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Marcel Dupré (1886-1971) Le Chemin de la Croix Marcel Dupré zählt zu den bedeutendsten Organisten, Komponisten und Improvisatoren der jüngeren Musikgeschichte. Dupré, der aus einer Familie von Musikern und Organisten stammte, wurde 1886 in Rouen in der Normandie geboren. Seinen ersten Unterricht erhielt er durch seinen Vater an der berühmten Cavaille- Coll-Orgel von St. Ouen in Rouen – einem Instrument, das Widor mit einem Kunstwerk Michelangelos verglichen hat. Schon mit zwölf Jahren war Dupré Organist einer Kirche seiner Heimatstadt. Später studierte er bei Alexandre Guilmant und Charles-Marie Widor. Duprés Karriere begann 1920, als er in einem Zyklus von zehn Konzerten als wohl erster Organist überhaupt das gesamte Orgelwerk Bachs öffentlich und auswendig aufführte. 1926 wurde er Professor am Pariser Conservatoire National, welches er von 1954-1956 leitete. Von 1934 bis zu seinem Tod 1971 war er als Nachfolger Widors Organist an der Cavaille-Coll-Orgel von St. Sulpice in Paris – einem der größten und traditionsreichsten Instrumente Frankreichs. Dupré knüpft in seinen Kompositionen und Improvisationen (die ebenfalls wie geschriebene Musik anmuten) an die polyphone Tradition des 17. Jahrhunderts an und hat die Kunst Johann Sebastian Bachs zum Vorbild. Grundlage von Duprés Musik bildet der Kontrapunkt, den er mit einer reichhaltigen Harmonik verbindet. Marcel Dupré erinnert sich an die Entstehung des Chemin de la Croix: „Außer in Frankreich, das ich in alle Richtungen durchreist habe, gab ich zahlreiche Konzerte in anderen europäischen Ländern: in Deutschland, Österreich, der Schweiz, in Italien, Spanien, Holland und Belgien; und in Brüssel wurde die Idee zu einem meiner Hauptwerke geboren, zum Chemin de la Croix. Ein Konzert besonderer Art war im dortigen Konservatorium veranstaltet worden; sein zweiter Teil umfaßte nach einem kurzen Bach-Vortrag auf der schönen Cavaille-Coll-Orgel den Chemin de la Croix von Paul Claudel: er wurde von Madame Renaud-Thévenet, Lehrerin am Konservatorium, gelesen, während ich nach jeder Station eine musikalische Ausdeutung improvisierte. Das war in der Fastenzeit, am 13. Februar 1931.“ (M. Dupré: Erinnerungen, Berlin 1981; S. 72). Durch die Reaktion der Zuhörer animiert, arbeitete Dupré nach dem Konzert eine geschriebene Fassung des Kreuzwegs aus, die im darauffolgenden Jahr uraufgeführt wurde. Dupré schuf in seinen musikalischen Kommentaren vierzehn Meditationen über die Kreuzwegstationen, die sowohl zart und impressionistisch, als auch brutal und grausam klingen können. Dupré verwendet in dem Werk verschiedene Leitmotive, die sich auf einen traditionellen Symbolismus zurückführen lassen – so findet man beispielsweise den doppelten Quartsprung als Thema des Kreuzes schon bei Bach, Händel und Schütz: das Thema der Erlösung (vier untereinander verbundene Töne) ebenfalls bei Bach und Händel sowie bei Franck und Wagner; das Leidensthema als chromatischer Abwärtsgang bei Bach usw.. Hinzu kommt der Gebrauch onomatopoetischer Rhythmen, mit denen beispielsweise die Rufe des Volkes nach Barabbas, der stockende Gang etc. lautmalerisch dargestellt werden (vgl. Abbé R. Delestre: „L’OEuvre de Marcel Dupré“, Paris 1952).

Orgelkonzert an Palmsonntag

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Orgelkonzert an Palmsonntag

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Page 1: Orgelkonzert an Palmsonntag

Marcel Dupré (1886-1971) Le Chemin de la Croix

Marcel Dupré zählt zu den bedeutendsten Organisten, Komponisten und Improvisatoren der jüngeren Musikgeschichte. Dupré, der aus einer Familie von Musikern und Organisten stammte, wurde 1886 in Rouen in der Normandie geboren. Seinen ersten Unterricht erhielt er durch seinen Vater an der berühmten Cavaille-Coll-Orgel von St. Ouen in Rouen – einem Instrument, das Widor mit einem Kunstwerk Michelangelos verglichen hat. Schon mit zwölf Jahren war Dupré Organist einer Kirche seiner Heimatstadt. Später studierte er bei Alexandre Guilmant und Charles-Marie Widor. Duprés Karriere begann 1920, als er in einem Zyklus von zehn Konzerten als wohl erster Organist überhaupt das gesamte Orgelwerk Bachs öffentlich und auswendig aufführte. 1926 wurde er Professor am Pariser Conservatoire National, welches er von 1954-1956 leitete. Von 1934 bis zu seinem Tod 1971 war er als Nachfolger Widors Organist an der Cavaille-Coll-Orgel von St. Sulpice in Paris – einem der größten und traditionsreichsten Instrumente Frankreichs. Dupré knüpft in seinen Kompositionen und Improvisationen (die ebenfalls wie geschriebene Musik anmuten) an die polyphone Tradition des 17. Jahrhunderts an und hat die Kunst Johann Sebastian Bachs zum Vorbild. Grundlage von Duprés Musik bildet der Kontrapunkt, den er mit einer reichhaltigen Harmonik verbindet. Marcel Dupré erinnert sich an die Entstehung des Chemin de la Croix: „Außer in Frankreich, das ich in alle Richtungen durchreist habe, gab ich zahlreiche Konzerte in anderen europäischen Ländern: in Deutschland, Österreich, der Schweiz, in Italien, Spanien, Holland und Belgien; und in Brüssel wurde die Idee zu einem meiner Hauptwerke geboren, zum Chemin de la Croix. Ein Konzert besonderer Art war im dortigen Konservatorium veranstaltet worden; sein zweiter Teil umfaßte nach einem kurzen Bach-Vortrag auf der schönen Cavaille-Coll-Orgel den Chemin de la Croix von Paul Claudel: er wurde von Madame Renaud-Thévenet, Lehrerin am Konservatorium, gelesen, während ich nach jeder Station eine musikalische Ausdeutung improvisierte. Das war in der Fastenzeit, am 13. Februar 1931.“ (M. Dupré: Erinnerungen, Berlin 1981; S. 72). Durch die Reaktion der Zuhörer animiert, arbeitete Dupré nach dem Konzert eine geschriebene Fassung des Kreuzwegs aus, die im darauffolgenden Jahr uraufgeführt wurde. Dupré schuf in seinen musikalischen Kommentaren vierzehn Meditationen über die Kreuzwegstationen, die sowohl zart und impressionistisch, als auch brutal und grausam klingen können. Dupré verwendet in dem Werk verschiedene Leitmotive, die sich auf einen traditionellen Symbolismus zurückführen lassen – so findet man beispielsweise den doppelten Quartsprung als Thema des Kreuzes schon bei Bach, Händel und Schütz: das Thema der Erlösung (vier untereinander verbundene Töne) ebenfalls bei Bach und Händel sowie bei Franck und Wagner; das Leidensthema als chromatischer Abwärtsgang bei Bach usw.. Hinzu kommt der Gebrauch onomatopoetischer Rhythmen, mit denen beispielsweise die Rufe des Volkes nach Barabbas, der stockende Gang etc. lautmalerisch dargestellt werden (vgl. Abbé R. Delestre: „L’Œuvre de Marcel Dupré“, Paris 1952).

Page 2: Orgelkonzert an Palmsonntag

Beschreibung der Stationen (vgl. Delestre)

1. Station: Jesus wird zum Tode verurteilt Sobald Pilatus den schicksalhaften Satz gesprochen hat: „Wachen, ergreift diesen Mann“, artet die Erregung der Menge in einen Tumult aus, aus dem man die Schreie „Barabbas“, „Jesus“, „Kreuziget ihn“, und „Tötet ihn“ heraushört. Während sich der Gerichtssaal rasch leert, entfernen sich die Rufe und ersterben in der Ferne. Die Bewegung der Menge und die immer höher schlagenden Wogen der Menschenmassen werden auf der Orgel mit ergreifender Macht dargestellt.

2. Station: Jesus wird das Kreuz aufgebürdet Vor einem langsam klingenden Hintergrund erscheint das Kreuz-Thema, welches auf dem schmerzvollen Rhythmus des Ganges nach Golgatha (Thema des ermattenden Ganges) lastet und zweimal auf das Zusammenbrechen vorausweist.

3. Station: Jesus fällt zum ersten Mal unter der Last des Kreuzes Der Gang wird zunehmend unsicherer. Aus dem Thema des ermattenden Ganges und der Erschöpfung Christi klingt das Thema des Leidens auf, bis er, von seinen Kräften verlassen, niederstürzt. Das beruhigende Thema der Erlösung hellt zum Schluss die Schmerzensszene auf.

4. Station: Jesus begegnet seiner Mutter Die Gottesmutter wird musikalisch durch den Klang einer Flöte ausgedrückt, deren Linie, als ob sie sich in der hohen Lage nicht halten könne, dreimal nacheinander in sich zusammenbricht, Die Musik klingt wie eine innerliche Klage. Unter dem fallenden Dreiklang als Jungfrauen-Motiv drücken die gedämpften voix colestes (himmlische Stimmen) in fast ununterbrochenen Rhythmen die Verzweiflung und die unterdrückte Erregung der Mater Dolorosa aus.

5. Station: Simon von Cyrene hilft Jesus das Kreuz tragen Ein Soldat befiehlt Simon, Jesus zu helfen, sein Kreuz zu tragen. Er gehorcht ohne Begeisterung, aber er passt seinen Schritt mehr und mehr demjenigen von Jesus an. Über dem abgemilderten Thema des ermattenden Ganges erscheint das Kreuz-Thema zunächst in der Umkehrung, dann in der direkten Form als eine Anzahl von Kanons in immer dichterer Folge und schließlich in Parallelstimmen: Dem Mann aus Cyrene ist es gelungen, seinen Schritt anzugleichen und mit den Schritten Christi eins werden zu lassen.

6. Station: Veronika reicht Jesus das Schweißtuch In einer altertümlichen und leicht exotischen Atmosphäre erklingt die Doppelmelodie des Mitleids-Motives auf einer Oboe, während das Thema des Kreuzes tiefgründig auf dem Pedal gespielt wird.

7. Station: Jesus fällt zum zweiten Mal zu Boden Der bittere Aufstieg, der durch das rhythmisch variierte Thema des ermattenden Ganges symbolisiert wird, setzt sich fort während die wogende Menge sich dicht an den Trauerzug herandrängt, sodass der zweite Sturz Christi fast unbemerkt bleibt.

8. Station: Jesus tröstet die Frauen, die ihm folgen Die heiligen Frauen folgen dem Trauerzug zu Tode betrübt. Das Thema des Erbarmens angesichts des Todes verströmt wie eine Klage, auf welche die trostspendende Stimme

Christi in Form einer Solostimme antwortet. Anschließend gehen die beiden Themen ineinander über.

9. Station: Jesus stürzt zum dritten Mal Die Menge ist durch das langsame Tempo des Aufstiegs wütend geworden. Von allen Seiten erschallen Rufe, Geschrei, Beschimpfungen. Unter dem Thema der Verfolgung, welches von den Zungenstimmen gehämmert wird, läuft unablässig ein rasches Motiv dahin. Der dritte Sturz des Heilands kommt dann aber so plötzlich und so hart, dass man glaubt, er werde sich nicht mehr erheben. Das Ende der Station bringt die Gebrochenheit des Opfers zum Ausdruck.

10. Station: Jesus wird seiner Kleider beraubt Fieberhaft werden Jesus die Kleider vom Leib gerissen. Das Thema der Geißelung setzt sich im schnellen 6/8-Takt in einer aggressiven Grundstimmenregistrierung fort. Die Gewalttaten nehmen dann, angesichts des ergreifenden Bildes des erschöpften und mitleiderregenden Körpers Christi, plötzlich ein Ende.

11. Station: Jesus wird an das Kreuz genagelt Die Orgel erklingt hier nicht als strahlende Königin der Instrumente, sondern nur noch als Künderin von Brutalität. Der eindringliche Rhythmus der Hammerschläge (Thema der Keuzigung als Umkehrung des Kreuz-Motives) mit denen die Nägel durch Hände und Füße Christi getrieben werden, beherrscht diese Station und bringt die unerbittliche Grausamkeit der Kreuzigung zum Ausdruck, wobei zeitweise die Schmerzensklage des Leidensthemas erklingt.

12. Station: Jesus stirbt am Kreuz Eine lastende Stille folgt auf die Hammerschläge. Jesus stirbt. Er bringt nach und nach sieben Worte hervor (Einsatz der Solostimme). Jesus haucht sein Leben aus und man hört das Grollen des Erdbebens. Es ist vollbracht. Still weinen die Jünger.

13. Station: Jesus wird vom Kreuz genommen und in den Schoß seiner Mutter gelegt Unter den Blicken der Jünger wird der Leichnam vom Kreuz genommen und gleitet, von Stricken gehalten, langsam herab. Die düstere Szene wird durch das chromatische Gleiten des Themas der Seile sehr realistisch zum Ausdruck gebracht. Gelegentlich erscheint dabei das Thema der Erlösung. Schließlich wird der Leichnam Jesu seiner Mutter übergeben (Thema der Jungfrau).

14. Station: Jesus wird in das Grab gelegt Ein Trauerzug geleitet den heiligen Leichnam zum Grabe. Das Thema des Erbarmens angesichts des Todes bleibt das leitende Thema, während nach und nach das Leidensthema erklingt und später in den Vordergrund tritt. Dann setzt sich die trostlose Prozession mit einem auf dem Pedal gespielten tieftönenden Grabgeläut fort. Als jedoch Jesus ins Grab gelegt ist, scheint eine neue Zeit zu beginnen. In einer himmlischen Ruhe wird das Thema der Frucht der Erlösung von fern klingenden Flöten in gedämpftem Auf- und Ab gespielt. Die Totenglocke verwandelt sich in ein geheimnisvolles Geläut: Ein Schluss von einer immateriellen Lieblichkeit, der in einen ewigen Frieden überzugehen scheint. Durch die Verwendung des abschließenden Sextakkordes statt eines zu erwartenden Grundakkordes endet die letzte Station quasi offen, womit Dupré bereits den Ostermorgen andeutet."