegenüber, seinemlebendigen »Bild«, und zwar Mann undFrau! (1. Mose 1,27)

B: Alle Menschen?A: Alle Menschen! Es reden bisher nur nicht

alle mit ihm. Aber er will, dass alle dazu-kommen. Dafür haben wir unsere Spra-chen bekommen.

B: Das ist revolutionär. Aber ich stimme dirzu. Ich bin dabei. Wir haben ja selbstaneinander erlebt, dass wir zu achtendeMenschen sind, auch wenn wir aus ver-schiedenen Völkern kommen, nichtwahr?

A: Ja, und wir müssen dabei ständig auf-passen, dass es nicht wieder zu Rückfäl-len in der Menschheitsgeschichte kommt,etwa zum alten Patriarchalismus, nichtmehr zur Herabwürdigung und Hänseleianderer Volksgruppen. Auch dass allesich von ihrer Arbeit ausreichend ausru-hen können. Sonst wird das Leben derGegenüber Gottes verletzt.

SPRECHSZENEM 20

550 vor Christus im babylonischen Exil: Fiktives Gespräch zwischen einer jüdischen jungenFrau A und ihrem ägyptischen Freund B:

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Die Mitgliedstaaten des Europarats und dieanderen Staaten, die dieses Rahmenübe-reinkommen unterzeichnen –

➢ in der Erwägung, dass es das Ziel desEuroparats ist, eine Verbindung zwi-schen seinen Mitgliedern herbeizu-führen, um die Ideale und Grundsätze,die ihr gemeinsames Erbe bilden, zuwahren und zu fördern;

➢ in der Erwägung, dass eines der Mittelzur Erreichung dieses Zieles in der Wah-rung und in der Entwicklung der Men-schenrechte und Grundfreiheitenbesteht;

➢ in dem Wunsch, die Wiener Erklärungder Staats- und Regierungschefs der Mit-gliedstaaten des Europarats vom 9.Oktober 1993 in die Tat umzusetzen;

➢ entschlossen, in ihrem jeweiligen Ho-heitsgebiet das Bestehen nationalerMinderheiten zu schützen;

➢ in der Erwägung, dass die geschichtli-chen Umwälzungen in Europa gezeigthaben, dass der Schutz nationaler Min-derheiten für Stabilität, demokratischeSicherheit und Frieden auf diesem Kon-tinent wesentlich ist;

➢ in der Erwägung, dass eine pluralisti-sche und wahrhaft demokratische Ge-sellschaft nicht nur die ethnische, kultu-relle, sprachliche und religiöse Identitätaller Angehörigen einer nationalen Min-derheit achten, sondern auch geeigneteBedingungen schaffen sollte, die es ihnenermöglichen, diese Identität zum Aus-druck zu bringen, zu bewahren und zuentwickeln;

➢ in der Erwägung, dass es notwendig ist,ein Klima der Toleranz und des Dialogszu schaffen, damit sich die kulturelleVielfalt für jede Gesellschaft als Quelle

und Faktor nicht der Teilung, sondernder Bereicherung erweisen kann;

➢ in der Erwägung, dass die Entwicklungeines toleranten und blühenden Europasnicht allein von der Zusammenarbeit zwi-schen Staaten abhängt, sondern auch dergrenzüberschreitenden Zusammenarbeitzwischen lokalen und regionalen Gebiets-körperschaften unter Achtung der Verfas-sung und der territorialen Unversehrt-heit eines jeden Staates bedarf;

➢ im Hinblick auf die Konvention zumSchutze der Menschenrechte und Grund-freiheiten und der Protokolle dazu;

➢ im Hinblick auf die den Schutz nationa-ler Minderheiten betreffenden Verpflich-tungen, die in Übereinkommen und Er-klärungen der Vereinten Nationen undin den Dokumenten der Konferenz überSicherheit und Zusammenarbeit inEuropa, insbesondere dem Kopenha-gener Dokument vom 29. Juni 1990, ent-halten sind;

➢ entschlossen, die zu achtenden Grund-sätze und die sich aus ihnen ergebendenVerpflichtungen festzulegen, um in denMitgliedstaaten und in den anderenStaaten, die Vertragsparteien dieserÜbereinkunft werden, den wirksamenSchutz nationaler Minderheiten sowieder Rechte und Freiheiten der Angehöri-gen dieser Minderheiten unter Achtungder Rechtsstaatlichkeit, der territorialenUnversehrtheit und der nationalen Sou-veränität der Staaten zu gewährleisten;

➢ gewillt, die in diesem Rahmenüberein-kommen niedergelegten Grundsätze mit-tels innerstaatlicher Rechtsvorschriftenund geeigneter Regierungspolitik zuverwirklichen –

sind wie folgt übereinkommen:

38

RAHMENÜBEREINKOMMENZUM SCHUTZ NATIONALER MINDERHEITENM 21a

Abschnitt I

Artikel 1

Der Schutz nationaler Minderheiten und der Rechte und Freiheiten von Angehörigen dieserMinderheiten ist Bestandteil des internationalen Schutzes der Menschenrechte und stelltals solcher einen Bereich internationaler Zusammenarbeit dar.

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Dieses Abkommen bezieht sich in Deutschland ausdrücklich auf Dänen, Friesen, Sorben,Sinti und Roma. Es wurde vom Europarat 1996 verabschiedet und ist in Deutschland seit1998 in Kraft.

Abschnitt II

Artikel 4

(2) Die Vertragsparteien verpflichten sich, erforderlichenfalls angemessene Maßnahmen zuergreifen, um in allen Bereichen des wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kultu-rellen Lebens die vollständige und tatsächliche Gleichheit zwischen den Angehörigeneiner nationalen Minderheit und den Angehörigen der Mehrheit zu fördern. In dieserHinsicht berücksichtigen sie in gebührender Weise die besonderen Bedingungen derAngehörigen nationaler Minderheiten.

Artikel 12

(1) Die Vertragsparteien treffen erforderlichenfalls Maßnahmen auf dem Gebiet der Bildungund der Forschung, um die Kenntnis der Kultur, Geschichte, Sprache und Religion ihrernationalen Minderheiten wie auch der Mehrheit zu fördern.

(2) In diesem Zusammenhang stellen die Vertragsparteien unter anderem angemesseneMöglichkeiten für die Lehrerausbildung und den Zugang zu Lehrbüchern bereit underleichtern Kontakte unter Schülern und Lehrern aus unterschiedlichen Bevölkerungs-gruppen.

(3) Die Vertragsparteien verpflichten sich, die Chancengleichheit von Angehörigen nationa-ler Minderheiten beim Zugang zu allen Bildungsstufen zu fördern.

Artikel 15

Die Vertragsparteien schaffen die notwendigen Voraussetzungen für die wirksame Teilnah-me von Angehörigen nationaler Minderheiten am kulturellen, sozialen und wirtschaftlichenLeben und an öffentlichen Angelegenheiten, insbesondere denjenigen, die sie betreffen.

AUS DEM RAHMENÜBEREINKOMMENZUM SCHUTZ NATIONALER MINDERHEITENM 21b

Artikel 2

Dieses Rahmenübereinkommen ist nach Treu und Glauben, im Geist der Verständigung undToleranz und in Übereinstimmung mit den Grundsätzen guter Nachbarschaft, freund-schaftlicher Beziehungen und der Zusammenarbeit zwischen den Staaten anzuwenden.

Artikel 3

(1) Jede Person, die einer nationalen Minderheit angehört, hat das Recht, frei zu entschei-den, ob sie als solche behandelt werden möchte oder nicht; aus dieser Entscheidung oderder Ausübung der mit dieser Entscheidung verbundenen Rechte dürfen ihr keine Nach-teile erwachsen.

(2) Angehörige nationaler Minderheiten können die Rechte und Freiheiten, die sich aus denin diesem Rahmenübereinkommen niedergelegten Grundsätzen ergeben, einzeln sowiein Gemeinschaft mit anderen ausüben und genießen.

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Ein Quartett zwischen neun und 14 Jahrensoll in Spanien für zahlreiche Trick-Dieb-stähle verantwortlich sein.

Madrid, 25. Oktober – Vier Mädchen imAlter von neun bis 14 Jahren haben miteinigen Tricks in einer Bankfiliale in Nord-spanien 1,3 Millionen Pesetas (rund 16000Mark) gestohlen und werden nun verdäch-tigt, auf die gleiche Weise auch 20 bis 25Banken in Spanien, Frankreich und Bel-gien geschädigt zu haben.

Es geschah in einer Zweigstelle imgeruhsamen Städtchen Miranda del Ebroin der Provinz Burgos. Eine dunkelhaarigeVierzehnjährige, die nach Angaben einesPolizeikommissars wie eine hübsche Acht-zehnjährige aussieht, verwickelte denFilialleiter in ein Gespräch über einen Kre-dit. Ihre Schwester und zwei Cousinenwechselten unterdessen einen großenGeldschein und beschuldigten den Kassie-rer, ihnen falsch herausgegeben zu haben.Sie provozierten eine Art Krawall, den diekleinste von allen, eine Neunjährige, dazuausnutzte, unbemerkt in den Kassenraumzu kriechen, wo sie alle erreichbaren Schei-ne zusammenraffte. Das Quartett ver-schwand, wurde aber von der sofort alar-mierten Polizei innerhalb kurzer Zeit inMiranda festgenommen. Nach den gestoh-lenen 1,3 Millionen Pesetas suchten diePolizisten allerdings vergeblich. Deshalbvermuten sie, dass die Mädchen einemKomplizen während ihrer kurzen Fluchtdie Beute übergeben haben. Die Polizeistellte fest, dass die vier Mädchen zu einer

Zigeunerfamilie gehören, die sich mehrerehundert Kilometer entfernt im südspani-schen Puertollano aufhält. Ermittelt wurdeaber auch, dass in den Tagen vor demErscheinen des Mädchen-Quartetts dreiMänner, der Polizei zufolge ebenfalls Zigeu-ner, in Bankfilialen von Miranda wegenKrediten und der Eröffnung von Kontenvorgesprochen hatten. Man nimmt an, dassso die beste Gelegenheit ausbaldowertwurde.

Das nährte auch die Vermutungen, esmit einer gut organisierten Bande zu tun zuhaben. Inzwischen meldeten sich bei derspanischen Polizei mehrere Bankdirekto-ren, deren Filialen offenbar auf ähnlicheWeise von den kleinen Diebinnen heimge-sucht worden waren. Die Hinweise darauf,dass die Mädchen auch in Frankreich undBelgien Banken bestohlen haben sollen, tatein Rechtsanwalt, der sich der Kinder an-nahm, jedoch als »Sensationsmache« ab.

Die Mädchen wurden zunächst in Hei-men untergebracht, über ihre Aussagennach dem Jugendstrafrecht Stillschweigenbewahrt. Lediglich die Eltern der Neun-jährigen eilten nach Bekanntwerden derFestnahme der Kinder aus dem Südennach Burgos, wo ihnen ihre Tochter über-geben wurde. Der Anwalt dieser Familiespielte den von den Medien dramatischaufgemachten Fall herunter: Es habe sichlediglich um einen »dreisten Streich«gehandelt.

Friedrich Kassebeer, in: Süddeutsche Zeitung vom26./27.10.1996

MÄDCHENBANDE SCHRECKT DIE BANKENM 22

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»In der Berichterstattung über Straftaten wird die Zugehörigkeit der Verdächtigen oderTäter zu religiösen, ethnischen oder anderen Minderheiten nur dann erwähnt, wenn dieseInformation für das Verständnis des berichteten Vorgangs von Bedeutung ist.«

Ziffer 12 Pressekodex, Richtlinie 12.1. Berichterstattung über Straftaten, zitiert nach Jahrbuch des Deut-schen Presserates 1990, S. 224

PRESSEKODEXM 23a

Stell Dir mal vor, ein Reporter quatschtDich an, verspricht Dir in einer Cliqueeinen Kasten Bier und »tolle Fotos« fürDich und Deine Freunde: Er will Dich foto-grafieren. Klar, nicht nur so, ein bisschenVerkleidung und zurecht gemacht, Tücherzum »Vermummen« hat er schon dabei, einpaar waffenähnliche Gegenstände findensich schnell. Du zögerst und fragst, ob auchsicher ist, dass Dich später niemand aufden Fotos erkennt, das wird Dir hoch undheilig zugesichert. Es geht ja eh darum, soheißt es, »Verständnis« für »ausländischeJugendliche« zu wecken. Du zögerst noch,aber die Reporterin ist nett, der Fotograffängt schon mal an und Du sagst ja. Undschon hängst Du in der Scheiße. Dein Fotoerscheint ohne Gesichtsbalken in derBRAVO.

I.So ähnlich ging es einer Gruppe Jugend-licher im »Gallusviertel«. Jugendliche ausdem Gallus wurden dazu überredet, sichvon einem Fotografen der Zeitschrift »Jour-nal Frankfurt« mit Tüchern vermummt inSchlägerpose fotografieren zu lassen – füreinen Kasten Bier.

Die miese Reportage in Journal Frank-furt (ehemals Pflasterstrand) übergehenwir hier … BRAVO jedenfalls kaufte dieFotos von dem Fotografen für 1200 DM ab,schrieb den Text in ihrem Sinne um und

veröffentlichte mit ihrer Tendenz die Fotos– teilweise ohne Gesichtsbalken – unter derÜberschrift: »GEIL AUF GEWALT / DieAngst vor ausländischen Jugendbandenwächst in deutschen Großstädten«.

Tatsache ist, wie aus der Erklärungeines der Jugendlichen deutlich hervor-geht, dass die ganze Story von hinten bisvorne frei erfunden war. Das bestätigteauch das Gericht. Keiner der abgebildetenJugendlichen war der Polizei oder denGerichten bekannt. BRAVO war zu einer –ganz kleinen – Gegendarstellung gezwun-gen, der Prozess über die Höhe einesSchmerzensgeldes fand am 12. März statt… und wurde gewonnen.

BRAVO muss Schmerzensgeld blechen.Soweit, so gut. Also alles in Ordnung?

II.Nichts ist wirklich in Ordnung, denn das,was BRAVO hier besonders dick gebrachthat, findet doch in anderer Form tagtäglichstatt.

Die primitive Gleichung »Ausländer =Gewalt = Kriminalität« ist ja eines derwichtigsten Hebel, mit dem von Teilen derPresse vielfältig vorbereitet wurde undwird, dass dann schließlich Neonazis undvon ihnen beeinflusste Skins Jagd aufFlüchtlinge und alle nicht so blond-blauäu-gig-hellhäutigen Menschen machten undmachen.

AUS EINEM SCHÜLERFLUGBLATTM 23b

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Wir meinen die Serie von Anschlägenauf Flüchtlingsheime, die übrigens nie auf-gehört haben, die heute lediglich in derPresse und dem Fernsehen schon unter»ferner liefen« oder gar nicht mehr behan-delt werden.

Wenn Vorurteile gegen eine Minderheitgeschürt werden, dann nennt man daseigentlich »Volksverhetzung«. Aber wie oftkönnen wir in Tageszeitungen lesen, dassohne jede Logik, ohne jeden innerenZusammenhang bei der Meldung irgendei-ner Straftat dazu gesagt wird: »vermutlichein Marokkaner, vermutlich ein Türke«.

III.Es lohnt sich angesichts selbst einer kleinenAuswahl aus der Lokal-Seite der Frankfur-ter Rundschau, einmal den Presse-Kodexdes deutschen Presserates zu zitieren. Esheißt dort:

»In der Berichterstattung über Strafta-ten wird die Zugehörigkeit der Verdächti-gen oder Täter zu religiösen, ethnischenoder anderen Minderheiten nur dannerwähnt, wenn diese Information für dasVerständnis des berichteten Vorgangs vonBedeutung ist.« (Ziffer 12 Pressekodex,Richtlinie 12.1. Berichterstattung überStraftaten, zitiert nach Jahrbuch des Deut-schen Presserates 1990, S. 224)

Das bedeutet, dass keinesfalls prinzipi-ell und in jedem Fall die Nennung derNationalität oder der Hautfarbe etwa ver-werflich ist. Wenn Nazi-Banden Afrikanerganz offensichtlich wegen ihrer Hautfarbeoder Jugendliche aus der Türkei wegenihrer Nationalität überfallen und verfolgen,dann ist dies eine Information die »für dasVerständnis des berichteten Vorgangs vonBedeutung ist.« Aber: Bringt jemand ausEifersucht seine Frau um, wird jemand alsDieb erwischt, dann eben ist die Nationa-lität oder die Hautfarbe keinesfalls für dasVerständnis dieser Straftat von Bedeutung.

Diebe und eifersüchtige Mörder gibt esüberall. Durch die Nennung der Hautfarbeoder der Nationalität wird aber unter-schwellig behauptet, dass diese Merkmalevon Bedeutung seien … und da sind wir amentscheidenden Punkt. Niemand kommt

auf den Gedanken, bei der Schilderungeiner Straftat zu erwähnen, dass der betref-fende Dieb zum Beispiel »Katholik« sei.Warum nicht? Nicht nur, weil die katholi-sche Kirche sich das energisch verbittenwürde, sondern weil klar ist, dass dies ebenmit der Straftat ganz und gar nichts zu tunhat. Diese Klarheit existiert in andererHinsicht eben nicht – und das ist derPunkt, an dem angeblich sachliche Bericht-erstattung (»Es war doch ein Türke, odernicht?«) umschlägt in Volksverhetzung, wiesie im Strafgesetzbuch der BRD festgelegtwird.

Was würde das für den Schulalltagheißen? Etwa wenn ein Lehrer oder eineLehrerin »sachlich korrekt« ins Klassen-buch eintragen würde, dass »der TürkeMehmet K. wieder schwätzt«. Würde dasgeduldet werden? Hoffentlich nicht.

Kritisiert man solch einen Klassen-bucheintrag, wird einem vielleicht gar ent-gegengehalten: »Na und? Er ist doch wirk-lich Türke, oder?« Jeder – oder fast jeder –würde spüren, dass da was nicht stimmt,da der Zusatz »Türke« völlig unpassend ist… außer der Lehrer will unter der Handbehaupten, »suggerieren«, dass es doch keinZufall ist, dass »schon wieder ein Türkeschwätzt«.

Das Beispiel der BRAVO zeigt, dass es sichlohnt, dass es richtig ist und auch zur Erfol-gen führen kann, wenn wir nicht jede Dis-kriminierung in der Presse hinnehmen. ObBRAVO oder BILD-Zeitung, ob FR odersonstwer:

Wehren wir uns gegen gemeine, unwah-re und diskriminierende Berichterstattungüber die sogenannten »ausländischenJugendbanden« und die dahinterstehendeHetze.

Dieses Flugblatt der AG gegen den Antisemitis-mus/Holbeinschule FFM entstand gemeinsam mitSchülerinnen und Schülern der 9. Klasse desGoethe-Gymnasiums Neu-Isenburg. Es wurde er-stellt und wird verteilt in Zusammenarbeit mit demStadtschülerlnnenrat FFM, der GEW-FFM unddem Frankfurter Jugendring.Verantwortlich im Sinne des Pressegesetzes: Benja-min Ortmeyer c/o GEW-FFM, Bleichstr. 38a, 6FFM.

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Berg – Welche Narrenrufe und Sloganssind in der Fasnet zulässig und wann ist dieGrenze zur Beleidigung oder zur Verletzungder Menschenwürde überschritten? Mit die-ser Frage muss sich die Staatsanwaltschaftauseinander setzen, nachdem ein Besucherdes Berger Karrenumzugs Strafanzeigewegen Volksverhetzung gestellt hat.

»Zack, zack, Zigeunerpack« prangte aufeinem der rund 20 Festwagen, die am ver-gangenen Samstag beim Karrenumzug vonWeiler auf die Berger Kuppe unterwegswaren. Dieser Spruch, mehrfach an demWagen angebracht, empörte einen Um-zugsbesucher. Bereits am Sonntag stellteer bei der Staatsanwaltschaft RavensburgStrafanzeige wegen Volksverhetzung. Ge-genüber der SZ sagte er: »Diese widerlicheVolksverhetzung im Fasnetskostüm istbesonders bemerkenswert in den Tagendes Gedenkens an die Befreiung des Kon-zentrationslagers Auschwitz, in dem auchHunderttausende so genannter Zigeunerermordet wurden.« Die Staatsanwaltschaftnimmt die Strafanzeige ernst. »Wir lassendurch die Polizei in diesem Fall ermitteln«,sagte der Leitende Oberstaatsanwalt Her-bert Heister auf SZ-Nachfrage. WelchenWeg die Ermittlungen nehmen werden,wollte Heister nicht prophezeien. Aber:»Der Verdacht der Volksverhetzung ist ge-geben.« Jetzt komme es darauf an, diegenauen Umstände zu erfahren, also »wasdas für ein Umzugswagen war, wie er aus-gesehen hat, wer für den Schriftzug ver-antwortlich ist.« Der Tatbestand der Volks-verhetzung erfordert eine Störung desöffentlichen Friedens. Die Frage sei nun,inwiefern der Ausspruch »Zack, zack,Zigeunerpack« im närrischen Rahmen eineStörung des öffentlichen Friedens darstel-le. Der Leiter der Ravensburger Staatsan-waltschaft: »Dieser Fall könnte ein Grenz-fall sein.« Der Karrenumzug in Berg istkeine Veranstaltung einer Narrenzunft,auch wenn die Berger Alafanz die Organi-sation übernommen hat. »Im Prinzip kannjeder, aus Berg oder aus einer Nachbar-gemeinde, der einen Traktor und einenWagen hat, eine Gruppe anmelden«, sagte

Bergs Bürgermeister Helmut Grieb der SZ.Die Anmeldung habe nur versicherungs-technisch Bedeutung, die beiden Initiato-ren des Umzugs, die die Wagen vor demStart abnehmen, kümmerten sich lediglichum deren Verkehrssicherheit. Gegenüberder SZ wollten sich die Initiatoren nichtäußern. Der Berger Bürgermeister bezeich-nete gegenüber der SZ die Aufschrift »Zack,zack, Zigeunerpack« als »unglücklichenAusspruch«. Gleichzeitig nahm er die Mit-fahrer des Wagens – nach SZ-Informatio-nen überwiegend Frauen, die dem Frauen-bund und einem Kirchenchor angehören,in Schutz: »Die haben sich nichts dabeigedacht.« Den Frauen habe »einfach dasZigeunerkostüm gefallen.« Hinter der Auf-schrift stehe »keinerlei böse Absicht oderDiskriminierung«. Gerade an der Fasnet,so Helmut Grieb, werde bei Büttenredenoder Faschingsliedern immer wieder dieGrenze zur Beleidigung überschritten.Trotzdem glaubt er im Berger Fall nicht,dass die Gruppe auf dem umstrittenenFestwagen jemanden verletzen wollte.Grieb meint in Bezug auf den Wagen, derseit Jahren am Karrenumzug teilnimmt:»Die in diesem Zusammenhang notwendigeSensibilität haben wir außer Acht gelas-sen.« Stellvertretend für alle wolle er sichdaher entschuldigen. Grieb: »Wir werdendarauf hinweisen, dass das Plakat und derSlogan nicht mehr benützt werden.«

In § 130 Strafgesetzbuch »Volksverhet-zung« heißt es: »Wer in einer Weise, die ge-eignet ist, den öffentlichen Frieden zustören, 1. zum Hass gegen Teile der Bevöl-kerung aufstachelt oder zu Gewalt- oderWillkürmaßnahmen gegen sie auffordertoder 2. die Menschenwürde anderer da-durch angreift, dass er Teile der Bevöl-kerung beschimpft, böswillig verächtlichmacht oder verleumdet, wird mit Freiheits-strafe von drei Monaten bis fünf Jahrenbestraft.« Die weiteren Absätze des Para-graphen regeln die Verteilung volksverhet-zender Schriften und das Leugnen von NS-Verbrechen.Schwäbische Zeitung, 07.02.2005 zu Berg beiRavensburg, Sa. 05.02.2005

STRAFANZEIGE GEGEN NARREN STAATSANWALT ERMITTELT WEGEN VOLKSVERHETZUNGM 24